Einem fernen Tage von Silberfrost ================================================================================ Kapitel 31: Zeit nicht aufhalten -------------------------------- „Was hat er eigentlich davon? Wenn er die Zukunft kennt, braucht er sie nicht zu teilen.“ „Er braucht dich, um deine Zukunft sehen zu können. Es ist denkbar, dass sie ihn interessiert, also bietet er einen Handel an.“ Einen 'Handel? Minorus Definition von einem Handel beinhaltete den Profit beider Seiten. Das hier war eher mit Erpressung gleichzusetzen. Aber dieses Thema würde er nicht vor seinem Vater breittreten. Mit einer verwerflichen Handbewegung fischte der junge Dämon einen Ast aus seinem Haar und schnippte ihn achtlos zwischen das Gehölz, das den gesamten Waldboden bedeckte. Ein Sturm hatte vor vielen Jahren bis auf wenige Ausnahmen jeden einzelnen Baum entwurzelt oder brechen lassen. Entlaubt und staubtrocken lagen sie am Boden verteilt, bildeten hohe, verkeilte Stapel aus vielen einzelnen Stämmen, und Gruben, wo ihre Wurzeln einst den Halt verloren hatten. Am Waldrand war dieses Chaos von den siedelnden Menschen teilweise behoben worden, aber in die Tiefen dieses weiten Areals wagte sich kaum ein Sterblicher vor. Rin war jedoch nicht aufgrund des Waldes im Bambushain verblieben, sondern weil – sogar laut ihrer eigenen Aussage – derlei Angelegenheiten nicht für sie bestimmt seien. So war sie mit Myōga zurückgeblieben und hatte bei dem Gedanken, den nächsten Tag allein zu verbringen, nicht einmal ansatzweise Besorgnis entwickelt. Raureif lag schwer und belastend auf dem Grün der lebenden Vegetation und ein Marder schoss aufgeschreckt aus seinem Nest, als Minoru auf den gewaltigen Baumstamm sprang, der mit seinen ebenfalls gestürzten Brüdern eine verkeilte, mehrere Meter hohe Mauer bildete. Der Geruch von Feuer, genährt mit trockenem Buchenholz, erfüllte die klare Morgenluft und drehte Minoru den Magen um. Er hatte sich entschieden, dieses unnötige Gehampel zuzulassen. Vielleicht war Jikan auch nur ein eben solcher Scharlatan wie all die Weissager der Menschen, die durch die Lande zogen und sich mit ihrem 'Handwerk' über die Runden brachten. In Wahrheit hielt der junge Hundedämon rein gar nichts von solch prophetischem Unfug. Es war Täuschung, allgemeingültiges Geplänkel, das er sich auch selbst hätte erdenken und allein aufgrund der verschiedenen Gerüche, die den Menschen anhafteten, sogar individualisieren können – und sollte es nicht Täuschung sein, sondern die nackte Wahrheit, dass jemand dazu im Stande war, die Zukunft einer anderen Person vorherzusagen, dann war es gefährlich und darüber hinaus vollkommen unnötig. Kurzum: Minoru wäre die Situation lieber umgangen und hätte es anstelle dieser obskuren Aussichten sogar vorgezogen, zum Palast zurückzukehren. Fremde waren ihm zuwider und einzig und allein die Tatsache, dass der Fürst vom Sinn dieser Unternehmung überzeugt schien, hielt ihn davon ab, vehement zu protestieren. Er war selten altruistisch genug, um in einem solchen Moment seine persönlichen Wünsche gegen das Heil aller abzuwägen, aber wenn er diesen Dämon verprellte, würde er vermutlich sowohl seinem Volk als auch seiner Familie einen scheinbar wohlgesonnenen Verbündeten nehmen – einer, der viele war. Diese Gefahr allein hätte vermutlich auch nicht ausgereicht, um Minoru in diesen Wald zu bringen, in dem der sonderbare, alabasterfarbene Yōkai mit den Steinbockshörnern wartete. Dass sein Vater die Angelegenheit jedoch offensichtlich als gefahrlos einstufte und sein Vertrauen einforderte, überwog. Was wusste er schon von solchen Dingen? Von den Bündnissen seines Volkes, den Feinden seiner Familie? Dennoch: Er hasste es, wenn Leute sich für ihn in irgendeiner Weise interessierten. In den meisten Fällen brachte das nichts als Ärger. Jikan saß im gelassenen Schneidersitz am Boden und machte keinerlei Anstalten, dem Fürsten mit mehr als einem wissenden Lächeln zu begrüßen. Er hatte sich zwischen all den toten Stämmen und dunkelgrünen Flechten annähernd häuslich eingerichtet. Ein Feuer knisterte in seinem Rücken und verbreitete den bereits bekannten Geruch von trockener Buche. Daneben war ein ganzes Arsenal von Pflanzen, getrocknete wie frische, zusammengetragen worden. Ein Mooslager wies noch einige Dellen auf und zeugte von einer erst kürzlich beendeten Nachtruhe. „Akayas Kinder, Herren des Westens. Seid gegrüßt.“ Jikan wies sie mit einem Wink seiner bleichen Hand an, vor ihm Platz zu nehmen. Minoru ließ sich steif neben seinen Vater sinken, als der – entgegen seiner Gewohnheit – einer förmlich knienden Haltung den Vorzug gab. „Euer Erscheinen ist höchst willkommen“, erklärte der Yōkai in seinem leicht entrückten Tonfall und entkorkte beiläufig einen aus Leder und Holz gefertigten Beutel. Das dritte Auge auf seiner Stirn war dabei unentwegt auf Minoru gerichtet, während die übrigen beiden ihn kaum wahrzunehmen schienen. „Zeit ist kostbar. Wir sollten sie nicht verschwenden.“ Er füllte eine hölzerne Schale bis zum Rand mit milchig-grauer Flüssigkeit, deren süßer Geruch allein Minoru bereits den Kopf zurückziehen ließ. Süße Dinge waren eine zwiespältige, verräterische Sache. Als Jikan ihm die Schale mit beiden Händen darbot, widerstrebte es Minoru, auch nur die Hand danach auszustrecken. Aber ehe er sich eines Besseren besinnen konnte, nahm sein Vater ihm die Arbeit ab – verblüffte den Jungen allerdings damit, dass er selbst einen kaum nennenswerten Schluck abtrank, bevor er seinem Sohn die Schale reichte. Minoru nahm sie ihm verdutzt ab und starrte auch dann noch zu ihm auf, als er den Blick längst wieder Jikan zugewandt hatte. „So beunruhigt, Sesshōmaru? Euren Nachwuchs vergiften zu wollen, käme dem Versuch gleich, einen Fisch zu ertränken“, meinte der Yōkai, lächelte breit und entblößte gefährliche, weiße Zähne. „Ihr habt viele Feinde. Aber streitende Reiche sind nicht unser Belang. Partei zu ergreifen ist für uns nicht von Bedarf.“ Dann fixierten auch die übrigen, dunklen Augen Minoru. „Trink aus, Junge. Es ist nicht bitter.“ Nein, dachte Minoru, es ist unbarmherzig süß und das macht es nicht besser. Aber der Fürst nickte ihm still zu und Minoru trank, wenn auch sehr angestrengt, das durchweg abscheulich süße, breiige Zeug, das wie flüssiger Honig seine Kehle hinunterlief. Alle Sinne, jegliche Intuition schrie Feuer und Mordio und als er die Schale abstellte, fürchtete er für einen Moment, die Brühe gleich wieder hochwürgen zu müssen; konnte sich allerdings gerade noch zusammenreißen. Jede andere Reaktion blieb allerdings aus – es war nur ekelhaft. Jikan lächelte zufrieden, dann wandte er den Großteil seiner Aufmerksamkeit wieder dem Fürsten zu. „Ihr seid Eurem Namen gerecht geworden; seid in aller Munde. Eurem Vater war bewusst, dass Ihr ihn bei Weitem übertreffen würdet, dazu hat er uns nicht gebraucht. Ausgelacht hat er uns, als wir es ihm gesagt haben. Grenzenlosigkeit in bestimmten Bereichen war schon immer ein Charakterzug von ihm gewesen; als Mann wie auch als Kind. Eine Schande, dass es so enden musste. Äußerst bedauerlich. Weniger ruhmreich als er es verdient hatte. Doch das Schicksal geht seine Wege und er hat gutes Werk an Euch verrichtet – im Leben wie auch darauf.“ Sesshōmaru antwortete nicht, rührte sich nicht, während Minoru bei dem Gedanken, dass niemand sonst es bisher gewagt hatte, über den vorherigen Taishō zu sprechen, etwas quer im Hals stecken blieb. Er hatte damit gerechnet, dass eines Tages Myōga von seinem Großvater berichten würde, nicht aber, dass ein Fremder sich erdreisten könnte, ausgerechnet seinen Vater darauf anzusprechen als sei er der engste Berater und Freund des Hauses. Der Taishō verzog jedoch keine Miene. Vielleicht hatte er nichts anderes erwartet. „Tief atmen“, meinte der alabasterfarbene Yōkai plötzlich an ihn gerichtet und Minoru bemerkte erst jetzt, dass er deutlich zu flach nach Luft rang. Er hatte das Gefühl, die Welt drehe sich ungesund schnell und hastig. Der Boden wurde sonderbar uneben, Luft noch knapper als zuvor. Je mehr Beachtung er sich widmete, desto schlimmer wurde es. Als er im nächsten Moment panisch nach seiner Kehle griff, fand er sich mit einem Mal mit dem Kopf im weichen Schulterfell des Fürsten wieder, der ihm wie selbstverständlich einen Arm um die Schultern gelegt hatte. Mit der sich ausbreitenden Verwirrung schwand die Aufmerksamkeit, die er diesem absonderlichen Zustand schenken konnte. Der vertraute Geruch war angenehm, beruhigend, und vertrieb allmählich auch den süßen Nachgeschmack, der Minoru immer noch im Mund haftete. Er atmete tiefer, freier, während er allmählich schwerer in den weißen Pelz sank. Als Minoru wenige Minuten später tief eingeschlafen war, widerstrebte es dem Fürsten, seinen Sohn vor sich abzulegen, aber der Yōkai bestand darauf. Wenn er schlief, wirkte er fast friedlich und verletzlich – was natürlich auch der Wahrheit entsprach –, aber im wachen Zustand lag immer eine gewisse Härte in seinen Augen, die auch dann nicht weichen wollte, wenn er offensichtlich zufrieden war. So entspannt hatte er den Jungen in der ganzen Zeit noch nicht gesehen. „Erstaunlich, nicht wahr?“, meinte Jikan und die Monotonie in seiner Stimme ließ ihn noch entrückter klingen als es das sonderbare Timbre ohnehin schon vermochte. „Jedes junge Wesen wirkt anziehend, wenn es schläft. Ob Inuyōkai-Welpe oder Fohlen. Das erfüllt seinen Zweck bei denen, für die es ausgelegt ist. Einen hungrigen Oni mag es aus anderen Gründen verzücken, aber Euch wird vermutlich allein die Erinnerung daran wachsam bleiben lassen, wenn er längst erwachsen ist. Selbst diese unschuldigen Kinder manipulieren unwillentlich.“ Er lehnte sich langsam zurück. „Bezüglich der Tiefe der Einblicke können wir nichts versprechen. Vergangene Ereignisse sind oftmals stark von Emotionen beeinflusst oder verblassen in Verdrängung und Vergessen, während wir ferne Zeiten in emotionslosen Fragmenten, frei von Schattierungen der Gefühle, aber meist nur schemenhaft und selten eindeutig wahrnehmen. Viele Umstände werdet Ihr der Zeit selbst überlassen müssen.“ Es bedurfte einiger Minuten, bis sich der Taishō auf den Gedanken eingelassen hatte, zu sehen, was nicht wirklich war. Doch dann erkannte er die polierten Möbel und den vertrauen Geruch des sommerlichen Gartens, in dem die Azaleen in voller Blüte standen. Die Umgebung war geladen, wurde unter dem drohenden Gewitter spürbar an den Boden gepresst, sodass man das Gefühl hatte, die Luftschichten mit bloßen Händen berühren zu können. Es waren seine eigenen Räumlichkeiten. In leiser Anerkennung nahm er die erstaunliche Detailgenauigkeit der einzelnen Gegenstände wahr, bis ihm mit einem Mal bewusst wurde, dass der Körper, in dem er sich befand, trotz aller Vertrautheit keinesfalls gehorchte. Seine eigene Hand strich ohne jede Aufforderung über die Karte, die ausgebreitet vor ihm auf dem Tisch lag, und rückte eine kleine, hölzerne Figur wenige Millimeter weiter nach Norden. Echigo und Uzen. Wie ein Fremder im eigenen Körper musste er erleben, wie sein altes Ich Angriffe plante, die wenige Jahre darauf siegreich sein würden. Als der Körper den Kopf wandte, blieb Sesshōmaru nichts übrig, als zu sehen, was ihm geboten wurde. Im Geiste verspannte sich seine Kieferpartie, als er die strahlend helle Gestalt seiner Gefährtin erblickte, die in der Regentür kniete und mit ihm zugewandten Rücken in den Garten hinaus starrte. Reika. Ihr langes, weißes Haar hatte sie am Hinterkopf zu einem kunstvollen Knoten hochstecken lassen und die dicken, ockerfarbenen Seidenlagen, die sie umgaben, ließen ihre Gestalt irrsinniger Weise noch schmaler, noch verletzlicher wirken als es ohnehin schon der Fall war. Das hier waren nicht Minorus Erinnerungen einer vergangenen Zeit, es waren seine. Wie oft war er diesen Tag in seinen Gedanken durchgegangen, hatte versucht zu begreifen, worauf es keine Antwort gab und nicht einmal einen Hinweis darauf gefunden, was diese Frau dazu verleitet haben könnte, ihn derart zu hintergehen. Doch das waren nur bruchstückhafte Erinnerungen an einen Nachmittag voller schlechter Nachrichten. Sie so klar und deutlich vor sich zu sehen, die schwüle Luft schmeckend am gewohnten Platz zu sitzen, während ihre Gefühlswelt in einer Art finsteren Wolke um sie wallte, war eine andere Erfahrung als die bloße Rekapitulierung dieses Momentes. „Kommt herein“, hörte er seine eigene Stimme. Kühl und ungerührt ob der miserablen Neuigkeiten, die sie ihm vor einigen Stunden dargebracht und den Raum seither nicht verlassen hatte. Sie tat wie ihr geheißen, gehorsam wie immer, und hatte sich kaum erhoben und zum Raum umgewandt, als hinter ihrem Rücken ein Platzregen einsetzte, der über den Engawa bis in die Wohnräume klatschte. Gewandt schob sie die Regentür zu, ihre irisierenden Klauen berührten das Holz dabei kaum, und als sie sich wieder zu ihm drehte, war von dem Kummer, der sie entgegen aller Gewohnheit zu ihm getrieben hatte, nichts mehr zu sehen. Ihre tief goldfarbenen Augen wirkten emotionslos, aber sie war nicht besonders geschickt darin, völlig unantastbar zu erscheinen wie man es von einer Fürstin erwartet hätte. Ihr feines, weißes Fell fiel ihr über die Schultern nach vorn und schmiegte sich eng an die Seiten ihres Halses. Nur frontal war von der zarten Haut ihrer Kehle ein blasser Schimmer zu erkennen, bevor sie entschieden von ockerfarbener Seide bedeckt wurde. In Perfektion ließ sie sich ihm gegenüber am Tisch nieder und senkte sofort den Blick. Sie war schmal geworden seit ihrer ersten Begegnung, fast kränklich. War er sich dessen damals ebenso deutlich gewahr geworden? Sein vergangenes Ich straffte die Schultern und sah die junge Frau in förmlicher Ernsthaftigkeit an. „Verlangt es Euch danach, zu Eurer Familie zurückzukehren?“ Keusch senkte sie den Kopf unter seinem Blick noch ein wenig mehr. Die Anspannung, die sie dabei durchfuhr, war mehr als deutlich. „Wenn mein Herr es wünscht“, antwortete sie in einem Wispern. Das war alles was er von ihr bekommen hatte: Züchtiges Verhalten, ehrfürchtig gewisperte Antworten und wenig Eigenleben. Er war nie in der Lage gewesen, die Erziehungsgrundlagen anderer Familien zur Gänze zu begreifen, doch mit Reika hatte er begonnen, seinen Vater umso besser zu verstehen, der einst in einem Gespräch hatte einfließen lassen, wie sehr seine Mutter doch aus den Reihen anderer Frauen hervorstach. In der Tat: Seine Mutter war die einzige Frau, die es sich erlaubte, eine eigene Meinung zu besitzen und die in Abwesenheit ihres Gefährten mit Leichtigkeit das ganze Heer in Bewegung versetzte ohne auch nur einen Moment darüber nachzudenken, ob es sich für eine Frau als ungebührlich darstellen könnte, die Aufgaben ihres Mannes zu übernehmen. Bei Reika hatte er von Anfang an gewusst, dass er dies nicht von ihr erwarten konnte. Sie war von ihren Eltern zu einem gehorsamen, unterwürfigen Verhalten erzogen worden, wie er selbst zum Herrschen. Und so zuwider ihm die Vorstellung schien, vor jemandem den Kopf auch nur um Zentimeter zu senken, so wenig war sie dazu in der Lage, die immer höflichen, sicheren Pfade gewählter Ausdrücke und vorgeschriebener Verhaltensweisen zu verlassen und irgendjemandem gegenüber offen zu sprechen. Nun, für die militärische Führung des Hofes war eine Frau nicht relevant. Ryouichi hatte sich während der Jahre seiner Abwesenheit, in denen er Jagd auf Tessaiga und Naraku gemacht hatte, um alles gekümmert und er würde es ohne Rückfragen jederzeit wieder tun, sobald sein Fürst den Hof erneut verließ. Er hatte Reika für seine Kinder gebraucht, nicht mehr. Ohne gesicherte Erblinie wäre der Westen allen Siegen zum Trotze mit fortschreitender Ausbreitung immer mehr in Bedrängnis geraten. Das hatte er irgendwann eingesehen, auch wenn Sesshōmaru alles andere als versessen darauf gewesen war, Nachkommen in die Welt zu setzen. Aber sein Sinneswandel war nicht zuletzt seiner Mutter geschuldet, die ihm mit dieser lästigen Angelegenheit im Nacken gesessen hatte: Wenn er in einer seiner vielen Schlachten wider Erwarten fiele, was er auch damals für eine absolut lächerliche Vorstellung gehalten hatte, wäre seine Familie so gut wie vernichtet – solange man von einem gewissen Han'yō absah; und das wollten sich weder seine Mutter noch er selbst ausmalen. In dem Szenario hätte es nahe gelegen, dass jemand versucht gewesen wäre, die Führung zu übernehmen – insbesondere nun, da Sō'unga dank seiner höchstpersönlichen Bemühungen kein Hindernis mehr darstellte. Das zuzulassen wäre einem unmittelbaren Verrat an seinem Vater und all seinen Vorfahren gleichgekommen. Um dieses hypothetische Dilemma auszuschließen, hatte Sesshōmaru seinen Widerstand aufgegeben und Erkundigungen über geeignete Inuyōkai einholen lassen. Er hatte nicht viel Zeit gebraucht, um zu wissen, was er wollte. Mit den Inu der Echizen-Region war es möglich gewesen, zwei lang getrennte Zweige der Familie wieder zusammenzuführen und damit zumindest im Ansatz Aussicht auf einen vollblütigen Daiyōkai-Nachfahren zu haben. Wenn er schon sein Leben an eine andere Person binden sollte, dann doch bitte zum höchstmöglichen Gewinn – und Reika hatte den Erwartungsrahmen beim ersten Eintreten in den Empfangsraum empfindlich gesprengt. Sie war eher zurückhaltend und scheu als eine lohnende Verbündete – nicht die Persönlichkeit, die er sich im Stillen an seine Seite gewünscht hatte –, aber dennoch eine Erscheinung, mit der er nicht mehr gerechnet hatte: Es hatte in den vorangegangenen Jahrhunderten nur eine Hand voll potentieller Daiyōkai außerhalb seiner unmittelbaren Verwandtschaft gegeben. Unerwartet eine von ihnen zu sehen, hatte ihm damals Verwunderung abgerungen. Nur anstandshalber hatte sie ihre Schwester an den Hof begleiten sollen, denn natürlich war genau diese Familie bestrebt gewesen, ihm die jüngere Tochter zu präsentieren, die nicht bereits für Pflichten vorgesehen war, über die niemand auch nur ein Wort zu viel verlor. Doch derlei Ambitionen, so traditionell Akayas Totenwache auch sein mochte, waren in Anbetracht der Möglichkeiten aus seiner Sicht irrelevant. Natürlich hatte es einen stummen Aufschrei des Protestes gegeben, als er dennoch ausgerechnet die Frau wollte, die seit ihrer Jugend auf die Wache am Grab ihrer Vorfahren eingeschworen worden war, aber nicht einmal die einflussreichste Familie nach der seinen wagte es, sich dem Inu no Taishō offen zu widersetzen. Zumal sie auf die jüngere Schwester hatten zurückgreifen können, die gleichermaßen erzogen worden war. Selbst seine Mutter war auf ihre Weise von der jungen Frau angetan gewesen, auch wenn sie sie für geistig verdorben befunden hatte. „Das Mädchen ist zu unbedarft. Gutmütig und leichtgläubig wie Schlachtvieh“, hatte sie im abfälligsten Ton geäußert, den sie hätte Zustande bringen können und ihre lange, noch rauchende Pfeife auf der steinernen Lehne ihres Stuhles ausgeschlagen, bis der glühende Tabak unbeachtet zu Boden gerieselt war. Dann hatte sie die Knie überschlagen und das Kinn in ihrer Hand aufgestützt, um ihren Sohn mit einem belustigten Funkeln in ihren strengen Augen zu mustern, während der leuchtend violette Lack an ihren Klauen gefährlich gefunkelt hatte. „Wenn man eine wie sie bekommt, fragt man jedoch nicht nach dem Innenleben. Hoffen wir schlicht, das eure Kinder deinen Geist tragen. Hübsch zu sein wird nicht reichen, wenn ihr Vater nichts Geringeres verlangt als das ganze Land.“ Dass Reika an jenem Tag seiner Erinnerung jedoch gekommen war, um ihm zu offenbaren, dass sie das Kind verloren habe, das sie nun schon seit einigen Monaten getragen hatte, war ein denkbarer Tiefschlag, der den Fürsten dereinst hart daran erinnert hatte, dass er trotz aller Macht nicht jeden Umstand beeinflussen konnte. Sie deswegen zu verstoßen war damals jedoch zu früh gewesen. Solch unerfreuliche Dinge gehörten unvermeidbarerweise zum Leben und auch wenn dieser Erinnerung lange Zeit ein fader, ja fast bitterer Nachgeschmack angelastet hatte, war die Hoffnung geblieben, dass es sich bei diesem unerwünschten Ereignis um einen unglücklichen Einzelfall gehandelt haben musste. „Bleibt“, entschied sein altes Ich schließlich für sie. „Aber besucht Eure Familie, wenn es Euch wohltut. Euer Zustand scheint mir kränklich. Lasst mich wissen, wenn es euch mangelt.“ „Ich danke Euch, Herr.“ Ihre Verbeugung war förmlich. „Ich bin auf bedauerlichste Weise ratlos, was mein Unwohlsein anbelangt. Meine Schwester sorgt sich aufopferungsvoll um mich, sodass ich gleichwohl behaupten darf, Familie wie Gesellschaft um mich zu haben. Ich werde Euch nicht verlassen, wenn Ihr es nicht ausdrücklich wünscht.“ Mit einem Mal verblasste das Bild. Reikas schmale, bleiche Gestalt verschwand vor ihm wie im Nebel. Sesshōmaru riss sich gedanklich von diesem Rückblick los und machte sich abermals bewusst, dass es trotz aller Eindrücke nicht real, sondern eine längst vergangene Wahrheit war, die in Anbetracht der gegenwärtigen Geschehnisse so falsch und absonderlich wirkte, als habe sie niemals stattgefunden. Dann wurde es wieder schwarz. Dunkelstes, finsterstes Schwarz. Die gläsern schimmernden Klauen des alten Yōkais fuhren gedankenverloren die geraden, burgunderfarbenen Zeichnungen an Minorus Handgelenken ab, als der Fürst sich in der Realität wiederfand. In aller Seelenruhe zog Jikan sich von dem Jungen zurück und betrachtete den Daiyōkai eindringlich. „Ungewöhnlich“, kommentierte er die vorangegangene Vision und wiegte den Kopf leicht zur Seite, sodass seine geriffelten, hellen Hörner in der aufgehenden Morgensonne wie polierter Perlmutt schimmerten. „Derart ungetrübte und detaillierte Einblicke wären selbst für eine Gegenwart selten. In der Vision einer Vergangenheit haben wir sie beinahe nie so sehen können. Über alle Maßen bemerkenswert. Die Gedanken an Eure Gefährtin müssen Euch während der letzten Monde umgetrieben haben.“ „Meine persönlichen Angelegenheiten haben hier keinen Belang“, entgegnete der Fürst kalt. Er wusste, dass er selbst für diese Vision verantwortlich war – schließlich hatte er freiwillig von der milchigen Flüssigkeit getrunken. Doch das erlaubte diesem Yōkai noch lange nicht, sich an seinem Leben zu ergötzen. „Natürlich nicht“, gab Jikan in einem geflüsterten Hauch zurück und lächelte gefährlich schief. „Fahren wir mit dem Jungen fort.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)