Einem fernen Tage von Silberfrost ================================================================================ Kapitel 21: wie blau der Himmel einst war. ------------------------------------------ Rin sah auf, als die Tür aufgeschoben wurde und ein völlig durchnässter Daiyōkai eintrat. Er ließ seinen Blick auf ihr ruhen, dann legte er seinen schwarzen Haidate mit dem daran befestigten, stählernen Sōde ab, als sei ihre Anwesenheit in seinen Gemächern selbstverständlich. Das mit scharfen Stacheln versehene Metall glitt geräuschvoll zu Boden, während Rin aufgestanden war und sich ihm näherte. „Ihr seht erschöpft aus“, stellte sie besorgt fest und legte für einen kurzen Moment die Arme um ihn. „Willkommen zurück.“ „Du solltest längst schlafen“, mahnte er sie geduldig, aber Rin lächelte nur. „Ich habe etwas geschlafen.“ Sie ließ sofort wieder von ihm ab und legte den Kopf in den Nacken, um ihm in die Augen sehen zu können, deren strahlendes Gold von einem dunklen Schatten durchzogen war. „Ihr hingegen nicht.“ „Du weißt, ich brauche das nicht. Was also hat dich wachgehalten?“ „Ich habe auf Euch gewartet“, gab sie mit einem unbeschwerten Schulterzucken zurück und betrachtete seine langen, weißen Haare, an denen das Wasser abzuperlen schien als seien sie Lotus. Mit einem Mal verschwand ihr Lächeln. „Ich war Minoru gegenüber sehr respektlos. Das hat mich den ganzen Tag über beschäftigt. Ich wollte ihm lediglich gut zureden, weil er mit den Kindern so nachsichtig umgegangen ist. Das ist für mich alles andere als eine Schande, aber er sieht es vermutlich als Schwäche an. Ist er noch sehr wütend? Wenn es Euch recht ist, würde ich mich gern entschuldigen. Er kann mich ohnehin nicht ausstehen, da muss ich es nicht unnötig schlimmer machen.“ „Heute nicht, er schläft bereits“, meinte der Fürst tonlos und wandte sich von ihr ab, um sich an einem kleinen Lacktisch niederzulassen, auf dem die eine kleine Lampe neben einem Teeservice den Raum erhellte. Er sah gebannt in die tanzende Flamme. „Sei vorsichtiger mit ihm.“ Rin nickte stumm, kam aber nicht umhin, die müde Haltung ihres Herrn zu bemerken. Es war immer dasselbe mit ihm in letzter Zeit, wobei er natürlich tunlichst vermied, dass dies irgendjemand auch nur ahnte. Seitdem er von Minoru erfahren hatte und mit ihm aus dem Norden zurückgekehrt war, schien er eine noch schwerere Last auf den Schultern zu tragen als die Rückkehr in die Burg seines Vaters ihm je aufgebürdet hatte. Sie kannte ihn langsam gut genug, um zu wissen, dass er sich Vorwürfe machte, die er nicht aussprach und unter denen er mehr litt, als je über seine Lippen kommen würde – insbesondere nicht gegenüber seinem Sohn, von dem er derzeit mehr Unheil fernhielt als dieser sich vorzustellen vermochte. In jeder Ecke des Schlosses wurde getuschelt. Dass Minoru ein falscher Anwärter sei, ein Sonderling und nicht würdig das Erbe des Fürsten anzutreten. 'Dienergeschwätz' hatte der Fürst das genannt, auch wenn er solch anmaßende Äußerungen nicht geduldet hätte, wären sie ohne Umwege an seine empfindlichen Ohren gedrungen. Er wusste, dass das Heer bedingungslos seinem Befehl folgte und einen Sohn, den er als solchen ansah, nie in seiner Legitimität anzweifeln würde. Das Heer war für ihn alles, das zählte und letztlich hatte er damit vermutlich auch recht. Dennoch hielt er die Dienerschaft immer noch von Minoru fern, um ihn nicht mit solchen Gerüchten zu konfrontieren und sicher auch, weil er nicht einschätzen konnte, ob er danach noch so viele Diener hatte wie zuvor. Auch Rin war sich nicht sicher, wie die Reaktion des Jungen ausfallen würde. Er hatte sich in der kurzen Zeit verändert, sprach noch weniger und das konnte sie ihm diesmal kaum verdenken. Jeder würde Zeit brauchen, sich in diese Welt aus hohen Mauern, Befehlsketten und Etikette einzufinden. Sie hatte einzig und allein den Vorteil, dass keiner der Yōkai sie als Mensch ernst genug nahm, um sie in diese Protokolle einzubeziehen. Sie war durch den Fürsten geduldet, genoss dadurch eine Art Narrenfreiheit und schwebte gewissermaßen über dem Geschehen wie auf einer kleinen, sicheren Wolke. Nicht selten hatte sie dadurch jedoch das Gefühl gehabt, man sehe sie als skurriles Haustier des Fürsten; eine kurzzeitige Verirrung eines der mächtigsten Yōkai Japans, an deren Ende von ihr nicht einmal Knochen blieben, sobald er ihrer überdrüssig wurde. Sie gab nichts darauf. Denn im Gegensatz zum westlichen Hof kannte sie Sesshōmaru nicht nur als unnahbaren, kalten Fürsten und wusste, was sich die hiesigen Yōkai nicht vorstellen konnten: Er würde sie niemals sterben lassen oder gar umbringen, auch nicht, wenn sie ihn einmal ungewollt verärgerte. Aber Rin konnte es den anderen Dämonen auch nicht ganz verdenken. Sie war nun einmal ein Mensch und das Wissen der Inuyōkai über ihren Fürsten begründete sich auf einem Bild, das sie sich zu einer Zeit gemacht hatten, in der sein Vater noch lebte. Nach dessen Tod hatte Sesshōmaru nur zwei Mal die Burg betreten. Beide Male hatte er seine Mutter aufgesucht; einmal als sein Vater gestorben war und viele, viele Jahre später, bereits damals in Rins Begleitung, um Informationen über Tenseiga zu erhalten, das Schwert, das ihm sein Vater vererbt hatte. Auch Dämonen veränderten sich mit der Zeit, wenn auch sicher nicht so schnell wie Menschen und so musste der heutige Mann vor ihr doch längst nicht mehr der sein, den die anderen Yōkai erwarteten. Sie war zufrieden und wenn sie wollte, konnte sie sich durch das medizinische Wissen, das ihr die alte Priesterin Kaede und der warmherzige Han'yō Jinenji vermittelt hatten, auch bei Dämonen gut einbringen. Für Rin war die Welt in Ordnung, auch hier bei Hofe. Minoru würde es da allerdings schwerer haben, seinen Platz in diesem Gefüge vor allen Einsprüchen zu behaupten und auch wenn er in der Lage war, durchaus viel zu ignorieren, wie sie selbst am eigenen Leib gespürt hatte, konnte sein Gemüt binnen Sekunden genauso in hitzige Wut entgleiten, der man besser nicht im Weg stand. Es war also zunächst sicher ratsam, tuschelnde Dienerschaft und jungen Hund möglichst auseinander zu halten, um beide Seiten vor Schaden zu bewahren – zumindest bis sich die Wogen ein wenig geglättet hatten. Sie ließ sich gegenüber dem Fürsten an den Tisch sinken, stützte die Ellen auf den schwarzen Lack und bette das Gesicht in ihren feingliedrigen Händen. Rin wollte gerade zufrieden lächeln, als ihre rehbraunen Augen seinen Arm begutachteten. „Ihr seid verletzt. Wie konnte das passieren?“, flüsterte sie erstaunt und blickte wieder zu seinem Gesicht auf. „Rin.“ „Hat Ryouichi sich geirrt? Waren es doch nicht nur Oni?“, sie lehnte sich halb über den schmalen Tisch und betrachtete den sonst so blütenweißen Kimono, der sich in unregelmäßigen Abständen dunkelrot verfärbt hatte. Gerade sein linker Arm! „Rin.“ Er klang mittlerweile tatsächlich warnend, aber sie wussten beide, dass er das nicht ernst meinte. „Minoru?“, erkundigte sie sich und als Sesshōmaru nicht reagierte, war das für sie Antwort genug. „Es war Minoru.“ Sie blinzelte ein wenig verstört. „Ein Streit?“ Sie hatte gelernt, dass wenn er etwas sagte, es nie ohne Grund geschah. So war auch überdeutlich verständlich gewesen, warum er sie gebeten hatte, vorsichtiger mit Minoru umzugehen. Dass sein Gemüt allerdings so viel hitziger war, als sie angenommen hatte, erstaunte Rin. Nie hätte sie gedacht, er würde Sesshōmaru verletzte – oder es überhaupt zustande bringen. „Ein unkontrollierter Welpe, nichts weiter. Solche Dinge passieren“, konstatierte der Fürst der westlichen Länder und tippte mit einer Kralle ein wenig auf dem Lacktisch herum. Hätte er vorher noch den leisesten Zweifel an der Verwandtschaft zu diesem Kind verspürt, wäre dieser spätestens nun aus der Welt geschafft worden. Er war, wie auch in all seinen anderen Erscheinungen, sehr zierlich gewesen, aber es blieb zu hoffen, dass sich dies durch die kontinuierliche Verpflegung bald ändern würde. Dennoch war es unmöglich, dass dieser Welpe zu jemand anderem gehörte als ihm selbst. Auch in seiner wahren Gestalt hatte das Schneeweiß des Fells das Erscheinungsbild des Jungen dominiert. Noch war es am ganzen Körper gleich lang, aber im Laufe der Jahre würde es langsam die typischen Variationen aufweisen, so wie auch Sesshōmaru sein Schulterfell in seiner wahren Form als etwas dunklere und deutlich längere Fellpartie wiederfand. Lediglich die Ohren waren eindeutig Reikas Erbe - gerade und aufrecht stehend, nicht herabhängend wie seine eigenen. Der Fürst ließ die Kralle ein wenig energischer auf den Tisch aufkommen, während er an die tiefroten Augen seines Erben dachte. Minoru hatte ihn attackiert, noch bevor sein Antlitz sich auch nur zur Hälfte in der Verwandlung verzerrt hatte und Sesshōmaru musste sich eingestehen, dass er die Geschwindigkeit, mit der sein Sohn die Form wechseln konnte, knapp unterschätzt hatte. Der Versuch, ihn möglichst schnell zu unterwerfen und ihm eine dargebotene Kehle abzuringen, war ungefähr so aussichtsreich gewesen wie Rin das Lächeln zu verbieten. Dieses Herunterbrechen seines Daseins auf eine instinktive Ebene hatte dem Fürsten zweierlei über seinen Sohn offenbart: Zum einen hatte sich die Aura des Jungen sichtlich beruhigt, nachdem er sie durch diese Verwandlung zentralisiert hatte und es schien durchaus eine Möglichkeit, sein Yōki auf diesem Wege unter Kontrolle zu bringen, zum anderen wusste er nun, dass Demut ihm nicht in die Wiege gelegt worden war. Trotz der groben Behandlung seines Rückens und massiver Drohungen, war er nicht dazu bereit gewesen, den Kopf vor seinem Vater und Fürsten zu senken. Er hatte diesen Welpen mit Wucht an die Felswand werfen müssen, um ihn ruhig zu stellen und es war zugegebener Weise erleichternd gewesen, als er mit klarem Verstand wieder aufgewacht war. Sesshōmaru verspürte keine große Freude daran, ein Kind zu malträtieren; schon gar nicht sein eigenes. Dafür, dass Minoru sich bei dem kleinsten Anzeichen von Wut kurz vorher noch vor Angst auf den Boden geworfen hätte, war das allerdings eine erstaunliche Erkenntnis. So schreckhaft der Junge jetzt auch wirkte, würde er sich sofort sperren, wenn jemand versuchen würde, ihn sich mit Gewalt unterzuordnen; auch wenn das zu keinem Zeitpunkt die Absicht des Fürsten gewesen war. Seine Mutter hatte diesen Fehler vermutlich begangen und sich an ihm ganz offensichtlich die Zähne ausgebissen. Das einzige, das sie damit erreicht hatte, war seine abgrundtiefe Verachtung – und er wollte nicht der Nächste sein, der diese auf sich zog. Bisher waren alle Vorwürfe, die Minoru ihm gegenüber in voller Berechtigung hätte äußern können, erstaunlicher Weise ausgeblieben. Den Finger in die Wunde zu legen war hier allerdings auch unnötig – Sesshōmaru war sich seines Versagens nur zu bewusst. „Oyakata-sama“, begann Rin leise mit einer eher seltenen Ansprache aus ihrem Mund und riss ihn damit aus seinen Gedanken. Als er den Blick auf sie richtete, legte sie den Kopf ein wenig schief, sodass ihre langen, braunen Haare seidig zur Seite fielen; der kleine Zopf ein wenig zögerlicher als der Rest, ganz als brauche er eine Weile, zu entscheiden, ob er den anderen folgen solle. „Welchen Gedanken quälen Euch, dass Eure Bedrückung selbst für mich sichtbar wird?“ Sie wusste, dass diese Formulierung im Kern falsch war. Gegenüber anderen hätte er diesen verletzten Gemütszustand niemals zur Schau getragen – nicht einmal, wenn jemand sie und Jaken vor seinen Augen ausgeweidet hätte. Er tendierte in Ausnahmesituationen dazu, seinem Unmut auf andere Weise Ausdruck zu verleihen. Aber auch wenn er ihr gegenüber ein wenig von sich preis gab, so war Bedrückung doch eine Regung, die sie bei ihm zuvor nicht bemerkt hatte. Er bedachte sie lediglich mit einem vielsagenden Blick seiner warmen Augen und sah dann zur offenen Tür in den Garten hinaus, wo es längst zum Tagesanbruch dämmerte. „Ihr solltet morgen beim Training erscheinen“, stellte Rin schließlich fest und füllte Tee in zwei kleine Schalen. Eine davon schob sie ihm über den Tisch hinweg zu und lehnte sich dann langsam wieder zurück. „Zumindest ist das meine bescheidene Meinung.“ „Ryouichi wird allein mit ihm fertig.“ „Ryouichi ist ein ehrenwerter Mann, ein erfahrener Feldherr und ein fürsorglicher Vater“, sie hatte seine Aufmerksamkeit zurückgewonnen und stellte die Schale vor sich ab. Das kleine, weiße Porzellangefäß mit dem blauen Blumenmuster ließ den noch heißen Tee einen Moment schwappen, dann dampfte es friedlich vor sich hin. „Aber er ist nicht der seine. Warum erlaubt Ihr ihm eigentlich so früh mit dem Training anzufangen? Ihr selbst habt viel später damit begonnen.“ Er hob leicht eine Braue und sie lächelte milde: „Myōga hat es erwähnt.“ „Dieser Flohgeist ist geschwätziger als gut für ihn wäre“, gab der Fürst in einem unterkühlten Ton von sich und nahm schließlich doch die Schale in die Hände, die zwischen seinen scharfen Krallen gefährlich zerbrechlich anmutete. „Die Zahl unserer Feinde wird nicht geringer. Er wurde bereits zu tief in die Angelegenheiten hineingezogen, als dass ich es ihm nun verwehren könnte.“ „Kohaku war in Minorus Alter ein ausgebildeter Dämonenjäger“, gab Rin zustimmend zu bedenken. „Ein Mensch, sicher, aber dass Dämonen älter werden sollte kein Argument sein.“ Sesshōmaru betrachtete den Tee eine Weile lang. Rin übersah einen wichtigen Punkt und der hatte etwas damit zu tun, dass dieser Junge, so gutherzig und vernünftig sie ihn in seinem Kern auch einschätzen mochte, durch sein Training in jungen Jahren mit einer Macht in Berührung kam, die ihn durchaus verderben konnte. Größenwahn und Überheblichkeit waren keine schönen Aspekte, ebenso wie grenzenlose Machtgier – niemand wusste das besser als er, und er hatte seine erste Übungswaffe erst im zarten Alter von weit über fünfzig Jahren in den Händen gehalten. Sein Vater hatte früh genug erkannt, dass er in seinem Sohn einen potentiellen Konkurrenten hatte, der sich seiner Kontrolle mit jedem Trainingserfolg ein weiteres Stück entzog. Außerdem hatte er die Konsequenz gefürchtet, mit der Sesshōmaru bereits damals sein Bestreben nach Macht ohne Rücksicht auf Verluste verfolgt hatte – etwas, das ihm sein Vater erst post mortem hatte austreiben können. Er musste Minoru einen gewissen Selbstschutz zusichern, aber es würde ein wenig Fingerspitzengefühl erfordern, ihn dabei nicht entgleiten zu lassen; insbesondere, wenn man seine tiefen, negativen Gefühle in diese Kalkulation einbezog. Rin bemerkte genau, wie er sich abermals in Gedanken verlor und wechselte abrupt das Thema: „Ich würde in ein paar Monaten gern für einige Tage nach Musashi reisen.“ Unaufgefordert füllte sie ihm etwas Tee nach. Sie hatte diese Angelegenheit längst mit ihm bereden wollen, aber in den letzten Tagen war es kaum möglich gewesen, ihn allein abzupassen. Er nickte lediglich, betrachtete sie allerdings lange. Rin fragte nicht etwa um Erlaubnis, sie teilte ihm lediglich ihre Entscheidung mit. Seine Zustimmung benötigte sie nicht. Es stand ihr frei zu tun, was immer sie wollte und er war der Letzte, der sie in ihrer Freiheit einschränkte. Doch über die schon früher bestehenden Gefahren hinaus hatte sich etwas erhoben, das größer und drohender, ja persönlicher schien, als bisher anzunehmen war. Man ging nicht mehr nur auf direktem Wege gegen ihn vor, sondern suchte nun auch die hinterlistigen, unehrenhaften Lücken zu finden, um ihn anzugreifen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, Rin zurückkehren zu lassen; vielleicht wäre sie bei den Menschen sicherer gewesen, wo niemand auf die Idee gekommen wäre, sie könne ihm etwas bedeuten. Die Überlegung war nun allerdings überflüssig. Sesshōmaru hatte Rin von Anfang an die Wahl gelassen und nun, wo sie sich für seine Welt entschieden hatte, war es an ihm, auf sie zu achten so wie er es stets getan hatte. Auch eine Entscheidung für die Menschenwelt, fernab von ihm, hätte daran nichts geändert, sie wäre lediglich weniger gefährdet gewesen. „Jemand wird dich begleiten - und nimm A-Un“, fügte er schließlich hinzu und Rin sah ein wenig überrascht auf. Sie hatte angenommen, das Thema sei wie üblich abgenickt und damit beendet worden. „Ist es so schlimm, Sesshōmaru-sama?“, hakte sie etwas zögerlich nach und spürte, wie ein kleiner Splitter ihrer großen Hoffnung verloren ging. Es war nicht friedlich, auch nicht nach Narakus Tod. Die Welt war weiterhin grausam, ihr Fürst immer noch auf Kampf eingestellt und niemand wirklich sicher. Er war einer der kaltblütigsten Mörder, die dieses grausame Land zu bieten hatte, der Westen das expansivste Reich während des letzten Jahrhunderts – und das in wohl bemerkt nicht einmal zwanzig Jahren – und dennoch war Sesshōmaru über Gefahren besorgt, die nur er kommen sah. Dass er dabei um sein eigenes Leben fürchtete, war unwahrscheinlich. „Es wäre mir lieber, wenn du nicht allein gehst“, antwortete er entschieden und ging nicht weiter auf ihre Besorgnis ein. Rin nickte, ein wenig niedergeschlagen für ihre Verhältnisse, aber einzig und allein, weil sie tief in einem kleinen, kindlichen Fleck ihrer Selbst gehofft hatte, dass sie irgendwann Frieden finden würden. In Wahrheit wusste sie jedoch, dass dies mit ihm von vorneherein unmöglich gewesen war: Sesshōmaru war ein Kriegsherr und bereits als sie noch klein gewesen war und zusammen mit ihm und Jaken die Lande bereist hatte, war der Kappa nicht müde geworden, davon zu berichten, wie sie nach Narakus Vernichtung die Ziele seines Herrn verwirklichen wollten – und die bestanden aus nichts Geringerem als einem Reich, das sich über ganz Japan erstreckte. Kollisionen mit den anderen Fürstentümern standen da außer Frage und Jaken hatte ihr überdeutlich – mit einer gewissen, ihm eigenen Gehässigkeit – zu verstehen gegeben, dass ihre Überreste zu dem Zeitpunkt, da dieses Reich entstanden war, längst verrottet sein würden. Rin wusste, wen sie vor sich hatte und dass ihr Leben nie in friedliche Bahnen gelangen würde, aber sie vertraute ihm und fühlte sich, vermutlich als einzige Person im ganzen Land, sicher und geborgen. Mit einem Mal setzte sie ein zufriedenes Lächeln auf, das nur sie in einer solchen Situation aufzubringen vermochte und sah ihn beinahe hoffnungsvoll an. Auch wenn Sesshōmaru nicht eine Sekunde daran gezweifelt hatte, dass sie sich von der Ankündigung eines Begleitschutzes nicht aus der Fassung bringen ließ, hob er fragend eine Braue. „Werdet Ihr mich begleiten?“ Rin war nicht einmal verhalten genug, um diese Aussage zu umschiffen, sie künstlich zu verlängern, um sie abzuschwächen oder gar eine Begründung für ihre Frage vorzubringen – und ihn berührte dieses Verhalten, das er bei jedem anderen als respektlos und unangebracht verurteilt hätte, absolut nicht. „Wir werden sehen“, gab er dafür lediglich zurück. „Ich bin sicher die anderen würden sich freuen, Euch zu sehen.“ Er warf ihr einen bedrohlich kalten Blick zu, der mit Sicherheit in der Lage gewesen wäre, ein Stück der Unterwelt für einige Sekunden in eine Eiswüste zu verwandeln, doch Rin schaute auf ihren dampfenden Tee herab. Sie war sich durchaus im Klaren darüber, dass er ungern an gewisse Personen in Musashi erinnert wurde, aber daraus machte sie sich nichts. Heiter sah sie wieder zu ihm auf. Das Eis der Unterwelt taute. „Ja, seid Ihr denn gar nicht neugierig?“, sie klang beinahe bestürzt. Er lehnte kapitulierend einen Arm auf den Tisch und stützte den Kopf in die Hand, während er sie ansah. Wenn es um solche Diskussionen ging, waren er und Rin hoffnungslos unterschiedlicher Auffassung – und das im Grundsatz. Er war schlichtweg froh, wenn er jeden Gedanken an seinen Halbbruder verbannen konnte und sie schien davon auszugehen, dass dieser Han'yō und seine Brut ihn in irgendeiner familiären Weise tangieren mussten. Der Tag war zu frisch, um ihn mit einem Machtwort zu beenden und er zugegebener Weise zu müde, um diese unangenehme Thematik durch Vermeidung in die Länge zu ziehen. „Das wievielte soll es sein?“ „Ihr wisst nur zu genau, dass es ihr drittes Kind ist, Sesshōmaru-sama“, meinte Rin strafend und lehnte sich mit den Ellen auf den schwarzen Lack. Der Tisch war so schmal, dass sie mit ihrer Nase beinahe an seine stieß, während sie seine Augen fixierte, die ihren Blick geschlagen erwiderten. Er hatte aufgegeben; erstaunlich früh für etwas, das seinen Bruder betraf. „Und ich möchte wetten, Ihr wisst auch, wie die anderen beiden heißen und was sie treiben.“ „Nun wagst du dich zu weit vor“, entgegnete er matt und sie lächelte ihn zufrieden an, als habe er ihre Vermutung nur bestätigt. „Wusstet Ihr, dass sie Euch 'Onkel' nennen?“ „Rin.“ „Ihr seid so berechenbar, was das angeht“, sagte sie ernst. „Wenn Ihr Euch sorgt, um Minoru, um mich, fürchtet Ihr dann nicht auch, dass ihnen etwas zustoßen könnte?“ Sie ließ sich wieder zurücksinken und nahm einen Schluck Tee. „Sind sie auch in Gefahr?“ „Unwahrscheinlich“, entgegnete der Fürst. Er hatte einen kurzen Gedanken an sie verschwendet, zugegeben, aber neben der Tatsache, dass er nicht gerade für die Zuneigung gegenüber seinem Halbbruder bekannt war, konnte Inuyasha sich und seine Brut durchaus selbst verteidigen – im Gegensatz zu ihm. Verfluchter Han'yō. „Beruhigend“, meinte Rin leise, während sie ihn nachdenklich ansah. Eine so erschöpft-ergebene Pose hatte er sich noch nie erlaubt und langsam machte er den Eindruck, als könne Rin ihn heute sogar nach seinem Vater fragen und tatsächlich mit einer Regung rechnen. Erschreckend. Rin trank langsam aus. „Ich will nicht, dass noch mehr von uns leiden oder sterben müssen.“ „Jeden Tag stirbt jemand und oft genug durch meine Hand“, er drehte seine Schale einen Moment lang und sah den sich bildenden Wellen nach. „Und das Leben ist ein Leidensweg; der Tod endgültig, unausweichlich und das Ende allen Seins. Wachstum nur im Krieg, Frieden im Tod der Feinde“, sie zählte diese Dinge beinahe entnervt auf. „Mein Fürst, könnten wir aufhören die Welt so schwarz zu malen? Ich bin nicht naiv. Frieden und allgegenwärtige Freude wird es niemals geben – weder in diesem Land, noch in einem anderen. Dennoch ist es unser gutes Recht, unsere Nächsten vor Unheil bewahren zu wollen und die Augen nicht vor den freudigen Momenten zu verschließen, auch wenn sie bald wieder vergangen sein werden.“ „Manche würden es als egozentrisch ansehen, nur die schützen zu wollen, mit denen uns etwas verbindet.“ „Ich bin eine einfache Frau, keine hoffnungslos idealistische Heilsbringerin. Warum sonst sollte ich meine Kimonos mit Messern spicken?“, konstatierte Rin so glatt, dass ein unbeteiligter Zuschauer auf die Idee kommen könnte, die Gepflogenheiten bei Hofe färbten bis zu einem gewissen Grad selbst auf sie ab. „Es sei mir verziehen, dass ich bei Euren Feldzügen bereits genug damit zu tun habe, Euch und Jaken unversehrt zurück zu wünschen. Natürlich wäre es wunderbar, wenn niemand mehr sein Leben ließe, Kinder nicht mehr Waisen würden und die Welt ein beflügelnd schöner Ort wäre. Ist sie aber nicht. Dennoch bleibt mir die Freude an Menschen und Yōkai, die mir etwas bedeuten. Das ist nur legitim, findet Ihr nicht?“ Als er die Teeschale schließlich geleert auf dem Tisch drapiert hatte, sah er die junge Menschenfrau nachdenklich und ernst an. Manchmal beschlich Sesshōmaru der leise Gedanke, er habe sie in der kurzen Zeit, in der sie ihn auf seinen Reisen begleitet hatte, auf eine unverzeihliche Art verdorben. Ihre Jugend war von Verlust und Leid geprägt gewesen. Als Waisenkind, deren Familie durch eine Hand voll belangloser Wegelagerer für nichts als Geld und Nahrung getötet worden war, hatte sie am gesellschaftlichen Rand ihres Heimatdorfes gelebt, für Jahre nicht ein Wort gesprochen und sich über all die Zeit dennoch ein unbefangenes Wesen behalten, das frei von jeder Verbitterung war. Nun aber, eine erwachsene Schönheit Mitte zwanzig, schien sie mit beinahe dämonischen Kalkül einen Graben zwischen jenen zu ziehen, die zu ihrer Welt gehörten, und den anderen, deren Unglück sie nicht direkt zu berühren vermochte. Sesshōmaru zweifelte keinen Moment daran, dass sie einer Person – zu welcher Fraktion diese auch immer gehören mochte – im Ernstfall mit ihrer aufgeschlossenen Freundlichkeit entgegentreten würde, wie sie es immer zu tun gepflegt hatte. Was ihre Unschuld für ihn jedoch immer wieder aufs Neue entzauberte, war die Tatsache, dass sie heute keinen Moment zögern würde, dieser hilfsbedürftigen Person eines ihrer Messer bis zum Anschlag in die Kehle zu rammen, wenn diese ihre Gutmütigkeit gegen sie oder jemand Nahestehenden zu wenden suchte – sie war vermutlich die letzte junge Frau in Japan, die erwürgt werden würde, während sie jemandem eine Wunde säuberte. Es war nicht zu leugnen: Er hatte diese weiße Rose im Mark verdorben. Als er ihre Ausführungen unbeantwortet ließ und sie mit einem ernsten Ausdruck im Gesicht betrachtete, lächelte sie lediglich, wo andere bereits den Kopf auf den Bambus gepresst hätten, und ließ ergeben die Schultern sinken, als er schließlich demonstrativ in den Garten hinaussah, in dem längst sämtliche Vögel ihre Morgenmelodie aus voller Kehle in die Welt entsandten. Selbst diese Gesänge waren nichts weiter als Revierabgrenzungen, bereit sich jedem zu stellen, der es wagte, das Territorium für sich zu beanspruchen. Ob Yōkai, Mensch oder Tier, irgendwie hatten sie doch alle gemeinsame Züge – und ein Daiyōkai war eine verheerende Mischung aus alledem. „Ich weiß, was ihr sagen wollt“, sagte Rin schließlich mit einem neckischen Grinsen. „Ich gehöre ins Bett.“ „Allerdings.“ Er leerte seine Schale und schob sie zur Teekanne zurück. „Du kannst hierbleiben. In diesen Mauern wird genug getuschelt – auch ohne, dass du am frühen Morgen aus dem Ostflügel auf dein Zimmer gehst.“ Auf der Stelle erstarrte Rin, wurde blass und im nächsten Augenblick puterrot. Sie starrte auf den kleinen, schmalen Tisch vor sich, als wisse sie nicht recht wohin mit sich. Es war ihr nicht für eine Sekunde in den Sinn gekommen, dass es womöglich sehr indiskret aussehen mochte, wenn sie die Nacht über in seinen privaten Räumen auf ihn wartete. Es hatte sich schließlich auch niemand Anstoß daran genommen, wenn sie draußen am selben Lagerfeuer schliefen. Sesshōmaru konnte sein plötzlich aufkeimendes Amüsement nur zum Teil unterdrücken. Er oder die Welt mochten sie in mancher Hinsicht vielleicht bis zu einem gewissen Grad verdorben haben, aber auch wenn sie in vielen Bereichen erwachsen geworden war, so war sie manchmal eben doch noch das kleine Mädchen, dass er einst aufgelesen hatte – ein wenig unbedacht und viel zu gut für diese niederträchtige Welt. 狐 Wäre es nicht so höchst unkomfortabel für alle Beteiligten gewesen, hätte die aberwitzige Verbreitungsgeschwindigkeit neuer Nachrichten in diesen Tagen beinahe einen amüsanten Nebeneffekt gehabt. So allerdings waren die Ereignisse lediglich besorgniserregend und brachten den Fürsten der Kitsune an die Grenzen seiner Selbstbeherrschung, sobald jemand auch nur einen gewissen Hundefürsten indirekt erwähnte. Beinahe das ganze Land wusste mittlerweile von dem jungen Erben des Westens. Ein Umstand, mit dem offensichtlich niemand mehr gerechnet hatte, nachdem sich der Fürst so desinteressiert an jeglicher Verbindung gezeigt hatte. Vermutlich warfen diese neuen Umstände deshalb solch große Wellen. Kōhei allerdings konnte über die aufgebrachten Berichte anderer großer Familien nur insgeheim lächeln: Wer darauf gehofft hatte, sich den Westen Untertan zu machen und nun in dem Jungen eine neue Bedrohung für dieses Vorhaben sah, war vermutlich so machtgierig wie dumm. Der Inu no Taishō würde vor seinem Tod nicht einen Hektar seines Landes abtreten – ob mit einem Erben oder ohne. Einzig beruhigend war, dass niemand zu ahnen schien, wo sich das Kind in den letzten fünfzehn Jahren aufgehalten hatte. Die Gerüchte darüber brodelten heißer als manch aktiver Vulkan, sodass man hin und wieder auf die Idee kommen konnte, die menschlichen Gepflogenheiten hätten auf die Yōkai abgefärbt und alle einst ernstzunehmenden Heerführer in kleine, tuschelnde Mädchen verwandelt. Zwar war nicht ganz unerheblich, was sich im Westen Honshūs tat und so waren auch die langen Diskussionen durchaus gerechtfertigt, aber ob es nun wirklich nötig war, Vermutungen auf dem Weg zu bringen, die sich von Mund zu Mund verfestigten, war eine andere Sache. Minoru war mittlerweile wahlweise ein unkontrollierbar bedrohlicher Sprössling der Hunde, der all die Gerissenheit und Brutalität seiner teils über den Tod hinaus gefürchteten Ahnen geerbt hatte oder ein Kind, das der Taishō aus einer Verbindung mit seiner menschlichen Gesellschaft gezeugt hatte – ein schändlicher, schwacher Han'yō, zurückgeblieben und bis vor einigen Wochen effizient vor der Öffentlichkeit verborgen. Im letzten Falle freuten sich die Überbringer dieser Gerüchte diebisch über die aufkommende Schwäche des Westens. Der einzige, dem dieser Gedanke nicht ein winziges Lächeln abringen konnte, war der Fürst des Südens selbst. Wie auch Kōhei wusste er nur zu genau, dass es sich bei dem Jungen nicht um einen zurückgeblieben Han'yō handelte. Sein neu aufkeimendes Interesse zeigte jedoch deutlich, dass die gegenteiligen Berichte ihn beunruhigten. Kōhei hatte aufgegeben, die neuen Rekruten selbst unterweisen zu wollen, die erst kürzlich von der Akademie in sein Regiment überstellt worden waren. Die angeforderten Berichte im Monatstakt waren längst ein verflossener Befehl. Als die ersten Stimmen den südlichen Hof erreicht und von neuen Geschehnissen im Westen gesungen hatten, war Kōhei schroff zurück zu seinem Fürsten beordert worden. Den Jungen unauffällig zu beseitigen schien nun, da alle von ihm wussten, schier unmöglich – zumal die Tatsache, dass bisher keiner das Kind hatte beschreiben können, darauf schließen ließ, dass Sesshōmaru mit Argusaugen über Minoru wachte. So hatte Kōhei die letzten Tage bei Hofe verbracht und sich darauf eingestellt, alle paar Stunden harsch zu seinem Fürsten beordert zu werden, um das ein oder andere Gerücht zu widerlegen. Nein, der Junge hatte wie besprochen nie eine Waffe gehalten oder war in irgendeiner Art von Kampf unterrichtet worden. Seine Erziehung war rein folgsamer Natur gewesen, eines gebildeten und gehobenen Dieners würdig; keinesfalls die eines zukünftigen Herrschers. Kōhei antwortete allerdings nur auf die anfallenden Fragen seines Fürsten. Dass der Junge teilweise tagelang unter den Bodendielen eingesperrt und erst auf sein Drängen herausgelassen worden war, kam nicht zur Sprache. Es hätte den Fürsten wohl auch nicht interessiert. Er hatte genug Kinder und eine entsprechend harte Hand, um zu wissen, wie sich schreiende Welpen anhörten. Das flehende Betteln des Jungen würde Kōhei allerdings noch einige Jahre verfolgen. Der Kleine hatte beteuert, er wolle anständig sein und folgsam, sich mehr Mühe und dafür keine Widerworte geben. Stundenlang hatte Kōhei sich das angehört, als er an dem Tag in die Berge gekommen war, um einige Tage in der Hütte zu verbringen; dann hatte es ihm gereicht. Erziehung hin oder her, es gab Grenzen und eine davon war es, dreijährige Kinder in abgedunkelte, enge Verliese zu sperren und schreien zu lassen, weil sie nicht funktionierten. Selbst Gefangene konnten sich einer aufmerksameren Behandlung sicher sein. Nachdem er diesen Standpunkt klar vertreten hatte, war Minoru während seiner Anwesenheit nicht mehr weggesperrt worden – allerdings wollte Kōhei die Hand nicht für die Dinge ins Feuer legen, die sich während seiner häufigen Abwesenheit ereignet haben mochten. „Dann bin ich auf Eure Erklärung gespannt, General. Wie kann ein so harmloser, unschuldiger Welpe, als den Ihr ihn mir verkaufen wollt, einer hochrangigen Dämonin schweren Schaden zufügen und immer noch leben?“, hatte der Fürst ihn an einem Abend gefragt, nachdem er eine lange Unterredung mit einem Abgesandten des Ostens hinter sich gebracht hatte. Kōhei hatte nichts weiter tun können als den Blick vor ihm zu senken und sich entschuldigend zu verneigen. „Ich weiß es nicht, mein Fürst. Es ist Jahre her, dass ich ihn kannte. So junge Yōkai sind in ihrer Person noch nicht gefestigt. Es kann sich vieles geändert haben, aber zu dem Jungen, den ich kannte, passt es nicht.“ Der Osten tobte – und das nicht zu knapp. Sie waren ohnehin ein schnell eingeschnapptes Volk; diese Pantherdevas, von denen nun nur noch zwei und eine – dem Klatsch zufolge unbrauchbare – Illusionistin übriggeblieben waren. West und Ost hatten sich noch nie leiden können und nun, da Shunrans Angreifer sich auch noch als jüngste Verkörperung des Westens herausgestellt hatte, kochten alte Feindschaften frischer auf als ihnen allen lieb sein durfte. Kōhei konnte nur insgeheim den Kopf schütteln. Wie war es nur möglich, sich binnen so kurzer Zeit knietief in den Mist reiten? Der Junge hatte ein seltenes Talent, das er ihm sicher nicht vorgelebt hatte. Anstelle dieser wenig angenehmen Unterredungen mit dem Fürsten hätte er seine Arbeit durchweg vorgezogen. Akademieankömmlinge waren immerhin nicht alljährlich und die Einstellung der jungen Soldaten aus der Hand zu geben, mit denen er nun noch mehrere Jahrhunderte arbeiten sollte, störte ihn massiv. Ein wenig verstimmt musste er sich daher damit begnügen, die Unterlagen der Neuankömmlinge durchzublättern und sich mit den Berichten zufriedengeben, die seine Untergebenen ihm aushändigten. Papierkram war – neben aufgebrachten Vorgesetzten – das schlimmste Übel seiner Welt. Aber er musste etwas tun. Musste sich mit Arbeit umgeben, in Gedanken stürzen, die fernab dessen waren, was ihn wirklich beschäftigte. Sobald er nicht arbeitete war die Erinnerung an sie präsenter als das drohende Unheil, das langsam aufzog. Sie war niemals für ihn bestimmt gewesen. Unantastbar vom ersten Tage an, und doch konnte er nicht leugnen, ihr bis zum letzten Atemzug verfallen zu sein. In all den Jahrhunderten, die er nun am Hofe gelebt und gedient hatte, war er abgestumpft. Yōkai kamen und starben, wurden geboren und begraben. Der Grat zwischen Leben und Tod war immer noch so schmal wie zu den Zeiten seiner Jugend vor vielen hundert Jahren und doch war ihr Tod nicht so spurlos an ihm vorbeigegangen wie so viele andere. Kōhei blieb nichts anderes übrig, als seinen gewohnten Rhythmus aufzunehmen und die Erinnerung auf die einsamen Stunden am Abend zu verdrängen, in denen niemand auf die Idee kommen konnte, sein Gemüt und ihr Ableben in Verbindung zu bringen. Es wäre sein Untergang, wenn der Fürst davon erführe. Eine Zuneigung zu einer Inuyōkai, zu dieser Inuyōkai! Kōhei hatte von Anfang an versucht, es sich auszureden und zu verbieten, aber es war ihm nie gelungen. Liebe lag außerhalb der Überlegung und im Gegensatz zu vielen anderen Yōkai sah es Kōhei nicht als Schwäche an, einmal im Leben etwas als lieb und teuer zu erachten; nicht, wenn es um Reika ging. Dieses vergangene Geschöpf fragiler Anmut hatte es verdient, dass zumindest eine Person auf Erden dazu bereit war, für sie zurückzublicken und ihrer zu gedenken. Damit würde er aber vermutlich allein bleiben. Er konnte schlecht nachempfinden, wie es ihr während der letzten Jahre ergangen war. Sie hatte alles verloren, noch bevor sie überhaupt in der Lage gewesen war, zu begreifen, was um sie herum geschah. Zuletzt schien es als habe sie aufgegeben. Die Distanz zu ihrer Familie, den Verrat und besonders die Trennung von ihrem Sohn waren ihr zu viel geworden, die Lage zu aussichtslos – und doch hatte sie stets nicht mehr darüber sprechen wollen, als sie von allein offenbarte; hatte kein Mitleid tröstend angenommen. „Ob man es weinend oder lachend hinbringt, ein Leben bleibt ein Leben“, hatte sie gesagt, als Kōhei die Worte fehlten, um ihr Angst und Sorge zu nehmen. „Den Weg zu bestimmen liegt nicht in unserer Hand. Es wird ihm doch nichts geschehen, nicht wahr? Du achtest auf meinen Jungen.“ Kōhei schlug die Unterlagen zu und legte den Kopf in die Hände. Seine schwarzen Krallen fuhren einen Moment beinahe krampfhaft durch sein fuchsrotes Haar. Wie konnte er es wagen ihretwegen zu trauern, wenn er nicht einmal in der Lage gewesen war, ihr einziges Anliegen auf der Welt zu beschützen? Mehr als drei Jahre war ihr Sohn allein in den Wäldern gewesen und hätte jeden Moment von einem Dämon gefressen oder einem Priester exorziert, ja sogar von einem verfluchten, menschlichen Bauern erschlagen werden können. Und was hatte er getan? Befehle befolgt, seinem Fürsten gehorcht! Der hätte den Jungen lieber still und leise in die Unterwelt entschwunden gewusst als auch nur den Hauch eines Verdachtes auf den Süden zu lenken. Jemand hätte argwöhnen können, warum Kitsune Interesse an einem Inuyōkai hegten, dessen bloße Existenz im Normalfall weit außerhalb ihrer Zuständigkeit liegen sollte. Diese Information wäre schneller am westlichen Hof angelangt als der Suchtrupp zum südlichen hätte zurückkehren können. Kōhei fand diese Gefahr bis heute jedoch zu gering, um dafür die Konsequenzen in Kauf zu nehmen, die nun aufkommen konnten, da dieser Welpe im Westen war. Jedoch hatte damals niemand, und das schloss ihn selbst durchaus ein, damit gerechnet, dass Minoru diesen Alleingang wirklich überleben konnte. Dieser Umstand ließ sein Versagen gegenüber Reika nur noch schwerer wiegen. Stattdessen hatte Kōhei den Konflikt im Norden zu nutzen gesucht und sich als Abgesandter der Kitsune nach Osten schicken lassen, um die Haltung der Panther gegenüber dem Süden zu erfahren. Er war allein gegangen und hatte so genug Zeit gehabt, Minoru während dieser Reise zu suchen – mit bekanntem Ausgang. Wenn der Junge nur geahnt hätte, was diese Wendung für Folgen hatte! Der General seufzte tief und nahm sich zusammen. Draußen auf dem Gang hatte sich jemand in seinen Korridor verirrt und das konnte, ausgehend von dem harten Schritt, nur einer seiner Männer sein, der mit einer zweiten Person auf dem Weg zu ihm war. Kōhei nahm die schwarzen Klauen aus dem Haar, strich seine Unterlagen und einige widerspenstige, rote Strähnen glatt. Sein kraftlos erscheinender Ausdruck wurde binnen Sekunden wieder trocken, die Haltung gerade und als Jirō nach erhaltener Erlaubnis mit Begleitung eintrat, konnte er sich sogar ein seichtes Lächeln abringen. Die beiden Ankömmlinge verneigten sich vor ihm und er ließ die Schultern ein wenig fallen, um der Situation die Schärfe zu nehmen. „Verzeiht die späte Störung, General. Ich sah noch Licht im Gang und dachte, diese Angelegenheit interessiere Euch vielleicht genug, um sie noch heute zu klären.“ „Für interessante Angelegenheiten darfst du mich sogar aus dem Bett reißen, Jirō“, gab Kōhei leichthin zurück, beachtete den hochgewachsenen Kitsune jedoch nicht weiter. Er hatte ihn selbst vor Jahren ausgebildet und pflegte mit ihm, wie mit einigen weiteren Untergebenen, durchaus einen gelassenen Umgang – jedoch nur, wenn keine grünen Rekruten anwesend waren. Die Aufmerksamkeit des Generals gehörte wie so oft dem Unbekannten. Sein einstiger Schüler hatte einen Akademieabsolventen mitgebracht, der mit wachem Blick an der Seite seines zugewiesenen Betreuers stand. Beinahe lächerlich klein wirkte er neben Jirō, einem Hünen unter den Kitsune, zudem selbst Kōhei aufblicken musste. In den kurzärmeligen, hellbraunen Yukata der Absolventen gehüllt, wirkte der Junge mit den grün schimmernden Augen durch seinen leuchtend orangefarbenen Fuchsschwanz und die ebenso auffälligen Haaren eher wie ein Eichhörnchen als ein Fuchs. Auch wenn dieser Farbton einige Nuancen heller war als sein eigener, fühlte Kōhei sich in die Zeit zurückversetzt, in der er einst bei Hofe in das Heer aufgenommen worden war. „Fahr fort“, wies er schließlich Jirō an, der offensichtlich darauf wartete, die Aufmerksamkeit seines Generals zurückzugewinnen. „Warum hast du ihn mitgebracht?“ „Er ist mit dem letzten Trupp vor drei Tagen von der Akademie gekommen und heute beim Training deutlich hervorgestochen. Seine Verwandlungsfertigkeiten übersteigen die seiner Kameraden deutlich und auch die Illusionen verdienen Zuspruch. Ich weiß, Ihr habt in letzter Zeit viel zu tun-“ „Dennoch sollte ich diese Angelegenheiten nicht so fahrlässig behandeln. Vielen Dank, Jirō, das ist sehr aufmerksam von dir. Ich werde morgen früh das Training übernehmen und mir selbst ein Bild machen. Sollte ich währenddessen abgerufen werden, wirst du einspringen. Halte dich also bereit.“ Dann warf er nochmals einen Blick auf den jungen Kitsune, dem das offenkundige Lob des Kriegers wenn auch nicht unangenehm, so doch ungewohnt zu sein schien. „Nur nicht nervös werden. Wie ist dein Name?“ Der Absolvent ließ seinen Blick über Kōheis Schreibtisch wandern, bevor er aufsah und sich nicht scheute, ihm ins Gesicht zu sehen. „Shippō.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)