Einem fernen Tage von Silberfrost ================================================================================ Kapitel 20: und lassen uns vergessen ------------------------------------ Sesshōmaru trug unlängst wieder seine vollständige Rüstung und auch zwei seiner drei Waffen hatte er mit Hilfe seines Obis an seiner Seite befestigt. Auch wenn er sie im Kampf gegen einige lächerliche Oni mit Sicherheit nicht brauchen würde, war es undenkbar, den Palast ohne sie zu verlassen. Obwohl Minoru für einen Moment darauf gehofft hatte, wurde ihm der Weg durch die Burg bewusst nicht erspart. Am frühen Nachmittag war hier ein dichtes Treiben zu beobachten, wenn auch längst nicht so stark wie morgens. Die wenigen Kinder waren jedoch die Einzigen, die ihnen neugierig nachstellten und ein Spiel daraus machten, wer den Herrschaften am längsten unbemerkt folgen konnte. Letztlich gewannen alle, da weder Sesshōmaru noch Minoru ihnen auch nur den Hauch von Aufmerksamkeit schenkten. Bei Sonnenlicht wirkten die Gebäude außerhalb des innersten Wehrkreises weniger einschüchternd als bei ihrer Ankunft. Die meisten einfachen Häuser waren aus Holz, wohingegen die Wehrtürme mit massiven Steinen errichtet worden waren und aus den hohen Mauern hervorstachen wie Bäume auf einer Ebene. Während des ganzen Weges zum Haupttor hatte Minoru den Blick strikt auf einen leeren Punkt vor sich gerichtet und versuchte, seinen Ärger über Rin so gut wie möglich unter Kontrolle zu bringen. Mit immer noch sehr rauen Händen fuhr er abwesend über den feinen Stoff an seinem Ärmel und nahm die Hand schnell wieder weg, als die Hornhaut unangenehm über die Seide kratzte. Er machte sich nichts vor: Jeder, der auch nur den Hauch seiner Aura zu spüren vermochte, wurde gerade mit einem lodernden Feuer kochender Wut konfrontiert und gerade dem Taishō, dem ohnehin nichts entging, wollte er solche Ausbrüche eigentlich nicht vor die Füße werfen – insbesondere, wenn diese Rin betrafen. Erst als das rot lackierte Holz des vordersten Tores hinter ihnen wieder verriegelt worden war und sie auch die Brücke über den nun in der Frühlingssonne im hellen Blau glänzenden Sotobori überquert hatten, ließ Minoru die Luft tief in seine Lungen strömen und erwachte aus dem selbst auferlegten Fokus. Während der letzten Tage hatte der Regen nachgelassen und die Sonne war hinter den schweren Wolken hervorgedrungen. Auch jetzt schien sie verhalten und obwohl ihr bisher noch Kraft fehlte, so war es doch angenehm sie nach all den Monaten wiederzusehen. Die Umgebung hatte auf ihre Anwesenheit reagiert und zeigte entgegen des vorher verhaltenen Wachstums endlich neue Knospen. Als feiner grüner Hauch waren sie zwischen den kahlen Stämmen zu erkennen. Es wurde tatsächlich besser – zumindest was das Wetter anging. Sie ließen die gerodete Fläche vor dem Palast hinter sich und hielten auf eine nahe Erhebung zu, die sich aus hügeligem Vorland in ein dicht bewaldetes Gebirge erhob. Die derzeit einzige Deckung waren die Gruppen von Fichten und Tannen, die den kalten Temperaturen wie stets mit kräftigem Grün trotzen. Es dauerte einige Zeit bis Minoru sich wieder beruhigt hatte, aber das freie Gelände bewirkte wahre Wunder. „Du wirst dich zurückhalten“, ließ der Fürst ihn wissen, als er spürte, dass mit dem Jungen ein für seine Begriffe normales Gespräch wieder möglich war. Minoru warf ihm einen zweifelnden Blick zu. Es war nun nicht so, dass er sich je als Erster freiwillig in einen Kampf gestürzt hatte. Das war eindeutig Takerus Interesse gewesen. Musste er ihm gleich eine Kette um den Hals legen wie einem gewöhnlichen Hofhund? „Es ist nicht das erste Mal, dass ich außerhalb sicherer Wände durch einen Wald gehe“, gab Minoru steif zurück. „Es gibt nun triftige Gründe, dich zu töten.“ Die Stimme des Fürsten war so eisig, dass Minoru die Farbe aus dem Gesicht floss. Er war stehen geblieben und auch Sesshōmaru hielt nun an. „Verwundert dich das? Die letzte Zeit hat dir nicht nur Wohlwollen eingebracht. Hattest du gedacht, Shunran würde vergeben - ihre Entstellung und den Tod ihrer Schwester?“ „Mit dem Tod ihrer Schwester habe ich nichts zu tun!“, protestierte Minoru, aber der sonst so kalte Ausdruck in den Augen des Fürsten verfinsterte sich. „Sei nicht naiv, Junge“, mahnte er und legte eine Hand auf den Griff eines seiner Schwerter, drückte es ein Stück weit in die Waagerechte. „Sie werden uns vorwerfen, was immer in greifbare Nähe rückt. Wir haben interveniert, obwohl es nie unsere Schlacht gewesen ist.“ Takerus Vermutung traf also zu: Der Ausfallschritt in die westlichen Länder war kein Versehen gewesen, sondern reine Provokation, die den Panthern niemand hätte nachweisen können. Hatte er unbeabsichtigt diesen Feinden einen Grund gegeben, den Westen mit Berechtigung anzugreifen? Er sah betreten zu Boden. Dass sein Handeln einen ganzen Landstrich in die Verantwortung ziehen konnte, hatte er sich niemals träumen lassen. Wie nahe es lag, dass jemand auf die Idee kam, der Taishō persönlich sei verantwortlich für den wenig hübschen Anblick dieser Dämonin, wenn sich herumsprach, dass der Angreifer zu allem Überfluss sein Sohn war! Dennoch. Als er den Kopf wieder hob, war ein erstaunlicher Anteil seines Blickes Trotz. Nein, er würde sich für diese Tat nicht schelten lassen. Er hatte keine andere Wahl gehabt, weder in Bezug auf die Reise nach Norden noch in Anbetracht der Tatsache, dass diese Shunran sie ohne Zweifel in eine Falle geführt hätte. Entgegen aller Wahrscheinlichkeiten schien der Fürst gegenüber der wenig beschämten Haltung seines Sohnes nicht im Mindesten verstimmt. „Du hast mir die Arbeit abgenommen“, ließ er Minoru wissen, der daraufhin wieder in eine bodenlose Verwirrung abglitt. Hatte er sich nicht gerade noch darauf eingestellt, sich rechtfertigen zu müssen? Wie sollte er diesen Mann nur je verstehen! Dann spannten sich die Züge seines Vaters streng an. „Niemand gibt sich für mich aus. Deine Tat mag rachsüchtig wirken, aber ihr die Erinnerung daran ins Gesicht zu brennen, sorgt hoffentlich dafür, dass sie das nicht noch einmal vergisst.“ „Wenn Ihr so darüber denkt, hättet Ihr sie noch vor Ort selbst richten können.“ „Ich werde sie früh genug von ihrem Leid erlösen. Bis dahin darf sie in jeder Spiegelung daran denken, dass dieser Tag bald kommen wird.“ Er wandte sich wieder um und setzte seinen Weg fort. Wenn sich Minoru anstrengte, etwas in seinen Ton hinein zu interpretieren, klang er fast schadenfroh. War das so etwas wie ein verstecktes Lob gewesen? Zumindest der Hinweis, dass er etwas richtig gemacht hatte? Er folgte dem Fürsten und versank für eine Weile in Gedanken. „Es ist nichts naheliegender, als dem Westen, mir, über deine Person zu schaden“, meinte Sesshōmaru und strich sich einige Haare über die Schulter zurück, die der Wind von ihrem Platz verweht hatte. Allein bei dem Anblick dieser Krallen, die unter den weißen, offenen Strähnen in der Bewegung hervorblitzten, wusste Minoru, warum keiner ein großes Interesse daran hegte, es sich mit ihm zu verscherzen. Um das zu verinnerlichen hätte er dessen leicht pulsierende Aura als Gedankenstütze nicht benötigt. Sie fuhr über ihn hinweg wie eine scharfe Brise, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Nochmal wollte Minoru nicht nachhaken, auch wenn er keine wirkliche Frage gestellt hatte. Es war auch so deutlich, wovon er sprach und die beklemmende Stille, die sich danach über sie senkte, beendete das Thema endgültig. In den vergangenen Stunden war immer noch kein Anzeichen auch nur eines einzelnen Oni wahrzunehmen gewesen und Minoru bezweifelte langsam ihre bloße Existenz. Aber es sollte ihm recht sein. Er hatte keine große Lust auf einen Kampf oder seinem Vater dabei zuzusehen, wie er Oni schlachtete. Bisher hatte er ihn weder kämpfen noch töten sehen und etwas sagte ihm, dass er das vermutlich auch alsbald nicht erleben wollte. Doch auch wenn Minoru seit geraumer Zeit damit rechnete, tat der Fürst diese sinnlose Suche auch nach Stunden nicht als Zeitverschwendung ab und schickte sich nicht an, sie aufzugeben. Es war unschwer zu bemerken, dass er unerfreulichen Gedanken nachhing, während Minoru ihm in einigem Abstand folgte und nicht viel anderes tat. Es war so unerhört lächerlich! Während der letzten Tage hatte er es mit Arbeit kaschieren können, aber nun machte sich deutlich bemerkbar, was er bereits während der Reise gen Westen bemerkt hatte: Er war über die letzten Wochen unstet geworden, innerlich aufgewühlt und sensibel. Jede unvorhergesehene Bewegung des Fürsten ließ seinen Puls in die Höhe schnellen und seine Atmung abflachen. Das hatte sich seit dem Onsen nicht geändert. Er rechnete jederzeit damit, Fehler zu machen oder sich Strafen einzuhandeln. Vermied Blickkontakt und Widerworte. Fügsamkeit war keine seiner herausragenden Eigenschaften und Angst, dieses erschreckend hinderliche Gefühl, das mit Vorliebe den Geist benebelte und die Muskeln in der Not nur lähmte, hatte er schon jahrelang nicht mehr verspürt. Er musste sich dennoch eingestehen, dass es sich um nichts anderes handeln konnte. Dieses Gefühl, wenn er sich in seiner Nähe befand, ging weit über Respekt hinaus und das zu Unrecht. Nie hatte sich der Taishō ihm gegenüber feindlich gezeigt. Nicht einmal nach seiner gemeinsamen Reise mit Rin. Er trug es ihm nicht nach, dass er Dreck an seiner Kleidung ansammelte, die Mahlzeiten in einer engen Küche mit der Dienerschaft einnahm oder gar Mäuse fraß. Dieser Mann hatte sich seines Gebärdens mit keinem Wort verdient gemacht. Mit Nobu hatte er binnen einer Woche sprechen können, obwohl ihm dessen Motive völlig schleierhaft waren. Sein Vater hingegen hatte gute Gründe, sich seiner anzunehmen und es war schändlich von ihm, es ihm so zu vergüten. Aber er konnte nicht anders. Er und Angst! Minoru kannte nachdenkliche Sorge und wohl durchdachtes Vermeiden von Gefahr. Aber wirkliche Angst lag Jahre zurück. Er wollte verdammt nochmal dieses Gefühl nicht andauernd in der Nähe des Fürsten durchleiden; ein lauerndes Raubtier, das nur auf den Moment wartete, in dem es lohnenswert schien, zuzuschlagen. Wie widerlich es war, sich plötzlich selbst nicht mehr zu kennen. Keinen Einfluss auf den eigenen Willen zu haben. Er hatte so inständig gehofft, dass dies der Vergangenheit angehörte, nachdem er tatsächlich Frieden in der Arbeit finden konnte! Doch Unruhe und Unsicherheit kehrten sofort zurück, wenn sich ihnen eine Lücke bot – und rissen ihn wieder in diesen Zustand, den er zutiefst verachtete. Sesshōmaru, der die nun seichteren Gemütsschwankungen seines Sohnes verfolgte, presste die Kiefer hart aufeinander. Wenn er die Verantwortlichen in seine Klauen bekam, würden sie lernen, was es bedeutete, Hand an diesen Jungen zu legen. Einen Yōkai, noch dazu einen Welpen, so lange von seinem Yōki zu trennen, war selbst für einen Dämon grausam. Die Vorstellung allein bereitete dem Fürsten Unbehagen und er musste sich vorhalten, nicht eher reagiert zu haben. Die unüberschaubare Ähnlichkeit zwischen ihnen und das Fieber, das den Jungen so unversehens übermannt hatte, hätten ihn nicht nur stutzig machen, sondern auch zum Handeln zwingen sollen. Es grenzte bereits an ein Wunder, dass der Junge nur unsicher und schreckhaft geworden war, statt ohne dieses unglückselige Armband völlig den Verstand zu verlieren. Zu seinem persönlichen Ärgernis musste er einen Gedanken an seinen Halbbruder verschwenden. Inuyasha, sein Halbblut von Bruder, der ohne den Schutz des Schwertes Tessaiga nur allzu schnell von dem dämonischen Erbe ihres Vaters übernommen worden war, hatte sich in bedrohlichen Situationen durch aufwallendes Yōki nicht nur einmal zu besinnungslosen Blutbädern hinreißen lassen. Minoru war zwar binnen kürzester Zeit einer großen Menge eben solcher Energien ausgesetzt worden, aber eine solche Wandlung war glücklicherweise ausgeblieben. Sesshōmarus Miene verfinsterte sich daher zusehends, als er der Aura seines Sohnes ein weiteres Mal nachspürte. Wie ein verschrecktes Wildtier, angespannt und jederzeit bereit, in jede erdenkliche Richtung zu agieren. Nicht auszumalen was geschah, wenn diese Aura im Ernstfall den Einfluss noch tiefer in seine Persönlichkeit ausweitete. Denn immerhin war die Energie existentiell für sein Überleben und Bestandteil seiner Selbst. Mit der Dämmerung kehrten Wind und schneidende Kälte zurück. Die Böen jagten durch den Wald und schlugen beißend an den Berghängen entlang. Bis auf die Vorebene des Schlosses bestand der gesamte Westen aus Gebirgszügen, tiefen Tälern und dichten Wäldern, die selbst die nördlichen Gebirge an Unwegsamkeit übertrafen. Einige Bäume waren so alt und groß, dass ihre Wurzeln ein Eigenleben zu führen schienen und über den Boden mächtig und stark herausragten. Nach der Blattfrische im Frühjahr würde an einigen Stellen kein einziger Sonnenstrahl den Boden erreichen. Einige höhere Lagen waren noch mit einer dicken Schneemasse bedeckt. Minoru atmete die kühle Luft ein und machte einen Schritt näher an das Bergmassiv heran, durch dessen Pass sie sich einen Weg in die nächste Talsenke bahnten. Das war also der zentrale Westen. Nach den neuerlichen Ereignissen hatte auch diese Feststellung einen seltsamen Beigeschmack bekommen. Noch vor wenigen Tagen waren Grenzen für Minoru fiktive Gebilde gewesen, die irgendwann einmal gesteckt worden waren und die für ihn, der sich weithin als neutral ansah, keinerlei Bedeutung hatten. Heute war es ein Gebiet, auf das sein Vater Besitzansprüche stellte. Ein Gebiet, das zu verteidigen und auszuweiten von ihm selbst erwartet werden würde, wenn alles weiterlief wie bisher. Eine seltsame Vorstellung – ein Land beherrschen. Ebenso hätte man behaupten können, den weiten blauen Himmel zu besitzen. Das Erleichternde an der Sache war lediglich, dass es sowohl dem nun finster werdenden Himmel als auch den gerade noch im Winterschlaf ruhenden Bäumen vermutlich ziemlich egal sein dürfte, wer gerade behauptete, ihr Herr zu sein. Für sie waren das Belange einer anderen, niedrigeren Sphäre, die sie kaum berührten. Als sie das nächste Tal erreichten, setzte der Nieselregen ein und das Wetter schlug damit endgültig um. Minoru, der sich bisher damit zurückgehalten hatte, nahm die Form des weißen Hundes an und trabte neben seinem Vater her. Der Regen perlte an seinem Fell ab wie von Lotus. Als sich der Fürst schließlich im erstbesten Windschatten niederließ, legte er sich vor ihm nieder und ließ den Kopf auf die Vorderpfoten sinken. Sesshōmaru, wie üblich ein Bein etwas angezogen und das andere in eine einsame Schneiderposition auf dem Boden ablegt, lehnte mit geradem Rücken an der Felswand und ließ die Augen auf dem Hund ruhen, der ebenso zu ihm aufsah. All diese unkontrollierte Energie, die Instabilität und Unsicherheit führten dazu, dass Minoru in seinem jetzigen Zustand eine unkalkulierbare Variable darstellte und zu allem Überfluss ergriff er so gut wie nie von sich aus das Wort. Rin hatte nach ihrer Rückkehr vor etwas über einem Jahr bereits nach den ersten Tag in allen Farben und Tönen dargelegt, wie glücklich sie darüber war, wieder bei ihm zu sein und in ihrer verbliebenen, kindlichen Art ausgeschmückt, was sie in der Festung alles zu tun gedachte. Auch über das Leben in dem Menschendorf hatte sie viel erzählt und sich nicht zurückgehalten, zu weinen, als die Sprache auf die alte Priesterin kam, in deren Obhut er sie vor vielen Jahren gegeben hatte. Bei Rin war vieles ersichtlich und offenkundig. Ängste, Träume und Wünsche flossen nur so aus ihr heraus und es kümmerte sie nicht im Geringsten, dass Einige dies – vor allem ihm gegenüber – für anmaßend hielten. Doch auch wenn Sesshōmaru sich zurecht damit hätte rühmen können, eine große Interpretationsgabe in Sachen Intuition und Gesinnung Anderer zu besitzen, musste er zugeben, dass er diesen verbissenen Jungen durch dessen distanzierte Art und sein unstetes Wesen nur bis zu einem gewissen Grad direkt einzuschätzen vermochte. Es lag nicht im Rahmen seiner alltäglichen Beschäftigungen, sich mit anderen Lebensformen zu unterhalten, aber manchmal blieb selbst ihm nichts anderes übrig. „Geht es dir besser als neulich?“ Minoru hob vor Verwunderung den Kopf. Seit Stunden hatte der Fürst geschwiegen und nun begann er tatsächlich ein Gespräch. Erstaunlich. „Es ist in Ordnung“, gab er zurück und ließ den Kopf wieder zurück auf die Pfoten sinken, sah weg von ihm, ehe er bemerkte, dass der Taishō ihn so vermutlich nicht verstehen konnte. Er seufzte leise und verwandelte sich zurück. Vor ihm auf dem nassen Waldboden liegend, raffte er sich auf die Knie auf und wollte gerade wiederholen, was er gesagt hatte, da wurde er bereits unterbrochen. „Ohne Aussage“, stellte sein Vater fest und Minoru musste sich zusammenreißen, um den Unterkiefer am Gegenstück zu halten. „Ihr habt verstanden?“ „Selbstredend“, gab dieser zurück. „Davon ab: Wenn ich dich etwas Frage, erwarte ich eine aussagekräftige Antwort. Du kannst ehrlich zu mir sein – selbstredend in angemessener Weise und nur, wenn wir unter uns sind.“ Als sein Sohn daraufhin immer noch nichts sagte, legte Sesshōmaru den Unterarm auf das aufgestützte Knie und neigte den Kopf zur Seite. „Der Floh zählt dabei nicht.“ Minoru spürte, wie ihm ein leichter Schauer über den Rücken lief und fühlte sich, als habe man ihn gerade dabei ertappt, wie er aus der Küche stibitzte. Das war allerdings kein Vergleich zu der Herzattacke, die der arme Flohgeist zwischen seinen Haarsträhnen durchlitt. Benommen drohte er aus seiner sicheren Position zu fallen und konnte sich nur in einem letzten Aufbäumen seiner Kräfte am Platz halten. „Er weiß, dass sein kleines Leben an einem sehr dünnen Diskretionsfaden hängt. Nicht wahr, Myōga?“ „J... ja, Sesshōmaru-sama“, gab der kleine Yōkai leise zurück und ließ sich zittrig auf Minorus Schulter sinken. Tōga-sama hätte seine Loyalität niemals angezweifelt – oder ihm gar mit Mord gedroht! Aber Sesshōmaru war nun einmal nicht Tōga. Zu Myōgas Bedauern. Er hielt sich an dem neuen Stoff des Kimonos fest und wünschte sich mehr als alles andere, dass der Junge schon einen weichen Pelz über seiner Schulter liegen hätte, in dessen Schutz er sich nun liebend gern verkriechen wollte. „Ich habe versucht, mich an Euren Rat zu halten und meinen Blick nach vorn gerichtet, soweit es mir möglich war. Aber einige Tage sind kaum ein angemessener Zeitraum, um alles Vergangene zu vergraben und vergessen. Ich erkenne mich selbst nicht wieder; so schreckhaft und unsicher – und bitte, ich will Euch damit keineswegs beleidigen. Es ist schändlich, Euch gegenüber so undankbar zu sein. Ich komme einfach nicht zur Ruhe.“ Der Fürst sah ihn ruhig an, dann wurde sein Ausdruck wieder völlig ernst, auch wenn er durchaus zufrieden war, dass der Junge genau das bestätigte, was er längst ahnte. „Du bist überfordert. Das ist nur verständlich. Es hat seinen Grund, dass kein gewöhnlicher Dämon gern Anstoß an uns nimmt. Und ebenso wird das nicht unerheblich bei der Entscheidung gewesen sein, dich mit dieser Fuchskoralle zu versehen. Niemand möchte einen Daiyōkai händeln müssen; nicht einmal einen Welpen, sei er auch noch so klein.“ „Ich verstehe offen gestanden kein Wort.“ „Nein. Natürlich nicht“, ein unterschwelliger Ton von Enttäuschung durchtränkte seine trockene Stimme. „Ich hatte nicht erwartet, dass sie dir erlaubt haben, deine wahre Form zu nutzen.“ Ungläubig blinzelte Minoru ihn einen Moment lang vielsagend an. Myōga auf seiner Schulter verschluckte sich augenblicklich am eigenen Speichel und starrte zu dem Jungen hinauf. Er hielt dieses menschenähnliche Dasein für seine eigentliche Erscheinung? Nun wusste auch der treue, kleine Yōkai nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. „Aber junger Herr! Das ist doch nichts als Trug und Schein!“, protestierte der Flohgeist vehement. „Ebendies.“ Sesshōmaru krümmte die Klauen und raffte sich auf. Minoru fuhr ob dieser schnellen, fließenden Bewegung zusammen und als der Fürst ihm mit rot glimmenden Augen seine Rechte entgegenstreckte, begann sein Herz in der Brust zu rasen wie ein aufgeschreckter Vogel in einem knöchernen Käfig. Seine Aura hatte sich um ihn herum verfestigt wie eine Schutzmauer, beinahe tastbar und bereit, sich auf jedwede Weise zu verteidigen. „Ich kann dir die Hand nur reichen, Junge.“ Die Stimme des westlichen Fürsten war zu einem einzigen, dunklen Knurren verzogen. Die sonst so gradlinigen, magentafarbenen Zeichnungen auf seinen Wangen waren breiter geworden und liefen unsauber und fransig aus. Minoru biss die Zähne zusammen, bis es schmerzte. Myōga krallte sich derweil fester in die Strähnen seines neu erwählten Wirtes und schluckte schwer. Er war vor vielen Jahrhunderten an Tōgas Seite gewesen, als dieser seinen Jungen zum ersten Mal in die Form des großen, weißen Hundedämons getrieben hatte. Bis zu diesem Tag hätte er ohne Weiteres alle vier Hände dafür ins Feuer gelegt, dass der junge Welpe seines Herrn nicht nur ein atemberaubend schöner, sondern auch durchweg höflicher Junge gewesen war, dem Widerworte und Aggression völlig fremd schienen – bis er erlebt hatte, wozu selbst ein unkontrollierter Welpe mächtiger Eltern im Stande war. Und Sesshōmaru hatte Tōga schon vor vielen Jahren in den Schatten gestellt. Nun, die nächste sterbliche Seele war hoffentlich weit genug weg und vielleicht war dies einer der wenigen Momente, in denen Myōga dem Himmel dankte, dass der derzeitige Taishō seinem Vater nicht nur in Mildtätigkeit bodenlos nachstand, sondern eben auch Kalkül und nötige Härte besaß, eine eskalierende Situation durch bloße Präsenz zu ersticken. Dann griff Minoru zu, ließ sich von der glühend heißen Hand seines Vaters auf die Beine ziehen. Eine Welle von Yōki begrub ihn augenblicklich unter sich, umhüllte ihn wie es die Wasserschlange im Mogami-gawa vermutlich getan hätte; nahm ihm den Atem, die Sicht und zuletzt das Bewusstsein. ~ „Junge.“ Der Regen prasselte ihm hart ins Gesicht. „Minoru.“ Er fühlte sich immer noch benommen, als er die Augen blinzelnd aufschlug und sein Kopf pochte, als sei er frontal gegen einen Felsen gerannt. Es war dunkel, aber als er den Kopf drehte, blendete ihn der Mond als wolle er es der Sonne gleichtun. Er ließ die Lider wieder zufallen und brummte leise. „Steh auf.“ „Mir ist kotzübel“, murmelte er zur Antwort und lockerte die Schultern, bevor er sich auf die Vorderbeine hievte. „Was haben wir doch für einen ausschweifenden Wortschatz“, klang die Stimme des Fürsten hoch über ihm. Er wandte den Blick zu ihm und stutzte einen Moment. Der riesige, weiße Hund, der neben ihm auf dem felsigen Boden saß, die blau-violette Mondsichel auf der Stirn, die magentafarbenen Zeichnungen deutlich in seinem Fell, sah aus blutroten Augen auf ihn herab. Der lange Pelz, der sonst lose seine rechte Schulter umgab, war nun Teil seines Fells. „Nun steh auf.“ Minoru atmete durch, raffte sich dann vollends hoch und schüttelte das aufliegende Wasser aus seinem Fell. Er fühlte sich schrecklich. Erschöpft, mit schmerzenden Muskeln, als habe er einen pausenlosen Lauf hinter sich. Der gewaltige Abstand zum Boden ließ ihn ahnen, dass sich einiges geändert hatte und das vertraute Körpergefühl nur ein Trugschluss war. Etwas über zwei Meter mussten es sein, wenn er die Nase an den Boden drücken wollte, aber kein Vergleich zu seinem Vater, der mit Sicherheit den doppelten Weg hätte zurücklegen müssen. Er machte einige Schritte, setzte die Pfoten möglichst vorsichtig ab, um zu testen, wie schwer die Bewegungen ausfielen, aber er erzeugte dabei kaum einen Laut. Nicht nur die Höhe hatte sich verändert. Alles war anders als sonst, wenngleich so vertraut als habe er nie eine andere Form besessen. Als er sich jedoch zu abrupt umwandte, loderte auf seinem Rücken ein heißer Schmerz auf. Er zuckte zusammen und konnte ein leises Fiepen kaum unterdrücken. Dann roch er Blut und weitete die großen, roten Augen. Nicht nur der Regen hatte sich auf seinem Rücken ausgebreitet und auch sein Vater blutete aus einer tiefen Bisswunde am linken Vorderbein. Minoru schluckte schwer. „Wenn du erst einmal zu denken aufhörst, gibst du einen recht wehrhaften Gegner ab“, meinte der Fürst gelassen. „Vielleicht sollte ich dir gratulieren. Andererseits hätte ich dir die grobe Behandlung gern erspart. Dein Training mit Ryouichi wird sich dadurch sicher nicht einfacher gestalten.“ Minoru sah sich mit einem verstohlenen Blick um. Das Tal, in dem sie sich eben noch befunden hatten, war verschwunden. Stattdessen war der Boden felsig, die Umgebung deutlich offener. Eine zugige Anhöhe, spärlich bewaldet und von Regen überzogen. „Was ist geschehen?“, fragte er schließlich. „Nichts anderes als erwartet“, gab Sesshōmaru zurück und stand auf, um seinen Weg fortzusetzen. „Du hast dich bedroht gefühlt und angegriffen, bis es aussichtslos genug schien, um zu fliehen. Dich einzuholen und auszuschalten war... umständlich.“ Das erklärte wohl sämtliche Schmerzen und die Übelkeit nur zu genau. Er senkte den Kopf noch tiefer und murmelte eine Entschuldigung. Sesshōmaru nahm sie beinahe beiläufig an. Er war lediglich überrascht, dass der Junge so biestig geworden war, dass er selbst dann die kleinste Lücke zum Kontern genutzt hatte, als er ihn mit dem gesamten Fang im Rücken gefasst hielt. Mit einer gewissen Genugtuung stellte er fest, dass sich die Aura des Jungen ein wenig beruhigte. „Wie fühlst du dich?“ „Das ist ein Scherz, oder?“, Minoru legte den Kopf schief. Sah er etwa aus, wie das blühende Leben? „Ich beliebe nicht zu scherzen“, kam es trocken zurück. „Nun, abgesehen von allem, das irgendwie brennt und sticht, lebe ich“, meinte Minoru nicht minder kühl und folgte ihm auf dem Fuße. Die eingerollte Rute des jungen Inuyōkai schwang jedoch unwillkürlich von einer Seite zur anderen und noch während er im Wind nach interessanten Gerüchen witterte, begann er bereits federnd zu traben. „Es ist großartig“, gestand er. „Einfach nur großartig.“ „Es war absehbar, dass es dir zusagt“, entgegnete der Ältere, während Minoru zum ersten Mal seine Schritte beschleunigte, um neben ihm zu gehen. „Könnt Ihr es mir beibringen?“ „Du hast die Linie einmal überschritten. Das nächste Mal sollte kein großes Problem für dich darstellen. Aber damit wir uns verstehen: Ich will, dass du nun ohne Umwege zu mir kommst, wenn du aus irgendeinem Grund den Boden unter den Füßen zu verlieren denkst.“ „Aber -“ „Das war keine Bitte, Junge. Einmal aus der Fassung gebracht, kann es dich ungewollt fortreißen und niemand in deiner Nähe wird dann vor dir sicher sein. Ich habe Besseres zu tun, als das Land von meinem marodierenden Sohn zu befreien.“ „Ich war noch nie... eine beachtenswerte Bedrohung für irgendjemanden“, meinte Minoru ungläubig, auch wenn sein Blick direkt auf den blutenden Lauf seines Vaters fiel. „Aber wenn Ihr es so wünscht...“ „Sie hatten Angst vor dir“, stellte der Fürst fest und sah seinen Sohn mit strenger Miene an. „Hättest du in ihrer Mitte die Kontrolle verloren, hättest du sicherlich massiven Schaden angerichtet. Dich möglichst demütig und schwach zu halten liegt da nahe. Wobei du für Demut ganz offensichtlich nicht geboren worden bist.“ Minoru knurrte leise, das Fell in seinem Nacken stellte sich ab wie tausend spitze Nadeln und in seinen gerade noch leuchtenden Augen funkelte ein Zorn, der in einer so jungen Seele einfach deplatziert wirkte. Jeder Gedanke an seine Mutter war einer zu viel. „Dein Hass sitzt tiefer als gut für dich ist“, meinte sein Vater möglichst schonend, aber er fing sich dafür einen so wütenden Blick ein, dass er versucht war, dem Jungen für diese Respektlosigkeit gehörig die Leviten zu lesen. Als dieser jedoch entgegen seiner sonstigen Gewohnheit zu reden begann, begrub er dieses Verlangen wieder. „Ich will, dass sie verrecken. Unehrenhaft und elendig; wie sie gelebt haben. Es schert mich nicht, dass ich nur lebe, weil sie mich monatelang mit sich herumgeschleppt hat. Nachdem ich auf der Welt war, hat sie mich gehasst – und versucht gar nicht, mir das auszureden. Gut möglich, dass sie ein Mädchen wollte oder einen Sohn, der anderen Ansprüchen genügt hätte, als ich es getan habe. Ich weiß nicht, womit ich ihren Unmut auf mich gezogen habe, aber diese Frau hasst mich aus tiefster Seele und sie hat es mich oft genug spüren lassen. Ich will sie tot sehen, und wenn sie erst einmal in der Unterwelt gelandet ist, beschwöre ich sämtliche Mächte, dass sie sie nie wieder verlassen kann. Ich und Demut!“ Er schnaubte verächtlich und wandte den Blick ab. „Ich habe lange genug gebuckelt und versucht, ein gutes Kind zu sein, habe versucht, den Anforderungen meiner Mutter zu entsprechen, sie glücklich zu sehen oder auch nur ein Lob aus ihrem vermaledeiten Mund zu hören. Sinnlos. Es ist einfach zu sagen, dass ich sie zu sehr hasse, auch wenn Ihr vielleicht recht haben mögt. Ich verdanke ihr immerhin, dass ich bei Hofe nicht ganz aufgeschmissen bin, wenn es darauf ankommt. Aber diese Diskrepanzen hätte ich gar nicht, wenn sie nicht zuerst auf die brillante Idee gekommen wäre, mich in der abgelegensten Dreckshütte großzuziehen, die es jenseits des Westens gibt!“ „Wenn sie dich verachtet, dann hasst sie mich in deinem Anblick“, sagte Sesshōmaru mit einem Ernst, der verstörend an Milde erinnerte. „Du wurdest benutzt. Das hätte nie passieren dürfen.“ „Lächerlich“, gab Minoru prompt zurück. „Mir fällt nicht ein, welchen Nutzen ich hätte haben sollen. Auch in dreihundert Jahren hätten sie mir nicht einmal ein Küchenmesser in die Hand gelegt. Eine formvollendete Verbeugung oder ein besonders melodisches Lied – womit hätte ich Euch gegenübertreten sollen, um Euch zu schaden? Ihr hättet mich binnen Sekunden in Stücke gerissen, und selbst wenn sie mich Euch als erstgeborenen Sohn oder gar einzigen Erben vorgesetzt hätten, wäre dies doch bedeutungslos gewesen. Nicht einmal erpressen hätten sie Euch können. Was sollte Euch das Schicksal eines Kindes interessieren, das Euch nie begegnet ist?“ „Du vergisst dich!“, fuhr der Fürst ihn scharf an. „Soll das deine Art von Sturheit sein oder ist das deine wahrhaftige Meinung? Es mag wenig dazu zu gehören, einen Sohn zu zeugen, aber es gibt kaum eine größere Schmach als einen zu verlieren. Es ist bereits schlimm genug – auch ohne diese Szenarien.“ „Soll das heißen, dass ihr meinetwegen Euer Gesicht verloren habt?", erkundigte sich Minoru mit einem Unterton, der dem Fürsten ganz und gar nicht gefallen wollte. Wann würde dieses Kind endlich einsehen, dass er der Letzte war, den Schuld traf? „Einzig wichtig ist, dass du nun hier bist“, antwortete er ernst. „Vergiss deine Mutter. Du bist mein Sohn und ich rate dir, mich nicht zu enttäuschen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)