Einem fernen Tage von Silberfrost ================================================================================ Kapitel 6: vergeht der einstige Glanz (neu). -------------------------------------------- Rin gewöhnte sich nur langsam an die Hitze ihrer neuen Umgebung. Der alte Dämonenschmied hatte eine Vorliebe für hohe Temperaturen und sein Lager auf einem vulkanischen Berg inmitten des Ōu-Gebirges errichtet. Ein mit Fellen überzogenes Skelett eines vieräugigen Dämons diente ihm seit Jahrtausenden als Behausung. Zumindest sofern man Jakens Erzählungen Glauben schenken konnte, denn der Alte hatte sich geweigert, einen Menschen zu tief in die Vulkanlandschaft zu führen, wo sie sich verbrennen oder gar einen Hitzschlag erleiden mochte, der ihm wiederum nur Scherereien brachte. Stattdessen lagerten sie auf halbem Weg zum Gipfel, wo die Luft bereits heiß in die Lungen fuhr und die Umarmung des Bodens in wenigen Zentimetern Tiefe ein Ei gekocht hätte. Rin wischte sich den Schweiß von der Stirn und beobachtete A-Un, der mit seinem zwei Köpfen zwischen den Felsspalten die wenigen Halme suchte, die sich in die unwirtliche Landschaft verirrt hatten. An seiner Seite kaute Mo-Mo, der Ochse des Schmieds, genüsslich sein Frühstück wieder, während sein Herr bereits seit Stunden eine Waffe ausbesserte, die aussah, als sei sie bereits vor seiner Geburt alt gewesen. „Vielleicht kannst du mir verraten, warum ich diesem unausstehlichen Hund eine Waffe repariert habe, die nicht mal meiner Arbeit entstammt, nur um dann mit dir und diesem Kind gestraft zu werden? Man sollte meinen, er habe auch ohne Tōkijin ausreichend Waffen für vorhandene Hände.“ Rin bedachte den Schmied mit einem milden Lächeln und überging die Anspielung auf den Arm, den der Fürst einst zeitweilig im Kampf gegen seinen Halbbruder eingebüßt hatte: „Tut mir leid, nein. Es ist nicht so, dass er derlei mit mir bespricht. Er wird seine Gründe haben, warum er Tōkijin reparieren ließ. Die hat er immer.“ „Natürlich“, schnarrte der Alte. „Und Mord fällt sicher unter die ersten drei.“ „Ihr wisst, dass er dafür nicht zwangsläufig eine Waffe braucht.“ „Das hat ihn aber schon als Kind nicht davon abgehalten, lauthals nach ihnen zu verlangen.“ Ein Schmunzeln konnte sie sich nicht verkneifen. Während die Phantasie der meisten wohl an einer kindlichen Version des Inu no Taishōs gescheitert wäre, empfand Rin die Vorstellung als durchaus amüsant. Warum sollten nicht auch Landesfürsten mal nachts durch das Haus geschlichen sein, um die wohl gehüteten Schätze ihrer Eltern zu begutachten? Gerade Waffen boten sich da an, denn immerhin widmeten die Erwachsenen ihnen Stunden ungeteilter Aufmerksamkeit. Sangos Zwillingsmädchen waren gleichermaßen begeistert gewesen, wenn sie sich an der Pflege des Knochenbumerangs ihrer Mutter beteiligen durften, mit dem diese täglich trainierte. Und Rin erinnerte sich lebhaft an Inuyashas gepfefferten Wutausbruch, als er seinen Sohn mit Tessaiga hinter dem Haus erwischt hatte. „Was meine Anwesenheit anbelangt: Ich hoffe, wir sind Euch keine allzu große Last. Wenn ich Euch zur Hand gehen kann, um Euch die Gastfreundschaft zu vergelten, lasst es mich nur wissen. Ich kann kochen! Habt ihr vielleicht Hunger? Ich würde mich gern nützlich machen. Sagt einfach, was ich tun soll.“ Tōtōsai war nun eindeutig anzusehen, dass er bereute, überhaupt das Wort an sie gewendet zu haben. Wenngleich er sichtlich Schwierigkeiten hatte, zu begreifen, wie ausgerechnet Sesshōmaru es in der Nähe dieser gesprächigen, freudigen Seele aushielt. Nicht, dass sich der Schmied nicht bereits selbst von diesem sonnigen Gemüt abgestoßen fühlte – aber der frostige Herr des Westens? Ein bizarrer Gedanke. „Der Junge braucht dich dringender“, wimmelte er sie und damit auch jedwede Arbeit ab, die ihm dieser Welpe hätte verursachen können. Rin warf einen erneuten Blick auf Minoru. Als Hund war sein Fell zwar schmutzig gewesen, durchnässt und filzig, aber er hatte insgesamt weniger verkommen gewirkt als der Junge, den sie auf dem heißen Boden gelagert und zusätzlich mit einer Decke aus A-Uns Satteltaschen überworfen hatte. Er war höchstens fünfzehn, das Haar so weiß wie sein Fell zuvor, glanzlos und stumpf, auch wenn er es am Abend in einem halbwegs akzeptablen Flechtzopf gebändigt hatte. Seine Kleidung hatte die Bezeichnung längst nicht mehr verdient. Schlicht wäre in Ordnung gewesen, doch von seinem Hemd waren nur noch Fetzen übrig, sodass Rin sich nicht zu Unrecht wunderte, warum es ihm nicht vom Leib fiel. Die Hose schien deutlich weniger gelitten zu haben oder war lediglich irgendwann ersetzt worden. Aber auch sie war von Schlamm-, Blut- und Grasflecken durchsetzt und an diversen Stellen gerissen. Unabhängig von dem was ihn plagte, legte sich der Anblick schwer auf ihr Gemüt. Sie hatte verarmte Familien mit zu vielen Kindern gesehen, deren Sprösslinge weniger hager gewesen waren als er. Was seine Behandlung anbelangte, gingen ihr die Mittel aus. Die Rippenquetschungen hatte sie mit einer Kräuterpaste gegen Schmerzen und Einblutungen behandelt, seinen Puls in regelmäßigen Abständen kontrolliert und ihm Wasser mit Weidenrinde eingeflößt. Der Lanzenstich an seiner Seite war penibel ausgewaschen, vernäht und mit Honig bestrichen worden. Ja, sie hatte sogar Tōtōsai dazu gebracht, saubere Kleidung und Stoffe für Verbandsmaterial aus seiner Hütte herzuschaffen. Doch eine deutliche Besserung war bislang ausgeblieben, obwohl Rin alle Register gezogen hatte, die ihre breite Ausbildung in der Heilkunst bot. Gemeinsam mit der alten Priesterin Kaede hatte sie vielen Kindern auf die Welt geholfen und die Neugeborenen wie auch ihre Mütter lange darüber hinaus betreut. Auch die Alten hatten sie gepflegt und ihre Beschwerden gelindert. Doch die Lehren, die Kaede ihr über Dämonen hatte vermitteln können, lagen vorwiegend in deren Bekämpfung und weniger in der Heilung etwaiger Krankheiten. Daher hatte Rin zusätzlich mehrere Wochen im Jahr bei Jinenji verbracht. Der scheue Halbdämon besaß nicht nur einen Garten voller Heilpflanzen, sondern wusste auch um deren Wirkung auf Yōkai. Dennoch hatte auch der sanftmütige Riese ihr keine Standartbehandlung für fieberhafte Erkrankungen bei Dämonen an die Hand gegeben. Es sollte sie schlicht nicht geben. Daher hatte Rin erfinderisch werden müssen. Einen Menschen mit hohem Fieber hätte sie gekühlt statt ihn an einem Vulkanhang extra warm zu betten, doch Hitze half Dämonen gemeinhin bei der Regeneration, während Kälte ihn womöglich nur noch mehr ausgezehrt hätte. Dass er mittlerweile von Fieber in eine Unterkühlung gerutscht war, bestätigte diese Vermutung nur. Die Kräutermixturen hingegen waren in erster Linie für Menschen zusammengestellt worden und auch der Honig war eine antiseptische Maßnahme, die sie bei Yōkai noch nie angewandt hatte. Sie seufzte lang. „Wenn ich nur wüsste, was ihm fehlt. Sagtet Ihr nicht, Ihr wüsstet, was diese Krankheiten auslösen kann? Vielleicht kann ich ihm besser helfen.“ „Kaum. Es wird an seinem Yōki liegen. Dämonische Auren zu beeinflussen liegt außerhalb der menschlichen Fähigkeiten“, begann der Alte, während er Rost von der alten Klinge kratzte und mit kritischem Blick zwischen seinen Fingern verrieb. „Bei geschicktem Umgang können die Energien Wunden heilen, die Form wandeln oder für Angriffe genutzt werden. Etwa wenn man sie in geeigneten Waffen kanalisiert. Das Ausmaß verfügbaren Yōkis ist nicht zuletzt das, was etwa deinen Daiyōkai von niederen Dämonen unterscheidet. Aber von diesen Spielereien der Obrigkeit abgesehen ist sie schlicht unerlässlich. Zerstöre die Aura, zerstöre den Dämon. Glücklicherweise ist das nicht so einfach wie es klingt.“ „Denkt Ihr, dass ist es, was mit ihm passiert? Dass sein Yōki 'zerstört' wird?“ „Seines?“, Tōtōsai schnaubte. „Nein, Mädchen. Ich bezweifle, dass er überhaupt je eine ausreichende Aura hatte und das kostet ihm gerade den Hals. Das Ausmaß, mit dem diese Energien später genutzt werden können, mag erblich sein – insbesondere von Seiten der Mutter aus – aber die Kinder kommen mit kaum nennenswerten, basalen Yōki zur Welt und sind auf ihre Nähe angewiesen. Sollte die Mutter sterben oder das Kind verstoßen, wird es zu schwach sein, sich gegen Umstände wie Krankheiten zur Wehr zu setzen.“ Rin runzelte die Stirne: „Aber ist es nicht unsinnig, schwache und ungeschützte Kinder zur Welt zu bringen?“ Nach all den Jahren bei Sesshōmaru hatte sie gelernt, dass Macht in der Welt der Dämonen schlichtweg das Überleben sichern konnte. Als ihrem Herrn Tōkijin, sein altes und damals einzig kampffähiges Schwert, zerbrochen war, waren ihnen in den Wochen danach unzählige Dämonen begegnet, die von diesem Zwischenfall erfahren hatten und den Inuyōkai töten wollten. Eine Tat, die ihnen immer noch genug Ruhm eingebracht hätte, auch wenn der Fürst unbewaffnet gewesen war. Keiner von ihnen hatte eine Chance gehabt, aber das verdeutlichte nur zu sehr, was geschah, wenn vermeintliche Schwäche nach außen getragen wurde: Es gab immer einen Yōkai, der von dem Tod des anderen profitierte – auch wenn dieser Profit nur darin bestand, die Leiche des anderen zu fressen und damit einen winzigen Teil seiner Energie zu erlangen. Warum also ausgerechnet schwache Kinder zur Welt bringen? „Weißt du, wonach Rehkitze riechen?“, erkundigte sich der Alte und sah sie nun doch endlich an. Sie schüttelte den Kopf. „Nach Wild, vermute ich?“ „Nach gar nichts. Sie haben keinen Eigengeruch. Die Anwesenheit der Mutter überdeckt das Kind. Das verhindert unnötige Zwischenfälle.“ „Denkt Ihr, seine Mutter ist tot?“ Der Schmied kratzte an seinem spitzen Kinnbart und zuckte schließlich mit den Achseln. „Die Frage war, wie Dämonen krank werden können – nicht, was diesem erbärmlichen Exemplar fehlt. Er ist kein Kleinkind. Was weiß ich? Sein Yōki ist jedenfalls kaum nennenswert. Mich wundert, dass er überhaupt so menschlich erscheinen kann.“ Langsam legte Rin den Kopf schief und runzelte die Stirn - sehr wenig damenhaft, aber eine Dame war sie nie gewesen und Sesshōmaru wie Kaede hatten nicht viel Wert darauf gelegt, sie zu einer zu erziehen. „Er ist uns als Hund begegnet. Vielleicht kostet ihm die menschliche Erscheinung zu viel Kraft?“ „Er ist was?“, ungläubig wanderten Tōtōsais riesige Augen ein Stück höher. „Unmöglich. Jeder Formwechsel erfordert Yōki eines Ausmaßes, das er nicht besitzt. Selbst das stärkste Halbblut kann ohne fremde Hilfe keine weitere Form annehmen – und der hier steht weit hinter manchem Han'yō zurück.“ „Aber es war so. Ich habe mich beinahe zu Tode erschrocken, als da dieser Junge saß, wo ich eben einen Hund streicheln wollte.“ „Einen Haushund.“ „Mit spitzen Ohren und Ringelrute. Wie man sie überall auf den Höfen und am Palast sieht. Etwas mehr als kniehoch und schlimm eingeschnappt.“ Es war zu sehen, dass der Alte mehr Vertrauen in seine Einschätzung setzte als in den Bericht einer jungen Menschenfrau. Als jedoch just in dem Moment ein dunkler Fleck auf seiner Schulter landete, wandelte sich seine Miene von Unglauben zu einer gewissen Resignation. „Myōga.“ „Myōga!“ Rins Augen wurden groß, als sie den winzigen Dämon betrachtete, der auf der Schulter des Schmieds Platz genommen hatte. Kaum größer als ein Daumennagel war der Mann. Mit zwei Paar Armen, einem niedlich kleinen Hut auf dem kahlen Kopf und in Wanderkleidung gehüllt, bebte der kleine Saugrüssel mitten in seinem Gesicht immer noch aufgeregt, als er sprach. „Ich ahne, was du denkst, Tōtōsai. Aber Rin ist nicht die Sorte Mensch, die im Angesicht eines Dämons ihr Urteilsvermögen verliert. Wenn sie sagt, er war ein Hund, dann entspricht das der Wahrheit. Aber als wahrer Kenner in Sachen Inu sage ich euch: Hier ist etwas faul. Sein Blut schmeckt so fad wie das eines Menschen. Und es ist bedenklich kalt.“ „Was meine Annahme zu seiner Aura nur bestätigt“, gnarzte der Schmied, der nicht im Mindesten überrascht schien, seinen alten Freund so plötzlich an seiner Seite zu wissen. Rin hingegen hatte den Flohgeist in Musashi erwartet, wo sie ihn zuletzt bei ihrer Abreise gesehen hatte. Seit dem Kampf gegen Naraku vor gut zwanzig Jahren beteuerte Myōga stets, die Zeiten in Politik und Wanderschaft endgültig begraben zu haben und seine verbleibende Zeit in der Ruhe des Dorfes genießen zu wollen; wenngleich er gewisse Anmerkungen zum Zeitgeschehen niemals unterließ. Als Sesshōmaru etwa Echigo und Uzen wieder in den Westen eingegliedert hatte, hatte sich der ehemalige Berater seines Vaters mehr als skeptisch über das politische Signal des Feldzuges geäußert. Dem derzeitigen Fürsten seine Bedenken mitzuteilen, wagte er jedoch nicht. Ohnehin war der Flohgeist dafür bekannt, bei heraufziehender Gefahr im Allgemeinen – und der Anwesenheit des Fürsten im Besonderen – unauffindbar zu verschwinden. Was die Frage aufwarf, warum er ausgerechnet im Angesicht eines drohenden Krieges ins westliche Hochland kam. Tōtōsai nahm ihr die Aufgabe ab. „Ist der Rotzbengel auch hier oder wagst du dich allein her?“ Der Floh zischte empört: „Wenn du damit Inuyasha, den Sohn unseres hochgeschätzten Herrn meinst – nein, der ist nicht hier.“ „Den, seinen Sohn – such dir aus, wen von der ganzen Brut ich meine“, konterte der Schmied ungerührt und friemelte mit dem krummen Fingernagel unbeeindruckt in seiner Ohrmuschel herum. „Was machst du dann hier?“ „Mir mit eigenen Augen ansehen, was hier vor sich geht. Was die Panther treiben. Nachdem Tōga sie vernichtend geschlagen und Sesshōmaru die verpfuschte Auferstehung ihres Generals unterbunden hat, sollte man doch annehmen, sie hätten ihre Lektion gelernt. Sesshōmaru hat ihnen mehr als deutlich mitgeteilt, dass er keine weiteren Fehltritte dulden wird – und mir will nicht gefallen, dass es jemanden gibt, der eine solche Drohung auf die Probe stellt. Entweder sie sind unglaublich dumm oder sie haben etwas in der Hinterhand.“ „Wirst du nicht zu alt für diesen Mist?“ Myōga schielte auf das rostige Schwert, das vor den gekreuzten Beinen des Schmieds in der Vulkanasche lag und hob vielsagend die Brauen. „Das ist nicht für diesen unausstehlichen Köter. Es ist nicht mal für den Westen!“ „Ah, natürlich. Und dass ich dich in Anwesenheit von Rin und diesem Jungen antreffe, hat natürlich ebenfalls rein gar nichts mit dem Westen zu tun. Also, welche Klinge hast du ihm diesmal geflickt? Bakusaiga? Tōkijin?“ Als die Miene des Schmieds sich kaum merklich veränderte, wurde auch Myōga blass. „Es war nicht wirklich Tōkijin, oder? Warum um Himmels Willen denn das? In den falschen Händen wäre dieses besessene Stück Metall – oh, sagt mir nicht, der Junge hat damit herumgespielt!“ „Oh nein“, erwiderte Rin schnell. „Sesshōmaru-sama würde niemals zulassen, dass jemand anderes Hand an diese Waffe legt und sich von ihr unterwerfen lässt. Der Junge hat Tōkijin nie angerührt.“ „Das kann ich nur bestätigen“, knurrte Tōtōsai. „Ich habe ihm da Schwert heute morgen gebracht und er hat mir gleich diesen erbarmungswürdigen Wurm aufgehalst. Auch wenn ich zugeben muss, dass das eine plausible Erklärung für sein ausgebranntes Yōki gewesen wäre. Tōkijin ist sicher nicht rücksichtsvoll, wenn es die Energie eines ungeübten Kindes zur Verfügung gestellt bekommt.“ Myōga runzelte nachdenklich die Stirn: „Wer ist er? Es sieht dem Fürsten nicht ähnlich mit Kindern herumzuziehen.“ Für einen Moment wurde es still. Rin betrachtete den winzigen Dämon mit schief gelegtem Kopf und auch Tōtōsai schien einige Situationen Revue passieren zu lassen, in denen er den Fürsten des Westens mit dem ein oder anderen Menschenkind an seiner Seite gesehen hatte. Der Flohgeist räusperte sich. „Im Großen und Ganzen jedenfalls...“ „Die Kappa haben ihn aus dem Mogami gefischt und zu uns gebracht. Er war schon vorher angeschlagen, aber sein Zustand hat sich über Nacht deutlich verschlechtert. Sonst redet er nicht besonders viel. Im Palast, einschließlich der Wehrkreise, habe ich ihn jedenfalls noch nie gesehen und auch Jaken meint, dass er unmöglich zum engeren Gefolge der Ratsherren gehören kann. Er glaubt, dass sich er zum niederen Fußvolk gehört und für etwas Ansehen Kopf und Kragen riskiert.“ „Hm“, Myōga klang wenig überzeugt. „So etwas kann auch nur von einem Kappa kommen. Deren Brut besteht immer gleich aus einer ganzen Hand voll Kaulquappen, von denen kaum die Hälfte durchkommt. Bei den Inu hingegen kann man sich den gesamten jährlichen Nachwuchs an einer Hand abzählen und hat immer noch Finger übrig. Nein, wenn er aus dem Westen käme, wüsste jemand von ihm. Gerade bei einem Jungen. Die Ratsmitglieder sind schon früher nie müde geworden, meinem Herrn über die zukünftigen Krieger für seine Armeen zu berichten – auch wenn die entsprechende Familie noch so unbedeutend und mein Herr noch so desinteressiert an Aufrüstung gewesen ist. Man kann sich ausmalen, wie diese Berichte in Anbetracht von Sesshōmarus Expansionswillen ausfallen dürften. Es gibt Hundedämonen auf Sado. Aber die Inu der Insel sehen gänzlich anders aus.“ Rin wusste, wovon er sprach. Der Generalleutnant der westlichen Armee, der dem Fürsten im Rang unmittelbar nachfolgte, war Sadoaner. Sein Haar war rabenschwarz und die Haut nach wenigen Sommertagen braun gebrannt. Hingegen die weißen Haare des Jungen, die feinen Zeichnungen, die dunkelrot auf Augenlidern und Wangen prangten wie Blut im Schnee – er stammte mit Sicherheit nicht von der Insel. „Wen kümmert eigentlich, wo er herkommt?“ Rin warf Tōtōsai einen entrüsteten Blick zu: „Wie sonst sollen wir ihn nach Hause bringen?“ Der Alte hob eine Braue, schwieg jedoch. Dass er den Bedarf an einem solchen Vorhaben infrage stellte, war auch ohne Worte für jedermann sichtbar. „Sesshōmaru wird wissen, was zu tun ist. Aber was auch immer es sein mag: Auf keinen Fall gehört der Junge allein in irgendeinen Wald. “ Rin erhob sich und ging erneut zu Minoru hinüber, um ihn mit Wasser zu versorgen und seinen Puls zu prüfen, während zwei greise Dämonen ihr nachdenkliche hinterher sahen. „Ob wir ihr sagen sollten, dass ihre Fürsorge bei allen Parteien auf Granit beißen wird?“ „Bist du senil?“, zischte Tōtōsai. „Menschen, Fürsten, Hundewelpen – das endet nie gut. Wenn du von deinem Ruhestand noch was haben willst, hältst du diesmal den Mund!“ In der Nacht hatte sich Stille über das Lager am Berghang gelegt. Rin schlief zusammengekauert an der Seite des beschuppten Dämons, der beide Köpfe schützend an sie gelegt hatte. Wenige Meter entfernt schnarchte ein Greis im gedämpften Licht der Kohlen. Minoru betrachtete sie eine Weile, dann rollte er wieder auf den Rücken und starrte in den verhangenen Himmel. Der Geruch von heißer, trockener Erde lag über allem und die kühlen Winde trugen einen Hauch von Schwefel aus den Bergen herab. Er konnte sich nicht daran erinnern, fortgebracht worden zu sein. Nach dem Gespräch mit dem Fürsten waren die Erinnerungen bruchstückhaft und vernebelt. Dass er nun wieder klare Gedanken fassen konnte, sprach für eine Besserung, auch wenn seine Gelenke weiterhin schmerzten und er weit davon entfernt war, sich belastbar zu fühlen. Erst beim Aufsetzen bemerkte er, wie viele Knochen er eigentlich besaß und legte die Stirn für einen Augenblick besinnend in die Handflächen. Es war bittere Lektion in Sachen Vorsicht, die er in den vergangenen Tagen allzu oft vernachlässigt hatte. Bis zu diesem unseligen Fluss war es gut gelaufen, aber mittlerweile war er sicher, dass er den Mogami mit weniger Aufwand und sicherer hätte umgehen können als ihn zu durchqueren. Der Wasserschlange wünschte er jedenfalls jedes erdenkliche Unglück an den Hals. Vielleicht tat sie ihm ja den Gefallen und erstickte an einem selten großkotzigen Kappa. Das Bild würde ihn für einige Jahre erheitern. Aber Minoru wusste es besser, als seine eigene Dummheit auf eine Verkettung von Umständen zurückzuführen, ganz gleich wie erniedrigend es sein mochte, dass er damit der Einschätzung des Inu no Taishōs beipflichten musste. Er hätte kein Versprechen geben dürfen, das ihm den Hals kosten konnte. Nicht in dieser Form jedenfalls. Doch so dumm es auch gewesen sein mochte: Es hatte Bestand und wenn er Glück hatte, könnte er sich diese Lektion für sein restliches Leben merken. Aus dieser Sache kam er jedoch nicht einfach so heraus. Er warf die Decke zurück, raffte sich auf und streckte sich, auch wenn die Bewegung unangenehm an jedem Muskel zerrte und ihn zusammenzucken ließ, sobald sich die Wunde an seiner Seite meldete. Murrend legte er eine Hand auf den nach Honig riechenden Verband, doch dieses Mal stand die Blutung. Jemand hatte ihm einen schlichten, dunkelgrünen Yukata übergelegt und halbherzig zugebunden. Er zog den Obi nach und tauschte Schleife gegen doppelten Knoten, als eine Stimme unmittelbar an seinem Ohr zeterte: „Junger Mann! Leg dich gefälligst wieder hin!“ Erschrocken fuhr Minoru herum, sah jedoch niemanden, bis er den winzigen Punkt auf seiner Schulter bemerkte. „Es ist unklug, schon wieder aufzustehen! Du solltest ein umsichtiger Junge sein und -“ Der winzige Mann hätte mit Sicherheit jeden im Umkreis von mehreren hundert Metern geweckt, hätte Minoru ihn nicht von seiner Schulter geschnippt. Dumpf klatschte er an einen Fels und segelte zu Boden. Es war ein Mann. Ein alter Mann mit zwei Paar Armen und Saugrüssel, der sich mit einem energischen Satz aufrappelte und wütend auf dem felsigen Grund umherhüpfte. „Frechheit! Ungezogener Welpe! Einen armen Flohgeist-“ Mehr hörte Minoru nicht wirklich. Floh. Er hatte Flöhe? Vielleicht sollte er ein wenig mehr Reinlichkeit in Betracht ziehen, wenn es so weit gekommen war. Dabei war er nun so sauber wie seit langem nicht mehr. Sauber und trocken. Zum ersten Mal seit Wochen kein Regen, sondern nur eine stille, für die Jahreszeit untypisch warme Nacht irgendwo in der Nähe eines Vulkans. Vom Fürsten keine Spur. Das war einerseits eine Erleichterung, doch dank der Schwärze in seinem Gedächtnis, hatte er jedweden Orientierungssinn verloren. Vulkane gab es reichlich in diesem Land und die Sterne über ihm lagen unter einer dichten Wolkendecke verborgen. Als sich etwas hinter ihm regte, wandte er sich um. Vom Flohgeist war zunächst nichts zu sehen, doch dann entdeckte er ihn auf Rins Schulter, die zu ihm hinüberkam. Rasch wandte Minoru den Blick ab, ehe sie noch auf die Idee kam, er könne Interesse an einem Gespräch haben. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, eines zu eröffnen. „Wie fühlst du dich?“ Ihr langes, dunkles Haar lag ein wenig wirr um ihren Kopf und als sie neben ihm hielt, gähnte sie verschlafen. Seine Mutter hätte über dieses Verhalten missbilligend den Fächer aufgeschlagen und ihn mit Freuden durch ihr Gesicht gezogen. Derartiges Auftreten hätte sie nicht einmal bei einem Kind geduldet und das war Rin mit Sicherheit nicht mehr. Bei Menschen war das lächerlich einfach einzuschätzen. Sie war zwar kaum größer als er, aber in den Augenwinkeln hatten sich bereits feinste Fältchen gebildet, die das menschliche Auge jedoch kaum wahrnahm. Er hätte ihr eine Antwort gern verweigert, doch die Erinnerungslücke war zu groß und dem Geruch an seiner neuen Kleidung nach war sie es gewesen, die ihn umsorgt hatte. Schuld nahm er durchaus ernst und auch wenn er solche Hilfe unter allen Umständen abgelehnt hätte, war sie vermutlich dringend nötig gewesen. „Könnte besser sein. Aber es wird.“ Die Fältchen um ihre Rehaugen vertieften sich, als sie lächelte. Ob nun aus Freude über seine Gesundheit oder über die Antwort selbst, wollte er lieber nicht wissen. Zufrieden legte sie die Hände hinter dem Rücken zusammen. „Sehr schön. Ich weiß deinen Namen übrigens gar nicht. Ich bin Rin.“ „Ich weiß“, gab er kühl zurück und unterdrückte das entnervte Stöhnen, das sich da gerade seinen Hals hinaufschleichen wollte. Hoffentlich würde sie das Thema damit begraben. Wen interessierten schon Namen? Er hatte nicht vor, länger als nötig in dieser Gesellschaft zu verweilen. Stattdessen graute ihm davor, zu erfahren, wo dieser trockene Berg lag. Das Wetter war hier so grundlegend anders, dass auch sein Ziel in weite Ferne gerückt sein mochte. Vielleicht waren sie sogar wieder jenseits des Mogami. Er gestand es sich zwar ungern ein, aber ihm fehlte die Kraft, nochmals einen so langen Weg zurückzulegen. Dieses Mal würde er den Fluss tatsächlich umrunden müssen und wenn er Pech hatte – was zurzeit offenbar eher einen Zustand als eine Fügung bezeichnete – betrat er dabei bereits die östlichen Ländereien der Panther. So genau hatte er die Karte nicht im Kopf und die sich verschiebenden Fronten machten es nicht leichter. Blieb nur zu hoffen, dass Takeru einen leichteren Weg gefunden hatte und von seiner Familie aufgenommen worden war. Wenn sie ihn verstoßen hatten und er sich auf dem Rückweg befand, standen die Chancen schlecht, ihn allzu bald wiederzufinden. Die Trennung war nötig gewesen, um ihn rechtzeitig zu seiner Familie zu schaffen, aber alles andere hatte es deutlich erschwert. Mit einigen Hindernissen hatte Minoru gerechnet, aber die Situation war mittlerweile nahezu wahnwitzig. Ein leises Räuspern bannte seine Aufmerksamkeit aus den Augenwinkeln zu Rin, die ihn weiterhin fragend und freundlich ansah, als habe er sie nicht gerade mehrere Minuten angeschwiegen. „Warum hast du Angst, mir deinen Namen zu sagen? Ich werde dich schon nicht verfluchen oder solche Dinge.“ Angst? Sollte das ein Versuch sein, ihn zu einer Antwort zu provozieren. Wie plump von ihr. „Du scheint keinen Wert auf Unterhaltungen zu legen. Vielleicht ist es dir deswegen egal, ob wir deinen Namen kennen oder nicht. Mich würde es jedenfalls stören, wenn mich niemand wirklich ansprechen könnte. Wie traurig, namenlos im Gedächtnis zu bleiben und ständig umschrieben werden zu müssen. Findest du nicht?“ „Wenn ich dir antworte, hältst du dann irgendwann endlich die Klappe?“ Sie blinzelte verdutzt, dann lachte sie leise und verschränkte mit einem schiefen Lächeln die Arme vor der Brust. „Das kommt darauf an, wie nett du dabei bist.“ Hexe! Nun konnte er das Stöhnen wahrlich nicht mehr unterdrücken. Wie konnte man nur so grenzenlos penetrant sein? Einen jungen Dämon erst in die Schuld zu treiben und die Situation dann unverfrorenen Lächelns auszunutzen. Er konnte sie nicht einmal grob zurückweisen, wenn er noch ein paar Jahre leben wollte. Der Inu no Taishō mochte nicht in der Nähe sein, würde ihn aber ohne Zweifel schnell genug aufspüren, um etwaige Fehltritte zu vergelten. Die Schuldlage hätte sie also nicht unbedingt gebraucht. Auch er wusste, dass es Leute gab, denen man besser nicht negativ auffiel – oder am besten gar nicht erst in ihrem Sichtfeld erschien. Aber die Option hatte er ganz offensichtlich bereits verspielt. „Minoru.“ Es kam so leise, dass er kurz die Hoffnung hegte, sie habe ihn nicht gehört. Aber offenbar war sie alles andere als taub. „Wie hübsch. Bist du im Herbst geboren oder ist es ein anderes Schriftzeichen?“ „Das hat doch ohnehin keine Bedeutung“, entgegnete er tonlos. Es war schwer vorstellbar, dass seine Mutter sich mehr Mühe mit seinem Namen gegeben hatte als unbedingt notwendig. Vermutlich war gerade tatsächlich einfach Herbst gewesen. „Wer weiß schon, ob es am Ende Bedeutung hat. Aber es ist doch hübsch, sich vorzustellen, es wäre so, findest du nicht? Es ist in jedenfalls ein hübscher Name. Er passt zu dir.“ Sie nahm die Hände hinter dem Rücken hervor und reckte sich ausgiebig, was ihn zumindest von dem Gedanken abbrachte, wie sie sich erdreisten konnte, ein Urteil über ihn zu fällen. „Ich werde mich jetzt wieder hinlegen. Das solltest du auch tun. Bis Sonnenaufgang sind es noch ein paar Stunden und du kannst die Ruhe brauchen.“ Damit ließ sie ihn stehen. Der dunkle Fleck, der bislang auf ihrer Schulter verweilt hatte, setzte erneut zu Minoru über, verweilte jedoch abwartend im Aufschlag seines Ärmels. Der betrachtete den Flohgeist nachdenklich, wandte jedoch schließlich den Blick ab. „Wenn Namen irgendeine Bedeutung haben sollen, haben ihre Eltern jedenfalls völlig versagt.“ Überrascht ob des unerwarteten Kommentars, hob der Flohgeist die Brauen und überbrückte die letzte Strecke auf seine Schulter, wo er seinen winzigen Strohhut abnahm und etwas Asche heraus schüttelte. „Sie mag weder 'kalt' noch 'ernst' sein. Aber es gibt Lesarten, die ihr durchaus gerecht werden. 'Konfrontativ' beispielsweise.“ Minoru schnaubte leise. „In jedweder Hinsicht.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)