Flügelschwingen - Adventskalender von Dradra-Trici ================================================================================ Kapitel 1: Türchen 1 -------------------- „Und?!“ Sachi sah Katiya aus großen Augen an. Sie saßen gemeinsam in Katiyas Zimmer. Draußen war es bereits dunkel und bitterkalt. Vielleicht kalt genug, dass an Weihnachten endlich wieder einmal Schnee fallen würde. „Was sagst du?“ Ganz hibbelig vor Aufregung, was Katiya zu ihrer Idee sagen würde, wippte Sachi auf der Matratze von Katiyas riesigen Bett auf und ab. Sie saß auf der Tagesdecke, die frisch gewaschen duftete. Alles in Katiyas Zimmer war in edlen Farben gehalten. Die Möbel wirkten altmodisch und verschnörkelt. Sachi hatte eine Duftkerze mitgebracht, die nach Zimt duftete und ein herrliches Gefühl von Weihnachten vermittelte. „Eine … Weihnachts-Überraschungs-Party?“, wiederholte Katiya das, was Sachi ihr eben unterbreitet hatte. „Für Yuriy?“ Sachi nickte wild. „Er hat doch niemanden. Und stell dir mal vor, wie der arme Kerl dann Weihnachten allein in seinem finsteren Apartment verbringt!“ Katiya presste die Lippen aufeinander. Sie selbst fand die Feiertage immer anstrengend. Nicht nur, weil es traditionell zum Streit zwischen ihren Angehörigen kam. Wäre es besser, die Feiertage alleine zu verbringen? Katiyas Familie feierte selten im kleinen Kreis. Meist waren irgendwelche wichtigen Bekannten ihrer Mutter oder ihres Großvaters da. Wenn oftmals auch bloß auf ein kurzes Hallo. So war Katiyas Großvater der Bürgermeister der Stadt und obwohl Ilya kein Freund von Weihnachten war, kamen die Leute oft vorbei, um ihm und seiner Familie eine gesegnete Zeit zu wünschen. Yuriy hingegen hatte niemanden. Niemanden, mit dem er streiten, geschweige denn jemanden, mit dem er feiern konnte. „Das klingt nett“, stellte Katiya fest. „Nett?“, Sachi gluckste über Katiyas unveränderte Miene. „Das ist absolut der Oberhammer. Eigentlich kannst du gar nicht Nein sagen.“ Ein Schmunzeln zuckte auf Katiyas Lippen. „Dann machen wir eine … Überraschungsparty!“ Kapitel 2: Türchen 2 -------------------- „Nee, echt?“ Sven stellte das Bier, das er sich zum Feierabend bestellt hatte, nach einem großen Schluck wieder auf den Tresen. Wie so oft hatten er und Yuriy sich in ihrem Stammlokal zusammengesetzt, nachdem sie die Werkstatt abgeschlossen hatten. Gemeinsam saßen sie an der Bar. Um sie herum regierte warme Gemütlichkeit, die vergessen ließ, dass draußen der Winter klirrte. „Das meiste, was ich von Geschichte weiß, weiß ich von Assassins Creed.“ Sven lachte und Yuriy stimmte in das Lachen ein. Yuriy war verglichen mit ihm ein echter Bücherwurm! Insbesondere wenn es um Geschichte und Literatur ging liebte Yuriy es, seinen Wissensdurst mit den dicksten der dicksten Wälzer zu stillen. Das glaubte man gar nicht, wenn man Yuriy nicht kannte. Sein stets etwas raues Auftreten mit dem Dreitagebart und der Narbe über dem linken Auge ließ ihn eher aussehen wie einen Schläger. Sven hingegen konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal freiwillig ein Buch in die Hand genommen hatte. Was es zu lesen gab, fand er im Internet. Vielleicht hier und da in Zeitschriften. Wenn er einen Roman lesen wollte – griff er zum Hörbuch. Digitale Medien schlugen Tinte und Papier einfach um Längen. Etwas klingelte. „Mh?“ Yuriy sah auf, als Sven sein Smartphone aus seiner Jeans kramte und mit einem Schmunzeln die Nachricht las, die er eben bekommen hatte. „Was ist?“, fragte Yuriy. Sven winkte ab. „Egal“, erwiderte er. „Wie war das gleich mit dem Buch …?“ Er wechselte das Thema. Eindeutig. Yuriy runzelte die Stirn. Er wollte nicht, dass er erfuhr, was er für eine Nachricht bekommen hatte. Doch wieso nicht? Kapitel 3: Türchen 3 -------------------- Für gewöhnlich mochte Yuriy den Winter. Der Schnee, der in seiner Reinheit die Welt mit Puderzucker bedeckte. Und einen vergessen ließ, dass die Realität unter den Flocken alles andere als süß war. Yuriy blieb stehen, als die Musik zu ihm hindurchdrang. Er wandte den Kopf. Verschleiert vom Schnee entdeckte er das große Schild, das vom Weihnachtsmarkt kündete. Der Duft von Zuckerwatte und gebrannten Mandeln ließen ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Seit dem ersten Adventswochenende wurden eifrig Lebkuchen, Holzfiguren und anderer, weihnachtlicher Kleinkram verkauft. Ein Kinderkarussell fuhr an und mit ihm die Melodie eines Weihnachtsliedes, das Yuriy zwar kannte, aber dessen Titel er nicht parat hatte. Yuriy atmete die kalte Luft ein. Schon lange war Weihnachten nichts Besonderes mehr für ihn. Es war ein Fest des Konsums. Keiner feierte noch die Geburt Jesu! Auch er nicht. Davon war er geheilt. Tief in seinem Herzen bedauerte er es: Nicht mehr glauben, kein Weihnachten mehr haben zu können. Schmerzlich drängte sich ihm die Erinnerung auf. An seine Kindheit. Seine Mutter. An die Weihnachtslieder, die sie gemeinsam gesungen hatten. Die Geschichten aus der Bibel. Die Kirche. Yuriy wurde schwer ums Herz. Mit seiner Familie war Weihnachten stets etwas Besonderes gewesen. Als wögen seine Schuhe mit einem Mal tonnenschwer, musste Yuriy sich regelrecht abmühen, sich wieder in Bewegung zu setzen. Einen Schritt vor den anderen zu tun. Er hatte es nicht eilig den Christkindlsmarkt zu verlassen. In seine verlassene Wohnung zurückzukehren. Für ihn war Weihnachten kein Fest der Liebe. Kein Fest der Familie. Für ihn bedeutete Weihnachten nur eines: Einsamkeit. Kapitel 4: Türchen 4 -------------------- Die letzten Töne verhallten in der Luft. Mit einem Mal war es wieder still im Wohnzimmer der Familie Thorolf. „Das war gut!“ Macie schenkte Rudi ein verschmitztes Lächeln. Sie, Rudi und Sachi hatten sich für die Adventswochenenden ein paar Auftritte in ihrer Stammkneipe gesichert. Zu diesem Zweck trafen sie sich wieder regelmäßig, um ihre Stücke einzustudieren. Heute probten sie ohne Mikrophone, weswegen sie es sich im warmen, heimeligen Wohnzimmer von Sachis und Rudis Familie bequem gemacht hatten. „Das war es echt, Rudi-Bärchen!“, kiekste Chira. Macie hatte sie ganz vergessen. Rudis … Freundin. Sie war zu Besuch gekommen. Rudis Großmutter hatte sie hineingebeten. Macie und Chira waren so etwas wie bessere Bekannte. Freundinnen, wenn man so wollte. Dass Chira nun mit Rudi ging …, ging Macie gegen den Strich. Schließlich war Rudi ihr Ex. „Danke.“ Verlegen fuhr Rudi sich durchs zerzauste Haar. Macie schenkte ihm ihr süßestes Lächeln und ließ sich zu Chira auf das Sofa sinken. Chira klimperte mit den Wimpern. „Hey, wieso habt ihr denn schon ohne mich angefangen?“ Sachi kam ins Wohnzimmer. In der Luft hing der Geruch von Tannenzweigen und Zimt. Ihre Leidenschaft für duftende Dekoration teilte Sachi sich mit ihrer Großmutter. „Nur den einen Song.“ Macie lächelte charmant und verdrehte die Augen. „Du bist zu spät.“ „Ja, aber nur, weil ich euch was echt Tolles erzählen muss.“ Sie sah ganz aufgeregt aus. „Ja?“ Rudi mochte keine Überraschungen. Also auch keine zu abgefahrenen Neuigkeiten. „Ich veranstalte eine Überraschungsparty zu Weihnachten“, ließ Sachi die Bombe platzen. „Wie wär’s, wenn wir dafür ein paar Lieder einstudieren?“ Kapitel 5: Türchen 5 -------------------- „Nein!“ Natashas Stimme duldete keinen Widerspruch. Ihre Augen blitzten unbarmherzig. Katiya war eben in Begriff gewesen, erneut etwas zu sagen, doch schloss sie die Lippen wieder. Sie musste geschickt an die Sache herangehen. Doch wie? Sie saßen in dem großen Wohnzimmer in ihrer Villa. Draußen war es bereits dunkel, was das mit schweren Holzmöbeln eingerichtete Wohnzimmer noch düsterer wirken ließ. Selbst das goldene Licht der Lampen vermochte es nicht, echte Wärme in den großen Raum zu bringen. Natasha funkelte Katiya an, als hätte sie ihr einen Hochverrat gestanden. „Es ist keine große … Veranstaltung“, versuchte Katiya es noch einmal. Trotz ihrer kaltschnäuzigen Art, sorgte Natasha sich im Grunde immer nur um das Wohl ihrer Tochter. Vielleicht rührte ihr Wutausbruch daher. „Wir wollen diese Überraschungsparty für Yuriy-“ „Den Verbrecher?!“ Natashas Augen weiteten sich, als würde das, worum, Katiya bat, immer abstruser. Katiya schwieg. Innerlich brodelte es in ihr. Sie war niemand, der laut herumschrie. In diesem Moment jedoch merkte sie, wie sich in ihr ein Unwetter zusammenbraute. Sie war alt genug. Natasha hatte ihr nicht zu verbieten, sich mit ihren Freunden zu treffen. Es sollte nicht nötig sein, dass sie sich dafür rechtfertigen musste, weggehen zu wollen. „Genau“, erwiderte Katiya kühl und verschränkte die Hände übereinander. Sie sah etwas in Natashas Augen bedrohlich funkeln. War sie wütend, weil sie sich ihr widersetzte …? Katiya vermochte es nicht, zu sagen. In dem Moment jedoch war es Natasha, die das Gespräch beendete: „Es wird keine Überraschungsfeier geben!“ Kapitel 6: Türchen 6 -------------------- „Und Girlanden. Wie nennt man die? Puschel-Girlanden?“ Sachi wedelte mit dem, was sie als Puschel-Girlande bezeichnet hatte vor Katiyas Gesicht herum. Katiya hatte weder Sachi noch Sven von Natashas entschiedener Ablehnung erzählt. Natasha konnte sie schließlich nicht einsperren! Sie würde auch ohne die Erlaubnis ihrer Mutter feiern gehen können! Oder …? „Wir können ‘nen Mistelzweig aufhäng’n. Genau hier“, grinste Sven und hob einen grün-bräunliches Geäst aus der Tüte mit der Weihnachtsdekoration. „Direkt unter die Tür.“ „Und du wirst den ganzen Abend dort stehen und auf Ailina warten?“ Sachi verzog in einem verschmitzten Grinsen die Augenbrauen hoch. Sven stand noch immer auf ihre Kollegin Ailina. So wie jeder Kerl. Innerlich seufzte sie. Diese Schwärmerei der Jungs ging ihr ziemlich auf die Nerven. Andererseits amüsierte sie sie auch. „Mach halt“, meinte sie daher. Katiya beobachtete, wie Sven die Augenbrauen kräuselte, als überlegte er, ob er die Idee mit dem Mistelzweig nicht doch lächerlich fand. Schon vor ein paar Tagen hatten sie begonnen, die Werkstatt weihnachtlich zu dekorieren. Für Yuriys Überraschungsparty jedoch wollten sie noch eins draufgeben. In dem nahen Supermarkt hatten sie ein paar Girlanden gekauft. Sachi hatte die Weihnachtskiste bei sich zu Hause geplündert und Lichterketten mitgebracht. Katiya malte es sich aus, wie die notdürftig dekorierte Werkstatt sie an Weihnachten voller Herzlichkeit willkommen heißen würde. Die Lichterketten um die Werkbänke gespannt. In der Mikrowelle aufgewärmter Glühwein. „Ich freu mich!“, lachte Sachi da auf, als hätte sie Katiyas Gedanken erraten. „Oh, für später hab‘ ich-“ In diesem Moment hörten sie Schritte vor der Tür. Jemand stapfte auf, als wollte er sich den Schnee von den Stiefeln treten. „Kacke, das ist er!“, wisperte Sachi ihnen zu. Sie reagierten auf das Kommando und stopften die zusätzliche Dekoration in die Tüten zurück. Katiya fühlte sich unendlich lebendig. Sie hatten ein kleines Geheimnis. Keines der schlechten Sorte. Es war … aufregend. Lustig. Belebend. Würde sie sich über eine Überraschungsparty freuen…? Sie wusste es nicht. In diesen Augenblicken, in denen sie schnell die Dekoration verstauten, war sie zumindest davon überzeugt, dass sie Yuriy eine echte Freude bereiten könnten, wenn ihnen die Überraschung gelang. Die Tür ging auf. „Heeeeyyy“, begrüßte Sachi Yuriy übermütig und so außer Atem, als hätte sie einen Sprint hinter sich. Katiya schenkte ihr einen flüchtigen Blick. Nicht, dass Sachi eine Plaudertasche war. Doch sähe es ihr ähnlich, in ihrem Enthusiasmus ein bisschen zu viel von der Überraschung zu verraten. „Hallo.“ Yuriy sah von Sachi zu Sven, zu Katiya. Sie alle wirkten … Yuriy konnte es nicht sagen. Er zog misstrauisch eine Augenbraue hoch. Wollten sie etwas vor ihm geheimhalten …? In diesem Moment zückte Sachi etwas aus ihrem Rucksack, der hinter ihr auf dem Boden stand. Ein Schokoladenweihnachtsmann wie Katiya erkannte. Sachi hielt ihn Yuriy unter die Nase. „Schau, was der Nikolaus dir mitgebracht hat!“ Kapitel 7: Türchen 7 -------------------- „Schlittschuhfahren?“ Yuriy sah Katiya an, als überlegte er: Ob er das, was er eben über sie erfahren hatte, großartig oder amüsant finden sollte. Um seine Mundwinkel zuckte es und in seinen Augen fand Katiya etwas, das aufrichtig interessiert aussah. Katiya gab sich trotzdem unbeeindruckt. „Früher einmal bin ich regelmäßig zum Eislaufen gegangen“, erwiderte sie schlicht, während sie die Jacke zuknöpfte. Draußen war es mittlerweile stockfinster. Katiya kam es schon viel später vor als es war. Sie hätte ihm nicht von ihrem früheren Hobby erzählen sollen. „Wir sind auch immer über den zugefrorenen See gelaufen“, meinte Yuriy und zuckte die Achseln. Katiya wurde hellhörig. Yuriy erzählte nicht oft von sich. Jedes Mal, wenn er es aber tat, hatte Katiya das Gefühl, seinen wahren Kern zu entdecken. Den, der ein Herz hatte. „Aber seitdem stand ich nicht mehr auf dem Eis.“ Katiya sah ihn wortlos an. Was sollte sie darauf erwidern? Sie hätte ihn fragen können, ob sie einmal gemeinsam Schlittschuhfahren gehen wollten. Sie beide. Oder besser sie in der Gruppe. Die Version behagte Katiya etwas mehr. Doch sie brachte nichts in der Art über die Lippen. Katiya sah dabei zu, wie Yuriy die Tür abschloss. Sven und Sachi waren vor gut einer Stunde gegangen. Yuriy hatten sie erzählt, dass sie noch etwas für die Werkstatt besorgen wollten. In Wirklichkeit ging es darum, ein paar Sachen für Yuriys Überraschungsfeier zu kaufen. Davon durfte er natürlich nichts wissen. „Weißt du, was mit den anderen beiden los ist?“ „Mh?“ Katiya merkte, wie sie unwillkürlich große Augen machte. Yuriys Frage kam unvermittelt aus dem Nichts. „Wie meinst du das?“ „Die haben doch irgendwas, was sie geheimhalten…“ Yuriys Argwohn stand ihm ins Gesicht geschrieben. Katiya gab sich Mühe, einen neutralen Blick zu wahren, was ihr auch gelang. Wenn sie etwas konnte, dann das. Deswegen hatte Sachi sie mit Yuriy in der Werkstatt gelassen, denn war sie der Meinung, dass Katiya sich am wenigsten schnell verplappern würde, was die Feier anging. „Ich wüsste nicht, was.“ Ihr Tonfall klang unbeteiligt. Ein Hauch von Spott war zu vermuten. So, als belustigte Yuriys Verdacht Katiya. Yuriy sah sie an. Lange. So lange, dass es Katiya unter seinen hellen, immer etwas leblos wirkenden Augen schauderte. Wusste er, dass sie log …? „Wie kommst du darauf?“, brach sie daher das Schweigen. Yuriy zuckte die Achseln. „Ein Gefühl“, erwiderte er, ohne Katiya aus den Augen zu lassen. Ob sie mit in der Sache drinsteckte …? Kapitel 8: Türchen 8 -------------------- „Last Christmas I gave you my heart …“ Ihr Song. Rudi schmeckte den bitteren Nachgeschmack jeder einzelnen Silbe, die seine Kehle verließ. „… but the very next day you gave it away.“ Es war nicht tatsächlich der nächste Tag gewesen. Aber … Macie stimmte mit Rudi in den Refrain ein. Sie warf ihre goldenen Locken zurück. Sie probten in Rudis Wohnzimmer. Das Licht war gedimmt und warm. Als sie ihn für Samir verlassen hatte, war Rudis Herz in zwei gebrochen. Die Musik hatte sie wieder zusammengeführt. Verstohlen wanderten Rudis Augen zu Macie. Als Freunde. Sie waren nur Freunde. „This year to save me from tears. I’ll give it to someone …“ So zumindest sah Macie das. Rudi hingegen. „… special“. Ihre Blicke trafen sich. Und Rudis Herz implodierte. „Bist du okay, Darling?“ Macie ließ die Musik ausklingen. Sie sah glücklich aus. Zufrieden. Ihre Wangen glühten. Nicht nur, weil die Heizung lief. Das Singen erfüllte, belebte sie. Rudi schluckte. „Ehm, klar!“ Rudi zuckte die Achseln. Er durfte es sich nicht anmerken lassen. Nicht, wenn er weiterhin Zeit mit mir verbringen wollte. „Das klappt schon gut. Mit dem Song.“ Macie nickte, sah Rudi wieder mit diesem Blick an, der ihm in einem wohligen Schauder die Nackenhaare aufstellte. Sie lachte voller Vorfreude auf ihren Auftritt. Macie liebte das Rampenlicht. Die Bühne. Die Aufmerksamkeit. Der rote Lippenstift betonte ihre vollen Lippen. Rudi zwang sich, sie nicht allzu auffällig anzustarren. Schließlich war er doch nun mit Chira zusammen! „Probieren wir mal das!“, schlug Macie vor und holte ein paar andere Noten hervor. „Was ist das?“ Macie lächelte kokett als sie die ausgedruckten DinA4 Blätter auf den Notenständer zwischen ihnen verteilte. „All I want for Christmas …“ Sie lächelte, wandte den Blick dann aber ab. „is you.“ Kapitel 9: Türchen 9 -------------------- „Vanillekipferl!“ Sachi stellte das Tablett mit den dampfenden Plätzchen vor Katiya auf den Esstisch. Die gesamte Küche duftete nach Zimt, Vanille, Weihnachten. „Du weißt schon, dass Kipferl … ein bisschen aussehen wie ein C?“ „Ach“, Sachi winkte ab. Trotzdem kam sie nicht darum herum, ihre Vanillekipferl zu betrachten, die sie in S-Kurven, kleinen Haufen und Teigstangen über das Backblech verteilt hatte. Was so etwas anging, hatte sie einfach keine Ruhe. „Hässlich aber lecker“, winkte sie ab. „Außerdem sind die gar nichts gegen die anderen!“ Mit diesen Worten verwies Katiya auf die Kekse, die eben im Ofen vor sich hin buken. Ausstecher, die Sachi eigenwillig mit Dekor versehen hatte. Katiyas Handy gab einen Ton von sich. „Meine Mutter“, meinte sie mit einem Blick auf das Display. Katiya tippte etwas. Vermutlich ein paar kurze Zeichen, dass alles okay war. Sachi runzelte die Stirn. „Sie weiß schon, dass du nur bei mir abhängst?“ Katiya schenkte Sachi einen wortlosen Blick, der alles sagte. Egal, wohin Katiya ging – ihre Mutter musste sich alle paar Stunden versichern, dass Katiya wohl auf war. Völlig übertrieben, wie Sachi fand. Aber bitte. Plötzlich jedoch überlief sie ein Gedanke, der ihr gar nicht gefiel. „Hast du sie wegen Weihnachten gefragt?“ Katiyas Lippen blieben verschlossen und nährten Sachis Verdacht. Ein Anflug von Panik, Wut und Trauer wallte in ihr auf. Ohne den Segen ihrer Mutter ging Katiya nicht weg. Katiyas Schweigen war Antwort genug. „Ich möchte mich an Weihnachten nicht mit meiner Familie streiten.“ „Aber die Überraschungsfeier!“ Plötzlich hatte Sachi das Gefühl, der Boden, auf dem sie stand, wäre instabil. Katiya zuckte die Achseln und fasste nach einem besonders abenteuerlich aussehenden Vanillekipferl und nahm einen Bissen davon. Sachi sah sie erwartungsvoll an. Ihre Mundwinkel zogen sich zu einem Grinsen nach oben, als Katiya einen Daumen in die Höhe reckte und genießerisch die Augen zusammenkniff. „Hässlich aber lecker.“ Kapitel 10: Türchen 10 ---------------------- Yuriy hatte selten Gäste. Heute jedoch würde Sven vorbeischauen. Yuriys Augen schweiften durch seine spartanisch eingerichtete Wohnung. Sofa. Fernseher. Bücherregal. Keine Fotos. Keine Dekoration. Yuriy wand unruhig die Hände. Es war traurig, doch wirklich zu Hause fühlte er sich in seiner Wohnung noch immer nicht. Tief in seinem Inneren fürchtete Yuriy, ohnehin bald wieder ausziehen zu müssen. Weil er fortmusste. Ins Gefängnis. Oder wohin auch immer sein unstetiges Leben ihn führte. Er hatte die Möbel abgestaubt. Mehr gab es nicht aufzuräumen. Es klingelte. „Und? Was geht?“, begrüßte Sven ihn. Er hatte Schnee auf der Jacke und seiner Mütze. Außerdem eine rote Nasenspitze. Draußen war es noch immer kalt. „Schau.“ Er überreichte Yuriy zwei Flaschen Bier. „Hab‘ ich an der Tanke geholt.“ „Danke.“ Sven schenkte ihm einen abschätzenden Blick, als er sich an ihm vorbei in die Wohnung schob. Obwohl es erst früher Nachmittag war, war es draußen so finster, dass Yuriy das Licht angeschaltet hatte. „Okay, spuck’s aus!“ Sven schien Yuriy an der Nasenspitze anzusehen, dass etwas nicht stimmte. „Was wollteste mir am Telefon nicht sag‘n?“ Sven setzte sich auf das Sofa, stellte die Flaschen auf den Wohnzimmertisch. Immer, wenn er und Yuriy sich trafen, brachte er etwas zum Trinken mit: Bier, Wein, Spirituosen. Je nachdem, was am Abend anstand. Oder was er im Angebot bekam. „Ich möchte wegfahren“, erwiderte Yuriy schließlich. Sven verzog misstrauisch das Gesicht, als Yuriy sich neben ihm auf das Sofa fallen ließ. „Okay? Und was druckste damit so rum?“ Da war doch noch mehr. Etwas, was Yuriy sich aus der Nase ziehen ließ. Yuriy schwieg. Seine Gedanken waren wieder bei dem Weihnachtsmarkt. Den Liedern. Bei den Erinnerungen an seine tote Familie. „Weihnachten“, meinte er tonlos, entschied sich für einen anderen Satzanfang. „Ich finde das alles sehr deprimierend.“ Sven war eben in Begriff, einen großen Schluck von seinem Bier zu nehmen, da hielt er inne. „Heißt das …“ Scheiße. Die Überraschungsparty!, brannte es Sven mit einem Mal auf den Nägeln. „du bist Weihnachten gar nicht da?!“ Kapitel 11: Türchen 11 ---------------------- „Was machen wir ‘nn jetzt?“ Sven wirkte wahrlich hilflos wie er so auf Macies Bett hockte. Den Umzug in ihre WG hatte Macie dazu genutzt, die Star Poster und den Barbie-Flair aus ihrem Zimmer verschwinden zu lassen. Jetzt herrschten die Farben Rot, Gold und Schwarz in ihren vier Wänden. Ihre neuen Lieblingsfarben. Sven hockte auf ihrer blutroten Satin-Bettdecke, während Macie vor ihrem Kleiderschrank stand und sich abwechselnd zwei verschiedene Shirts vor den Körper hielt. „Sag mal, du weißt schon, dasste keins von beiden brauchst, wenn die Party nicht steigt?“ Endlich wandte Macie sich zu ihm um. „Svenni“, redete sie ihn an. „Irgendeine Party, auf die ich gehen kann, find‘ ich immer.“ Sven seufzte. Das war seine Schwester. Überkandidelt. Eine echte Diva. Würde sie das ablegen, könnte man leichter das gute Herz sehen, das in ihr schlug. „Wäre halt voll der Shit für Yuriy. Der weiß ja nicht, was ihr vorhabt.“ Macie seufzte ebenfalls und setzte sich – die Shirts warf sie in ihren Schrank zurück – zu ihrem Bruder. „Ich hoffe, die Jeans waren sauber“, kommentierte sie die Hosen, mit denen er auf ihrer Bettdecke saß. „Passt schon. Ich hatte die nur in der Werkstatt an.“ Sven grinste hämisch, als Macie das Gesicht verzog. „Sag schon, du bist doch so’n intrigantes Luder“, forderte er sie hilfesuchend auf. Macie lächelte, als hätte Sven ihr ein Kompliment gemacht. „Also“, fuhr er fort. „Her mit dem Plan: Wie können wir dafür sorg’n, dass Yuriy nicht geht?“ Kapitel 12: Türchen 12 ---------------------- Macie hatte sich den Kopf zermartert. Eine wirkliche Intrige war ihr trotzdem nicht eingefallen. Nicht, dass sie sich keine Gedanken gemacht oder sie ihre Muse verloren hätte. Aber Yuriy wollte einfach weg. Er hatte hier niemanden, mit dem man ihm ein schlechtes Gewissen machen konnte. Niemandem, von dem man behaupten konnte, dass er kreuzunglücklich wäre, wenn er wegfuhr. Niemanden, zu dem er fuhr und mit dem er es sich kurzfristig verscherzen hätte können. Niemanden - außer seinen Freunden hier. Aber diese Information würde vermutlich zu viel verraten und die Überraschung der Feier kaputtmachen. Daher musste es genügen … abzuwarten. Macie grub die Hände tiefer in die Jackentaschen. In ihrem Ohr lief ein Lied an, auf das sie keine Lust hatte. Dennoch klickte sie es nicht weg. Die Handschuhe auszuziehen, um den Touch-Screen ihres Handys zu bedienen war ihr bei den Temperaturen ein zu großes Opfer. Abwarten. In diesem Zusammenhang bedeutete das, aufzugeben. Etwas, was Macie hasste wie die Pest. Oder abgebrochene Nägel. Macie war auf dem Weg durch die Stadt. Sie hatte Feierabend und würde nach Hause gehen. Einen kurzen Blick warf sie durch das Schaufenster eines Klamottenladens. Neue Wintermoden waren ausgestellt. Aber Macie graute es davor, sich für die Anprobe aus ihrer Jacke und dem Pulli zu schälen. Viel zu kalt. Viel zu umständlich. Und ihre Haare würden danach schrecklich aussehen. Nanu? Die kannte sie doch. „Hallöchen, Macie“, sprach Chira sie da auch schon an. Rudis neue Freundin kam eben aus dem Laden, vor dem Macie kurz verharrt hatte. „Hi“, erwiderte Macie kurz angebunden und zog die Mundwinkel hoch. „Warst du shoppen?“ Chira nickte. „Unterwäsche.“ „Okay?“, Macies Lippen kräuselten sich. Unter anderen Umständen wäre das eine beiläufige Bemerkung gewesen. Doch Macie verstand die Provokation dahinter. Was das anging, waren sie und Chira aus demselben Holz geschnitzt. In Chiras Kulleraugen trat etwas, das Macie als bösartig empfand. „Hoffentlich mag Rudi sie.“ Macie zwang sich zu einem breiten Grinsen, in dem der stumme Ärger stand. Sie war es, die mit Rudi Schluss gemacht hatte. Sie war es, die ihm eindeutig zu verstehen gegeben hatte, dass sie keine Zukunft für sie sah. Dennoch war es nun sie, die innerlich vor Eifersucht brodelte. War es sie, die es nicht verkraftete, dass Rudi Chira hatte. Dass Rudi nicht mehr zu haben war. Kapitel 13: Türchen 13 ---------------------- Er würde in die Berge fahren. Yuriy klickte auf BUCHEN. Nicht, dass ihm noch Zweifel kamen. Auf dem Bildschirm erschien der Hinweis, dass ihm eine Bestätigungs-E-Mail zugesandt werden würde. Yuriy lehnte sich zurück, lächelte. Sein Entschluss fühlte sich richtig an. Die Berge. Keines der Skigebiete. Sondern ein wenig außerhalb. Vorfreude machte sich in Yuriy breit. Wenn er in sich hineinhorchte, war da wieder das Rauschen des Flusses. Des Flusses, der in den großen See mündete. In den Bäumen tanzte der Wind. Das Geräusch, welches ihn Jahr um Jahr in den Schlaf gesungen hatte. Yuriy öffnete die Augen. Zwar würde er nicht wieder in seine Heimat reisen – dort schließlich würde er sich nie mehr blicken lassen können. Nie, nie mehr … Yuriy wurde schwer ums Herz. Aber Natur. Natur bedeutete für ihn, zumindest das Gefühl zu haben, seiner Heimat nahe zu sein. Eine E-Mail ging ein. Die Reisebestätigung. Yuriy war seltsam nervös, als er die Nachricht öffnete. Nun war es offiziell. Sein Zug würde so abfahren, dass er dem größten Weihnachtstrubel, einem einsamen Heilig Abend entkommen können würde. Er würde einen Tag zuvor die Stadt verlassen. Kapitel 14: Türchen 14 ---------------------- Wenn Katiya nicht dabei sein kann, wäre das echt doof.“ Sachi riss ein weiteres Stück Tesafilm ab und klebte eines der Geschenke zu. Dieses Jahr war sie früh dran mit den Geschenken. Bei der Gelegenheit, ein paar Kleinigkeiten für die Feier zu besorgen, hatte sie auch gleich die nötigsten Geschenke für ihre Familie gekauft. „Hat se das gesagt?“ Dass Sachi von Katiya sprach, erstaunte Sven etwas. Schließlich war es Yuriy, der aller Voraussicht nach nicht an der für ihn ins Leben gerufenen Überraschungsparty zu Weihnachten teilnehmen würde. Nur das wusste Sachi nicht. Sven jedoch brachte es nicht fertig, Sachi davon zu erzählen. Noch war es schließlich nicht sicher, oder? Yuriy hatte bloß von einem Plan gesprochen … Wenn Sachi davon erfuhr, würde sie Yuriy so lange bestürmen, bis er blieb – oder erst recht abreiste. „Nee“, erwiderte Sachi gedehnt. „Aber sie hat da so Andeutungen gemacht.“ Sie betrachtete das Paket, das sie viel zu großzügig mit Tesafilm zugekleistert hatte. Sachi hatte echten Respekt vor diesen Leuten, die ein Talent und Geduld dafür hatten, kunstvoll Geschenke einzupacken. „Du weißt ja wie ihre Mutter ist.“ Sven sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. Wenn Yuriy wirklich wegfuhr, lohnte es sich nicht, dass Katiya sich mit ihrer Familie stritt. „Ach, das kriegen wir schon hin!“ Es war zu früh, den Teufel an die Wand zu malen. Irgendetwas würde ihm schon einfallen, um Yuriy in der Stadt zu halten. Das hoffte Sven zumindest. Kapitel 15: Türchen 15 ---------------------- Es war lange her, dass Rudi und Sven gemeinsam unterwegs gewesen waren. Seitdem Rudi sich weitestgehend völlig von der Gang gelöst hatte, hatte es Zeiten gegeben, da hatten Sven und er sich wochenlang nicht gesehen. Schon allein deshalb, weil Sven mehr Sachis Freund war – nicht seiner. Hin und wieder jedoch saßen Rudi und Sven dennoch zusammen. Meistens dann, wenn Rudi einen männlichen Rat zum Thema Frauen brauchte. Dass es dieses Mal Svens Schwester Macie war, um die es wieder einmal ging, bereitete Rudi ein wenig Unbehagen. „Also, was soll das?“ Rudi druckste herum. „Warum streiten Macie und Chira?“ Wenn Macie ihn doch abgeschossen hatte. Ihm gesagt hatte, dass sie ihn zwar mochte, aber ihn zu langweilig fand, um ernsthaft mit ihm zusammen zu sein. Die letzten Tage jedoch war es wirklich anstrengend gewesen. Auf Grund der Proben waren Chira und Macie sich häufiger über den Weg gelaufen - jedes Mal hatten sie einander angezickt. „Puhh“, stieß Sven aus. Sie saßen gemeinsam in ihrer Stammkneipe. Beide trugen sie noch ihre Jacken, die sie jedoch gleich ablegen würden. Sie hatten vor, hier zu Abend zu essen. „Ich bin mir bei Macie nicht sicher, ob se dich besitzen will oder…“ Sven führte den Satz nicht zu Ende. Die Geschichte zwischen Macie und Rudi war nie einfach gewesen. Und er konnte nicht in den Kopf – oder das Herz – seiner Schwester blicken. Dennoch verstand Sven Rudis Skepsis. War es ausgeschlossen, dass Macie vielleicht doch noch etwas für ihren Ex-Freund übrig hatte…? Kapitel 16: Türchen 16 ---------------------- Katiya zog den Kopf ein, sodass sie bis zu Nasenspitze in ihrem Schal verschwand, den sie sich um den Kopf geschlungen hatte, um sich vor dem eisigen Wind zu schützen. Sie hatte heute nicht lange Uni gehabt. Als sie nach Hause gekommen war, hatte sie dort Natasha angetroffen. Katiya stapfte weiter. Kurz überlegte sie, Sachi zu besuchen. Doch war ihr gerade nicht nach Gesellschaft. In ihrem Kopf herrschte noch immer Lärm. Wieder hatte sie mit Natasha gestritten. Es war um die geplante Weihnachtsfeier gegangen. Katiya kamen die Argumente ihrer Mutter schwach vor, weswegen sie ihr vehement widersprochen hatte. Es würde nicht spät werden. Sie würde sich nicht in Gefahr begeben. Mittlerweile konnte sie gut genug einschätzen, wann eine Situation bedenklich wurde. Natasha jedoch sah das nicht. Die Diskussion war im Streit geendet. Katiya hasste es, wenn sie sich anschrien. Dennoch hatte sie ihre Ansichten klar und deutlich vertreten. Nun brauchte Katiya etwas Ruhe. In ihrem Zimmer hätte sie diese nicht gefunden – dort hatte Natasha schließlich jederzeit Zutritt. Selbst wenn sie die Tür abschloss, wäre das Klopfen an der Tür, das Rufen und auf sie Einreden keine echte Ruhe. So war Katiya spazieren gegangen. Nur eine Runde um den See, an dem ihre Villa lag. Ein Glück, dass ihre Stiefel so gut gefüttert waren. Es war windig und wirklich kalt. Katiya hörte Musik, um sich von der Wirklichkeit abzulenken. Sie wollte mit niemandem reden. So war es vermutlich eine Ironie des Schicksals, dass ihr in diesem Augenblick jemand über den Weg lief, für den sie die Kopfhörer, ihren Schutzwall gegen den Rest der Menschheit, ablegte. „Was machst du denn hier?“, redete sie Yuriy an. Erst hatte sie weitergehen wollen. Doch die Art, wie Yuriy hier herumstrolchte, ließ sie ihn ansprechen. Er wirkte wie bestellt und vergessen. Unschlüssig. Ziellos. Yuriy zuckte die Achseln und auf seine Lippen trat dieses schiefe Grinsen, das wie immer wirkte, als würde er sich über sie amüsieren. „Ich gehe spazieren.“ Katiya erwiderte nichts. Das schließlich war offensichtlich. Sachi hätte sich auf das Wortgefecht eingelassen – ihr war das in diesem Moment zu sinnlos. Sie vermutete, dass Yuriy in der Werkstatt gewesen war. Seine Wohnung lag schließlich am anderen Ende der Stadt. „Ich denke nach“, erwiderte er schließlich und sah Katiya erwägend an. Tatsächlich war er sich nicht sicher, ob er mit jemandem darüber sprechen wollte. Die Tickets waren gekauft. Am 23. Dezember würde sein Zug gehen. Er würde Weihnachten einfach so davonfahren. „Über meine Reise.“ Jetzt wurde Katiya hellhörig. Yuriys Miene blieb unbewegt, als er von dieser Reise sprach, von der Katiya nichts wusste. Seine Augen waren hart und kalt wie die Luft hier draußen. „Du fährst weg?“ Es gelang Katiya nicht, ihr Erstaunen völlig zu verbergen. Yuriy zauderte. „In die Berge.“ Katiya nickte. „Über Weihnachten“, ergänzte Yuriy. Dabei ließ er Katiya nicht aus den Augen. War da eine Regung in ihrem Gesicht? Mit dem nächsten Windhauch schien dieser Anflug von Emotionen, der verraten hätte können, was in Katiya vorging, schon wieder verflogen. „Ist das sicher?“ Dieses Mal war es an Yuriy, zu nicken. Er zuckte mit den Achseln. Wirkte dabei jedoch unschlüssig. Katiya runzelte die Stirn. „Dann verpasst du Weihnachten.“ Würde die Weihnachtsfeier, wegen derer sie sich in den letzten Tagen ständig mit Natasha gestritten hatte, daran scheitern, dass Yuriy nicht da sein würde? Wieder nickte Yuriy. Tief in seinem Herzen hatte er sich eine bestürztere Reaktion gewünscht. Ja, vielleicht hatte er gehofft, dass Katiya ihn davon überzeugen würde, die Zeit mit ihr, Sven und Sachi zu verbringen. Dass sie Weihnachten gemeinsam feierten. Aber das tat sie nicht. Kapitel 17: Türchen 17 ---------------------- Sachi wollte etwas sagen. Katiya widersprechen. „Ach…“, setzte sie an. Wusste aber nicht weiter. „Das…wird schon!“, versicherte sie. Zuversichtlich klang sie dabei allerdings nicht. Katiya runzelte die Stirn. Sie hatten sich bei Sachi getroffen, um gemeinsam zur Werkstatt zu gehen. Draußen wütete noch immer ein Schneesturm, weswegen sie beschlossen hatten, zu Fuß zu gehen. Ein eigenes Auto hatte keine von ihnen zur Verfügung – außerdem würde es sich kaum rentieren, die paar Minuten zur Werkstatt zu fahren. „Meine Mutter möchte mich nicht außer Haus lassen, weil sie Angst hat, dass …“ Katiya unterbrach sich selbst mit einem Achselzucken. Dass Yuriy sie entführen, eine Horde Wilder die Feier stürmen würde? Wovor hatte Natasha eigentlich Angst?! Nicht einmal alleine nach Hause müsste sie gehen. Sachi wäre sicherlich so gut, sie zu begleiten. Sachi schlüpfte in ihre dicke Winterjacke. Die, mit den vielen Stickereien, die sie sich letzten Winter im Schlussverkauf ergattert hatte und die sie seither immer getragen hatte, wenn die Temperaturen fielen. Da fiel Katiya jäh etwas ein. Nicht nur Natasha stellte eine Gefahr für ihre Feier dar. „Wusstest du, dass Yuriy über Weihnachten wegfahren will?“, fragte sie Sachi. „Was?! Wie kommst du darauf? Das ist doch völlig gaga! Wo sollte er denn hinwollen?!“, echauffierte sich Sachi. Zwischen den Sätzen holte sie kein einziges Mal Luft. „In die Berge, meinte er. Ich habe ihn gestern getroffen“, erwiderte Katiya und wusste nicht, was sie dabei empfand. Gestern noch hatte sie den Hauch von Erleichterung gespürt, als Yuriy ihr von seinen Plänen erzählt hatte. Ohne ihn, keine Feier. Ohne Feier, keinen Ärger mit Natasha. Nun jedoch merkte sie, dass sie sich auf die Feier freuen würde… „Kacke…“, grummelte Sachi. Ihr Optimismus bekam einen deutlichen Dämpfer. „Ohne dich und vor allem ohne Yuriy können wir die Überraschungsparty – für Yuriy – echt knicken…“, murrte sie. Ihre Augen wurden trüb, ihre Miene düster. Katiya schwieg betreten. Sie fühlte sich seltsam schuldig. Hätte sie etwas tun können? Hätte es in ihrer Macht gestanden, Yuriy umzustimmen? „Macht keine so langen Gesichter!“, riss sie da eine Stimme hoch. Es war Gerhard – Sachis Opa. „Ich hab‘ nicht gelauscht, aber die letzten paar Sätze gehört“, meinte er verschmitzt. Katiya und Sachi tauschten einen Blick. „Und scheiße, was?“, erwiderte Sachi an ihren Opa gewandt. Gerhard und sie waren schon immer ein Herz und eine Seele gewesen. Wenn sie Kummer hatte, war ihr Großvater einer der Ersten, der davon erfuhr. Er verurteilte sie nie. Geriet nie in Panik. Oder schrie. Er war ihr Fels in der Brandung. Ein ruhiger Weiser. Mit einem schrägen Humor und einem Herz aus Gold. Gerhard wiegte den Kopf. „Ihr redet mal mit eurem Freund.“ „Aber das bringt doch nichts!“, begehrte Sachi auf. Wenn sie eines gelernt hatte, dann, dass Yuriy stur sein konnte wie ein Esel. Gerhard jedoch gab ihr ein Zeichen, ruhig zu sein. „Ich werde mit Natasha reden“, verkündete er. Gerhard und Ilya – Katiyas Großvater – waren früher einmal gute Freunde gewesen. Sachi war sie nicht sicher, ob ein Gespräch zwischen Gerhard und Ilyas Tochter Natasha die Sache besser machen würde. Schließlich lagen Ilya und Gerhard im Streit … „Nun schaut nicht so, Fräuleins!“ Gerhard trat neben Sachi in den Eingangsflur und klopfte ihr auf die Schulter. Sie waren aufbruchsbereit. In Sachis Jackentasche klimperten ihre Schlüssel. „Redet mit ihm!“, beharrte Gerhard. „Schließlich ist niemand gern allein an Weihnachten.“ Kapitel 18: Türchen 18 ---------------------- Unbehaglich blickte Gerhard sich um. Die Villa war eindrucksvoll. Alles war aus Marmor, dunklem Holz und rotem Samt. Insgesamt wirkte die Einrichtung edel, aber gleichzeitig erdrückend finster und schwer. „Das ist doch völlig verrückt!“ Natashas bestimmter Tonfall zwang Gerhards Aufmerksamkeit wieder zu ihr. Gerhard hatte Natasha angerufen und sich zum Kaffee eingeladen. Er wusste, dass die Familie in der Regel lieber Besuch empfingen als dass sie sich selbst außer Haus begab. „Die Kinder möchten doch nur feiern!“, beharrte Gerhard auf seinem Standpunkt. Seine treuherzigen Augen waren das Gegenteil von Natashas stechend scharfem Blick. Seine weichen Züge den kantigen von Natasha gegenüber. Gerhard kräuselte die buschigen Augenbrauen. „Wir alle wissen, dass du auch nicht bloß immer auf deinem Zimmer gesessen bist.“ Er zwinkerte ihr zu. Natashas Mundwinkel zuckten. Sie wusste nicht genau, worauf er anspielte: Ihre geschiedene Ehe mit einem Ganoven. Ihre Affäre. Oder auf irgendetwas anderes, was er aus Erzählungen seines damaligen Freundes Ilya zu wissen glaubte. „Katiya ist anders.“ Natashas Stimme duldete keinen Widerspruch. Ihre Miene war voller Endgültigkeit. „Daran hege ich keinen Zweifel“, kicherte Gerhard in sich hinein und bedachte Natasha dabei mit einem väterlichen Blick. Natasha stellte es die Nackenhaare auf und sie hob ihrerseits eine ihrer perfekt gezupften Augenbrauen. Gerhard sollte mal nicht vergessen, wer hier der Herr im Haus war – oder hier an dem Tisch. Er war alt. Im Alter ihres Vaters. Dennoch brauchte er nicht so zu tun, als würde er sie kennen. Oder verstehen. „Es wird keine Feier geben.“ „Und ich sage, dass es eine geben wird!“ Gerhard blieb standhaft. Natashas Mundwinkel zuckten. Sie war gereizt, aber wahrte der Form halber ein höfliches Lächeln. „Sei nicht töricht!“ Alter Mann, fügte sie in Gedanken hinzu. Gerhard seufzte. „Was hältst du davon, wenn wir ein großes Fest machen. Im Kreise der Familien.“ Natasha horchte auf. „Ein großes Event?“ Gerhard nickte. „Ja. Deine Familie könnte es als ihre Idee verkaufen. Ein Fest für die Stadt. Dort können dann auch Sachi und Katiya mit ihren Freunden feiern. Und du hast ein Auge auf sie.“ Gerhard wusste nicht recht, ob er den Kindern – die wirklich schon lange keine Kinder mehr waren! – einen Gefallen tat. Aber lieber solch eine als gar keine Feier. Oder? Gerhard beobachtete, wie es hinter Natashas Stirn arbeitete, als suchte sie den Haken an der Sache. „Na schön“, meinte sie schließlich und griff nach ihrer Kaffeetasse, als wollte sie ihm zuprosten. „Dann wird es ein Weihnachtsfest für die Stadt geben.“ Kapitel 19: Türchen 19 ---------------------- Sie hatten schon lange nicht mehr zusammen gegessen. Einer von ihnen war immer außer Haus. Zudem kochten sie beide nicht gerne. Heute jedoch sollte einer dieser Tage sein, an denen Natasha und Katiya sich wenigstens auf einen Kaffee zusammensetzten. „Ich habe in einer Stunde einen Termin“, eröffnete Natasha das Gespräch und erstickte das Gefühl eines ausführlichen Mutter-Tochter-Erlebnisses im Keim. Katiya jedoch wollte sich nicht entmutigen lassen. Es war Natasha gewesen, die Kaffee für sie gekocht und sie zu sich gerufen hatte. Katiya verstand das als eine Art Friedensangebot. Ohne einen weiteren Kommentar setzte Katiya sich zu Natasha auf die lederbezogene Couch. Der Kaffee war frisch, aromatisch und wohlig heiß. „Es ist in Ordnung, wenn du Weihnachten mit deinen Freunden feiern willst.“ Natasha atmete auf, als wäre es ihr schwergefallen, diese Worte auszusprechen. Katiya horchte auf. Wagte es kaum, zu glauben, was sie hörte. „Auf einmal?“ Katiya blieb skeptisch. Wo war der Haken? Natasha zauderte ihrerseits ebenfalls. Auf den ersten Blick wirkte sie gleichgültig, beinahe unbeteiligt. Doch so gut kannte Katiya ihre Mutter: Wenn man genauer hinsah, sah man, dass Natasha … nervös war? „Als ich so alt war wie du, Katiya, habe ich viel falsch gemacht.“ Wieder ein Satz, der Natasha nicht leicht über die Lippen kam. Katiya wartete ab. Wie oft wünschte sie es sich, einmal ein offenes Tochter-Mutter-Gespräch mit Natasha zu führen! Über ihre Familie. Oder ihren Vater. Bislang jedoch hatte Natasha Katiya jeglichen Zugang zu ihrem Herzen verwehrt. Sie war wie ein verschlossenes Buch. Ein geheimer Raum, dessen Tür immer einen Spalt weit offenstand und dann im letzten Moment wieder zugezogen wurde. „Ich mache nichts falsch, wenn ich mit meinen Freunden feiere.“ Katiya blieb ruhig. Sie selbst wusste nicht, ob sie in die Verteidigungshaltung gehen sollte oder nicht. „Ich möchte ein großes Fest ins Leben rufen“, fuhr Natasha fort. Katiya zog die Brauen zusammen. Wie passte das zu ihrem letzten Satz …? „Mit den anderen Familien.“ Katiya merkte, wie ihr die Gesichtszüge entgleisten. Eine offizielle Veranstaltung …? „Deine Freunde sind auch eingeladen. Auch die … beiden“ Natasha zog die Augenbrauen hoch. Sie sah aus, als würde sie sich einen abfälligen Kommentar verkneifen. „… die du über Sachi kennst.“ Katiya trank einen Schluck von ihrem Kaffee. Ihre Gedanken fuhren Achterbahn. Aus den großen Wohnzimmfenstern konnte man in den verschneiten Garten blicken. Eine offizielle Feier war anders, als das, was sie geplant hatten. Nichts, was Katiya im ersten Moment gefallen wollte. Dennoch wusste sie es zu schätzen, dass Natasha ihr entgegenkam. Zu akzeptieren schien, dass sie ein eigenständiger Mensch mit eigenen Wünschen und Sehnsüchten war. Katiya zuckte in einem schwachen Lächeln die Achseln. Ein Teil von ihr hätte sich gerne bedankt. Hieß das, dass Natasha sie endlich losließ? Sie losließ, damit sie sich neu begegnen konnten? Und auch, wenn Natashas Vorschlag sie nicht völlig begeisterte, wollte sie ihn nicht gleich ablehnen. Sie zuckte noch einmal die Achseln. „Gut“, meinte sie. „Ich denke drüber nach.“ Kapitel 20: Türchen 20 ---------------------- Es war nebelig und kalt. Die Garage ihres Wohnhauses zeigte in Richtung Wald. Sachis Atem hing in der Luft, verschwamm mit dem Nebel. Es war Abend geworden. Opa Gerhard war für die Familie einkaufen gewesen. Auf den Straßen war glatt und Sachi war heilfroh, als sie das Auto in der Einfahrt gehört hatte. Sachi war niemand, der sich vorschnell Sorgen machte. So ein Unfall bei schlechten Straßenverhältnissen war aber schneller passiert als man dachte. Die Folgen waren verheerend. Das wusste sie leider aus eigener Erfahrung. Der Kofferraum klappte auf. „Nimmst du die Milch?“, ächzte Gerhard, als er seinerseits eine vollgeladene Kiste aus dem Wagen hob. „Klar!“ Sachi eilte zu ihm. Sie trug noch immer ihre Hausschuhe und bloß einen dicken Pulli. Ohne Jacke war es nun doch kälter als erwartet. Sie sollten sich beeilen, wieder ins Warme zu kommen! „Ich hab‘ übrigens mit Natasha geredet.“ Gerhard stellte eine Tüte im Flur ab. Neugierig tapste ihr Kater Kiwi an, um zu sehen, wer da sein Haus betreten hatte. Er beschnupperte die Einkäufe, streifte Gerhard und Sachi um die Beine, bevor er wieder davonflitzte, als hätte er dort hinten im Wohnzimmer den Fang seines Lebens entdeckt. „Ja?“ Sachi machte große Augen. Wollte sie hören, was ihr Opa bei Natasha erreicht hatte? Hatte er überhaupt etwas erreicht? Denn wenn nicht… „Was sagt sie jetzt?“ Gerhard grinste. „Hat Katiya noch nichts erzählt?“ Sachi schüttelte den Kopf. Tatsächlich hatten sie die letzten zwei Tage nicht viel miteinander geschrieben – geschweige denn, hatten sie sich getroffen. Katiya musste etwas für ein Seminar vorbereiten und Sachi hatte genügend in der Werkstatt zu tun. Gerhards Grinsen wurde breiter. Er schien stolz zu sein. „Natasha wird eine Feier organisieren, an der ihr alle teilnehmen könnt.“ Kapitel 21: Türchen 21 ---------------------- „Ich hatte mir das anders vorgestellt!“ Sachi seufzte enttäuscht, während sie gleichzeitig ein wenig stolz darauf war, wie sie die Lichterkette drapiert hatte. Sie, Katiya und Sven waren in der Werkstatt. Vorhin war Yuriy in den Feierabend gegangen. Bis nach Weihnachten hatte er Urlaub. Dass er diesen Urlaub ein paar Stunden mit dem Zug von ihnen entfernt verbringen würde, schlug ihnen allen auf die Stimmung. „Was ist denn ‘ne große Feier!“ Sachi machte eine wegwerfende Geste und kraxelte von der Leiter hinunter. „Ich will, dass nur wir vier feiern!“ „Aber wenn Yuriy ohnehin nicht da ist?“, warf Katiya ein. „Was bist du denn so gegen die Feier?!“ Enttäuschung schwang in Sachis Stimme mit. „Ich bin nicht dagegen“, widersprach Katiya daher heftig. Das war sie wirklich nicht. Ihr gefiel die Idee, im kleinen Kreise in der Werkstatt zu feiern auch besser. Aber nicht nur, dass Natasha das nicht erlaubt hatte … „Aber Yuriy fährt übermorgen…“ „Vielleicht können wir ihn ja doch noch aufhalten?“, ließ Sven vernehmen. Er hatte das Radio vorhin lauter gedreht, um etwas Stimmung beim Schmücken zu machen – auch wenn sie nicht recht wussten, wofür sie eigentlich dekorierten. Ihre Feier hier in der Werkstatt schien schließlich ins Wasser gefallen zu sein. Dass sie nun hier waren, bedeutete doch wohl, dass sich keiner von ihnen damit abfinden wollte, oder …? „Weiß jemand, wann Yuriys Zug fährt?“ In Sachis Augen blitzte es. „Willst du den Zug aufhalten?“ Katiya traute es Sachi zu, sich mit ausgebreiteten Armen einfach auf die Gleise zu stellen, um zu verhindern, dass Yuriy wegfuhr. Sachi zuckte die Achseln und Katiya ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie darüber nachdachte, ob eine vergleichbare Aktion erfolgreich sein könnte. „Mal ‘ne dämliche Frage, aber …“, ergriff wieder Sven das Wort. Er runzelte die Stirn. „… hat eine von euch versucht, mit Yuriy zu … reden?“ Sie sahen einander an. „Das ging ja nicht wegen der Überraschungsparty …“, meinte Sachi schließlich und zerriss die Lautlosigkeit zwischen ihnen, in der nur das Radio zu hören gewesen war. In der Werkstatt war es warm. Die Heizung lief. Nur der Blick durch das Fenster verriet, dass es draußen bitterkalt war. Noch immer war es nebelig. „Vielleicht müssen wir auf die Überraschung verzichten, um mit Yuriy feiern zu können“, führte Katiya den Gedanken weiter. Als hätte sie damit eine völlig neue Sichtweise eröffnet, fing Sachi an vom einen zum anderen Ohr zu strahlen. „Na, worauf warten wir dann?!“, jauchzte sie mit einem Mal voll neuer Energie. „Halten wir Yuriy auf!“ Kapitel 22: Türchen 22 ---------------------- Rudi fühlte sich in die Enge getrieben. Dabei sollte er sich eigentlich glücklich schätzen. So saß er schließlich mit zwei attraktiven jungen Frauen in ihrer Stammkneipe zusammen. Der Haken an der Sache: Die eine Frau war seine feste Freundin. Die andere seine Ex-Freundin. Und offenkundig schienen die beiden aktuell ein Problem miteinander zu haben. Eines, das sie sich nicht anmerken lassen wollten - das jedoch die Luft elektrisierte. Rudi wurde immer kleiner auf seinem Stuhl, während Chira und Macie scheinbar freundschaftlich darüber diskutierten, was sie an Weihnachten und Silvester anziehen würden. Er wurde das Gefühl nicht los, das eine jede der beiden darauf wartete, dass er seine Meinung zu den Outfits gab, um einer das Gefühl zu geben, die bessere Wahl getroffen zu haben. Er jedoch schlürfte bloß an seinem Cocktail und wünschte sich, im Boden versinken zu können. Den Abend in der Bar ausklingen zu lassen war also doch eine blöde Idee gewesen. „Na, wen sehen meine Augen denn da?“, ertönte da eine Stimme, die Rudi nur zu gut kannte. „Leo!“, rief er voller Erleichterung aus. Freudig winkte er seinen Cousin herbei. Leo war ein Frauenheld. Ein Charmeur. Und ein ziemlicher selbstverliebter Egoist. In diesem Moment jedoch war Rudi einfach nur froh, ihn zu sehen. Ein wenig zusätzliche Gesellschaft würde ihm guttun. Leo zog spöttisch die Augenbrauen hoch. „Seit wann bist du Vertreter der Polyamorie?“ Rudi wurde puterrot und nuschelte etwas Unverständliches in seinen Cocktail. Leo lachte. Dabei sah er aus wie ein Topmodel. Er warf seine Locken zurück, die Rudi viel zu lang für einen Mann fand. Er setzte sich zu ihnen. Rudi spürte, wie sowohl Macie als auch Chira mit einem Mal zu Leo starrten, als wäre er eine Art Magnet. „Also, Ladies“, grinste er. „Wer von euch ist allein hier?“ „Ich“, meinte Macie prompt und schenkte Leo einen gekonnten Augenaufschlag. „Chira ist mit Rudi hier.“ Leo sah zwischen Chira und Rudi hin und her. Chira schob die Unterlippe vor, was ihr einen verwirrten Blick von Rudi bescherte „Wir … haben eben über die Weihnachtsfeier gesprochen, bei der Macie und ich singen werden“, meinte er, um ein Gespräch in Gang zu bringen. „Mit Sachi.“ Dass er gemeinsam mit Macie auftreten würde, konnte er sich nicht verkneifen. Neben ihm rutschte Chira auf ihrem Platz hin und her. Bildete Rudi sich das ein oder wollte sie, dass Leo sie direkt ansehen konnte? „So?“ Leo zog die Augenbrauen hoch. „Aber ein echtes Date hast du noch nicht, Hübsche, oder?“, wandte er sich an Macie, die daraufhin verlegen lächelte. Auch wenn sie nicht direkt verlegen war. Dennoch fühlte es sich gut an, den Hof gemacht zu bekommen. „Nein“, erwiderte Macie schlicht, schenkte Rudi einen flüchtigen Blick. Macie spürte das Knistern in der Luft. Wenn Rudi mit Chira ging, würde sie ihm und sich nur einen Gefallen tun, wenn sie auch endlich weiterzog. „Willst du mein Date sein?“, war es also nun sie, die die Initiative ergriff und Leo die Frage stellte, die er im Prinzip vorgelegt hatte. Sie ließ Rudi dabei nicht aus den Augen. Was dachte er…? Macie hätte sonst was dafür gegeben, in seinen Kopf, in sein Herz blicken zu können. Leo grinste. Rudi schluckte. „Da sag ich nicht nein.“ „Dann haben wir ein Doppeldate!“, quiekte da Chira an Rudis Seite. Sie sagte noch etwas, doch drang das nicht ganz zu ihm durch. Rudi konzentrierte sich darauf, Macie anzusehen. Sich an sie mit Leo an ihrer Seite zu gewöhnen. Daran zu gewöhnen, dass er Macie endlich gehen lassen musste. Kapitel 23: Türchen 23 ---------------------- Es schneite wieder. Das gleichmäßige Rollen von Kofferrädern über den Asphalt dröhnte in Yuriys Ohren. Gleichzeitig war er taub für das Geräusch geworden. Es war noch früh am Morgen. Sein Zug würde in zehn Minuten von Gleis 2 gehen. Er atmete tief durch, zog sich die Mütze weiter in die Augen. Es fühlte sich nicht an, als würde er in den Urlaub fahren. „Yuriy!“ Es fühlte sich viel eher so an, als liefe er davon. „Yuriy! Jetzt warte, Mann!“ Er hielt inne. Dann hatte er sich das doch nicht eingebildet. Da rief jemand nach ihm. Er wandte sich um. Ein paar andere Leute, die ebenfalls zum Zug wollten, passierten ihn mit ihren Koffern. Sie duckten sich ebenfalls vor den herabrieselenden dicken Flocken. Weiße Weihnachten. Es würde wunderschön werden. „Yuriy!“ Seine Augen weiteten sich unwillkürlich, als er erkannte, wer da auf ihn zugelaufen kam. Drei Gestalten. Sie waren voller Schnee. Die Kälte hatte Wangen und Nasenspitzen rot anlaufen lassen. Er wollte etwas sagen, doch wusste er nicht, was. „Wo willst du hin?!“ Sachi baute sich mit in die Seiten gestemmten Armen vor ihm auf. „Wonach sieht es denn aus?“ Gerne hätte Yuriy etwas Schlagfertigeres erwidert. Aber ihm fehlten die Worte. Was machten sie hier? „Du kannst nicht einfach abhauen!“ Sachi klang brüskiert. Auf eine neckische Weise vorwurfsvoll. „Wir hab’n nämlich ‘ne Überraschung für dich, Kumpel“, ergänzte Sven mit einem Grinsen auf den Lippen. „Eine Überraschung?“ Yuriy war verblüfft. Sven, Sachi und Katiya sahen sich an. „Wenn wir es dir nun verraten, ist es keine Überraschung mehr“, meinte Katiya verschmitzt. „Was echt ‘ne Sauerei ist!“, warf Sachi ein und hakte sich bei Katiya ein. „Immerhin hab‘ ich mich die ganze Zeit nicht verplappert – und jetzt verraten wir’s dir doch schon.“ „Was verratet ihr mir …?“ Eine Ahnung beschlich Yuriy. Was war das für ein Gefühl? Ihm war wohlig warm ums Herz. Die Wärme strömte in seine Magengrube, breitete sich in die Arme, die Beine aus. „Alter!“, Sven trat auf ihn zu und zog ihn kumpelhaft mit einem Arm zu sich heran. „Wir wollen Weihnachten mit dir feiern!“ Yuriys Augen weiteten sich noch ein Stück. Eine Welle der Rührung überkam ihn. „Wir haben uns voll ins Zeug gelegt!“ Sachi tat empört, als sie salopp nach dem Griff von Yuriys Trolli griff. Yuriy ließ es zu, dass sie ihm den Koffer aus der Hand riss, um ihn in die andere Richtung zu lenken. „Die ganze Deko und so, ohne dass du’s merkst!“ Das hatten sie also zu verbergen gehabt! Yuriy ging ein Licht auf. Sein Blick wanderte zu Katiya, die ihn schelmisch anlächelte. Mit einem Mal verstand er, weswegen sie das Thema um die Geheimniskrämerei derart gemieden hatte. Weswegen sie so gleichgültig auf die Nachricht mit seinem Urlaub reagiert hatte. Eine andere Reaktion hätte sie verraten. Yuriy blinzelte, um vorsorglich ein paar Tränen der Rührung Einhalt zu gebieten. Seine Freunde. „Jetzt kommt!“, war es wieder Sachi, die das Wort ergriff. „Es ist voll kalt!“ Mit diesen Worten zog sie Katiya mit sich, bei der sie sich noch immer untergehakt hatte. Katiya sah Yuriy an. Um ein Haar hätte sie ihm auffordernd die Hand hingestreckt, um ihm zu zeigen, dass sie ihn mit sich ziehen wollte. Sven jedoch kam ihr zuvor, indem er Yuriy einen Stoß in den Rücken verpasste. „Komm, los! Das Ticket zahlen wir dir“, meinte er. An das herausgeschmissene Geld hatte Yuriy noch gar nicht gedacht. Der einzige Gedanke, der in seinem Kopf Platz fand, war der, dass seine Freunde ihn bei sich haben wollten. Dass er Weihnachten nicht alleine verbringen würde. Dass es wirklich Menschen gab, denen er etwas bedeutete. Kapitel 24: Türchen 24 ---------------------- Macie und Rudi sangen – auf der großen, offiziellen Feier. Sachi hatte sich ohne Begründung nach den ersten zwei Liedern verabschiedet – ungewöhnlich, denn normalerweise liebte Sachi das Rampenlicht, die Aufmerksamkeit, die laute Musik. Natasha hatte ihnen extra eine Bühne aufbauen lassen und die Gäste dazu eingeladen, Spenden für die jungen Musiker dazulassen. Es war schließlich Weihnachten. Die Stimmung war ausgelassen. Fröhlich. Mit einem Mal schien jeder mit jedem zu können. Selbst der ewig grimmig dreinblickende Ilya war dabei. „Schau!“ Gerhard trat neben Natasha, die sich eben einen Punsch vom Buffet geholt hatte. „War das nicht eine schöne Idee?“ Natasha schenkte ihm einen Blick, von dem man schwer sagen konnte, ob sie angesäuert oder amüsiert war. Sie zog die Mundwinkel zu einem Lächeln nach oben. „Sie haben mich ausgetrickst.“ Gerhard grinste. „Du hast es also gemerkt? Wieso hast du sie dann noch nicht zurückgeholt?“ Natasha nahm einen Schluck von ihrem Punsch. „Ich weiß schließlich, wo sie ist“, erwiderte sie schlicht und klopfte auf ihre Clutch, in der sie ihr Handy verstaut hatte. Gerhard schüttelte den Kopf, musste aber Grinsen. Er sparte sich die Frage, ob Natasha ernsthaft Katiyas Handy orten konnte. Hauptsache war, dass sie alle ein schönes Fest hatten. Und das hatten sie. „Frohe Weihnachten!“ Sie stießen mit Glühwein an, den sie sich in der Mikrowelle aufgewärmt hatten. Die Heizung in der Werkstatt lief. Die Lichterketten verströmten ein warmes, goldenes Licht. Katiya, Sachi, Yuriy und Sven saßen in der Werkstatt beisammen. Weihnachtslieder spielten im Radio. „Das ist zwar keine Live-Band, aber“, Sachi zuckte die Achseln. „durchaus okay.“ Sie lachte und blickte in drei glückliche Gesichter. Später würden sie wieder zu der großen Feier zurückkehren. Das hier jedoch wollten sie sich nicht nehmen lassen. „Und, Leute? Wann machen wir Bescherung?“, Sven grinste und nickte zu den Päckchen, die sie unter dem kleinen, elektronischen Weihnachtsbaum verteilt hatten. Sie hatten es sich vor und auf dem Sofa im Pauseneck der Werkstatt gemütlich gemacht. „Jetzt!“, rief Sachi aus und lachte. „Aber vorher …“ Sie holte ihr Handy, das sie an einem Selfie-Stick befestigt hatte hervor. Dieses Weihnachten in der Werkstatt mussten sie schließlich festhalten. „Rückt bisschen zusammen!“ Sie alle kamen der Aufforderung nach. Sachi grinste ein breites Cheese in die Kamera. Sven grinste ebenfalls und auch Katiya, die auf Fotos meistens ernst aussah, lächelte. Genauso wie Yuriy. Auf dem Foto würde er später sehen, dass er vor Glück strahlte. Das war nicht nur das schönste Weihnachten, das er seit langem erlebt hatte. Es war ein ganz Besonderes. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)