Was wir sind von Jaelaki (Seto & Joey | Puppyshipping) ================================================================================ Kapitel 1: … ist talentiert --------------------------- TEIL 1 __________________________________________   Der eigentliche Beweis, daß wir Talent besitzen, ist die Fähigkeit, das Talent in anderen Menschen zu entdecken. Elbert G. Hubbard   __________________________________________           Seto Kaiba war reich, intelligent und gutaussehend. Und ein arroganter Arsch. Ehrlich. Als ich ihn das erste Mal sah, war er ein dünner Junge mit langweilig braunem Haar und blauen Augen, die er zusammenzog, während er an der Seite eines Geschäftsmann stand, der gefühlskalt einen Blick in die Kamera warf.   Es gibt Menschen, die geben dir das Gefühl, niemals genug sein zu können.   Ich rannte in ausgelatschten Schuhen mit Tristan – meinem besten Kumpel – im Schnee um die Wette, uns schrie der Inhaber vom Kiosk Yamato hinterher und fuchtelte vor Wut mit seinen Händen. »Jetzt ruf ich echt die Bullen! Ihr Scheißbengel! Ich ruf'se! Dann guckt ihr mal!« Tristan lachte nur, während er mir einige Süßigkeiten zuwarf und ich grinste breit, steckte mir einen Lutscher zwischen die Zähne, die ich vor Kälte zitternd aufeinander presste. Einige Straßen weiter stützten wir uns um Atem ringend an einer der dreckigen Hauswände ab. Vor unseren Mündern hingen diese Wölkchen und Tris klopfte mir auf die Schulter, ich grinste ihn an, ehe die vielen Bildschirme der Fernseher im Ladenfenster meine Aufmerksamkeit erregten und ich die stummen Bilder verfolgte.   Da stand er inmitten eines Blitzhagels, der ihn blendete. Seine Schultern stramm, seine Hand mit der eines kleinen Jungens mit schwarzer Mähne verankert, der vor Unsicherheit halb hinter ihm stand, und starrte den Kameras entgegen. Um seine Lippen hing ein Ausdruck von Härte. Alles an ihm schrie, dass er ein arroganter Arsch war, der sich nur für sich und seinesgleichen interessierte. Einer, der keine Probleme kannte, weil ihm jeder die Wünsche von den Augen las.   Es gibt Menschen, die dich so fertig machen, bis du nicht mehr widersprichst.   In den nächsten Tagen konnte sich nicht einmal mein Vater von dem Medienrummel um dieses Wunderkind fernhalten. »Ha, der hat's drauf. Junge, Junge. Macht den alten Sack fertig und heimst ein verdammtes Leben in Luxus ein. Verdamm mich. Das ist ein Bursche. Hast du gehört? So einer wie der, der hat's drauf. Solltest dir ne Scheibe von abschneiden, nutzloser Bengel!« Der leeren Dose, die er nach mir warf, wich ich mühelos aus. Wie gewohnt. Doch mein Blick verdüsterte sich bei all dem Wirbel um diesen Jungen, der kaum älter war als ich selbst.   Sein Talent wurde in den Medien gerühmt. Und ohne, dass er mir bis dahin auch nur einmal persönlich begegnet war, wusste ich, dass wir uns niemals mögen würden. Ich glaubte ihn zu kennen. Solche, wie er. Reiche Menschen, die dachten, über allen und allem zu stehen. Die keine Ahnung hatten, wie es war abends mit einem Knurren im Magen zu Bett zu gehen. Oder sich zu wünschen, der eigene Vater würde am nächsten Tag nicht aufstehen, sondern liegen bleiben. Für immer liegen bleiben. Ich redete mir ein, dass es mit seinem Blick voller Arroganz zu tun hatte und seiner Körperhaltung, in die Herablassung geschrieben stand. (In meinem Kopf spukten natürlich andere Wörter dafür.) Und sicherlich traf das auch zu. Aber ich wusste trotzdem, dass das nicht alles war. Da war ein ätzendes Gefühl in meinem Magen. In den nächsten Jahren spielte das alles keine Rolle in meinem Leben. Vier Jahre später Hätte ich gewusst, wie sich ab diesem Augenblick alles entwickelte – vielleicht wäre ich aufgestanden und gegangen. Vielleicht aber auch nicht. Immerhin floh ein Wheeler nicht, zumindest meistens – oder nur mit einem wirklich guten Grund. Ansonsten war Angriff die beste Verteidigung und eher meine Strategie. (Strategie – hörte sich besser an als Kurzschlussreaktion.) Oder ich hätte ihn angegrinst, ihn in den Arm genommen und gesagt, dass ich es wüsste. Dass wir es schaffen würden. Vielleicht hätten wir Freunde sein können – zu einem anderen Zeitpunkt, an einem anderen Ort. Wäre er nicht er und ich nicht ich gewesen.   Es gibt Menschen, die dir zeigen, dass du nicht so bist, wie sie dich gern hätten.   Aber er stand da vor unserer Klasse, die ihn anhimmelte, und ich saß hier in der vorletzten Reihe und glaubte, ich müsste auf meine Schuhe kotzen. Er stand da mit verschränkten Arme und einem Gesichtsausdruck, den ich ihm am liebsten poliert hätte. Mit meinen Fäusten. Mein Blick wanderte aus dem Fenster. Die Schneeflocken sammelten sich auf dem Fensterbrett. Tristan stieß mir in die Seite und er murmelte mit gerunzelter Stirn: »Hey, ist das – das is'doch der – Dings – der –« Ich schnaubte und zuckte die Schultern. »Wie ihr bereits wisst, werden wir ab diesem Schulhalbjahr einen neuen Schüler in unserer Klasse haben«, holte unsere Lehrerin Frau Tanaka mit strengem Blick aus und bedachte mich mit einem auffällig langem, »dem gegenüber werdet ihr euch freundlich und aufgeschlossen verhalten.« »Jo, vielleicht tanz'n wa alle mit Blumenkränzen und Hand in Hand um ihn rum«, murmelte ich und Tris lachte auf. Frau Tanaka fixierte mich und Tris. Er verstummte, ich verengte meine Augen. Sie sollte nur etwas sagen. Sie sollte nur. Stattdessen räusperte sie sich und legte ihre Aufmerksamkeit wieder ihm vor die Füße. So wie sie alle vor ihm niederknieten.   »Das ist Seto Kaiba.«   Ich seufzte in meinen Ärmel hinein, auf den ich vor Langeweile mein Kinn bettete. Wer wusste nicht, wer er war? Meine Laune sank tiefer als die Schneeflocken vor dem Fensterbrett. Mit jedem Wort, das unsere Lehrerin über ihn verlor. Mit jeder Sekunde, in der er da vorne stand und aussah, als ginge ihn das Ganze hier gar nichts an. »Möchtest du noch etwas zu dir sagen?«, fragte Frau Tanaka an Seto Kaiba gewandt. Der reckte das Kinn. Sein Blick schweifte über uns, als wären wir Kühe auf einer Weide. Oder Schafe. Ob er alle Menschen so ansah? »Ich denke, das ist nicht nötig«, erwiderte er kühl. Überheblichkeit schlug unserer Lehrerin entgegen, die lediglich kurz nickte und ihn aufforderte Platz zu nehmen. Wenn es ihm recht wäre. Kein Wheeler, setz dich endlich hin! Kein genervtes Seufzten. Seto Kaiba nickte kurz und stolzierte in die vorderste Reihe, wo noch ein Platz frei war. Weil kein normaler Mensch freiwillig in der Schule ganz vorne saß. Ich war einfach nur froh, dass nicht ich neben ihm sitzen musste. »N bissel von sich überzeugt, ne?«, raunte Tristan mir mit vielsagend gehobenen Augenbrauen zu und ich schnaubte in meinen Ärmel. »Nur so bissel wie Pinguine nicht fliegen können. So zu hunderttausend Prozent«, erwiderte ich. Tristans Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, in dem der Witz aufblitzte. »Du magst ihn nicht«, flüsterte er neckend, »warum?« Zwischen meinen Augenbrauen stand eine steile Falte. »Ich –« »Wer liest die Hausaufgabe vor?« Frau Tanaka taxierte uns mit einem Blick, in dem die Mahnung geschrieben stand, mich wieder zum Schulleiter zu schicken, sollte ich unangebracht reagieren und ich verdrehte die Augen. Ob sie Kaiba zum Direktor schicken würde? Tristan grinste, während er zur Tafel schaute – Frau Tanakas Blick meidend – und irgendwas abschrieb. Oder so tat. »Joseph, lies du mal bitte deine Hausaufgaben vor.« Ich murmelte, dass er ein verdammter Arsch war – wusste selbst nicht, ob ich Kaiba oder Tristan meinte und zog meinen Block aus der Tasche, aus dem ein paar Seite flogen und auf dem Boden landeten. »Moment. Ich find's bestimmt gleich«, sagte ich und ein paar kicherten. Ich grinste. »Vielleicht sollte mal vorher noch jemand anders vorlesen«, schlug ich mit einem Achselzucken vor und blätterte durch meinen Block, der aussah, als hätte ihn jemand auf die Straße gelegt und wäre ein paar Mal drüber gelaufen. Ich war vielleicht wirklich ein paar Mal über die Seiten gestolpert. Immerhin landete so etwas schon mal auf dem Boden in meinem Zimmer. Frau Tanaka seufzte resigniert und nahm einen meinen Mitschüler dran. »Yugi, könntest du bitte –« Ich wechselte mit Tris einen Blick, der nickte. Nach der Schule wieder. Yugi Muto war einer von der Sorte. So einer, den man herumstoßen konnte und der sich danach noch bei einem entschuldigte. Er war ein Schwächling. Einer, der seinen Mund nicht aufbekam. Es tat gut, so jemanden zu haben. Jemanden, auf den man spucken konnte, wenn einem das Leben ans Bein schiss. Und das tat es doch dauernd.   Es gibt Menschen, die dich wie Luft behandeln.   Yugi saß eine Reihe hinter Kaiba. Sein Haar gefärbt und gegelt, als könnte das etwas daran ändern, das er für alle unsichtbar war. Yugi war das Gegenteil von Kaiba. Unscheinbar, unwichtig, übersehen und vergessen. Ich schnaubte, legte mein Kinn wieder auf meinen Arm. Dann war es besser, laut zu sein und wenn es wegen irgendeinem Scheiß war. Besser als übersehen zu werden, als vergessen zurückzubleiben. Mein Blick wanderte zu Seto Kaiba. Seine brünetten Haare waren ordentlich geschnitten und glänzten seiden in der kühlen Wintersonne, die durch das Fenster blinzelte. Mit durchgestrecktem Rücken saß er auf dem Stuhl und tippte beschäftigt auf seinem Laptop, während Yugi seine Hausaufgaben vorlas.   Seto Kaiba war reich, intelligent, gutaussehend. Und unglaublich talentiert. Das wusste jeder. Er war ein begnadeter Rhetoriker – auch wenn ich mir noch öfters wünschen sollte, er würde einfach mal seine Fresse halten. Er war ein Streber. Er konnte Schach und so ein Zeugs und baute nebenbei seine eigene, verdammte Firma auf. Tatsachen, die jedem bekannt waren. Und ein arroganter Arsch. Das war zumindest mir von Anfang an klar. Ich kannte solche Typen, die glaubten, besser zu sein. Solche, die einen anschauten, als wäre man nichts wert. Ich kannte diese Blicke, die über einen hinweg flogen. Aber ich nahm das nicht hin. Anders als Yugi. Ich warf meine Sprüche um mich, wie Pistolenkugeln, schüttete meine Worte über andere, wie ein Schwall kalten Wassers, stieß sie in die Ecke und schlug zu, wenn sie glaubten, besser zu sein – wenn sie mich so ansahen, als wüssten sie, wer ich war. Oder wenn mir ihr Mitgefühl auf die Eier schlug. Es kotzte mich an. Yugi kotzte mich an.   Nach der Schule lungerten wir am Schultor. Ich hatte keine Lust nach Hause zu gehen. Ich hatte nie Lust darauf. »Hey, guck mal, wer da kommt!« Ich stieß Tris in die Seite und deutete auf Yugi, der allein mit der Tasche quer vor der Brust und irgendetwas in der Hand über den Schulhof trottete. »Hey, was isn das?«, fragte ich und trat in seinen Weg, schaute auf ihn herab und grinste Tris zu. Yugi Muto sah aus, als hätte er plötzlich erkannt, dass er auf die Straße gerannt war, ohne zu schauen. »Mh, sieht aus, als wären es Karten«, erwiderte Tristan irritiert. »Alter, was isn das fürn Scheiß?«, höhnte ich. »Das ist das neue Spiel von –«, begann er. Als ob mich sein Gelaber interessiert hätte. »Wo ist dein Geld, Muto? Ich hab gedacht, du wüsstest langsam wie's läuft«, unterbrach ich ihn. »Aber – du hast schon heute Morgen mein Geld –« »Alter, laber net«, knurrte ich und riss ihm die Karten aus der Hand. Er erstarrte und ich grinste Tristan an. »Ist das was wert? Was denkste?« Tristan zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Denk's net.« Yugi langte nach seinen Karten, aber ich hob sie außerhalb seiner Reichweite. Es war scheiße, klein zu sein. Jeder konnte auf einen herabsehen. Auf einen spucken. Mir kam eine Idee. Ich zog eine Karte nach der anderen hervor, spuckte drauf – Tris grölte – manche zerriss ich, dann ließ ich sie nach und nach auf den Boden segeln. »Was ist'n das für einer? N schwuler Zauberer oder was?« Ich zeigte Tristan den Magier, der lila Kleidung trug und wir lachten uns schlapp. »Bitte nicht die Karte! Bitte! Schlag mich! Aber bitte lass die Karte ganz!« Ich hob die Augenbrauen, wechselte einen Blick mit Tristan. »Und was gibst du uns dafür?«, wollte ich wissen, hielt die Karte, als inspizierte ich sie, dann musterte ich Yugi. »Alles.« Ich hob meine Augenbrauen und zögerte. In Yugis Blick stand Entschlossenheit, so viel, dass ich innehielt. Seit wann war der Hosenscheißer ein Kämpfer? »Alles«, spottete Tristan, »was soll’n das sein?« »Ich kann euch Karten besorgen? Ich kann euch das Spiel zeigen!« Ich schnaubte. »Was findest du an der Karte?«, wollte ich wissen und beäugte den lila Magier. Ich wollte die Karte zerstören. Das Gefühl juckte in meinen Fingern. Ich wollte sie zerfetzen und ihm zeigen, wer das Sagen hatte. Dass Yugi erbärmlich war. »Die – die Karte war ein Geschenk von meiner Mutter«, schniefte er. »Oh, wie süß«, lachte Tristan. Mein Blick sprang von Yugi zu der Karte und zurück. »Und wenn schon«, spottete ich. Mit einem Achselzucken steckte ich die Karte ein. In dem Moment schritt Seto Kaiba an uns vorbei. Er schaute nicht einmal auf.   Es gibt Menschen, die glauben zu wissen, wer du bist.   Eine halbe Stunde zu spät traf ich in der Schule ein, zog die Tür zur Klasse auf und trottete auf meinen Platz, nachdem Frau Tanaka mir einen Eintrag ins Heft geschrieben hatte. Die Klasse tuschelte, ein paar kicherten. Ich stand da und tat so, als wäre es mir egal. »Bleib nicht so spät auf, dann kommst du früh aus dem Bett«, behauptete Frau Tanaka. Ich verdrehte die Augen und ließ mich auf meinen Stuhl fallen. Was wusste die schon? Mein Blick wanderte gelangweilt über die Klasse, blieb an Yugi hängen. Seine Karte steckte in meiner Hosentasche. Und an Kaiba. Kaiba, der mich als einziger ignorierte. »Wenn du noch einmal auffällst, Joseph, dann gibt das einen Tadel. Verstanden? Wenn du so weiter machst wie letztes Jahr, dann –« »Ja, ja, schon klar«, murrte ich. Jemand lachte. Ich grinste und streckte mich. »Dann dreh ich halt ne Extrarunde. Was soll’s?«   Zu Hause lag ich abends im Bett, betrachtete die Karte. Schwarzer Magier. Strich über sie und versuchte zu begreifen, was so besonders an ihr war. Aber es war nur Papier. Mit einem Schnauben legte ich sie auf den Nachttisch und schmiss mich zurück auf die Matratze, presste mein Kissen auf mein Ohr, aber es brachte nichts. Ich hörte durch die Wand hindurch, wie mein Vater heulte. Ich wälzte mich in meinem Bett hin und her.   Es gibt Menschen, die schauen auf dich herab, obwohl sie nicht besser sind als du.   Ich latschte durch den Matsch, betrachtete die Karte in meiner Hand, drehte sie und steckte sie wieder in meine Hosentasche. Ich war pünktlich am Schultor. Wie an jedem Morgen. So früh, dass noch kein Schüler hier herumhing. »Wheeler«, rief eine Stimme und ich erstarrte. Seine Stimme jagte eine Gänsehaut über meinen Rücken. »Da bist du ja. Pünktlich auf die Minute.« »Ushio«, erwiderte ich und schlug in seine Hand ein, obwohl ich am liebsten auf seine Schuhe gespuckt hätte. Hinter ihm standen zwei seiner Freunde. Mehr Muskeln als Hirn.   »Rück’s endlich raus! Hab nicht den ganzen Tag Zeit.« Ich kramte in meinem Ranzen und klaubte ein paar Scheine zusammen. »Willst du mich verarschen? Gib mir alles!« Ich zog noch einen Schein raus. »Das war’s. Mehr hab ich net.« »Mach deine Taschen leer!« Seine Augen stierten mich an, ließ seine Fäuste knackten und stieß mich nach hinten. Ich taumelte auf dem vereisten Gehweg, fing mich aber und funkelte ihn an. »Glaubst du echt, ich trau dir Ratte?«, höhnte er. Das galt auch im Gegenzug. »Alter!«, knurrte ich, »mehr hab ich nicht!« »Willst du echt, dass ich das mit deinem Alten rumerzähle?« Ich ballte die Fäuste, schmeckte Galle und hatte das Gefühl, ihm in seine Fresse schlagen zu wollen. »Ich besorg mehr. Gib mir noch einen Tag –« »Nee, ist klar. Jungs!« Ich machte einen Schritt zurück, doch sie hatten mich schon gepackt. »Ich glaub, du hast vergess‘n, wie wir Dinge mach’n. Bist schon zu lange auf der Schule hier, was? Bezahlt deine Hure von Mutter schön das Schulgeld?« Die Hände seiner Freunde schraubten mich fest. Der erste Schlag war immer der schmerzhafteste. Ich glaube, weil er damit meinen Stolz traf. Irgendwann betäubte das Brennen meiner Haut, das Brennen in meinem Bauch. Das Gefühl, dass die Menschen Recht hatten. Sie grölten und traten zu, als ich auf dem Boden lag. Meine Wange im Matsch, der gestern noch Schnee gewesen war. »Durchsucht seine Taschen!« Seine Freunde kippten meinen Ranzen aus, jemand wühlte in meiner Hosentasche. Ich biss auf meine Lippen. »Uh, was ist das denn?« Ushio hielt den Schwarzen Magier nach oben. »Die gehört mir, du Arsch!«, krächzte ich und hielt meinen Bauch, rappelte mich auf. »Sicherlich«, höhnte Ushio. »Gib sie her oder –« »Oder?«   Es gibt Menschen, die dich am Boden liegen lassen.   Seine Freunde bauten sich hinter ihm auf. »Oder ihr werdet wegen Körperverletzung und Diebstahl angeklagt«, erklärte eine Stimme hinter mir, als erklärte sie etwas sehr Offensichtliches. Ich schnappte nach Luft, als ich meinen Hals drehte und ihn dort stehen sah. Einen Teenager mit langweilig braunem Haar und Augen, die er zusammenzog. Einen Aktenkoffer in der Hand. Hinter ihm stand ein Mann in Anzug mit Brille, einer, der aussah, als wäre es besser, ihm keinen Grund zu geben, in den Vordergrund treten zu müssen. »Alter. Wer bist’n du? Das Sozialamt?«, höhnte Ushio und sah dann auf mich hinab. »Ist das dein Freund, Ratte?« »Ach, halt’s Maul. Gib die Karte und verpiss dich einfach. Scheißkerl«, zischte ich, stützte meinen Arm in die Seite, weil die Schmerzen mich sonst in die Knie gehen ließen, den anderen presste ich auf meinen Bauch. Ushios Blick wanderte hinter mich, dann durchlief ihn einen Ruck und er drückte mir die Karte in die Hand. Ohne ein Wort drehte er sich um, seine Kumpels folgten ihm. Irritiert starrte ich ihnen nach, dann die Karte an.   »Ich würde sie Yugi Muto zurückgeben. Du hast eh kein Talent für das Spiel. In deinen Händen ist die Karte wertlos.« Damit schritt Kaiba an mir vorbei. Mein Blick folgte ihm, die Karte in meiner Hand schien meine Haut zu versengen.   Es gibt Menschen, die dich am Boden liegen lassen. Seto Kaiba gehörte nicht dazu. Er half einem auf, um einen dann noch tiefer in den Abgrund fallen zu lassen. Und du denkst, das Leben ist nur zu dir unfair. Aber dann kapierst du, dass du nicht besser warst. Dass du andere auch scheiße behandelt hast.   Die nächsten Tage beobachtete ich Yugi, aber sprach ihn nicht an. Seine Karte steckte in meiner Hosentasche. Es ging mir nicht aus dem Kopf. Ich blieb in der Tür stehen, als ich ihn in der Pause alleine in der zweiten Reihe sitzen sah und zögerte. Ich wusste nicht einmal mehr, warum ich die Karte mitgenommen hatte. Natürlich bedeutete sie mir nichts. Für mich war sie wertlos. Seto Kaiba stand hinter mir im Gang und tippte auf seinem Handy. Als er aufsah, begegnete sich unser Blick einen Moment. Dann ging ich zu Yugi.   »Danke«, stotterte er und starrte die Karte in seinen Händen an, als könnte er es nicht glauben. Dann schaute er mich an und in seinen Augen glitzerte etwas, das keine Furcht, keine Entschlossenheit, nicht einmal Dankbarkeit war. Es war etwas, das mir meine Selbstsicherheit raubte und ich glaubte, Yugi sah etwas in meinen Augen, in mir, das mit bloßem Blick nicht zu erkennen war. Ich wollte abhauen – und mehr darüber erfahren, wissen, was es war. Also blieb ich.   Es gibt Menschen, die sehen das Gute in dir, selbst, wenn du nur Scheiße baust. Manche nennen das Dummheit oder Naivität.   Zwei Wochen später standen wir auf der Schulterrasse. Ich lehnte mit meinem Rücken an dem Geländer, Yugi stützte seine Arme darauf. Um uns herum lungerte das Wasser in Pfützen. Der Winter war nicht kalt genug für Schnee, also regnete es. In den Pausen war hier so gut wie niemand und wir laberten über alles Mögliche. Yugi runzelte die Stirn. »Was ist eigentlich mit Ushio? Irgendwas Neues? Du hast erzählt, dass –« »Mh, ja, ich weiß. Aber ehrlich gesagt – keine Ahnung. Er hat sich nicht mehr gemeldet. Wenn ich ihn sehe, dreht er sich um und geht. Wenn ich’s nicht besser wüsste, würd ich glatt denken, er würde vor mir abhauen.« »Wär das nicht möglich?« »Ushio? Nie im Leben. Der hat seine Kumpels. Der macht jeden fertig. Das ist nicht so ein Typ, der einen einfach in Ruhe lässt, weil er Schiss hat oder was.« »Mh. Vielleicht hat Kaiba was damit zu tun?« »Was? Der? Nur, weil er Ushio davon abgehalten hat, mich zu Brei zu schlagen?« Ich schüttelte den Kopf. Das war zu abgefahren. »Erzähl mir lieber mehr von den Karten, Kumpel«, meinte ich und sah in die dunklen Wolken. Yugi erzählte mir von DuelMonsters, dem Kartenspiel. Dabei röteten sich seine Wangen vor Begeisterung und seine Augen strahlten. Er wusste genau was er wollte, wenn er von Spielen sprach. Es war, als wäre er ein anderer Mensch. Einer, der mehr hinbekam, als der Durchschnitt, einer, der wusste, wohin er wollte. »Warum bedeutet dir der schwarze Magier so viel?«, unterbrach seinen Schwall an Worten und warf ihm einen Seitenblick zu. Ich hatte es noch immer nicht begriffen, wie einem eine Karte so viel bedeuten konnte. »Meine Mutter hat sie mir geschenkt.« »Ja, ich erinner mich. Stimmt. Mh. Schenkt sie dir oft Karten?« »Nein.« Yugis Blick wanderte von seinen Karten in der Hand in den Himmel. »Nicht mehr. Sie – sie ist gestorben.« »Oh«, machte ich und kratzte meinen Hinterkopf. Ich war nicht gut mit Worten, sagte Sachen falsch, meinte sie anders, als sie aus meinem Mund kamen. Und meistens wusste ich nicht, was ich wie sagen sollte, also klopfte ich Sprüche. Aber Yugis Ehrlichkeit erwischte mich irgendwo, wo meine Sprüche und meine Wut nicht hinreichten. »Ja, meine auch«, antwortete ich, »sozusagen.« »Mh«, brummte er. »Willst du – willst du es lernen?«, fragte er. »Hä?« »Das Spiel? Das Kartenspiel meine ich.« »Ich glaub nicht, dass ich das kann«, wiegelte ich ab. »Hab nich‘ so’n Talent für so was.« Er lächelte. »Ich zeig’s dir. Es ist eigentlich ganz einfach. Also wenn du willst.« Die nächsten Wochen verbrachten wir jede Pause zusammen. Tristan stieß ab und an zu uns. Dann saßen wir zu dritt um einen Tisch und zockten. Ich verlor gegen Yugi. Jedes Mal. Aber es fühlte sich nicht so an. »Du hast echt Talent!«, lobte mich Yugi und strahlte mich an. Ich zuckte die Achseln, fuhr mir durchs Haar und grinste den Tisch an. Tristan klopfte auf meine Schulter. »Ja. Das war keine schlechte Strategie. Für einen Schimpansen«, bemerkte Kaiba, als er an unserem Tisch vorbei ging und sich in die letzte Reihe hockte. »Obwohl das sicherlich eine Beleidigung wäre. Für den Affen.« Er öffnete eines seiner Schulbücher. In der Pause. So ein verdammter Streber. Ich ballte meine Fäuste. Hitze walzte durch meine Adern. »Joey, lass ihn«, beschwichtigte mich Yugi und ich atmete tief durch. »Genau, Wheeler. Hör auf dein Herrchen«, stimmte Kaiba zu und blätterte eine Seite des Schulbuchs weiter. »Kaiba«, knurrte ich. »Komm her und ich feg dich vom Feld, Arsch!« »Oh, bitte. So ein Amateur wie du? Das wäre reine Zeitverschwendung.« »Geldsack!« »Köter.« Ich sprang auf. Hinter mir murmelte Yugi etwas. Tristan murrte resigniert: »Nicht schon wieder.« »Eisschrank!« »Töle!« »Reicher Sack!« »Flohschleuder.« »Du – du –« »Deine Eloquenz ist berauschend.« »Ich stopf dir Elo- die Dings gleich in deinen Arsch!« Tristan und Yugi seufzten.   Menschen, die das Gute in dir sehen, selbst, wenn du es nicht tust. Und es gibt die, die sehen in dir das, was andere übersehen. Es gibt Menschen, von denen du glaubst, sie zu kennen. Und die, die dein Menschenbild auf den Kopf stellen. Kapitel 2: … ist der Stärkste ----------------------------- __________________________________________ Seine Stärke war die Schwäche der anderen. Agricolus __________________________________________ Seto Kaiba baute sein eigenes Imperium auf. Ich hingegen schlenderte mit einem kaputten Rucksack voller Zeitungen durch die Straßen. Winterwind blies mir in mein Gesicht, meine Finger bläulich angelaufen und verfluchte die blöden Bilder von ihm in der Zeitung, auf denen er mir mit diesem Blick entgegen stierte. Er wirkte da so abgehoben, außerhalb meiner Realität. Unerreichbar. In der Schule saß er dann nur einige Reihen vor mir, mit einer Körperhaltung, die seine Arroganz betonte, den Laptop ständig in Betrieb, herumtippend, während ich missmutig und überfordert da hockte und hoffte, dass mich die Lehrerin nicht für die nächste Aufgabe aufrufen würde. Er hingegen wusste, dass sie es nicht wagte. Mir ging sein Getue so auf die Nerven. Seto Kaiba besaß einen ganzen Hofstaat, wie Tristan es zukünftig bezeichnete und konnte den Willen anderer mit Beträgen, in denen unübersichtlich viele Nullen vorkamen, beugen. Zumindest hatte ich das alles schon einmal irgendwo in der Zeitung gelesen, die ich austrug. Manchmal wanderte mein Blick eben doch über die Zeilen. Seto Kaiba besaß Kohle, Angestellte, eine richtig coole Villa, Ambitionen, Durchsetzungsvermögen und verdammt viel Selbstbewusstsein. Ich nannte es einen kranken, selbstgerechten, egozentrischen mit Gold eingekleisterten Scheißcharakter. »-seph! Joseph!« Ich schreckte aufs meinen Gedanken hoch. Frau Tanaka warf mir so einen Lehrerinnenblick zu. Ihre Mimik ließ auf nichts Gutes schließen. »Wie ich sehe, beehrst du uns wieder mit deiner geistigen Anwesenheit«, stellte sie trocken fest und Gelächter waberte durch die Sitzreihen. Das Schnauben unterdrückte ich und presste ein ironisches »Keine Ursache« zwischen meinen Lippen hervor. Allerdings hätte ich wohl auch das runterschlucken sollen, denn ihre Miene wandelte sich von leicht genervt in düster-mörderisch. »Dann würde ich vorschlagen, dass du dich endlich zu deinem Partner setzt«, meinte sie gefährlich leise und deutete auf einen Platz, der sich viel zu sehr in Kaibas Nähe befand. Der hatte mir seinen Rücken zugedreht. Mein Blick floh zurück zu Frau Tanaka. »Was?«, fragte ich verdattert, »Tris und ich arbeiten immer –« Hilfesuchend wandte ich mich an ihn, der mit einem Blick der Entschlossenheit der Lehrerin zunickte. Erleichtert atmete ich aus, doch Frau Tanaka schüttelte ihren Kopf und begrub meine Hoffnung unter einem Geröll von Worten. »Wenn jeder in dieser Klasse mit dem arbeitet, mit dem er immer gearbeitet hat, dann hätte Seto Kaiba logischerweise keinen Partner.« Was meiner Meinung nach nicht sonderlich bedauernswert wäre. Er war ein egoistischer Arsch mit zu viel Geld. Sollte er sich jemanden für die Partnerarbeit engagieren. Doch Tanakas Mund verschmälerte sich und ihre Augen zogen sich unheilvoll zusammen. »Joeseph, du kannst die Aufgabe auch gerne alleine erledigen und mir als Essay zur Benotung abgeben«, schlug sie vor und in meinem Kopf begann es zu rattern. Vor- und Nachteile? Pro: kein Kaiba. Kontra: keine Zeit, Note, Stress – Seufzend entschloss ich, mich in Bewegung zu setzen und ließ mich plump auf den Platz neben Seto Kaiba fallen. Der machte jedoch keinerlei Anzeichen, meine Anwesenheit überhaupt zu bemerken. »Also«, begann ich, ohne zu wissen, was ich eigentlich sagen wollte. Aber ich hasste es, ignoriert zu werden. »Wir soll'n über – ähm – Familienstrukturen reden, jo. Ist Familie heute noch aktuell?«, las ich von der Tafel ab und mein Blick verdüsterte sich. Ich wollte sicherlich nicht mit Seto Kaiba über Familienstrukturen reden. Ich wollte gar nicht mit ihm reden. Er offensichtlich auch nicht mit mir. Stattdessen tippte er weiter auf seiner Tastatur herum und blickte auf seinen Bildschirm. Mein Blick wanderte wie nebenbei über sein Profil. Seine langweiligen, braunen Haare fielen in langweiligen Strähnen in seine Stirn, seine langweiligen Augen unverwandt auf den Bildschirm fest gepinnt. Ich seufzte genervt und schaute auf das geöffnete Fenster seines Laptops. Eine Skizze von einem Hund prangte mir dort entgegen. Recht langweilig. Eine Mischung aus Welpe und Teddybär. »Der Hund sieht ja mal total bescheuert aus, Geldsack. Die Augen sehen ja total tot aus. Voll creepy. Mach da mal was«, urteilte ich, wedelte mit meiner Hand vor seinem Bildschirm und lehnte mich dann in meinem Stuhl zurück, kippelte, pustete mir meine Ponysträhnen aus der Sicht. Ein Paar Augen aus Eis fixierte mich. Mit blanker Miene, doch einem Blick, in dem Eisberge auf Schiffskatastrophen warteten, hielten mich seine Augen einen Moment gefangen. Ich schluckte. »Tatsächlich.« In seiner Stimme lauerte etwas, das ich nicht identifizieren konnte. Aber es war so was von klar, dass ihm mein Urteil am Arsch vorbeiging. Nicht, dass ich mich davon beeindrucken ließ. Das hatte ich noch nie. Das würde ich nie. »Ja. Die Augen. Mit denen stimmt was nicht. Der Rest ist – jo – okay.« Mit einem Mut, der dann auftaute, wenn sich Trotz in meiner Brust sammelte, reckte ich mein Kinn und verschränkte meine Arme vor der Brust. Sein Blick jedoch lag auf der Skizze. »Und warum immer Schäferhunde, hä?«, fragte ich dann. „Und komm mir jetzt nicht mit einem Dalmatiner. Und dann immer dieses Kindchen-Schema.« »Es verkauft sich gut«, antwortete er trocken und ich zuckte die Schultern, wischte es zur Seite, als wäre das kein Grund. »Ramsch verkauft sich eben bei den richtigen Kunden gut«, meinte ich bloß und zog meine Augenbrauen vielsagend hoch. Ohne ein weiteres Wort an mich zu verschwenden, hob er seinen Arm. Ich zuckte zurück. Frau Tanaka nickte ihm zu und er stand auf, packte den Laptop in den Aktenkoffer. »Äh – was?« »Da Familienstrukturen mitunter äußerst komplex sind und Familien sehr facettenreich sein können, passt das Konzept Familie durchaus in die moderne Gesellschaft. Es hängt allerdings von der Definition der Familie ab«, erwiderte er, während er sich seinen übertrieben hässlichen Mantel anzog. Ich blickte ihn an. Sicherlich stand ein Fragezeichen in meiner Mimik, doch er überging es ohne Kommentar, griff nach seinem Aktenkoffer und wandte sich dann ohne Verabschiedung von mir ab. Mit gerunzelter Stirn sah ich ihm nach. »Gib mir bitte dann eure Erarbeitung nach der Stunde ab, Joseph«, vernahm ich die Stimme von Frau Tanaka. Ich wollte die Ungerechtigkeit anprangern, mit deren Hilfe Seto Kaiba offensichtlich davon gekommen war, doch Frau Tanaka schüttelte den Kopf, als wüsste sie bereits, was ich sagen wollte. Ich runzelte vor Zorn die Stirn und langte angepisst nach meinem Block. Mein Blick wanderte zu Yugi und Tristan, die mich beobachteten. Ich verdrehte die Augen, streckte aber meinen Daumen. So ein blödes Essay würde einen Joey Wheeler nicht kleinkriegen. Und ein Seto Oberpenner Kaiba erst recht nicht. »Habt ihr's schon gehört?«, fragte uns Yugi einige Wochen später in der Pause. Die Aufregung in seiner Stimme konnte er nicht verbergen. In seinen Augen sirrte Alarm, als er von einem Bein auf das andere hibbelte. Tristan und ich warfen uns einen ahnungslosen Blick zu und schüttelten langsam den Kopf. »Nee, was'n?« »Es heißt, dass Seto Kaiba gerade ein absolut revolutionäres Spielsystem entwickelt.« Mein Blick huschte zu Besagtem, wie er da einige Reihen vor uns saß, so total un-revolutionär weiterarbeitend, und einfach in seiner Wichtigtuerei ignorierte, dass für jeden normalen Schüler gerade Pause war. Seto Kaiba war eben nicht normal. »Und was macht's?«, fragte Tristan und musterte unseren Kumpel. Yugi knabberte unwohl an seiner Unterlippe herum und schaute betreten zu Boden. »Durch diese Konzernriesen sind kleinere Läden nicht mehr konkurrenzfähig. Mein Großvater betreibt doch diesen Spielzeugladen. Und – es ist schwierig momentan. Sehr.« Mein Blick wanderte über Yugi, der mit traurigen Augen den Boden anstarrte, zurück zu Kaiba, der mit durchgestrecktem Rücken und schnellen Fingern auf seiner Tastatur herumtippte. »Er ist ein arroganter Bastard«, meinte ich, als zöge ich ein wohldurchdachtes Fazit und auf Tristans Lippen legte sich ein Grinsen, selbst über Yugis Mund huschte ein Lächeln. Yugi war ein verdammt guter Mensch, einer, der sich für andere einzusetzen wusste. Mit einer Stärke, die man ihm auf den ersten Blick nicht zutraute. Ich achtete ihn für diese Eigenschaft mit Ehrfurcht. Außerdem war er die erste Person in meinem Leben, die mehr in mir sah, als einen verpeilten und semikriminellen Verlierer. Außer Tris vielleicht, aber der kam aus derselben Schublade wie ich. »Kumpel, können wir dir irgendwie helfen?«, fragte ich und er schüttelte den Kopf. Bedauern ließ ihn auf seine Schuhe starren. »Leider nicht«, seufzte er und zwischen uns herrschte Schweigen, bis er plötzlich aus seiner Tasche einen Stapel Karten zog und mich mit einem schwachen Grinsen und Augen anblickte, in denen sein Spielerherz funkelte. »Die Gerüchte drehen sich um DuelMonsters«, flüsterte Yugi und Tristan und ich warfen uns einen Blick zu. »Mein Großvater hat mit einem Handelsvertreter zu tun, der anscheinend auch mit Kaiba Geschäfte macht und dieser Handelsvertreter gab meinem Großvater den Rat, den Laden so schnell wie möglich zu verkaufen, weil es bald auf dem Markt jemanden und etwas gäbe, mit dem man nicht mithalten könnte«, raunte er nervös. Ich schnaubte und machte eine wegwerfende Geste, doch Yugi schüttelte den Kopf und meinte: »Kaiba baut sich ein Unternehmen auf, das in der Spielindustrie einen der obersten Ränge einnimmt.« Ich nickte widerstrebend. »Ja, sogar ich habe seine ätzende Fratze tausendmal in der Zeitung sehen müssen«, grummelte ich. »Joey, versuch dich ausnahmsweise zurückzuhalten.« »Hä? Was meinste?«, fragte ich ahnungslos und Yugi seufzte. »Ich meine in Bezug auf Seto Kaiba.« »Haste ja anscheinend schon irgendwie – verkackt«, triezte Tristan und ich schnaubte genervt. »Ich hab schon tausendmal gesagt, dass ich nichts bei unserer blöden Partnerarbeit verbockt hatt'! Er is'einfach so abgehauen! Ehrlich, Mann!« Während Tristan mit grinste, antwortete Yugi ungewohnt kryptisch: »Seto Kaiba produziert Spiele und er spielt gerne. Aber er verliert nicht. Verstehst du, Joey?« Ich war mir nicht sicher, ob ich es verstand, aber ich nickte. »Ich meine es ernst. Ich habe jetzt bereits einige Male an offiziellen Meisterschaften für diverse Spiele teilgenommen. Und egal, wo man ist, an dem Namen Seto Kaiba kommt man nicht vorbei. Er organisiert Wettbewerbe, macht Werbung, erfindet und entwickelt Spielsysteme und setzt Trends und dabei geht es um viel, viel Geld.« Seine großen Augen waren ungewohnt ernst. Ich seufzte. »Ja, ja. Ich versuch, nicht gleich von seinen Mafiosi um die Ecke gebracht zu werden, okay?« Obwohl mir Yugi ein schwaches Lächeln schenkte, grummelte etwas in meinem Magen. Yugis DuelMonsters-Philosophie bestand darin, gemeinsam eine gute Zeit zu haben. Der Sieg war nur der Höhepunkt eines Spiels und verhieß den Beginn eines neuen. Ich verlor wie immer, aber während Yugi über die potentiell erfolgreichste Kartenkombi brütete, seine Stirn sich in Falten voller Konzentration legte, verschwand die Sorge aus seinem Blick. Schon allein dafür lohnte es sich, dieses Kartenspiel mit ihm zu spielen. »Das kommt wohl dabei heraus, wenn ein Clown und ein Affe versuchen, ein Spiel zu spielen, dessen Regeln letzterer nicht beherrscht«, höhnte Kaiba hinter mir. Mein Blick verdüsterte sich. Meine Finger versteiften sich um das Kartenblatt in meiner Hand. Schon allein sein Ton ließ mich Galle schmecken. Yugi versuchte sich an einem freundlichen Lächeln. »Wir spielen nicht nach den offiziellen Wettbewerbsregeln, wie du weißt. Joey hat erst vor ein paar Wochen mit dem Spiel angefangen und –« »Am besten wäre es, er ließe es ganz bleiben«, erwiderte Kaiba, »er ist einfach pathetisch.« »Deine Meinung dazu geht mir Gott sei Dank total am Arsch vorbei, Kaiba«, antwortete ich und legte meine Karte für den nächsten Zug. Innerlich brodelte ich. »Anstatt deine Zeit mit diesen Amateuren zu verschwenden, solltest du dich mit wahren Champions messen, Muto«, wandte sich Kaiba unbeeindruckt an Yugi, dessen Blick verlegen gen Tisch wanderte, während er ein »Ich – verschwende nicht meine Zeit – und – ich –« stammelte. »Hast du eine Ahnung, Kaiba«, grummelte ich, »dich würde ich locker fertig machen.« Ich war nun mal nicht der Typ für bedachte Worte. Neben mir zog Tristan die Luft ein. Auf Yugis Gesichtszügen schlich sich Sorge. Kaiba lachte auf. »Deinem lächerlichen Wahnwitz zum Trotz, würde ich deine Herausforderung annehmen. Unter einer Bedingung.« Er lehnte sich provokant nach vorne. »Und zwar?«, fragte ich ungeduldig. Ich konnte nicht zählen, wie oft ich ihm schon an den Kopf geschmettert hatte, dass ich ihn platt machen würde. Aber er war bisher nie darauf eingegangen. Sein Blick wanderte über mich hinweg zu Yugi. »Muto spielt ein Spiel mit mir, um das neue, noch nicht releaste Spielsystem in einem echten Duell zu testen.« »Warum sollte er?«, fragte ich und schmeckte die Herausforderung, verschränkte die Arme vor meiner Brust und pustete eine meiner störrischen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Seto Kaiba warf mir einen Blick der Verachtung zu. »Ich habe die Möglichkeiten den Spielladen seines Großvaters finanziell und marketingmäßig zu unterstützen. Oder«, fügte er dunkel und äußerst bedacht hinzu, »ihn dem Erdboden gleichzumachen.« Mein Blick huschte zu Yugi, der sichtlich erschrocken zusammengezuckt war, dann zurück zu Kaiba, der da vor unserer Schulbank stand und mit seiner Präsenz alle Gespräche in der Umgebung im Keim erstickte. Yugi stimmte zu. Ich stimmte zu. Kaiba zog mit einem siegesgewissen Grinsen um die Mundwinkel davon. Sein blöder Mantel bauschte sich auf. Ich hasste ihn. Den Mantel von Kaiba und Kaiba. Wenige Tage später machte er mich in einem Duell, das mir noch Wochen später auf den Magen schlagen sollte, fertig. Umgekehrt schlug Yugis Sieg ihm auf den Magen. Über Kaibas Mimik zog ich noch Wochen – und Jahre – später her. Yugi gewann gegen diesen selbstgerechten Arsch und sicherte sich damit nicht nur die finanzielle Unterstützung für den Spielladen seines Großvaters, sondern auch eine seltsame Wertschätzung seitens Kaibas. Sie waren die Messlatte der Spielstärke des anderen. Der krasse Unterschied war: Yugis Stärke gründete auf etwas, durch das man selbst Kraft schöpfen konnte. Kaibas Stärke hingegen war die Schwäche der anderen. So eine Stärke, bei der er seine Gegner fertig machte, bis sie ihm nicht mehr in die Augen sehen konnten. Meine Stärke war, ihm trotzdem in die Augen zu sehen. Kapitel 3: … ist allmächtig --------------------------- __________________________________________ Ein reiner und starker Wille ist allmächtig. Swami Vivekânanda __________________________________________ Seto Kaibas Entwicklung von Hightech-Spielsystemen, seine Geschäftsführung und sein – nicht zuletzt monetärer – Einfluss, brachten ihn schon in seiner Teenagerzeit den Ruf eines allmächtigen Unternehmers. Was sie nicht wussten war, dass ihm das alles auf einen Schlag wertlos gewesen wäre, hätte es da nicht eine bestimmte Person in seinem Leben gegeben, die viele Journalisten, Reporter und Geschäftspartner nur am Rande (wenn überhaupt) wahrnahmen. Aber Kaiba blieb trotz allem immer auch ein arroganter Arsch. Ich seufzte, als mein Blick dem Matsch auf dem Schulhof folgte, Schneeflocken legten sich darüber, schmolzen jedoch in diese braune Brühe hinein. Es war ein ätzender Winter. Kalt, aber nicht kalt genug für eine Schneeballschlacht. Stattdessen gab es diesen schmierigen Matsch. »Das is'echt traurig, man«, seufzte ich leise, mein Blick nach draußen gerichtet, so saß ich da, lümmelte auf meinem Stuhl in der vorletzten Reihe. Vorne erklärte der Lehrer Gleichungssysteme; das stand zumindest als Überschrift an der Tafel. »Was?«, hakte Tristan nach, sein Blick heftete an der Tafel, sein Stift flog fahrig über das Papier seines Heftes. »Der Winter«, antwortete ich. »Der Winter?« Seine Augenbraue hatte sich skeptisch erhoben. »Ja, der Winter und dieser Matsch. Zu 'nem guten Winter gehört Schnee. Weißer Schnee. Und gute Schneeballschlachten. Kein Matsch.« »Mhm. Joar, das stimmt.« Ich seufzte schon wieder. Natürlich stimmte das, dachte ich brummig. Ein Winter ohne Schnee war wie – Weihnachten ohne Weihnachtsbaum. Natürlich – es war möglich und fand trotzdem statt. Aber irgendwie war es bescheuert. »Seit wann kapierst du Gleichungssysteme«, raunte ich Tris entgegen. »Joseph Wheeler.« Mir rutschte das Herz in die Hose. »Ja?«, fragte ich. Tristan seufzte. Mit dem Stück Kreide zwischen den Finger spielend, bat mich unser Lehrer nach vorne an die Tafel. Der Rest war da schon vorprogrammiert. Verlegen kratze ich meinen Hinterkopf und grinste unserem Lehrer planlos entgegen. Mein Blick fiel in ein Publikum, das mich angriente, herablassend, spöttelnd, schadenfroh, genervt. Jede ihrer Mimiken piekte mir in meinen Magen. Wie nebenbei wanderten meine Augen Richtung Kaiba, der keinen einzigen Blick an mich verschwendete, sondern ohne Unterbrechungen sicherlich total wichtige Sachen auf seiner Tastatur tippte. Mein Blick blieb an ihm hängen. Es war, als existierte ich nicht für ihn. »Sie bleiben nach dem Unterricht für ein kurzes Gespräch«, erklärte der Lehrer nach Minuten meines Starrens an eine Tafel, die ebenso in kyrillischen Buchstaben über die Mode des Fünfzehnten Jahrhunderts in Moldavien hätte informieren können. Ich murmelte ein »Shit« und begab mich zurück zur vorletzten Reihe. Lustlos schob ich meinen Stift zwischen meinen Fingern hin und her. Es war einfach unglaublich scheiße, wie ich mich immer wieder in diese – Scheiße katapultierte. Badete ein wenig in Selbstmitleid, ignorierte den Blick von Tristan. »Seto Kaiba«, ertönte die Stimme unserer Lehrers streng und ich horchte auf. »Ich weiß, dass Sie viel zu tun haben, dennoch möchte ich, dass Sie während des Unterrichts Ihre Aufmerksamkeit auf den Unterricht lenken. Würden Sie bitte nach vorne kommen.« Seto Kaiba erwiderte ein höfliches, jedoch überhaupt nicht demütiges »Natürlich, Herr Han«, erhob sich und schritt zur Tafel. Eine kribbelnde Schadenfreude tanzte in meinem Bauch, wie ich ihn beobachtete, sicher in einer hinteren Reihe und er hoch erhobenen Hauptes nach vorne ging und ich das unerklärliche Gefühl hatte, dass er einfach scheitern musste. Vor der Tafel stehend, griff er nach der Kreide und löste die Aufgabe an der Tafel ohne ein Zögern. Ich konnte mir ein Starren nicht verkneifen. Ohne mir einen Blick zu gewähren, setzte er sich wieder und ich fühlte mich so weit weg, so erbärmlich weit weg, dass ich meinen Blick verächtlich gen Fenster wandte. Die Zeit kroch vor sich her. Als die Schulklingel durch meine Gedankenwelt schnitt, richtete ich mich auf. Meine Mitschüler drängten aus dem Raum, Tristan warf mir einen Blick zu und raunte nur: »Ich warte am Eingang auf dich.« Ehe er seinen verschlissenen Kram zusammenpackte und aus der Tür verschwand. Ich verdrehte meine Augen, als ich Richtung Pult schlenderte, meine Schultasche über eine Schulter geworfen. »Joseph«, begann Herr Han mit bedeutungsschwangerer Stimme und es fiel mir schwer, nicht zu schnauben, »ich nehme an, du weißt, warum ich dich sprechen möchte.« Ich nickte. »Weißt du. Es ist immer schade zu sehen, wenn junge Menschen nicht ihr Potenzial ausschöpfen –« Es war auch schade, wenn junge Menschen ihre Zeit im Mathe-Unterricht verschwenden mussten. »Du könntest so viel mehr aus dir machen, wenn du dich nur einmal konzentrieren würdest. Nimm beispielsweise Seto Kaiba –« Dass Seto Kaiba ein Genie war, musste ich wohl nicht erwähnen. Dass ein Vergleich zwischen uns alles andere als fair war ebenso wenig – nicht, dass es jemanden davon abgehalten hätte. Ich bezweifelte, dass ich den mega Unterschied zwischen Kaibas Auffassungsgabe und meiner mit ein wenig Konzentration hätte wett machen können – nicht einmal mit einer fetten, riesigen Portion mit Sahne oben drauf. »Bereite dich bitte besser auf die nächsten Stunden vor, Joseph.« »Jo«, erwiderte ich. Er seufzte. »Du kannst gehen.« Tristan beäugte mich mit einem Interesse, das mich eine Grimasse schneiden ließ, als ich auf ihn zu schritt. »Was hat er gesagt?«, fragte er auch sofort und ich verdrehte die Augen. »Das übliche Blabla. Total –« Ich brach mitten im Satz ab, als ich Seto Kaiba da stehen sah mit seinem Aktenkoffer. Eine Limousine hielt neben ihm und ein kleiner Junge mit chaotischem, schwarzem Haar stürmte ihm entgegen. »Was macht'n der noch hier?«, raunte ich Tristan zu und nickte in Richtung des Wagens, wo sich der Junge um Setos Hüfte hängte. »War vorhin im Sekretariat – hab ich geseh'n, hat wohl gedauert.« »Im Sekretariat?« »Jopp, keine Ahnung, Kumpel. Was Bürokratisches?« Ich verlangsamte meine Schritte. Die Szene brannte sich in mein Gedächtnis. Der allmächtige Seto Kaiba mit einem kleinen, quasselnden Jungen, der die Hände in die Luft reckte und seine Meinung in die Welt rief. »Es ist so blöd, dass es nicht schneit, Seto. Glaubst du es schneit wenigstens an Weihnachten? Es wäre megablöd, wenn es gar nicht schneien würde. Echt. Das wäre so langweilig – sowas von blöd.« Bei seinen Worten grub sich ein Grinsen in meine Mundwinkel. »Der kleine Junge kommt mir so bekannt vor«, murmelte Tristan neben mir, als wir die Straße überquerten und sich ein Auto zwischen uns und die Szene drängte. »Ist sein kleiner Bruder«, antwortete ich und beobachtete betont unauffällig, wie er sich an Kaibas Arm hängte, »stand mal auf der Titelseite in irgendso'ner Zeitung, die ich austrag'.« Seto Kaiba sah auf – mitten in der Bewegung, hinten in das Auto einsteigend. Mir direkt in die Augen. Zwischen uns nur die Straße und ein soziales Gefälle, das an eine Klippe erinnerte. »Wenn es nicht schneit, dann werde ich dafür sorgen – mach dir keine Sorgen, Mokuba«, sagte er zu seinem kleinen Bruder und wandte dabei nicht den Blick von mir ab, meine Schritte kamen beinahe zum Stehen. Etwas lag in seinen Worten. Etwas, das viel mehr als Schnee versprach. Es waren Worte, die Fürsorge und Schutz und Opferbereitschaft und – Liebe zusagten. Und in diesem Moment – wie er das so sagte – glaube ich ihm sofort, dass er es selbst schaffen würde, den Himmel zum Schneien zu bringen, wenn es sich sein kleiner Bruder wünschte. Dann fühlte ich, wie Tristan mir auf die Schulter klopfte und ich abrupt den Blickkontakt brach. Das Auto raste an uns vorbei. »Für seinen Bruder ist er echt irgendwie sowas wie, keine Ahnung – allmächtig, ne«, witzelte ich, obwohl ich mich innerlich immer noch wie erstarrt fühlte. Beinahe ehrfürchtig. »Nich'nur für seinen Bruder, Kumpel. Es ist, als könnt' man Geschichte live beobacht'n – in ein paar Jahrzehnten ist Seto Kaiba einer von denen da, die das Leben der Menschen total verändert hab'n.« Ich schnaubte wenig beeindruckt. »Seine Kacke ist trotzdem braun«, erwiderte ich derb und zuckte die Schultern, als Tris in Lachen ausbrach. Kapitel 4: … ist guter Laune ---------------------------- __________________________________________ Die Welt gehört denen, die zu ihrer Eroberung ausziehen, bewaffnet mit Sicherheit und guter Laune. Charles Dickens __________________________________________ Seto Kaiba verstand keinen Spaß, er machte auch nie Pausen und Spaß in Pausen konnte er schon doppelt nicht nachvollziehen. Ich dagegen war dafür immer zu haben – für Pausen, für Spaß und erst recht für Spaß in Pausen. Er hatte nie gute Laune. Ein Jahr später. Der Softball flog quer durch das Klassenzimmer. Breit grinsend machte ich einige Schritte rückwärts, dann sprang ich und hechtete direkt in Seto Kaiba. Wie in Zeitlupe schwappte der Inhalt seines Pappbechers schwarz und heiß über den Rand, traf auf den weißen Stoff seines Mantels und drang in die Fasern ein. Benommen beobachtete ich die Szene. Als mich sein Blick traf, hob ich beschwichtigend meine Hände. »Sorry, das –« »Wird dich eine Menge Geld kosten.« Tristan wandte sich beruhigend an Kaiba: »Hey, war doch keine Absicht, kannste nicht –« Kaibas Blick sagte nicht nur Nein, er verdeutlichte auch, dass er weder etwas von mir noch von Tris hielt und unsere Gegenwart in seiner eigenen als einen humorlosen Scherz des Lebens halten musste. Nicht, dass es mir umgekehrt nicht genauso gegangen wäre. Es war doch so, als würde mir Seto Kaiba meine Schwächen tagtäglich unter die Nase reiben. Es war nicht fair. Es war, als würde man den Hobby-Musiker mit Mozart vergleichen oder den Hobby-Schreiber mit Shakespeare. Mein Blick hingegen sagte nicht nur, für was für einen arroganten Arsch ich Kaiba hielt, sondern er verdeutlichte auch, dass ich keine Angst hatte, es auch laut auszusprechen. »Komm, Joey. Nicht, dass –« »Is'mir doch egal«, murrte ich, aber natürlich war mir bewusst, dass ich mir eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Kaiba nicht leisten konnte – im wahrsten Sinne des Wortes. Tristan war nicht immer mein Gewissen (eigentlich war das Yugi) – im Gegenteil. Seine Streiche standen meinen in nichts nach, aber bezüglich Kaiba konnte man doch behaupten, dass Tristans Birne besser arbeitete als meine. Ich hätte mich angesichts seiner arroganten Miene vergessen und noch einen Kaffee gekauft, nur um ihm die Brühe nochmals über den Mantel gießen zu können. Tristan zog mich weiter. Einige Tage später trudelte ein Brief bei mir ein. Das Logo der KC prangerte auf dem Umschlag. Weder Yugi noch Tristan waren an dem Samstag da, um mich zurückzuhalten. So nahm ich den Bus in die Innenstadt und marschierte in die Hauptfiliale der Kaiba Corporation. Besagten Brief zwischen meinen Fingern, hocherhoben, als erklärte der alles. Für mich tat er das ja auch. Kaibas Sekretärin sah das anders. Sie informierte mich, dass ich ohne Termin leider nicht bei Kaiba vorsprechen könnte. »Hören Sie zu«, versuchte ich es diplomatisch, »es geht um diesen Brief hier.« Sie schaute nicht einmal von ihrem Tresen auf. »Es geht um –« Ihre gefaked höfliche Mimik ließ mich meine Hände ballen. Als sie mich betont langsam unterbrach, als spräche sie mit einem geistig Zurückgebliebenen, blieb mir der Atem weg: »Herr Kaiba ist beschäftigt und ich auch. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.« Meine Laune sank ins Bodenlose. Mit einem genervten Pfffff wandte ich mich um und verschwand von dem Tresen. Aufgeschoben war nicht aufgehoben. »Und du warst echt bei der KC?«, wiederholte Tristan ungläubig. Yugi schaute besorgt und betrachtete mich, als überprüfte er etwaige Schäden. »Die haben mich nicht mal zu ihm durch gelassen«, erklärte ich erneut und ballte meine Fäuste. Es war auf eine bescheuerte Art entwürdigend, wenn man nicht einmal zu dem Geldsack durchkam, um ihm Geldsack ins Gesicht zu schleudern. »Und was stand jetzt eigentlich in dem Brief? Hat er dich – naja – verklagt?« »Nein«, presste ich wütend zwischen meinen Lippen hervor und bemerkte den Blick, den Tristan und Yugi tauschten. »Und du bist deshalb angepisst, weil –?« Ich schob ihnen den Brief zu und schnaubte. Tristan und Yugi schoben die Köpfe zusammen und ersterer brach in Lachen aus. Mit einem Blick meinerseits verstummte er, zumindest versuchte er es. »Sorry«, giggelte er trotzdem immer wieder. Yugi tätschelte kurz meine Schulter. »Letztlich ist es doch gut, wenn –« »Wenn er kein Geld von mir will, weil ich mir sonst keinen Hundekuchen mehr kaufen könnte? Oder meinst du den Teil mit Nachdem ich nach der Reinigung durch Angestellte keine Pfotenabdrücke mehr feststellen konnte, werde ich keine Anzeige erstatten?« Meine Laune sank mit jedem Wort gen Schulboden – nicht dem des zweiten Stocks, in dem wir gerade unsere Pause verbrachten, sondern dem des Kellers der Schule. »Sieh es doch positiv, Joey. Er macht dir keinen Stress, Kumpel«, behauptete Tristan und presste seine Lippen aufeinander, doch es half nichts. Er rieb sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. Vielleicht war es tatsächlich ziemlich dumm, aber es wurmte mich. Wenn Kaiba nicht einmal mein Geld für eine Reinigung annahm (beziehungsweise das Geld meiner Versicherung), was sagte das dann über uns aus? Dass er nicht einmal meinem Geld würdig war? Dass ich nicht seiner Reinigung würdig war? (Okay, das klang jetzt etwas komisch.) Jedenfalls kam ich nun jeden zweiten Tag in die KC. Die Sekretärin kannte bereits meinen Namen (und ja, darüber war ich irgendwie stolz), aber sie ließ sich nicht erweichen. Ich indessen packte mein Schulbuch aus, setzte mich in den Wartebereich und begann zu lesen – ganz wollte ich meine Zeit ja auch nicht verschwenden. »Und du hast dort deine Hausaufgaben gemacht?«, hakte Tristan erstaunt am nächsten Tag in der Schule nach. »Ja, und?« »Nein, ich – mein nur.« Yugi lächelte mir entgegen und legte seine Hand auf meine Schulter. »Kaiba trägt es dir nicht nach. Ihm ist die Sache bestimmt inzwischen egal. Ihm ist bestimmt nicht wichtig, ob du – ich meine – weißt du, sein Mantel ist doch wieder in Ordnung. Das einzige, was verschüttet bleibt, ist sein Kaffee, aber der –« In mir hämmerte sich ein Gedanke ein und ich schlug mit der Faust auf den Tisch. »Natürlich! Das ist es!«, rief ich aus und ignorierte den Blickaustausch meiner Freunde. Und ich ignorierte auch die Tatsache, dass es mich störte, wenn es Kaiba egal war. Mir war es nicht egal. Die nächsten Tage war Kaiba in der Schule abwesend, was mich wurmte, denn so war das nicht geplant gewesen. Die Nachmittage in der Schule zogen sich und die Abende musste ich Zeitungen austragen. Wenn ich mich dann auf den Heimweg machte, hatte ich keine Lust darauf, nochmals in die City zu fahren, um meine wenige Freizeit in Kaibas Wartebereich totzuschlagen. Ich tat es manchmal trotzdem. Und wenn ich es tat, dann sagte ich der Sekretärin, was wir als Hausaufgaben aufbekommen hatten. Ich meine, wenn ich sowieso schon dort war – »Und du hast Kaiba die Hausaufgaben gebracht?« Tristans Augen wirkten größer als ich sie in Erinnerung hatte. »Mhm, wieso?« »Ich mein ja nur. Nur so.« Die ganze Sache nervte mich. Kaibas Fratze höhnte mir von den Zeitungsblättern entgegen und seine Stimme klang herablassend in meinem Kopf. Da ich schon immer der spontane Typ gewesen war, stand ich einfach eines Morgens vor der Schule wieder am Tresen in der KC, diesmal mit einem Papptablett, in dem vier heiße Kaffeebecher steckten, in den Händen und behauptete, dass das Kaibas Kaffee wäre. Was ja auch irgendwie stimmte. Die Sekretärin schaute mich verblüfft an. Ihr Blick wanderte von mir, der sie (hoffentlich) vertrauenserweckend anlächelte, zu dem Pappbecher zwischen meinen Fingern. »Ich frage bei Herrn Kaiba nach, Herr Wheeler«, teilte sie mir mit und drückte eine Durchwahl. Eigentlich rechnete ich nicht wirklich damit, dass sie mir plötzlich zunickte und den Weg beschrieb. Ich wusste im Nachhinein auch gar nicht mehr, wie ich den gefunden hatte und mit einem Male vor Kaibas Büro stand. Einen Augenblick dachte ich tatsächlich daran, sogar zu klopfen, aber das sah ich dann doch so was von gar nicht ein. Also zog ich die Tür einfach auf und betrat das Büro mit einem Grinsen, als würde ich das immer tun. Kühle Herablassung schlug mir entgegen. Er strafte mich mit Nichtachtung. Alles an ihm verdeutlichte, dass er keine Zeit für mich hatte. Nicht einmal einen Blick. »Was tust du hier, Wheeler?«, verlangte er irgendwann zu wissen und schaute erst nach einigen Minuten von seinen Bildschirmen auf. Also doch ein Blick – immerhin. »Kaffee«, erwiderte ich nur und hob die Pappbecher an, als würde das alles erklären. »Wusste nicht, wie du den trinkst. Hab also einfach ein paar verschiedene geholt.« Ich zuckte die Schultern. Er lehnte sich in seinem Bürosessel zurück und die Fingerkuppen aneinander. Vielleicht tat er das nur aus Gewohnheit. Ich traute ihm aber auch zu, dass er das heimlich übte. Mit diesem Blick, als könnte er alles in einem erkennen. Es war creepy. Nicht, dass ich das zugegeben hätte. »Morgens schwarz, mittags mit Zucker, abends mit Milch.« Seine Antwort holte mich in die Gegenwart zurück. »Ist mir doch egal«, entgegnete ich trocken. »Aber theoretisch hättest du den für jetzt, den für mittags und den für abends.« »Mach dich nicht lächerlich. Ich trinke keinen kalten Kaffee.« »Dann nehm halt nur den.« Ich schlenderte an seinen Schreibtisch und stellte einen Pappbecher drauf. Die anderen drei behielt ich. Kaiba betrachtete mich kurz, als wäre ich ein Experiment. Es war seltsam, ihn dazu zu bringen, mit dem Tippen aufzuhören. Aber ich verbuchte es als Sieg. In was für einem Spiel war ich mir aber unsicher, nicht, dass das wirklich wichtig gewesen wäre. Ein Sieg war ein Sieg. »Warum tust du das?« Stille. Ja, warum? Ich wackelte mit den Zehen in meinen Sneaker und kratzte mich am Hinterkopf, dann fixierte ich Kaiba, wie er da saß, als thronte er über Domino-City. »Weil ich dir nichts schuldig sein will. Ich begleiche meine Schuld«, erklärte ich und in diesem Moment – ganz kurz – fühlte ich mich ihm kein Stück unterlegen. Seine Augenbrauen hoben sich. »Die Reinigung des Mantels –« »Ist mir egal«, unterbrach ich ungeniert, »ich hab deinen Kaffee verschüttet. Ist dein Problem, wenn du ihn dir über den Mantel kippst.« Damit drehte ich mich um und verschwand aus seinem Büro mit einem Grinsen. (Und der Befürchtung, er würde mir seine Security auf den Hals hetzen.) Natürlich war ich zu spät dran. Gerade als es zum zweiten Mal klingelte und alle Schülerinnen und Schüler unseren Lehrer im Stehen begrüßten, schlug ich die Tür auf – die Kaffeebecher noch immer in der Hand. »Herr Wheeler«, begann der Lehrer spöttelnd, »schön, dass sie noch die Zeit hatten, Kaffee zu besorgen.« Kaffee sollte man eben nie unterschätzen. Vor allem nicht, wenn er in Verbindung mit Seto Kaiba stand. Ich grinste lediglich, brummte eine Entschuldigung und ließ mich auf meinem Platz nieder. Meine Laune war heute so gut, dass ich sogar meine Mathehausaufgaben machte an diesem Tag – ich versuchte es immerhin. Am nächsten Morgen stand ich in der Cafeteria der Schule und zählte meine Münzen, um der Frau an der Theke mein Brötchen zu bezahlen. Meine Laune sank. Ich hätte schwören können, dass da noch irgendwo ein Schein gewesen war – aber ich fand ihn nicht. Stattdessen blickte ich verlegen zu der Bäckerin und wollte gerade das Brötchen dort zurücklassen, als eine Stimme hinter mir dem zuvorkam: »Einen Kaffee. Schwarz. Und dieses Brötchen.« Überrascht drehte ich mich um und erblickte Kaiba, der mich keines Blickes bedachte. Meine Augen zogen sich zusammen, als ich ihm irgendetwas an den Kopf werfen wollte, bevor er es tun würde. Immerhin musste er die Szene vorher mitbekommen haben. Manchmal war Angriff eben doch die beste Verteidigung. Er griff nach seiner Tasse Kaffee, aber das belegte Brötchen ließ er unberührt, wandte sich stattdessen einfach um und ging. Die Bäckerin musterte seinen Rücken, dann mich, dann das Brötchen. Ich begriff es erst nach ihr und nahm es von der Theke, um dann Kaiba nachzulaufen – also nicht wirklich, sondern nur um ihm zu geben, was er liegen gelassen hatte (außer seiner guten Laune, die er wohl seit Jahren zu Hause unterm Bett versteckte). »Warum – was sollte –« »Halt den Mund.« »Du hast –« »Sei leise, Köter.« »Aber dein –« »Nicht. Reden.« Ich schwieg tatsächlich einen Moment und lief neben ihm her, streckte ihm die Bäckertüte vor der Brust seitlich entgegen. »Du hast dein Brötchen vergessen.« Kaiba warf einen Blick auf die Tüte und schnaubte. »Nein, habe ich nicht.« Damit zog er an mir vorbei und ließ mich stehen. »Er hat dir'n Brötchen gekauft?«, hakte Tristan ungläubig in der Pause nach. »Quatsch!«, widersprach ich. »Er hat's gekauft und liegen lass'n.« Yugi warf mir einen vielsagenden Blick zu, verriet mir allerdings nicht, was er damit sagen wollte. Ich biss in das Brötchen und zuckte die Schultern. »Was soll's.« Kaiba war ein reicher Bastard, der andere ausnahm und sie verklagte und ihnen das Geld aus den Taschen zog, wie es ihm gefiel. Das machte ihm Spaß. Alles andere war nur Zufall. Kapitel 5: … ist fehl am Platz ------------------------------ __________________________________________ Wir warten oft auf das große Zusammentreffen und versäumen die wirklichen Begegnungen. © Alfred Rademacher __________________________________________ Seto Kaiba feierte keine Feste. Ich konnte mir ihn so nicht vorstellen, wie er zwischen Menschen auf einer Party stand und tanzte und trank und lachte. Kaiba feierte nicht. Er war auf Empfängen und geschäftlichen Zusammenkünften. Wahrscheinlich gratulierte er auch seinem kleinen Bruder zum Geburtstag und so. Aber so richtig feiern? Der Gedanke war mir vielleicht auch einfach nie gekommen, weil es so absurd war. Es war mir einfach nie in den Sinn gekommen, mich zu fragen, wie Seto Kaiba, Weihnachten feierte. Ob mit einem großen Baum in seiner Villa. Ob er seinem kleinen Bruder die Geschenke selbst besorgte oder einen Angestellten beauftragte. Ob er mit Mokuba Plätzchen backte oder ob er ihn kaum zu Gesicht bekam, weil er so viel arbeitete. Ich selbst musste natürlich nicht arbeiten. Wie mein Vater es auf den Punkt brachte, weil ich ein unnützer Faulpelz war, der nur fraß und rumlag und nichts tat. Eigentlich war ich froh, wenn ich an Weihnachten nicht zu Hause war – und das wusste ich zu vermeiden. Früher hatte ich mich darauf gefreut – wie ein Kind eben. Aber mit den Jahren und mit meinem Vater sah ich die Sache irgendwann ganz nüchtern. Nur meine Freunde machten Weihnachten für mich zu einer Party, die ich genießen konnte. Wir trafen uns bei Yugi, aßen Plätzchen, die wir selbst gemacht hatten und sangen sogar Lieder (Tristan grölte mir ins Ohr, er war eine Niete im Singen). Ähnlich war es mit Neujahr. Ehrlich gesagt, hatte ich mir nie Gedanken darum gemacht, wie Kaiba seine Feiern verbrachte – noch weniger hätte ich jemals damit gerechnet, ihn direkt danach zu fragen. Denn es interessierte mich nicht – hatte es nie. Und würde es nie. Mit letzterem sollte ich falsch liegen. Und dafür würde ich Yugi verantwortlich machen, denn es war seine Idee gewesen, auf diese bescheuerte Silvesterfeier zu gehen. Auf eine Silvesterfeier, die von der Schule veranstaltet wurde, ging man nicht. Die waren nur öde und – ich meine, an der Schule. Da ging ich nicht hin, um Neujahr zu feiern, da ging ich höchstens hin, um irgendwann meinen Abschluss zu feiern. Yugi konnte ich aber nichts abschlagen. »Unsere Schülervertretung hat sich so Mühe gemacht!«, war eines seiner belanglosen Argumente. Immerhin war ich dort mit Freunden. Das war das Wichtigste. Wie Seto Kaiba, Silvester feierte. Genau diese Frage durchzuckte mein Gehirn, als ich sah, wie Kaiba zwischen unseren Mitschülern stand und verloren wirkte, obwohl seine Mimik Bände sprach. Bände wie Komm mir zu nahe und ich lasse dich verschwinden oder Sprich mich an und du kommst nie zu Hause an. Er passte nicht hinein in diese Meute von tanzenden und singenden Teenagern, obwohl er selbst ein Teenager war. Der Bass der Musik wummerte durch unsere Körper, das Licht blinkte in verschiedenen Farben und erstrahlte die Gesichter mal rot, mal blau, mal grün. Yugi tanzte mit einem Mädchen (ich hatte ihn mehr oder weniger dazu zwingen müssen, denn seine Schüchternheit stand ihm da etwas im Wege) und Tristan tanzte mit einem Mädchen (der schaffte das ganz alleine) und ich hätte mit einem Mädchen tanzen können, wäre ich daran interessiert gewesen. Stattdessen beobachtete ich Kaiba – nicht, weil ich an ihm interessiert gewesen wäre – sondern weil er so aus der Menge heraus stach, dass ich ihn gar nicht nicht hätte beobachten können. Ich nahm einen Glühwein für mich und einen für ihn von der provisorischen Bar mit und schlenderte auf ihn zu. Durch das Gewühl an tanzenden und singenden Teenagern, die das neue Jahr feierten, als wäre es das letzte. Kaiba lehnte an einer Wand und betrachtete das Schauspiel mit unleserlicher Mimik. »Hier.« Ich drückte ihm den Glühwein in die Hand. Wahrscheinlich war es die Überraschung, die ihn dazu verleitete, die Tasse auch tatsächlich zu nehmen. »Was willst du?«, verlangte er zu wissen, als könnte ich ihn jederzeit aus dem Hinterhalt angreifen. Ich zuckte die Schultern. »Nix.« Er musterte mich abschätzig, aber er schien meine Anwesenheit als unbedenklich einzustufen, denn er tolerierte die Antwort und blieb unverwandt dort stehen. Und so standen wir halt auf dieser Party nebeneinander an die Wand gelehnt und irgendwie (ich schob es auf den Glühwein) begann ich zu plappern. »Warum bist'n du hier, Geldsack?« »Das geht dich nichts an, Köter.« »Bei mir war's Yugi.« Er beharrte auf sein Schweigen und ich akzeptierte es. Weil es mir ja egal sein konnte, warum er hier war. Eigentlich war es das ja auch. Plötzlich stürmte ein Junge auf ihn zu, der ihm ähnlich sah und trotzdem völlig anders. Die Haare chaotisch und dunkler. Aber die Gesichtszüge erinnerten eindeutig an Kaiba. Ein Junge mit blondem und ein Mädchen mit rotem Haar folgten ihm – wahrscheinlich Klassenkameraden oder Freunde. Oder beides. »Seto! Wir gehen kurz raus – frische Luft schnappen. Willst du mit?«, teilte er ihm durch den Bass hindurch mit. Natürlich. Sein Bruder. Irgendwie war er größer geworden. Ich betrachtete die beiden Kaiba und fühlte mich auf dem falschen Fuß erwischt, als Kaiba – also der ältere – mich plötzlich anschaute. »Ich bin in einem Gespräch, Mokuba.« Kaibas Definition von Gespräch hätte mich mal interessiert, denn eigentlich hatten wir ja schon minutenlang nichts mehr gesprochen. »Ach, lass uns kurz raus. Hier drin ist ja keine Luft«, behauptete ich und Kaibas Blick wanderte erneut zu seinem kleinen Bruder, nur, um dann schweigend vorzugehen. »Ich glaube mein Bruder mag dich.« Mokuba grinste mich unbekümmert an. Ich starrte verdattert zurück. Ein Kaiba, der ohne viel Federlesen sprach? Und dazu auch noch grinste? Der Inhalt des Satzes sickerte zu mir durch. »Wie kommst du drauf? Wir streiten uns nur ab und zu«, widersprach ich und winkte ab, doch Mokubas Mundwinkel hoben sich noch ein Stück. »Nee, nee«, behauptete er, »er hat dich als einzigen hier nicht ignoriert.« »Dich ignoriert er doch auch net?« »Das ist was Anderes«, erklärte er, als wäre es offensichtlich. Dann zog er mich hinter sich her durch die Massen. Draußen schlug mir kühle Luft entgegen. Tief atmete ich durch und schob meine Finger in die Hosentaschen. »Sauerstoff«, verkündete Mokubas Schulfreund. »Drinnen ist es so stickig«, stimmte seine Mitschülerin zu. »Das Belüftungssystem ist nicht auf eine solche Menschenmenge ausgelegt. Vor allem nicht auf eine Masse, die die ganze Nacht in Bewegung ist. Die Aula wird ansonsten nur für ein Publikum genutzt, das sitzt«, erklärte Kaiba nüchtern und Mokubas Freunde starrten ihn einen Augenblick an, als stammte er von einem Stern, deren Namen sie nicht kannten. Ich fragte mich, ob Kaiba es wusste und ignorierte und tatsächlich nicht wusste, dass die Gründe niemanden interessiert hatten, sondern es sich nur um Smalltalk handelte. »Jedenfalls ist es zu warm«, brachte es der Junge auf den Punkt. »Aber auch nur drinnen«, brummte ich, denn ohne Jacke war es verdammt kalt. Wir verzogen uns also recht schnell wieder nach innen. Wenn ich mich entscheiden musste zwischen Kältetod und Ersticken, wählte ich also Letzteres. Kaiba und ich lehnten erneut an der Mauer – sein Bruder war mit den anderen beiden in der Masse untergetaucht – und ich schlürfte eine Cola, als Kaiba viel zu spät meine Frage beantwortete. »Mokuba«, sagte er nur zu mir. »Hä?« »Mein Bruder hat mich hierzu – überredet.« »Ah.« Mir war klar, dass meine Antworten nicht wirklich geistreich waren. Aber es war befremdlich genug mit Kaiba an eine Wand gelehnt dazustehen und etwas zu trinken. »Wo wolltest du hin? Neujahr feiern und so.« Er warf mir einen Blick zu, der verriet, dass er an meiner geistigen Fähigkeit zweifelte. »Ich wollte arbeiten.« Wahrscheinlich verriet mein eigener Blick ihm nichts Anderes. »An Silvester?« Er ließ sich hierauf nicht einmal für eine Antwort herab, folgte mit seinem Blick stattdessen irgendwelchen Leuten auf der Tanzfläche. Vielleicht Mokuba. »Ich wollt eigentlich'n paar Raketen schieß'n vorm Laden von Yugis Opa. Und danach vielleicht was trinken geh'n.« »Du darfst rechtlich gesehen, noch keinen trinken gehen, wenn es Hochprozentiges sein sollte.« »Ich würd doch niemals was Unrechtliches mach'n«, entgegnete ich spöttelnd, »aber nö. Ich brauch keinen Alkohol. Wollt nur mit meinen Freunden zusammen sitz'n.« »Und stattdessen stehst du mit mir hier herum.« Wahrscheinlich sollte es sich sarkastisch anhören oder wie eine Beleidigung, aber ich fand, dass es verloren ging vielleicht zwischen dem Bass der Musik. Stattdessen klang es nüchtern. »Mhm.« Seto Kaiba war bekannterweise unglaublich reich, intelligent, gutaussehend. Und ein arroganter Arsch. Aber manchmal war er auch einfach nur allein. Er wirkte so fehl am Platz zwischen all diesen Leuten, die sich kannten und mochten. Er gehörte hier nicht rein. Und sicherlich wusste er das selbst am besten. »Wir gehen jetzt.« »Hö? Was?« »Mokuba darf hier nur bis zehn bleiben. Er ist erst zwölf. Wir gehen jetzt nach Hause.« Und sicherlich ignorierte er es nur Mokuba zuliebe. »Okay, dann. Einen guten Rutsch, Kaiba.« Er betrachtete mich einen Moment, suchte wahrscheinlich den Sarkasmus oder die Beleidigung zwischen den Worten – aber anscheinend fand er nichts, also nickte er mir zu und stieß sich von der Wand ab. Einen Augenblick lang überlegte ich, wie er wohl reagieren würde, wenn ich ihn fragte, ob er mit uns Silvester feiern wollte. Mit Yugi, dessen Großvater und Tristan. Mokuba könnte er natürlich auch mitbringen. Und von mir aus auch seinen Bodyguard. Aber ich tat es nicht. Immerhin waren das Kaiba und ich. Und Mitleid war da fehl am Platz. Er gehörte genauso wenig zu uns wie hier auf diese Party. Ich gehörte dazu. Niemals wäre ich hier allein oder fehl am Platz. »Alter, war das Kaiba?« Tristans Stimme tauchte neben mir auf wie der neue Beat mit der Musik. »Jupp. Wo ist eigentlich Yugi?« »Wieso? Ich hab gedacht, der wär bei dir!« Ich schüttelte meinen Kopf und hielt Ausschau. Ich würde ihm gehörig den Kopf waschen. Letztlich war es seine Schuld, dass mein Kopf gerade vor unnötigen Fragen zu platzen drohte. Kapitel 6: … ist undurchschaubar --------------------------------   __________________________________________  Ein jeder meint, den andern zu durchschauen; doch von sich selbst ist jeder überzeugt, undurchschaubar zu sein. © Dr. Carl Peter Fröhling (*1933) __________________________________________       Seto Kaibas Verhalten anderen gegenüber war das Letzte – vor allem, wenn der andere ich war. Manche glaubten, dass das daran lag, weil ich eine zu große Klappe hatte, andere dachten, Kaiba würde sich ab und zu einfach langweilen. Ich aber hatte Kaiba durchschaut. Er war schlicht ein arroganter Arsch und dachte, etwas Besseres zu sein.   »Du glaubst nur, etwas Besseres zu sein, Kaiba«, schleuderte ich ihm in sein herablassendes Lächeln, »aber eigentlich bist du nur ein arroganter Arsch, der –« »Verdammt reich, intelligent und mächtig ist?« Er ließ es wie eine Frage klingen, aber seine Stimme barg all die Arroganz in sich, die mich so zum Rasen brachte. »Die Armen ausbeutet!« »Verlierer wie dich?« Wie Kaiba es schaffte, Beleidigungen, die gegen ihn selbst gerichtet waren, einfach weiterzuleiten, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Er ließ Beleidigungen, die man ihm an den Kopf warf, wie Komplimente klingen. »Ausbeuter!«, platzte aus mir heraus und ich fuchtelte mit den Händen. Tristan packte einen meiner Arme und zog mich mit sich. Ich spürte regelrecht wie Kaibas Blick meine Haut versengte. »Lass es, Joey«, riet mir Tris, »lass's oder –« »Oder was? Oder er wird mich fertig mach'n? Das schafft er nicht!« Yugi tauchte vor mir auf und drückte mir eine heiße Schokolade in die Hand. »Hier, trink.« Und halt die Klappe. Die ungesagten Worte standen zwischen uns. Natürlich hätte Yugi sich so nicht ausgedrückt, aber die Bedeutung war dieselbe. Einige unserer Mitschüler warfen mir verstohlene Blicke zu. Es war eine wirre Mischung zwischen Anerkennung und Unglaube und der Zuschreibung von Wahnsinn. Mit Kaiba legte man sich nicht an. »Lässt sich der Köter von seinen Herrchen zurückpfeifen?«, höhnte Kaiba, als er an mir vorbei schritt. Meine Finger ballten sich. »Das sind nicht meine Herrchen, sondern meine Freunde«, rief ich ihm hinterher, »nicht, dass du dich damit auskennen würdest.« Ich rechnete nicht damit, dass er sich nochmals umwandte – eigentlich dachte ich nämlich, er täte so, als hätte er es nicht mehr gehört. Aber tatsächlich drehte er sich halb zu mir, blieb stehen und ich konnte erkennen, wie sich seine Augen zusammen zogen, als er scharrte, dass Freunde – und es klang wie eine Beleidigung – wenigstens nicht für ihn denken mussten. Damit schritt er aus der Cafeteria.   Zuhause kickte ich meine Schultasche in die Ecke, öffnete den Kühlschrank und schloss ihn gleich wieder. Leer. Ich kramte in meinem Geldbeutel, aber bis auf ein paar Kassenbons und einige Münzen fand ich nichts. Also warf ich mich auf mein Bett und steckte mir die Kopfhörer in die Ohren. Auf meinen überkreuzten Armen liegend starrte ich an die Decke und verzog mein Gesicht. Jeder hielt ihn für so undurchschaubar. Die Welt eines Genies, die Gedanken eines Hochbegabten, die Taten eines – arroganten Arsches! Er glaubte wirklich, etwas Besseres zu sein. Und die Welt lag ihm zu Füßen – genauso wie all diese Speichellecker. Aber ich nicht!   Seto Kaiba war bekannterweise reich, intelligent, gutaussehend. Und mir ging das alles bekannterweise total am Arsch vorbei. Was mir aber nicht egal war, waren diese Blicke und die Gesichtsausdrücke. Die herablassenden Worte, die Arroganz im Ton anderer Leute, wenn sie mit mir sprachen. Sie glaubten, mich mit einem Blick zu durchschauen. So ein Typ, der sein Leben nicht im Griff hatte – genauso wenig wie sein Vater. Einer, der irgendwann abrutschte und klaute oder Drogen nahm. Oder beides. Jemand, der ein Verlierer war. Niemand wagte es, Kaiba so anzusehen. Und Kaiba sollte es nicht wagen, mich so anzusehen.   Die Tür schlug zu und ich setzte mich im Bett auf. »Vater?« Es rumpelte. Keine Antwort. Also öffnete ich meine Zimmertür einen Spalt breit, um nachzusehen. Er hing halb auf dem Schuhschrank, offensichtlich betrunken. Genervt kam ich auf ihn zu. »Es ist erst sieben«, warf ich ihm vor und er versuchte mich mit seinem Blick zu fokussieren, was ihm aber nicht gelang. Wenn mein Vater betrunken war, wurde er nicht aggressiv. Er schrie nicht herum und warf keine Dinge an die Wand – vielleicht hätte ich Aggressivität sogar dem Zustand, in dem er sich dann befand, vorgezogen, denn gegen Aggressivität hätte ich mich schützen können. Ich wäre zur Polizei gegangen und hätte ihn denen überlassen. Es wäre alles so viel leichter zu erklären gewesen, irgendwie. Aber das war es nicht. Mein Vater wurde melancholisch. Auf diese Art und Weise, die mir eine Gänsehaut die Arme entlang jagte. Er brabbelte dann Dinge, wie es früher gewesen war, als meine Mutter noch – und als er noch – als wir noch. Er wiederholte Zeug wie Deine Augen, Junge, sind so wie ihre. Dabei hatte ich braune Augen und meine Mutter grüne. Er behauptete auch, dass er sie morgen anrufen würde, dass sie ihm verzeihen müsste und dass alles wieder gut werden würde. Er meinte, dass meine Schwester ihn doch auch bräuchte. Wenn er noch betrunkener war, dann erkannte er, dass nichts wieder gut werden würde und das war der Punkt, an dem er begann mir Sorgen zu bereiten. Ohne mich bist du besser dran, sagte er dann.   Blaue Flecken wären ein Beweis gewesen für das, was mir mein Vater antat. Aber dafür gab es keine Beweise, denn es tat nicht körperlich weh, es fraß sich in meinen Geist. Ich konnte mich nach solchen Tagen nicht konzentrieren, ich konnte nicht schlafen. Schaffte ich es, dann wachte ich immer wieder auf. Ich konnte nicht ruhig auf einem Stuhl sitzen bleiben, die Sicht vor meinen Augen verschwamm regelmäßig. Meine Gedanken drifteten irgendwohin, wo die Stimme der Lehrer nur noch ein undeutliches Murmeln war. Sie glaubten, mich zu durchschauen. Ich wäre eben etwas faul und ein bisschen überfordert.   »Weißt du, warum der Junge es geschafft hat?«, fragte mich mein Vater eines Abends, als er vor der Glotze hing und noch nicht betrunken war. In den Nachrichten kam etwas über die KC. Ich wollte die Erkenntnis meines Vater gar nicht hören – die taugten meistens sowieso nichts. »Weil er was Besseres ist als wir. Muss man einsehen, Junge.« Er zuckte die Schultern. Ich spülte Geschirr und schwieg. »Der hat es verdient. Der hat was aus sich gemacht. Der ist halt nicht son Verlierer wie wir«, setzte mein Vater immer mehr drauf, bis ich die Zähne zusammen biss. Mit einem Klirren zersprang der Teller, als ich ihn in die Spüle pfefferte. »Sprech für dich selbst«, spuckte ich meinem Vater vor die Füße und rauschte aus dem Raum.   In der Schule saß ich mit meinen Freunden zusammen, wir zockten eine Runde DuelMonsters. Tristan kommentierte Yugis Züge voller Anerkennung, während er meine kritisch beäugte. »Bist du dir sicher, Joey?« »Ja.« »Aber glaubst du nicht, dass –« »Nein, verdammt!« »Ist ja schon gut, Kumpel.«   Ich legte die Karte ab. Yugi gewann das Duell und ich verlor. Wie schon hunderte Male. Yugi war nie der Typ gewesen, der sich darauf etwas eingebildet hätte. Er war bescheiden und genoss die Zeit, die wir gemeinsam verbrachten. Aber ich verabscheute dieses Gefühl, nicht genug zu können, niemals auszureichen, immer einen Schritt hinten dran zu sein. »Klo«, teilte ich ihnen knapp mit und steckte mein Deck ein. Ich war kein Verlierer, ich war keiner. Ich war anders als mein Vater. Als ich zurückkam – es klingelte gerade zum Pausenende ­– musste mir natürlich Kaiba entgegen kommen. In seiner Rechten trug er den Aktenkoffer, was ihn beinahe wie einen Lehrer aussehen ließ – nur noch viel unsympathischer halt. »Wheeler, hast du die Fährte verloren?«, flüsterte er mir zu. Ich schaute ihn nicht an, während wir zusammen durch die Tür gingen. Seine blöden Sprüche würden mich nicht reizen – nicht heute, nicht jetzt. »Oder warum standest du so planlos auf dem Gang herum?«   Kaiba glaubte – wie jeder andere – mich durchschaut zu haben. Ein Loser, der nur Sprüche klopfte, ein Verlierer, der nichts durchzog – wenn es mit Arbeit verbunden war und nicht mit Ärger. Aber er sollte falsch liegen, so falsch, dass er irgendwann sagen sollte, dass er falsch gelegen hatte.   »Du glaubst nur, etwas Besseres zu sein, Kaiba«, erwiderte ich, als hätte er nichts gesagt, »weil du reich bist. Aber wer bist du ohne dein Geld? Und deine dummen Hundesprüche kannst du dir in deinen Arsch schieben.«   Seto Kaiba hielten viele für undurchschaubar. Ein unvergleichliches Genie, ein Experte, der Gebiete erschließen würde, die der Allgemeinheit unbekannt waren. Ich ließ mich davon nicht einschüchtern. Manche glaubten, dass das daran lag, weil ich einfach eine zu große Klappe hatte, andere dachten, Kaiba hätte einen morbiden Spaß daran, mich verbal fertig zu machen. Bestimmt war an beidem etwas dran, aber der eigentliche Grund war, dass ich Kaiba durchschaut hatte. Seine Sprüche waren durchschaubar. Sein Image eine durchschaubare Fassade. Er war nichts Besseres. Er verschanzte sich nur hinter seiner scheinbaren Undurchschaubarkeit. Aber ich schaute hindurch, denn ich hatte keine Angst vor ihm. »Wer bist du schon, ohne dein Geld und deine Macht?« Wir schritten den Gang zwischen den Tischreihen entlang – nebeneinander. Ruhig, als erzählten wir vom Wetter. »Immer noch ein Genie. Etwas, das ich einem Verliererdasein wie dem deinigen jederzeit vorziehe.« »Jaaah, genau.« Unbeeindruckt ließ ich mich zwischen meinen Freunden nieder, während er allein in der letzten Reihe saß. Er packte seinen Laptop aus und tippte Zeug, das ich bestimmt nie verstehen würde. Ich reckte mein Kinn. Kaiba sah einen Moment über den Laptop hinweg und erwiderte meinen Blick. Er hielt mich für den letzten Idioten. Aber niemand außer mir, brachte Seto Kaiba dazu von seinem Bildschirm aufzusehen, um mich einen Idioten zu nennen. Und niemand außer mir nannte Seto Kaiba einen Geldsack, einen Eisschrank, einen arroganten Hausdrachen – ohne dafür verklagt zu werden. Von außen musste unser Verhalten undurchsichtig wirken. Aber für uns war es so durchschaubar wie frisch geputzte Glasscheiben. Seto Kaiba war nichts Besseres als ich. Wenn er von seinem Laptop aufsah, um meinem Blick zu begegnen wusste ich, dass er wusste, dass ich wusste, dass ich kein Verlierer war. Er hatte mich durchschaut. Und ich ihn. Kapitel 7: … ist auf Reisen --------------------------- __________________________________________ Die wichtigsten Reisen im Leben jedes Menschen sind die vom Ich zum Du. © Ernst Ferstl (*1955) __________________________________________ Seto Kaiba war ein Geschäftsmann, der in aller Welt geschätzt wurde – nicht, weil er so sympathisch war, sondern weil eine Zusammenarbeit mit ihm für jede Firma ein Ansehen bedeutete, das im wahrsten Sinne Gold wert war. Während Kaiba für mich ein arroganter Schnösel war, war er für den Rest der Welt ein Mann mit Namen. Und während Kaiba die Welt bereiste, fristete ich mein Dasein in der Schule. Es wäre mir egal gewesen, wäre ich nicht so verdammt informiert gewesen. S. Kaiba erringt wichtige Zusammenarbeit in den USA. CEO der Kaiba Corporation zwingt Wright Corporation in die Knie. Seto Kaiba und Wei Zhang beschließen Großprojekt im neuen Jahr. China wird offizieller Partner. Ich hing in Domino-City fest und schaute gelangweilt aus dem Fenster. Frühling machte sich draußen breit. In der Luft lag noch die Kühle des Winters, aber die Sonnenstrahlen waren schon wärmender als noch vor ein paar Wochen. Die ersten Knospen hingen an den Ästen. Die Pausen waren entspannt. Wir zockten ein paar Runden, aßen gemeinsam in der Mensa, ich schrieb hin und wieder Yugis Hausaufgaben ab – das Übliche eben. Es war ruhig. So ruhig, dass mich manche Pausen beinahe langweilten. »Hey, nach wem hältst du Ausschau, Kumpel?«, fragte Tristan irgendwann, nachdem ich an ihm bestimmt das vierte Mal vorbei gesehen hatte. »Niemandem«, behauptete ich, »nach wem soll ich schon Ausschau halten, hä?« Yugi stieß mich an. »Du bist dran, Joey.« »Schon wieder?« »Immer noch!« Er lächelte mich an und ich kratzte mich verlegen am Hinterkopf. Tris blätterte durch die Zeitung, die ich ihm manchmal mitbrachte. »Wow. Wusstet ihr, dass Kaiba momentan in Südamerika ist?« Ich brummte. Drei Wochen lang langweilten mich die Pause. Die erste Woche war angenehm ruhig, die zweite war eintönig, aber die dritte Woche war wirklich langweilig. Es lag nicht daran, dass Seto Kaiba durch die Welt reiste, sondern daran, dass ich es nicht tat. Ich gewöhnte mich daran, dass sein Stuhl leer war. So wie man sich an alles gewöhnte, wenn es nur lange genug dauerte. Erst an dem Tag, an dem er plötzlich wieder dort saß, bemerkte ich, wie seltsam es ohne ihn gewesen war. Schon als ich den Mund öffnete, vernahm ich ein leises Stöhnen seitens Tristan, der ahnte was kommen würde. Yugi setzte sich und kramte in seiner Schultasche. Entweder, um aus der Schusslinie zu sein oder weil er tatsächlich etwas suchte. Ich tippte auf ersteres. »Na, vom Urlaub zurück, Geldsack?«, warf ich Kaiba an den Kopf, worauf er nicht einmal seinen Blick vom Bildschirm hob. Ich ließ mich auf meinem Stuhl nieder, die Lehne an meinem Bauch. »Warum gehst du überhaupt in die Schule, offiziell – du bist doch sowieso nie da. Oder ist das dein Hobby?« »Warum gehst du nicht auf eine Hundeschule, Köter? Oder wollte man dort keine verlausten Straßenhunde aufnehmen?«, erwiderte er trocken. Ich presste die Lippen aufeinander, damit die Beschimpfung nicht über meine Zunge rollte, die schon dort lag. »Im Gegenteil«, behauptete ich stattdessen. »Ich geh lieber hierher. Du würdest dich doch ohne mich langweilen, Eisschrank.« »Hast du mich so sehr vermisst, Köter?«, provozierte er. »Natürlich.« Für einen ganz kurzen Moment verschlug es Kaiba die Stimme und er schaute von seinem Bildschirm auf – das war ein eindeutiger Sieg für mich. Ich grinste ihn breit an. Er verengte die Augen, ehe er seinen Blick wieder gelangweilt abwandte. Natürlich lag Sarkasmus in jeder Silbe meines Wortes. In jeder einzelnen. Seto Kaiba war ein Schüler, den fast alle Lehrer schätzten. Und mit dem kein Schüler zusammenarbeiten wollte. »Wir werden die nächsten Wochen an einem Projekt arbeiten.« Soweit war ich mit unserem Kunst-Lehrer noch einer Meinung. Der Rest ging in meinem vor Unglaube gelähmten Gehirn unter. »Warum ich?«, murmelte ich Tristan zu, der zuckte die Schultern, hatte aber den Anstand wenigstens betroffen zu schauen. Das einzige Fach, das mir keine Magenschmerzen bereitet hatte – und ich musste mit Kaiba zusammenarbeiten. Nach der Stunde blieb ich bei Herrn Nagato und sagte ihm genau das. »Hören Sie zu, Herr Wheeler. Ich weiß, wie die Klasse zu Herrn Kaiba steht. Genau deswegen habe ich sie beide zu Projekt-Partner gemacht.« Ich verstand immer noch nicht. »Es ist kein Geheimnis, dass Herr Kaiba für Malerei kein Interesse zeigt. Sie hingegen haben ein Talent dafür.« Es war einer dieser seltenen Momente, wo ich mir nicht selbst sagen musste, dass ich kein Versager war und ich kostete diese Kostprobe aus, ehe ich meinem Lehrer trotzdem mitteilte, dass es mir nicht passte mit Kaiba zusammen arbeiten zu müssen. »Letztlich werden Sie getrennt bewertet. Machen Sie sich keine Sorgen darüber. Aber Sie sind der einzige Schüler, der Kaiba nicht aus dem Weg geht.« In diesem Moment wünschte ich mir, Kaiba wäre noch auf seiner verdammten Geschäftsreise. »Und – was machste? Wegen dem Kunst-Projekt mein ich«, hakte Tristan auf dem Heimweg nach. Yugi trottete neben uns her und horchte auf. »Was schon?«, brummte ich. »Augen zu und durch.« »Das wär sicher unpraktisch beim Malen«, scherzte Tristan ziemlich lahm und ich warf ihm einen entsprechenden Blick zu. »Ich kann mir Kaiba gar nicht beim Malen vorstellen«, offenbarte Yugi und schaute nachdenklich. »Mit Pinsel und Leinwand. Jetzt sieht er in meinem Kopf aus wie so'n Franzos«, stimmte Tristan ein und schnaufte amüsiert. »Wird schon. Ich zieh das halt durch. Wird schon«, behauptete ich. Mein Murmeln ging in ein Seufzen über. Einige Tage später hielt ich einen Brief der Kaiba Corporation in den Händen. Zuerst kam mir der Gedanke, dass ich mal wieder Kaibas Mantel in Mitleidenschaft gezogen hätte – doch ich hatte nichts Dergleiches verbrochen – in den letzten Tagen. Er hatte mich ignoriert und war mir aus dem Weg gegangen. Ich riss den Umschlag auf und las, was für einen Scheiß Kaiba mir wieder einmal einreden wollte. Umso erstaunter war ich, als es sich um eine Einladung handelte. »Zu sich nach Hause?« Tristans Frage provozierte gerade zu mein Augenrollen. »Nein, Mann! Wie oftn noch? Es geht natürlich um das blöde Projekt. Und er hat geschrieben, dass er sich nicht in meine versiffte Hundehütte begeben wird. Ich soll in sein Büro kommen« Wir saßen in der Mensa und ich haute rein. Tristan zog die Spaghetti gerade hoch und betrachtete nachdenklich sein Glas Limonade, als Yugi mir auf die Schulter klopfte. »Ihr packt das schon.« »Ist mir doch egal, ob er es packt. Wir werden ja getrennt benotet«, entgegnete ich, zuckte mit der Schulter und biss in meinen Burger. So einfach war die ganze Sache dann natürlich doch nicht. Eine Sache zwischen Kaiba und mir war nie einfach. Ich hörte Musik, als ich mich in den Bus setzte. Der Bass rauschte durch meine Venen, als ich umstieg. Die Gitarre zupfte an meinem Bein, das ich anfing im Takt zu bewegen. Als sich die Gebäude um den Bus herum veränderten, begann ich zu begreifen, dass diese Busfahrt mich nicht einfach durch Domino führte. Als ich vor diesem Gebäude stand, da überrollte mich die Erkenntnis. Diese verdammte Fahrt führte mir vor Augen, dass wir in einer Stadt wohnten, aber aus zwei Welten kamen. Es war wie die Reise zum Mittelpunkt der Erde – nur anders. Ich meine, es war als würde Kaiba mit dieser Herablassung im Gesicht genau das betonen, was alle anderen auch wussten, aber was ich mir nie eingestehen wollte. Ich stand vor seiner Firma. Auf dem Gebäude prangte mir sein Name entgegen. Die Überwachungskameras am Eingang schienen zu plärren, dass ich nicht hierher gehörte. Aber tatsächlich war es die Empfangsdame, die es auch ausdrückte. Irgendwie. »Guten Tag. Wie kann ich Ihnen helfen?« Die Worte klangen eher nach: »Wie kommt es, dass du dich hier rein verlaufen hast, hä?« Aber so etwas brachte mich nicht aus dem Konzept. Ich war es gewohnt. »Ich habe einen Termin mit Kaiba.« Ihr Blick schweifte über meinen abgetragenen Pulli, die abgewetzten Jeans und meine ausgelatschten Schuhe. »Und Ihr Name ist?« »Joey. Also Wheeler. Ich mein Joseph Wheeler.« Die Nase rümpfend drückte sie eine Durchwahl. »Herr Kaiba, hier behauptet ein« – ihr Blick sagte alles – »Joseph Wheeler, dass Sie – ich – ich verstehe. Sicherlich. Sofort.« Sie legte den Hörer zurück und betrachtete mich, als sähe sie mich zum ersten Mal richtig. »Herr Kaiba erwartet Sie. Sein Büro ist –« »Weiß ich. Alles klar. Danke.« Während Kaiba für mich ein arroganter Schnösel war, war er für den Rest der Welt ein Mann mit Namen. Ich war niemand. Aber ich bemerkte natürlich, dass mich Leute anders ansahen, wenn ihnen Kaiba mitteilte, dass er mit mir zu tun hatte. Es war, als bekam ich von seinem Namen eine Kostprobe. Und wenn es nur für ein dämliches Schulprojekt war. Kapitel 8: … ist nicht dressiert -------------------------------- __________________________________________ Gut dressierte Hunde gibt es viele, gut erzogene Hunde gibt es leider wenige. © Oliver Jobes __________________________________________ Seto Kaiba war es gewohnt, dass er bekam, was er wollte. Genauso wie, dass man sich nicht traute, ihm in die Augen zu sehen, sondern dass man in seinen Arsch kroch, um etwas von ihm zu bekommen. Ich schlurfte durch den Gang seines Büros und blieb vor der Tür stehen. Statt zu klopfen, zog ich die Tür auf und polterte mit einem »Maaaann, was für ein Weg!« hinein. Seto Kaiba war gewohnt, dass sich Menschen zu ihm ins Büro schlichen, sich verbeugten und sagten »Ja, Herr Kaiba! Auf jeden Fall, Herr Kaiba!« Wenn es aber zu mir kam, dann gewöhnte er sich das alles schnell ab. Statt also ein Wort darüber zu verlieren, dass man gewöhnlich anklopfte oder dass er der mächtigste Geschäftsmann hier war und sich niemand getrauen sollte, einfach in sein Büro zu stolzieren, schaute er gelangweilt auf und nippte an seinem Kaffee. »Hast du dich zwischendurch verlaufen oder warum hast du so lange gebraucht?« Er saß in seinem Bürosessel mit dem Rücken zu dem Panorama, das die City von Domino so weit oben zu bieten hatte. Die Sonne ging gerade unter und malte Rotorange zwischen die Wolken. »Hey, ich – wow.« Seine Überheblichkeit verblasste, als ich einfach an ihm vorbeiging und meine Nase gegen die Fensterfront drückte. »Das ist echt cool.« Kaibas Blick folgte mir und schnaubte. »Das ist das Bürogebäude von Devlin.« Ich wandte meinen Blick zu Kaiba, der die Büros gegenüber betrachtete, als wären es Insekten, die er loswerden wollte. »Was? Achso, nee, ich meine das hier!« Und breitete meine Arme aus, um dann auf den Himmel zu deuten und das Licht und die Reflexionen der gläsernen Gebäude und die rotgelben Bäuche der Wolken und – »Ich sehe da lediglich, wie die Sonne untergeht, was heißt, dass ich wertvolle Zeit verschwende, während ich hier am Fenster stehe.« Die Begeisterung, die ich eben noch empfunden hatte, verpuffte mit seinen Worten. »Ich möchte das Ganze möglichst schnell hinter mir haben. Also setzen wir uns jetzt, besprechen unser Vorgehen und danach kannst du wieder gehen. Setz dich.« Er schritt an mir vorbei und mir stieg sein Geruch in die Nase, dieses komische Parfum, das er benutzt und dann der Duft des Kaffees, den er in einer Tasse mit sich trug, um sich auf dem Sessel niederzulassen. Diese Sitzecke fiel erst ins Auge, wenn man sich in Kaibas Büro umsah. Zuerst blickte man auf seinen Schreibtisch und den Bürostuhl, der inmitten des Raumes und vor der Fensterfront thronte. Danach erst rückten die Regale und Ordner ins Bewusstsein. Und eben diese Ecke, in der eine Couch und ein Sessel standen, rings um einen niedrigen Tisch herum, auf den Kaiba gerade seine Tasse abstellte. »Platz, Wheeler!« »Hä? Ich gebe dir gleich Platz!« »Nicht gleich, sondern sofort.« Er war es gewohnt, dass man seine Anweisungen ohne Widerworte ausführte. Ich verschränkte die Arme, stand neben dem Sofa und Kaiba, der seine Beine im Sessel überschlug und hörbar ausatmete. »Ich will auch nen Kaffee«, forderte ich und reckte mein Kinn. Kaiba fasste sich an seine Nasenwurzel und massierte sie, als spürte er, Kopfschmerzen aufblitzen. »Was genau hast du nicht an möglichst schnell hinter mir haben verstanden, Wheeler?« Doch statt auf meine Erwiderung zu warten, die mir schon auf der Zunge lag, griff er in seine Hosentasche, zog sein Smartphone heraus und drückte eine Schnellwahltaste. »Einmal Kaffee«, beorderte er an der anderen Seite der Leitung, während sein Blick mich fixierte. »Milch? Zucker?«, fragte er und ich reagierte nicht, weil ich erst zu spät begriff, dass er mir mir sprach, was mich ganz schön verdattert aus der Wäsche schauen ließ. »Bringen Sie es mit.« Er beendete das Gespräch und lehnte sich zurück, schaute mich an, als wartete er darauf, dass ich etwas von mir gab, was mich etwas irritierte. Ich wusste nicht, worauf das hinaus laufen sollte. »Du weißt, um was in dem Projekt geht?«, fragte ich ihn, weil mich diese Stille nervös machte, und ließ mich dann doch auf der Couch nieder. Es wäre nicht nur anstrengend, sondern auch ziemlich lächerlich gewesen, die ganze Zeit daneben zu stehen, wie bestellt und nicht abgeholt. »Ich nehme an, um etwas Künstlerisches, da es sich um ein Projekt in dem Schulfach Kunst handelt«, entgegnete er trocken, was mich meine Augen verdrehen ließ. »Es geht darum, was Vergängliches irgendwie – festzuhalten.« Ich erinnerte mich an das Thema und wie es unser Lehrer an die Tafel geschrieben hat. Kaiba nahm einen Schluck Kaffee, stellte die Tasse zurück auf den Tisch und schnaubte. »Abstrus. Paradox.« »Also wir sollen etwas malen oder herstellen oder wie auch immer, was irgendwie was mit Vergänglichem zu tun hat.« Er schnaubte schon wieder und ich geriet ins Stottern, was mich die Faust ballen ließ, weil es mich unendlich nervte. Ich fühlte mich, als wäre ich in einer Prüfung. »Also etwas Vergängliches. Das Leben. Ein Sonnenuntergang. Jahreszeiten. Die Zeit. Altern. Die Kindheit. Irgend so etwas. Das waren Beispiele, die Herr –« »Lächerlich.« Als wäre ich in einer Prüfung mit Kaiba als Prüfer. Ich hasste Prüfungen und ich hasste – »Was hast du dir vorgestellt, Wheeler? Mich als Kind im Sonnenuntergang? Im Frühling?«, höhnte er. »Gut, das war's«, erwiderte ich und erhob mich, was ihn seine Augenbrauen ebenfalls heben ließ. »Unser Zeug wird sowieso getrennt benotet. Ich tu mir das hier nicht an. Ich bin nicht hier, weil ich n Geschäft oder so mit dir machen will. Ich bin nur hierher gekommen, weil es sonst keiner aus der Klasse macht, Kaiba, und ich keine Angst vor dir hab. Aber du gehst mir jetzt schon so aufn Sack! Das wird nichts, also geh ich. Dann verschwende ich deine Zeit nicht und – mir viel wichtiger – meine auch net. Tschüss.« Kaiba war es gewohnt, dass man sich nicht traute, ihm in die Augen zu sehen, nicht wie ich, der ihm gerade entgegen funkelte. Dass man in seinen Arsch kroch, nicht wie ich, der ihn gerade den Buckel runter rutschen ließ. Er war gewohnt, dass sich Menschen zu ihm ins Büro schlichen, sich verbeugten und sagten »Ja, Herr Kaiba! Auf jeden Fall, Herr Kaiba!« Und nicht wie ich, der ihm sagte, wenn er ihn verdammt anpisste. In diesem Moment öffnete seine Sekretärin die Tür, um den bestellten Kaffee zu bringen. »Lassen Sie nur die Milch da, den Zucker können Sie wieder mitnehmen. Es ist ja schon Abend«, teilte ich ihr mit, zog meinen Rucksack über eine Schulter und schritt an ihr vorbei, raus aus Kaibas Büro, ohne zu ihm zurück zu sehen. Nicht, weil ich den Anblick gefürchtete hätte, sondern um ihm nicht noch eine bei seinem Gesichtsausdruck reinzuhauen. »Und er hat dich einfach gehen lassen?«, hakte Tristan nach und ich murrte. »Was hätte er denn sonst machen sollen? Mich von hinten erschießen?« »Dich verhaften lassen wegen – irgendetwas oder anzuklagen. Hat er dir das nicht einmal angedroht?« Wir saßen in der Mensa und verdrückten Unmengen an Pommes. Yugi schlurfte an einem Eistee und Tristan ließ einfach nicht locker, was die Sache mit dem Projekt betraf – oder besser: was die Sache mit Kaiba betraf. Ich schüttelte den Kopf. »Nö, bin ja dann einfach gegangen.« »Na, wenn er gewollt hätte, dann hätte er dich von seinen Bodyguards zurückschleifen lassen und hätte dich verprügelt oder so.« Ein Grinsen stahl sich auf Tristans Lippen, das so gar nicht zu seinen Worten passen wollte. Yugi schaute von dem einen zum anderen. »Was gibt es da denn zu lachen, hä?« »Nichts, nur – kannst du dir denn Kaiba vorstellen, wie er etwas bastelt oder –« Jetzt brach Tristan beinahe in Tränen aus, während er vergeblich versuchte, nicht zu lachen. »Oder mit dir zusammen malt?« »Ich weiß echt nicht, was daran so lustig sein soll«, entgegnete ich verstimmt. »Tristan hat das sicherlich nicht so gemeint«, warf Yugi ein, »es klingt nur amüsant, euch beide –« »Also gebt ihr Kaiba recht? Dass es abstrus ist? Lächerlich?« Ich war aufgestanden, blitzte sie an, fuchtelte mit der Gabel in der Hand, während ich sprach. »Hey, Kumpel. Langsam. Du stichst uns noch'n Auge aus – oder dir selbst.« Eigentlich hatten sie ja recht – also nicht das mit den Augen in erster Linie – mit dem, dass die Vorstellung, dass Kaiba und ich zusammen arbeiteten, ohne sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen, mehr als abstrus und lächerlich war. Aber es nervte mich. Es nervte mich so dermaßen, obwohl es doch schon jahrelang, schon immer so gewesen war. Es hatte mich doch nie gestört. Ich legte die Gabel hin und verschränkte die Arme vor meiner Brust. Es nervte mich, wenn Leute mich in Schubladen steckten – auch, wenn sie gar nicht so falsch liegen mochten. Wenn man erst einmal in so eine Schublade verfrachtet worden war, kam man kaum mehr raus. Dabei war man doch mehr als nur – ein Chaot, Faulpelz, Klassenclown, Verlierer. Aber so ganz aus seiner eigenen Haut konnte man auch nicht. Wenn das einer wusste, dann ich – und Kaiba. Vielleicht war ich zu früh gegangen. Kurz vor Beginn des Kunstunterrichts grummelte ich an meinem Platz vor mich her. Yugi und Tristan saßen rechts von mir und laberten etwas übers letzte Wochenende. Hinten in der letzten Reihe saß Kaiba – wie immer allein – und tippte auf seinem Laptop herum. Mit einem Blick auf meine Freunde, fällte ich meine Entscheidung. Ich packte mein Zeug ein, nahm meinen Ranzen, warf einen Träger über meine Schulter und schlenderte an den Platz neben Kaiba. Die Stille in der Klasse beherrschte plötzlich in den Raum. Yugi warf wir einen Blick zu und ein Lächeln, während Tristan ungläubig schaute. Kaiba schaute nicht auf, schenkte mir nicht einmal einen Blick, doch nach einer Weile begann wieder die allgemeine Betriebsamkeit in der Klasse. Es wurde gequasselt und gekichert und vom Wochenende und von Tests und von was weiß ich erzählt. »Was willst du hier, Wheeler?«, verlangte Kaiba zu wissen und schaute erst nach einigen Minuten von seinem Bildschirm auf. Also doch ein Blick – immerhin. »Am Ende wird das Zeug ausgestellt. Ich hab keine Lust drauf, der Außenseiter zu sein, der ohne Partner da rumhängt.« »Und das erzählst du mir, weil?« »Weil wir zusammen arbeiten sollen für das Projekt.« Ich kibbelte auf dem Stuhl, lehnte mich soweit nach hinten, dass ich kurz davor war, zu fallen. Kaiba stieß mich mit einem Ruck nach vorne, so dass ich wieder gerade auf dem Stuhl saß. »Hey – was –« Mit einer Geste mahnte er mich, die Klappe zu halten. »Lass es mich anders formulieren – warum sollte mich das Ganze interessieren?« Er schaute bereits wieder auf seinen Laptop und tippte etwas, als ihn meine Worte innehalten ließen. »Die anderen glauben alle, dass wir dran scheitern, zusammen zu arbeiten. Selbst Tris und Yugi.« Er warf mir einen abwägenden Blick zu, dann einen in die Klasse, all die Rücken, die sich vor uns in den Reihen auftaten und wir, die wir in der letzten Reihe das Schauspiel beobachten konnten, als wären wir kein Teil davon. Vielleicht setzte sich Kaiba deswegen grundsätzlich in die letzte Reihe, hier konnte er leichter so tun, als wäre er kein Schüler dieser Klasse. »Und du möchtest ihnen zeigen, dass sie sich irren? Warum?«, höhnte er. »Weil ich's kann«, entgegnete ich schlicht und erwiderte seinen Blick. Seine Brauen hoben sich und ich erwartete Spott, irgendeine Beleidigung, doch stattdessen überraschte er mich. Seto Kaiba schloss seinen Laptop und packte ihn zu Beginn des Unterrichts in seinen Aktenkoffer. Ich starrte ihn an. Seto Kaiba war es gewohnt, dass er bekam, was er wollte. Ich war das nicht. Aber ich ließ mich davon nicht beirren. Was uns verband war, dass wir uns beide nicht so einfach in Schubladen stecken, von anderen durchschauen und dressieren ließen. Wir waren immerhin keine Pferde – oder Hunde. Als Herr Nagato den Saal betrat, betrachtete er uns in der letzten Reihe mit einer gewissen Überraschung. Aber er forderte uns wie gewohnt auf, unser Material zu holen und wir begannen, an unseren Werken zu arbeiten – mehr oder weniger. »Zuerst macht man eine Skizze, Wheeler.« »Ich mach nie Skizzen.« »Das gehört zu transparenter Arbeit dazu.« »Na, und?« »Ohne Skizze – was machst du da?« Ich sah, wie unser Kunstlehrer vorne seufzte und Tris grinste oder Yugi mir zunickte, andere die Augen verdrehten oder stöhnten, aber das war mir egal. »Improvisieren.« »Du weiß nicht einmal, wie man das schreibt, Köter!« »Muss es auch nicht schreiben, Geldsack!« Kaiba war es gewohnt, dass man seine Anweisungen ausführte ohne Widerworte und schwieg, wenn es ihm nicht passte, dass man sprach. Aber es kam mir so vor, als zielte er nicht darauf ab, dass ich schwieg, sondern dass ich kläffte. Kapitel 9: … ist ungeduldig --------------------------- __________________________________________ Es ist das Unzulängliche in uns, was über das Unzulängliche der anderen ungeduldig wird. Elsa Herse __________________________________________ Seto Kaiba wollte alles, sofort, bedingungslos. Auf seine Art und Weise. Ich stürmte in sein Büro, nur um sechs Augen auf mir zu spüren. Kaibas Mimik verriet nichts, was er nicht verraten wollte, die beiden anderen Herren jedoch schauten verdutzt. Mit einer gestotterten Entschuldigung verschwand ich wieder rückwärts aus der Tür und schloss sie. Konnte ich ja nicht wissen, dass er wirklich gerade beschäftigt war, wie seine Sekretärin behauptet hatte. Nach einer Dreiviertelstunde öffnete einer der Herren die Bürotür, sie nickten mir Contenance wahrend zu und verschwanden auf dem Gang. Ich sah ihnen mit gerunzelter Stirn nach: Anzüge, bestimmt teuer, Parfum, das stank, aber sicher ebenso teuer war, schwere Aktenkoffer, bestimmt mit Dokumenten, die verdammt wichtig und – natürlich – teuer waren. Mein Blick glitt an mir herunter. Abgewetzte Schuhe, ungebügelter Pulli, verwaschene Jeans. Ich seufzte. Wie auch immer. »Du hast die beiden aus dem Konzept gebracht«, schreckte mich Kaibas Stimme auf, »dadurch konnte ich vielleicht einiges sparen.« Es erschloss sich mir nicht, aber ich nickte. »Schön, und warum rufst du mich her, wenn du gar keine Zeit hast?« Er bedeutete mir in sein Büro zu kommen, um nicht weiter auf dem Flur zu debattieren und so trat ich an ihm vorbei in das Zimmer ein – natürlich mit gerecktem Kinn. »Du bist stets zu spät. Wer hätte wissen können, dass du, wenn ich dich rufe, pünktlich kommst?«, behauptete er, schloss die Tür hinter sich, umrundete mich und setzte sich in seinen Bürosessel und zog seinen Aktenkoffer hervor. »Hör zu, Kaiba. Ich bin nicht hier, weil du mir das geschrieben hast«, stellte ich sofort klar, stützte mich mit beiden Armen auf seinem Bürotisch ab und schaute ihm grimmig entgegen. Er legte seinen Laptop in den Koffer. »Weswegen dann?«, fragte er gelassen und ich schob meinen Mund vor. »Weil ich's kann und will.« Er packte unbeirrt seinen Aktenkoffer und ich blickte ihn mit gerunzelter Stirn an, vergaß für den Moment, dass mich Kaiba gerade wieder anzupissen drohte. »Was wird das eigentlich?« »Unser Arbeitsmaterial liegt bei mir zu Hause.« »Was für – bei dir zu Hause?« »Du meintest, wir bräuchten gewisse Utensilien. Die habe ich besorgen lassen.« Meine Augenbrauen zuckten nach oben. Natürlich ließ er besorgen. Ein Kaiba machte so etwas nicht selbst. »Oh, deswegen sollte ich 'ne Liste schreiben?« »Meine Sekretärin hat mir zugesichert, sie konnte auch diejenigen Buchstaben entziffern, die unter einer Schicht Dreck verwischt worden waren. »Nutella«, murmelte ich. Er hob eine Augenbraue und schaute dann auf die Uhr an der Wand. »Wie auch immer.« »Wenn wir aber zu dir nach Hause gehen, dann – warum bin ich dann hierher gekommen?« »Du meintest, du würdest hierher kommen.« »Weil du geschrieben hast, ich sollte kommen!« »Also bist du doch hier, weil ich es geschrieben habe?« Ich implodierte. Keine Explosion, denn das wäre wie ein Wutanfall und Geschrei gewesen. Es war so, dass ich all die Gemeinheiten, die mir plötzlich auf der Zunge lagen, verschluckte und einen Hustenanfall bekam. Für einen Augenblick glaubte ich, dass Kaiba mir auf den Rücken schlagen wollte, aber zögerte. Stattdessen drückte er mir ein Glas Wasser in die Hand mit dem Spruch: »Ich habe offenkundig gemeint, dass wir uns für die Zusammenarbeit treffen sollten und es daher sinnvoll wäre, wenn du entsprechend ein Zeitfenster finden würdest, indem du dieser Arbeit nachgehen könntest.« Mir schossen drei Fragen durch den Kopf: Woher hatte er so schnell ein Glas Wasser? Trank er etwa nicht nur Kaffee? Und: WTF? Ich glotzte ihn an, schnaubte und zog mein Handy aus der Hosentasche. »Bzgl. Kunstproj. Treffen 18:30 bei mir. SK«, las ich vor und hielt es ihm dann hin. Seit wann hieß sein bei mir bei ihm zu Hause? Und inwiefern sollte ich ein Zeitfenster finden? Er hob die Augenbrauen. »Da siehst du es doch«, behauptete er steif und fest, zog sich seinen Mantel über und ließ mich stehen. Langsam dämmerte mir, dass wir in völlig unterschiedlichen Welten lebten, nein, nicht nur das. Wir dachten auch so was von verschieden, drückten Dinge ganz anders aus und sahen dieselben Sachen aus völlig unterschiedlichen Perspektiven, kamen auf andere Ergebnisse. Wir konnten gar nicht auf einen Nenner kommen. »Wheeler, ich habe nicht den ganzen Abend Zeit«, ließ er über die Schulter verlauten. Ich stand da mit einem Glas Wasser in der Hand und atmete tief durch. Er war nicht nur ein arroganter Arsch. Er war ein ungeduldiger, arroganter Arsch. Das Parkdeck stand voller Autos, deren eine Funktion war, ihre Besitzer von A nach B zu bringen, die andere, zu zeigen, wie viel Kohle sie verdienten. Kaibas BMW machte da keine Ausnahme. Als er auf der Fahrerseite einstieg, riss ich meine Augen auf. »Moment! Du fährst?« Kaiba verdrehte die Augen. »Aber du bis erst sechzehn, Alter!« »Pkw-Sondererlaubnis«, erwiderte er gelangweilt. Ich stieg in das Auto, schnallte mich an und warf Kaiba einen Seitenblick zu. Die Welt war unfair. Er fuhr los und es fühlte sich nicht seltsam an. Auch nicht so, als wäre es normal, aber – sagen wir mal so – ich hatte nicht das dringende Bedürfnis, ihn, während er das Lenkrad in der Hand hatte, zu erwürgen. Vielleicht war das aber auch nur reiner Überlebensinstinkt meinerseits. Ich stieg aus Kaibas BMW aus und ließ die Tür zuknallen, als wäre es ein LKW, was er mit genau diesen Worten quittierte und einem Blick, der mich verlegen grinsen ließ. »Du bist doch versichert«, witzelte ich. »Nicht gegen Schäden von Hunden«, erwiderte er und ich knurrte. Es wurde viel geredet. Kennt man ja. Kaiba, das Wunderkind. Kaiba, der jüngste Unternehmer im Land. Kaiba, der unglaublich reich, intelligent und gutaussehend war. Kaiba blablabla. Zeug, das doch wirklich nur – für mich zumindest – zweitrangig war, wenn man bedachte, dass er einen Führerschein hatte und mehrere Autos und eine verdammte Pkw-Sondererlaubnis! Dazu eine verdammte Villa, in der er wohnte. In einer Villa. Mit seinem Bruder. In einer Villa! Ich stand in der Eingangstür und starrte – wahrscheinlich mit offenem Mund – während sich Kaiba seinen Mantel auszog. Nicht seinetwegen. Nein, ich betrachtete den Flur und die hohe Decke, die bemalt war, wie ich es nur aus Kirchen kannte. Aber es war nichts Religiöses, soweit ich erkannte, sondern Figuren aus Spielen, die Kaiba erfunden hatte. »Das ist der Weiße Drache!«, rief ich und er hob seine Augenbrauen, spitzte seine Lippen spöttelnd und lobte mich: »Wheeler, deine Auffassungsgabe übersteigt heute sogar die eines Brotes, ich bin positiv überrascht.« Ich hängte ihm meine Jacke über die verschränkten Arme und erwiderte nichts. Gedanklich war das einer meiner Superauftritte. Zumindest bis ich dann planlos im Vorzimmer stand und ratlos zu ihm zurückschaute. Ich stand vor fünf Türen und fühlte mich plötzlich wie in einem seiner erfundenen Spiele. Doch bevor er mir einen Hinweis auf die richtige Richtung hatte geben können, riss jemand eine Tür auf und sein kleiner Bruder stürmte ihm entgegen, fiel ihm in die Arme, aus denen er tatsächlich meine Jacke schon aufgehängt hatte. Mokuba quasselte auf Kaiba ein und grinste ihn an und lachte und ich fühlte mich völlig fehl am Platze, als störte ich die beiden in einem persönlichen Augenblick. Als Seto Kaiba Mokubas Lächeln leise erwiderte, schaute ich verlegen weg, als hätte ich ihn nackt gesehen. Aber es wollte mir nicht aus dem Kopf – nicht Letzteres, sondern sein Lächeln. Das Lächeln an und für sich war unerheblich. Es machte ihn nicht schöner oder so – er blieb derselbe nervige Kotzbrocken. Aber was mir durch den Kopf schoss, war der Gedanke, dass Kaiba nicht umsonst ein Wunderkind war und der jüngste Unternehmer und reich und so. Nicht umsonst. Wahrscheinlich hatte er einen hohen Preis dafür bezahlt. Aber was ging es mich an. Mokuba begrüßte mich mit einem Handschlag und einem Lächeln, das mehr als anerzogene Höflichkeit offenbarte. Im Gegensatz zu seinem Bruder war dieser Kaiba scheinbar zu echter Freundlichkeit im Stande. »Wheeler, bei Fuß!« »Ich bin kein Hund!«, maulte ich und folgte ihm. Mokuba grinste mir zu. Seite an Seite gingen wir Kaiba – also dem älteren – nach, eine Wendeltreppe nach oben und dann rechts und dann links. Die Gänge waren hoch und hell, vor den Fenstern führten Balkons hinaus und eröffneten den Blick auf einen Garten mit alten Bäumen und Blumen. »Wow, da ist ein Baumhaus!«, rief ich aus und Mokuba nickte. »Ja, Seto hat es für mich gebaut – das war vorletztes Jahr. Das war im selben Jahr, als er Gozab–« »Mokuba, du plapperst«, rügte ihn Kaiba und Mokuba zuckte die Schultern. »Entschuldige«, meinte er und warf ihm ein verlegenes Lächeln zu, das Kaiba mit spitzen Lippen quittierte, sagte aber nichts. Und wir schritten den Gang entlang und links und rechts und dann – irgendwann folgte ich ihm einfach nur noch in der Gewissheit, dass – wenn er wollte – er mich hier einfach aussetzen könnte und ich niemals wieder hinausfinden würde. Wahrscheinlich würde ich verdursten und verhungern und – Kaiba stieß eine Tür auf, und bedeutete mir, hinein zu gehen. Mokuba blieb vor der Tür stehen. Die beiden redeten miteinander und scheinbar war Kaiba – der ältere der beiden – ziemlich angepisst. Ich verstand nicht genau weswegen. Seltsam war es vor allem auch deswegen, weil ich nicht derjenige war, der es abbekam. »Setz dich, Köter«, befahl er mir, ohne mir einen Blick zu gewähren, während er die Tür hinter sich schloss und sich selbst an den Schreibtisch setzte. Okay, zumindest bis jetzt nicht. Ich schaute planlos um mich herum. Anders als in seinem Büro stand der Schreibtisch nicht der Tür zugewandt, sondern gen Fenster. Ich betrachtete Kaibas Rücken und seinen Nacken, den er sich kurz massierte. »Hier.« Er deutete auf den Stuhl neben sich. Es klang nicht wie eine Einladung, es klang wie eine Drohung. Ich schluckte, als ich mich neben ihm niederließ. Vor uns auf dem Tisch stand das Material, das er hatte besorgen lassen. Systematisch geordnet und viel mehr, als ich aufgeschrieben hatte. Kaiba lehnte sich in dem Stuhl zurück und schaute mich von der Seite an, als erwartete er etwas von mir. »Schön«, sagte ich also und er schnaubte. »Wheeler, fang endlich an.« »Hä? Mit was?« »Das Material. Verschaff dir einen Überblick.« Ich ließ meinen Blick über den Tisch schweifen, griff nach Acryl- und Ölfarben, die die wir auch im Kurs verwendeten und strich über Pinsel. »Brainstorming«, ordnete Kaiba an. »Hä?« Er massierte sich die Nasenwurzel und durch meinen Kopf stahl sich der Gedanke, ob es eine Angewohnheit war oder ob er tatsächlich dort Schmerzen hatte. »Also. Ich fange an. Du sagst, was dir dazu einfällt. Kapiert?« Ich nickte brav. »Vergängliches«, warf er in den Raum und warf einen Blick auf die Uhr. »Zeit.« »Uhr.« »Hunger.« Er hob die Augenbrauen. »Hunger? Was für eine Assoziation ist das?« Ich zuckte die Schultern und kratzte mir am Hinterkopf. Nachdem er durchgeatmet hatte, fuhr er fort: »Verlangen.« »Sehnsucht?« »Gut«, behauptete er, aber es klang eher wie ein: »Wie auch immer.« Er schaute auf die Uhr und fasste gelangweilt zusammen: »Also Zeit, Uhr, Hunger, Verlangen, Sehnsucht. Wunderbar.« Alles an diesem Wort – außer dem Wort selbst – drückte aus, wie scheiße er es fand. So ging es noch eine ganze Weile hin und her. »Weißt du, ich hab an so was wie –« In diesem Moment knurrte mein Magen so laut, dass ich meine Hände auf ihn presste. »Sorry, ich –« »Wir sollten gehen.« »Was?« »Es ist ohnehin langsam Zeit.« »Oh, okay.« Ich packte mein Zeug zusammen, stand auf und warf mir meinen Rucksack über die Schulter und Kaiba warf mir einen Blick zu, der mir verriet, dass er mich nicht gerade für eine Leuchte hielt. »Was? Hä?«, schleuderte ich ihm entgegen und vielleicht war ich etwas zu enttäuscht, dass unsere Arbeit bisher so unproduktiv verlaufen war und vielleicht etwas zu genervt, dass er mich jetzt schon rauswerfen wollte. »Du kannst deine Sachen hier lassen. Mokuba wartet bestimmt schon im Esszimmer.« »Im Esszimmer?« »Es gibt Lasagne.« Mein Verstand brauchte zwei – oder auch drei – Augenblicke, um zu begreifen, dass sich so eine Einladung zum Abendessen aus dem Munde Seto Kaibas anhörte. Ein Essen bei ihm im Esszimmer. Mit seinem kleinen Bruder. Kein »Möchtest du zum Essen bleiben?«, nichts von wegen »Hättest du Zeit und Lust, um hier zu Abend zu essen?«, aber vielleicht dachte er sich auch, dass ich Essen eh nicht ausschlagen würde. »Ich habe Ihnen alles auf den Tisch gestellt, Herr Kaiba. Ich wünsche Ihnen guten Appetit!« Kaibas Haushälterin – und offenbar auch Köchin – zog sich die Jacke über, drückte Mokuba an sich, verabschiedete sich mit einem Lächeln von mir und wandte sich dann an den einzigen, der ihr Lächeln nicht erwidern musste. »Bis morgen, Herr Kaiba!« Als die Tür ins Schloss gefallen war, stürmte Mokuba vor ins Esszimmer und ich schlenderte hinterher. Als wir zu dritt dort saßen, kam mir der Moment unwirklich vor. Vor allem als Mokuba anfing zu erzählen, als würden wir immer hier so sitzen und abends gemeinsam essen. »Und dann – in der Pause haben wir eine Runde gespielt. Tobi ist aber ein grottenschlechter Spieler. Er wird immer ganz rot, wenn er keine guten Karten auf der Hand hat«, plapperte Mokuba und mampfte fröhlich in sich hinein. »Tobi?«, hakte Kaiba nach und schob die Lasagne mehr auf seinem Teller herum, als dass er sie in seinen Mund beförderte. »Ja, mein bester Freund. Du kennst ihn! Blond mit Brille«, rief er ihm ins Gedächtnis, doch Kaibas Mimik blieb blank. Mokuba wandte sich resigniert an mich. »Er merkt sich nie seinen Namen. Er merkt sich nie irgendwelche Namen von Leuten.« »Er kennt meinen«, wandte ich ein und Mokuba grinste. »Jaaah. Das stimmt.« »So oft wie er mich angekläfft hat, brannte sich sein Name irgendwann in mein Gedächtnis«, behauptete Kaiba trocken. »Eine absolute Verschwendung meiner Ressourcen.« »Hey, red' nicht über mich als wär' ich nicht da, Geldsack!« »Flohschleuder.« »Arroganzbolzen.« »Streuner.« »Eisschrank.« »Nachtisch!« Kaibas und mein Blick sprang zu Mokuba, der fröhlich auf das Dessert hinwies. »Will sonst noch jemand ein Eis?« Schokolade, Vanille, Sahne, Schokostreusel. Ich betrachtete mein Werk mit dem Stolz eines Künstlers und grinste, als ich voller Vorfreude meinen Löffel in der süßen Masse versenkte. Mokuba grinste verdächtig ähnlich. Nur ein Seto Kaiba war fähig ein Kunstwerk aus Eis und Sahne und Streusel mit einer Mimik zu essen, als müsste er es. »Wie läuft es in der Schule?«, fragte er und ich verdrehte die Augen. Kaiba konnte einem wirklich das Dessert verderben. »Super. Mathe schreiben wir bald einen Test«, erwiderte Mokuba leichthin. »Oh, Gott, so'n Mist«, rutschte mir heraus. Die beiden Brüder warfen mir einen Blick zu. Während sein großer Bruder verächtlich schnaubte, winkte Mokuba lächelnd ab. »Keine Sache. Mathe ist echt einfach«, erklärte er. Natürlich. Er war halt doch ein Kaiba. »Tobi mag Mathe auch total. Wir haben schon ein bisschen zusammen gelernt.« »Tobi?«, hakte Kaiba nach und Mokuba verdrehte grinsend die Augen. Ich verstand erst zwei Augenblicke später, dass Seto Kaiba eben einen Witz gemacht hatte und starrte ihn an. Er ignorierte es, aber anscheinend nervte es ihn dann genug, um etwas zu sagen. »Was genau hast du nicht verstanden, Wheeler?«, spöttelte er und ich verengte meine Augen, spitzte meine Lippen, um meinem Unmut Ausdruck zu verleihen. »Du bist manchmal echt ein Idiot«, erwiderte ich und seine Augenbraue zuckte, »aber manchmal auch nicht.« Seto Kaiba schaute – wüsste ich es nicht besser – verblüfft, nur um im nächsten Moment wieder auf die Uhr zu sehen. »Mokuba, es wird langsam Zeit. Ich werde ihn nach Hause bringen, wenn ich zurück bin, bist du fix und fertig fürs Bett, okay?« Mokuba nickte und ich starrte Kaiba schon wieder an. Er würde mich nach Hause bringen? Als Kaiba mir meine Jacke überreicht und sich selbst seinen Mantel übergestreift hatte, stand Mokuba bei ihm und drückte sich in seine Arme. Es war so ein Moment, bei dem Außenstehende so taten, als wären sie nicht da, weil es so privat und intim erschien, dass alles andere unangebracht wirkte. Seto Kaiba – der Seto Kaiba – drückte seinen kleinen Bruder an sich, strich ihm über das chaotische Haar, während der Junge zu ihm hochschielte und ihn anstrahlte. Sein Lächeln war voller Zuneigung und – ich stockte, als ich Kaibas Blick bemerkte. Dieser Blick, der genau diese Gefühle widerspiegelte. Wir waren die Sache falsch angegangen. So ungeduldig Kaiba sein konnte, ich hätte schwören können, dass diese Momente für ihn nicht lang andauern konnten, obwohl sie so vergänglich waren. Weil sie so vergänglich waren. »Wheeler, Fuß!« Er schritt vor, als zwickte die Ungeduld in seinen Hintern und ich folgte ihm mit den Worten »Hey, Eisschrank! Ich. Bin. Kein. Hund!« zum Auto. Kapitel 10: ... ist anders -------------------------- __________________________________________ Jeder Mensch lacht anders, hustet anders, niest anders, bewegt sich anders, redet anders, fühlt anders. © Paul Schibler (*1930), Schweizer Aphoristiker __________________________________________ Seto Kaiba war schwer zufrieden zu stellen. Es war wirklich nicht einfach mit ihm zu arbeiten. Vielleicht, weil er gewohnt war, dass man für ihn arbeitete. Vielleicht, weil er gewohnt war, dass seine Ideen genial waren. Er regte mich auf, nervte – und ihm ging es sicherlich nicht anders. Solange, bis wir uns immer wieder gegenseitig Beleidigungen an den Kopf warfen. Damit konnten wir wenigstens umgehen. In der Schule gingen wir uns aus dem Weg und wenn es doch unvermeidlich war, dann gingen wir uns wie gewohnt an die Kehle. Manche Sachen blieben, wie sie waren. Aber andere – mir ging dieser Moment nicht aus dem Kopf, in dem Kaiba Mokubas Blick erwidert hatte, dieser private Augenblick, den ich gar nicht hätte sehen sollen. Denn durch ihn bohrten sich Fragen durch meinen Kopf und füllten ihn mit: »Was machte Kaiba zu dem arroganten, gefühllosen Arsch? Und was macht ihn zum großen Bruder?« »Joey, kannst du das nach oben stellen?« Yugis Stimme riss mich aus meinen Gedanken und er drückte mir ein Kartenspiel in die Hände. Wir standen im Laden seines Großvaters und sortierten die neu eingetroffenen Spiele ein. Nach Spielart, nach empfohlenem Alter, nach Größe und Preis. »Sag mal, Yugi«, begann ich und er schaute mich von der Seite her an, runzelte die Stirn, weil es nicht oft vorkam, dass ich herumdruckste, »glaubst du, dass Menschen verschiedene – naja, so Rollen in ihrem Leben haben?« Ich ordnete das Kartenspiel zu einigen anderen und spürte seinen Blick in meinem Nacken. »Wie meinst du das?« Ich griff nach einem Gesellschaftsspiel und verfrachtete es über Yugis Kopf in das Regal. »Ähm – also. Dass uns andere – beeinflussen. So wie andere uns sehen, dass wir uns irgendwie anpassen?« In meinem Kopf hatte sich das alles noch total sinnvoll angehört. Doch statt es als Unsinn wegzulachen, wie es andere getan hätten, legte Yugi seine Hand ans Kinn und dachte über meine Worte nach. »Wahrscheinlich hast du da gar nicht so Unrecht«, meinte er und ich schaute ihn mit großen Augen an, während wir weiter Kisten abwischten und entstaubten und umräumten und einräumten und wieder ausräumten und weiter abwischten. »Meinst du echt?« »Klar, überleg doch mal. Wenn uns andere Menschen als hilfsbereit einstufen, dann fragen sie nach unserer Hilfe und wenn wir zusagen, dann sehen sie sich bestätigt. Und vielleicht werden wir ja dadurch erst hilfsbereit – weil wir die Gelegenheit bekommen, hilfsbereit zu sein.« Ich wiederholte die Worte in meinem Kopf. Aber mich störte etwas daran. Yugi dachte natürlich wieder so positiv, aber – »Was ist, wenn wir irgendwann wirklich so sind, wie andere glauben, dass wir sind, auch – wenn wir es gar nicht so sind? Zum Beispiel. Wenn alle denken, dass man ein arroganter, eiskalter Geldsack ist?« »Reden wir gerade von jemandem, den wir beide kennen?«, hakte Yugi direkt nach, doch ich wehrte ab. Wedelte mit meinen Armen, als müsste ich den Namen Kaiba aus der Luft wischen. »Quatsch! Unsinn! Wie kommste darauf? Ich mein nur so – generell, Kumpel.« Yugi atmete tief durch, was dumm war, während man Staub wischte, nieste und nieste und konnte mir erst nach guten fünf Minuten einen vollständigen Satz liefern. »Ich denke, dass es gewissen Menschen nicht darauf ankommt, was alle denken. Oder Joey?« Ich nickte langsam aber es waberten nur noch mehr Fragen durch meinen Kopf. Es war verdammt schwer mit ihm zu arbeiten. Vielleicht, weil ich jetzt wusste, dass er kein Roboter war, dass er sogar lächeln konnte. Aber in dieser Zeit war er der arrogante, gefühllose Arsch. »Hör zu, du arbeitest für mich –« »Mit dir.« »Ich erwarte hundert Prozent. Konzentration. Energie. Reflexion.« Er war berechnend. »Was machst du da?« »Ich zerschreddere das Schmierpapier.« »Das war KEIN Schmierpapier, Kaiba!« Und er war süchtig. »Ich seh es, Kaiba.« »Was?« »Du isst schon wieder Schokolade.« »Na, und?« »Dann gib mir wenigstens auch was!« »Vergiss es!« Kaibas Blick hätte nicht tödlicher sein können. Abends gingen wir gemeinsam ins Esszimmer und wenn wir uns an den Esstisch setzten, wo auch Kaibas jüngerer Bruder saß, dann konnte ich die Verwandlung von Kaiba beobachten. Die Verwandlung von Kaiba, dem arroganten, gefühllosen Arsch zu Kaiba, dem großen Bruder. »Im Unterricht war alles okay heute?«, fragte er, während wir selbstgemachte – also von Kaibas Haushälterin selbstgemachte – Pizza aßen. Mokuba nickte. »Klar! Naturwissenschaften war toll heute! Aber dafür Mathe echt langweilig. Also insgesamt okay.« »Und in den Pausen?« Mokuba wich dem Blick seines Bruders aus, ich sah es ganz deutlich, es musste auch Kaiba aufgefallen sein. »Haben wir gespielt. War echt cool!« »Was habt ihr gespielt?«, hakte Kaiba nach und er wirkte tatsächlich interessiert. Bei jedem anderen klangen seine Fragen, als müsste er lästige Insekten verscheuchen. Mokuba winkte ab und druckste herum, aber Kaiba ließ ihn nicht das Thema wechseln. Ich stellte mir alles Mögliche vor: Vielleicht war gespielt nur ein Synonym für Rauchen, mit Mädels in einer dunklen Ecke knutschen, Drogen? Aber das würde Mokuba eh verheimlichen, nicht? Zumindest es nicht beim Abendessen vor einem Halbfremden breit treten. Oder er hatte geschwänzt. Aber Moment, die Pausen? Nun ja, bei einem Kaiba wusste man nie. »Schach«, antwortete er halblaut und Kaibas Mimik wurde blank. »Mhm.« Zwischen uns breitete sich eine drückende Stille aus, die ich nicht erklären konnte. Wie Rauch bei einem Feuer, das einem das Atmen erschwerte und die Lungen mit Hitze füllte. »Spielst du gut Schach?«, fragte ich Mokuba, weil ich dieses Schweigen kaum ertragen konnte. Der Blick des Jungen wanderte über seinen großen Bruder zu mir. »Ja, aber nicht so gut wie Seto.« Noch während die Worte über seine Lippen purzelten, weiteten sich seine Augen, als erschütterte ihn eine Erkenntnis. Sein Blick huschte zu Kaiba, der aß jedoch wortlos weiter, als wäre nichts weiter passiert. Ich stand total auf dem Schlauch und schaute mich im Esszimmer um. Es war zu groß für nur zwei Menschen, und auch für drei, aufgeräumt, hell und freundlich auf den ersten Blick, unpersönlich auf den zweiten und auf den dritten Blick entdeckte ich einige Zeichnungen und Bilder, die mir vorher nicht aufgefallen waren. Mein Teller war leer genau wie Mokubas. Seto trank gerade ein Schluck Wein, den er mit Wasser verdünnt hatte, und als das Glas geleert war, verschwand Kaiba ohne ein Wort. Ich sah ihm verdattert nach. Mokuba rutschte auf seinem Stuhl unruhig hin und her, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er seinem Bruder folgen sollte oder nicht und ich erhob mich, um zu der Kommode zu schlendern, auf der die Bilder in Bilderrahmen standen. »Hast du die gemalt?«, wandte ich mich an Mokuba und der nickte. »Das ist der Weiße Drache, nicht?« Natürlich war er das. Kaiba hatte mich mit der Karte vom Feld gefegt, aber mir gefiel das Schweigen nicht, also brachte ich den Jungen irgendwie zum Reden. Und als er sprach, stand er plötzlich hinter mir. »Ja, aber manche sind schon uralt.« »Wow, den hast du echt toll gemalt und hier nochmal gezeichnet!« »Den habe ich tausendmal gemalt«, wiegelte er ab und schien verlegen. »Ich auch«, erwiderte ich vielleicht deswegen und er schaute mich überrascht an. »Echt?« Ich kratzte mir am Hinterkopf und grinste. »Ich zeichne alles Mögliche. Aber am meisten den Rotäugigen.« Zumindest hatte ich es. Schule und Zeitungaustragen verschlangen so viel Zeit. Dazu half ich immer mal wieder im Laden von Yugis Großvater. Das Zeug zum Zeichnen war teuer. Früher hatte meine Mutter – mein Grinsen verkrampfte sich , doch mit Mokubas nächsten Worten riss er mich ganz schnell wieder in die Gegenwart. »Du, Joey, nimm es ihm nicht übel.« »Ähm, was –?« »Ich weiß, dass mein Bruder nicht immer so einfach ist –« Ich unterdrückte ein Schnauben, denn das war ja mal die Untertreibung des Jahres. »Aber ich glaube, er mag dich.« Mit großen Augen blickte ich auf Mokuba hinunter und schluckte das ungläubige Lachen bei seinem Blick hinunter. Er meinte es ernst. »Ja, also – weißt du. Ich glaube, das ist eher so – naja.« Wenn ich ehrlich war, wusste ich nicht, was es war. Ich kratzte mir verlegen am Hinterkopf und grinste. »Was ist da eigentlich wegen der Sache mit dem Schach?«, hakte ich nach und Mokuba starrte auf die Bilder, die er gemalt und gezeichnet hatte, als müsste er sich an ihnen festhalten. »Ich – also – das fragst du ihn am besten selbst.« »Mmmhm«, brumme ich und zuckte die Schultern. Kaiba war eben eine Sache für sich. So standen wir da und hingen unseren Gedanken nach und ich hätte zu gerne gewusst, worin Mokuba versunken war. Ob er an früher dachte? Und da durchzuckte mich die Erinnerung an einen schmächtigen Junge mit braunem Haar und großen, blauen Augen, die er zusammengezogen hatte, an der Seite eines Geschäftsmann, der gefühlskalt einen Blick in die Kamera warf. »Wie kommt ihr eigentlich mit eurem Projekt voran?« »Naaaja.« »Seto hat gemeint, dass du außergewöhnlich talentiert bist.« »Was?« Mir blieb die Spucke weg. »Nunja, er hat es anders ausgedrückt. Für einen Hund kann Wheeler erstaunlich gut mit Pinseln umgehen oder so ähnlich.« »Pff«, ließ ich die Luft zwischen meinen Lippen entweichen, doch das Grinsen auf meinem Gesicht strafte der Missbilligung in meiner Mimik Lüge. Ein Kompliment war ein Kompliment. Etwas, das ich niemals von Kaiba erwartet hätte – nicht einmal in meiner Abwesenheit. »Wer hätte gedacht, dass er sooo freundlich sein kann.« Hinter uns schnaubte Kaiba, ich zuckte zusammen und fuhr zu ihm herum, als hätte er uns bei etwas ertappt. Er schaute drein, als hätten wir uns in Anwesenheit der Queen über die Farbe unseres Urins unterhalten. »Wenn du fertig bist mit dem Austausch irrelevanter Aspekte, dann fahre ich dich nach Hause. Es sei denn du möchtest –« »Ich will ganz sicher nicht hier übernachten«, warf ich ihm an den Kopf und reckte das Kinn. »Ich wollte sagen, laufen.« Mokuba schnaufte hinter mir amüsiert und ich spürte, wie meine Ohren heiß wurden, während ich mir meine Tasche über die Schulter warf und so tat, als wäre es mir egal. Aber ich wusste, dass das so nicht ganz stimmte. Wir saßen in seinem Auto und er fuhr die Straße entlang. Den Weg zu mir kannte er inzwischen ohne Navi. Die Stille in dem Auto machte mich immer ganz kribbelig, ich brauchte Musik, das Radio, wenigstens leise oder eine Unterhaltung, damit die Worte diese Stummheit aus dem Innenraum fegten. Kaiba schien es nicht zu stören. »Dein Bruder ist echt nett.« »Mhm.« Stille. »Das Essen war richtig gut.« »Mhm.« Stille. Stille. Stille. Mir hing die Stille zu den Ohren heraus. Ich schob meine Lippen nach vorne und stützte mein Kinn auf meine rechte Hand, die ich an die Beifahrertür lehnte. »Wenn morgen Weihnachten wäre und der Osterhase nicht kommt, würdest du deine Socken auf dem Kopf tragen?« Stille. »Was gibst du da für einen Unsinn von dir, Wheeler?« »Ähm – ich dachte, du hörst mir nicht zu.« Ich grinste ihn an und rieb mir die Stirn, aber er schaute natürlich auf die Straße. »Hast du eigentlich ein Radio hier?« »Mhm.« Stille. Natürlich hatte er ein Radio im Auto. Wahrscheinlich war das Radio sogar teurer als unsere Küche. »Kann ich's anmachen?« »Mhmmmm.« War das ein Nein? Ich rührte mich nicht, warf ihm einen Blick zu. »Weißt du, wie man einen Knopf drückt?«, fragte er und ich hob irritiert meine Augenbrauen. »Hä?« »Dachte ich mir.« Er schaltete das Radio ein und im Nachhinein glaubte ich, dass er mir eine subtile Erlaubnis gegeben hatte, die Musik einzuschalten. Kaiba und seine wortlosen Antworten. Es machte mich verrückt! Dieser arrogante, wichtigtuerische Besserwisser! »Sag mal, warum gehst du nicht einfach auf so eine Privatschule oder so, Geldsack?« Stille. Okay, ich rechnete schon gar nicht mehr mit einer Antwort, als er mich überraschte. »Ich habe schon genug dieses Klientels den ganzen Tag um mich.« »Wow, Kaiba. Ich wusste gar nicht, dass du der Rebell unter den Strebern bist.«  Ein dünnes Lächeln zupfte an seinen Lippen. Ich sah es deutlich, nur für einen Wimpernschlag, aber das machte es nicht weniger real. »Und was hat's mit'em Schach auf sich?« In dem Moment, als die Worte aus meinem Mund purzelten, wusste ich, dass es ein Fehler gewesen war. Für einen Augenblick rechnete ich damit, dass Kaiba mich aus dem Auto werfen würde. Seine Mimik verschloss sich, als wäre das Lächeln nie über seine Lippen geschwebt, im Gegenteil. Sein Blick hart und kalt auf die Straße gerichtet, als müsste er sich konzentrieren, um nicht auszurasten. Seine Hände verkrampften sich um das Lenkrad und ich befürchtete, er würde sie gleich davon losreißen, um mich zu erwürgen. Ich wartete auf die Explosion. »Wir sind da.« Seine Worte, ausdruckslos und distanziert, ließen mich zusammenzucken, als hätte er geschrien. »Ja, ich – danke.« Ich stieg aus dem Auto und er brauste gleich wieder los. Als hätte ich einen Moment hinter seine Maske sehen können, so fühlte ich mich. Ausgelaugt und verwirrt. Sein Lächeln und seine Sanftheit gegenüber Mokuba standen im krassen Gegensatz zu seiner Kaltschnäuzigkeit und verbalen Erniedrigung, die er anderen gegenüber an den Tag legte. Und eben hatte ich für einen Moment gesehen, dass dahinter noch eine andere Sache, ein weiterer Seto Kaiba steckte, einer, der Geheimnisse in sich vergrub, weil er sich sonst vielleicht nicht mehr beherrschen konnte? Ich schlenderte zur Wohnung, atmete tief durch, doch der Gedanke, dass Kaiba gar nicht so anders und doch so ganz anders war, als ich bisher erfahren hatte, wollte mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Kapitel 11: ... ist schweigsam ------------------------------ __________________________________________ […] in deren dunkelnder Stille die schweigsamen Teiche liegen, von denen niemand weiß, wie tief sie sind. Rainer Maria Rilke __________________________________________ Seto Kaiba war ein verdammter Arsch, einer mit böse funkelnden Augen und spöttischen Kommentaren, die ihm aus der Ritze hingen. Ich betrachtete das, was wir bisher erstellt hatten. Ein Acryl-Bild. Uhren, Zahlen standen darauf. Im Hintergrund Wasser, das wie ein Wasserfall von oben nach unten verlief. Am Rand Blumen, die verwelkten. Ich hatte überlegt, einen Hamburger dazu zu malen. Was war vergänglicher als Essen vor mir auf dem Tisch? Aber ich hatte es gelassen, denn Kaibas Kommentar dazu brauchte ich mir echt nicht zu geben. Ich verkreuzte meine Arme über dem Kopf. Das Bild war so unpersönlich, es sagte nichts. Vielleicht wäre das mit dem Hamburger doch eine Option. Genervt schlurfte ich in die Küche, öffnete den Kühlschrank, schaute hinein, nur um ihn wieder zu schließen. In diesem Moment kam mein Vater von der Arbeit. »Hey, Junge. Was machste?« Er zog sich die Jacke aus, warf sie über die Lehne des Sofas, schlenderte zu mir und öffnete an mir vorbei den Kühlschrank, um sich eine Bierdose zu öffnen, ließ sich auf dem Sofa nieder, während er den Fernseher anschaltete. »Haste was verlor'n? Oder warum stehste da so rum? Wennde nix zu tun hast, besorg dir'n Job, Junge, da vergeudeste deine Zeit net so wie inner Schule.« Ich murmelte vor mich her, dass er ich meine Zeit niemals sie wie er vergeuden würde. »Wennde was sagst, dann sag's so, dass man dich versteht, kapiert?« »Der Kühlschrank ist leer«, meinte ich nur, mein Vater zuckte mit den Schultern, ganz wieder in das Programm vertieft und ich verschwand in mein Zimmer. Am Schreibtisch saß ich vor der Leinwand. Das Bild, das ich gemalt hatte, hätte auch von jemand anderem sein können. Ich bettete meinen Kopf auf meine verschränkten Arme auf dem Tisch und seufzte. In der Dunkelheit meiner geschlossenen Augen sah ich ihn. Dann, wenn er der war mit diesem Lächeln, das jeden aus dem dunkelsten Loch herauslocken würde. Dieses Lächeln schenkte er aber nur seinem Bruder. Es war das, was mir nicht aus dem Kopf gehen wollte. Und dabei war es so schnell weg, wie es gekommen war. So vergänglich. Ideen fluteten mich. Ich zögerte, fühlte mich, als würde ich in Kaibas Privatsphäre eindringen, doch der Stift flog alleine über das Papier. Mit verquollenen Augen stolperte ich in den Klassenraum. In diesem Moment klingelte es und ich huschte auf meinen Platz. Tristan bedachte mich mit einem mitleidvollen Blick. »Die Tage sind immer die schlimmsten«, behauptete er. Ich streckte mich und warf dabei einen Blick in die letzte Reihe. Kaiba würdigte mich natürlich keine Sekunde. »Hä? Welche Tage?«, raunte ich zurück, während unser Mathelehrer vorne seine Buch aus der Tasche kramte. »Die Tage vor der Klausur.« Etwas verbrannte in meinem Magen. Scheiße. »Deswegen siehst du doch so kacke aus, oder?«, flüsterte Tristan. »Ich hab gestern Abend auch zu lange an den Scheißaufgaben gehockt.« Ich schloss meine Augen, als spürte ich Schmerzen, während wir den Morgengruß des Lehrers erwiderten. Seit wann saß Tris vor Schulaufgaben? »Oh, nein! Du verarschst mich, oder?« Tristan schaute mich mit großen Augen an. »Du hast die Klassenarbeit vergessen? Joey, was hast du denn die Nacht geschafft? Doch nicht etwa –« Sein Grinsen verriet mir mehr seiner Gedanken, als ich gerade ertragen konnte. Seit wann wusste Tris was in der Schule abging? »Tris, halt deine Klappe.« Yugi schaute mich an, als wüsste er etwas. Nur hatte ich keine Ahnung, was das sein könnte. Die Stimme unseres Lehrers lenkte seinen Blick nach vorne. »Herr Muto, könnten Sie uns bitte die Lösung der Hausaufgabe an die Tafel schreiben?« Ich dankte allen Göttern, die mir bekannt waren, dass ich mich wenigstens nicht sofort blamieren müsste. »Drei Tage!«, rief ich und hätte beinahe meine Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Die Stunde war vorüber und ich hatte das Gefühl, ich müsste meinen Kopf gegen die nächste Wand schlagen oder gegen alle Wände, die verfügbar waren in diesem Gebäude. »Scheiße«, murmelte ich, packte mein angefressenes Mathebuch in meine Schultasche und seufzte. Wir standen an unseren Plätzen, die meisten unserer Mitschüler hatten nach der Unterrichtsstunde schon das Weite gesucht – oder besser den nächsten Unterrichtsraum. Ich trödelte und Tristan und Yugi tätschelten mir bildlich gesprochen die Schultern. »Ich hasse Mathe und ich hasse Vektoren und ich hasse Mathe.« »Das hast du schon gesagt«, entgegnete Tristan. »Na, und? Das kann man nicht oft genug sagen!«, brauste ich auf, nur um dann mit hängendem Kopf erneut zu seufzen. »Ich werd' die Scheißprüfung verkacken, verdammt.« »Du hast doch noch drei Tage, Joey, vielleicht –« Yugis Optimismus in allen Ehren, aber – ich warf ihm einen entsprechenden Blick zu. »Weniger bellen, mehr lernen«, warf mich eine Stimme aus dem Konzept und ich drehte mich mit zusammengezogenen Augen um. Kaiba stand da mit seinem Aktenkoffer in der Hand und dem Mantel und hätten mich Tristan und Yugi nicht zurückgehalten, ich hätte ihm so gerne eine reingeschlagen. Diesem arroganten Arsch. Zu Hause saß ich über meinem Mathebuch gebeugt und raufte mir die Haare, seufzte abwechselnd und schlug meinen Kopf gegen den Tisch. Es half nicht wirklich, die Lösungen zu den Aufgaben zu finden. Yugi hatte mir seine Lösungen kopiert und es mir erklärt. Es hörte sich immer so logisch an, wenn er es mir vorbetete, aber sobald ich auf mich allein gestellt war – die Türklingel ließ mich hochschrecken. Ich schaute irritiert auf die Uhr. So spät schon? Mein Vater? Nein, dafür zu früh. Und warum sollte er klingeln? Es sei denn, er war betrunken – Ich hob den Hörer für die Lautsprechanlage ab. »Alter, biste schon wieder –« »Wheeler.« Vor Schreck ließ ich den Hörer fallen, ehe ich ihn wieder griff. »Was willst du hier, Alter?« »Lass mich rein. Sofort.« Wenn Seto Kaiba diesen Ton anstimmte, dann gehorchte man. Als er im Flur der Wohnung stand, die für mich das Ähnlichste zu einem Zuhause darstellte, glaubte ich, plötzlich in einem Paralleluniversum gefangen zu sein. Wahrscheinlich waren die Matheaufgaben das Tor dazu gewesen und die Zahlenreihen hatten sich in mein Gehirn gefressen und mich verschluckt und hier wieder ausgespuckt. Wahrscheinlich sah ich ihn entsprechend an. Sein Blick funkelte – ich konnte es nicht anders beschreiben als – böse. »Wir waren verabredet. Vor genau vier Stunden.« »Oh, verd- sorry, ich hab' –« »Du hast weder auf meine Anrufe noch auf meine SMS reagiert.« »Und du bist jetzt extra gekommen, um mir das zu sagen?« Ich schaute ihn verblüfft an. »Ich lasse mich nicht ignorieren, Köter.« Er drängte sich an mir vorbei, als ich ihn nicht weiter als den Flur herein bat, zog sich seinen Mantel aus und warf ihn in meine Arme. Seinen Aktenkoffer in der Hand und mit seinem Hemd sah er aus, als hätte er sich auf dem Weg zu einer Geschäftsverhandlung verirrt. »Die Zeit für das Projekt ist begrenzt, Wheeler. Das heißt –« »Ich weiß, was das heißt«, brummte ich genervt, hängte seinen Mantel auf und schritt zu ihm ins Wohnzimmer, wo er sich pikiert umsah. Vielleicht suchte er nach Ratten oder Insekten oder so. Aber so schlimm war es bei uns auch wieder nicht. Das Sofa war abgenutzt, ja, und der Teppich, der vor dem Fernseher lag war hässlich, ein paar Flecken verunstalteten sein altmodisches Muster, die Küche war alles andere als schön, aber sie funktionierte – meistens zumindest. »Wo können wir arbeiten?« Ich schaute ihn an, als wäre er mit einem Raumschiff in unserem Wohnzimmer gelandet. »Hör zu, Wheeler, ich habe nicht den –« »Ähm – bei mir – in meinem Zimmer mein ich.« Er folgte mir. Vor der Tür zu meinem Raum hielt ich und zögerte. »Mh – also – nur – einen Moment«, stammelte ich, grinste ihn verlegen an und huschte durch die Tür, um ihm dieselbe vor der Nase zuzuschlagen. Also – was konnte ich noch retten? Klamotten lagen auf dem Bett, leere Flaschen standen auf meinem Schreibtisch, der Mülleimer war überfüllt, ich sollte mal wieder lüften, mein Ranzen lag mitten im Zimmer. Nachdem ich den Klamottenhaufen so wie er war in meinen Schrank geworfen hatte, die leeren Flaschen unter mein Bett gekickt und das Fenster geöffnet, stolperte ich über den Ranzen und wäre an die Tür geknallt, wäre Kaiba nicht ungefragt in den Raum getreten. Ich wusste genau, dass ich die Tür bevorzugt hätte. Ich rempelte ihn an, fing mir einen weiteren bösen Blick ein und einen spöttischen Kommentar nach dem Motto Hündchen sollten ihr Herrchen nicht anspringen – auch nicht vor lauter Arbeitseifer. Sein Ton verriet, dass er mich und Arbeitseifer als höchst unpassend in einem Satz empfand. Er schob mich einen Arm breit von sich weg, während er sich umschaute. Ich erwartete einen weiteren spöttischen Kommentar, doch er schwieg sich zu meinem Zimmer aus. Also zog ich meine Schultasche mit zum Bett. Es war besser, beschäftigt zu sein und zu schweigen als nur zu schweigen. »Ja, also – was –« Ich setzte mich auf mein Bett und überließ ihm den Platz am Schreibtisch, wo er bereits seinen Aktenkoffer abstellte. »Die Ansätze sind richtig, du machst nur an dieser Stelle immer denselben Fehler.« »Hä?« Ich tauchte hinter ihm auf und sah, wie er auf meine Matheaufgaben tippte, auf eine Stelle einer Aufgabe, die mich am liebsten sofort wieder mit dem Kopf gegen den Schreibtisch hätte schlagen lassen. Und ihm das Heft unter de Fingern wegreißen. Er griff sich meinen Stift und korrigierte ein Vorzeichen – oder zwei oder drei. »Hör zu, Hündchen, du musst das so machen.« Er erklärte es, schrieb es auf, spottete nicht – er ließ nur ein paar trockene Kommentare los. »Mokuba hat mit den Vorzeichen auch manchmal –« Sein Blick wanderte zu mir und als würde er in diesem Moment realisieren, dass er mit mir sprach, verstummte er, räusperte sich und zog seinen Laptop aus der Tasche. Ich griff mir gleichzeitig mein Matheheft und betrachtete die Aufgabe, als sähe ich sie zum ersten Mal, prägte mir die Korrekturen ein, die er da mit seiner Schönschreibschrift über meinen krakeligen Zahlen vermerkt hatte – versuchte es zumindest. Denn ein Joey Wheeler gab nicht einfach auf. Nicht einmal bei Mathe. »Was. Ist. Das.« Verwirrt, weil ich seinen Ton nicht einschätzen konnte, schaute ich auf und musterte ihn. Er stand über meinem Schreibtisch, den Laptop in der Hand, verharrte, als hätte er ihn auf der Schreiboberfläche abstellen wollen und wäre dann versteinert worden. »Was meinst –?« Ich folgte seinem Blick und erkannte meine Zeichnung. Mein Herz rutschte mir in die Füße. Kaiba starrte auf sein gezeichnetes Selbst, das seinen kleinen Bruder anlächelte. Sie sahen aus, als kannten sie keine Probleme und das Vertrauen, das die beiden verband, leuchtete in ihren Bleistiftmimiken. Und dann war da noch er im Zentrum, allein an seinem Schreibtisch sitzend, am Laptop arbeitend. Sein lachendes Ich mit seinem Bruder umsäumten diesen Teil des Bildes, wie ein Echo. Er hätte das Bild nie zu Gesicht bekommen sollen. »Das ist nur – also – ich – weil –« Mein Stottern erklärte es nicht wirklich. Er fuhr zu mir herum, schaute mich an, als wüsste er nicht, ob er sich auf mich stürzen und erwürgen oder einfach aus der Ferne erschießen sollte. »Das – also das war nur –« Eigentlich wusste ich gar nicht so recht, warum ich mich versuchte zu rechtfertigen. Ich hatte ihn gezeichnet. Na, und? Es war kein Verbrechen. Ich meine, ich hatte ihn nicht einmal nackt abgebildet oder so. Bei dem Gedanken spürte ich, wie das Blut von meinen Füßen in mein Gesicht schoss. Jeden Moment schien er zu explodieren, er öffnete bereits den Mund, doch statt Geschrei atmete er tief ein und aus, als wäre er kilometerweit gerannt. »Ich – also – ich kenne nichts, das vergänglicher ist als dein – naja – das Lächeln von dir«, murmelte ich. In meinem Kopf hatte es weniger kitschig geklungen. »Wenn du bei deinem Bruder bist, dann –« In diesem Moment schlug die Tür zu und ich fuhr herum. Mein Blick heftete sich sofort wieder auf Kaiba, doch ich lauschte den Geräuschen auf dem Flur. Es rumpelte. Jemand fluchte, dann ein Ächzen. Mir rutschte das Herz von den Füßen in die Hose, dann drückte es gegen meine Lungen, pochte laut. »Verdammt«, schimpfte mein Vater durch die geschlossene Tür. Kaiba hob seine Augenbrauen, als hätte er sich wieder gefangen, in dem Moment als er sich gewahr wurde, dass jemand die Wohnung betreten hatte. Ich betete. Bitte, war mein Vater nur ungeschickt gewesen. Bitte, war er nicht betrunken. Bitte. Es rumpelte erneut. Also öffnete ich meine Zimmertür einen Spalt breit, um nachzusehen. Er hing halb auf dem Schuhschrank, offensichtlich betrunken. Ich schloss die Tür wieder und wandte mich an Kaiba. »Einen Moment, warte kurz hier – ich –« Verfrachte meinen betrunkenen Vater irgendwohin, wo du ihn nicht sehen kannst. Ich wedelte mit den Armen, fuhr herum und huschte in den Gang. »Verdammt, warum – was machst du hier?«, zischte ich und er versuchte mich mit seinem Blick zu fokussieren, was ihm aber nicht gelang. »Ich wohn' hier, Junge!« Seine Fahne wehte mir entgegen und ich rümpfte die Nase. »Ja, toll, dass du das noch weißt.« Wenn mein Vater betrunken war, wurde er nicht aggressiv. Er schrie nicht herum und warf keine Dinge an die Wand. Stattdessen sah er mich so an. »Du siehst aus, wie deine Mutter!«, lallte er und ich zog seinen Arm über meine Schulter. »Unsinn«, hielt ich dagegen. »Siehst aus wie se! Dein –«, er griff nach meinem Gesicht, »sieht aus'ie sie. Dein –« »Ist ja gut! Komm endlich mit.« Doch er wand sich aus meinem Griff, wankte und donnerte gegen den Schuhschrank. »Alter, du solltest jetzt wirklich – was machste da?« Er griff nach dem Telefon, versuchte es jedenfalls, verpasste es einige Male, doch dann hackte er auf die Zahlen ein. »Ich ruf'se an. Jetzt.« »Das wär jetzt eher nich'so gut«, versuchte ich ihn davon abzubringen. Er schien über meine Worte nachzudenken, hielt inne in seinem Tun. »Vielleicht haste recht, Junge. Is'alles so – hab zu viel – getrunken.« Wenigstens wusste er es. »Ja, genau. Ich helf dir ins Bett, komm – ich –« Ich griff nach seinem Arm, um ihn mir über die Schulter zu legen, doch er entzog ihn mir, fixierte mich so gut er konnte und hauchte mir entgegen: »Morgen, ich rufe'se morgen an. Dann können wir wieder – eine richtig'Familie sein. Morg'n.« In mir verbrannte etwas zu Asche und verstopfte meine Lungen. »Ja«, krächzte ich, »tu das. Morgen kannst du –« Er fing an zu weinen und schrie, dass das Leben so ungerecht war, ich zog ihn in sein Bett. Er klammerte sich an mich, als würde er andernfalls in seinen Tränen ertrinken. Behauptete, dass er es besser machen könnte, dass er es tun, dass er sie anrufen würde, dass er alles dafür tun würde, dass sie wieder käme, dass es seine Schuld war, dass sie ihm vergeben müsste. Er heulte und flehte und irgendwann schlief er ein. Als ich in den Flur trat, um einen Eimer zu holen, damit mein Vater nicht auf den Boden kotzen würde, stand mir plötzlich Kaiba gegenüber. »Ich – warum bist du noch hier?« »Um hier zu arbeiten. Es sei denn –« Ich wollte, dass er ging und ich wollte, dass er es nicht tat. Mit dem Eimer in der Hand stand ich da und kämpfte mit mir selbst. Dass er ausgerechnet diesen Moment erleben musste, dass ausgerechnet Kaiba, der größte Arsch, gerade hier vor mir stehen musste, jetzt, in diesem Augenblick, wo ich mich so schwach fühlte, wie ein Versager, wie ein Idiot, genau so, wie er es mir immer an den Kopf warf. Ein Köter, der kläffte, weil er Angst hatte, vergessen zu werden. Eine Töle, die bellte, aber nicht biss. »Geh einfach.« Die Scham überwog. »Ich wollte sagen: es sei denn wir fahren zu mir. Wir haben noch viel aufzuarbeiten, Wheeler.« In diesem Moment unterbrach uns mein Vater mit einem gequälten Geräusch. »Ich sollte –«, begann ich, aber statt den Satz zu beenden, machte ich einfach auf dem Absatz kehrt und brachte den Eimer zu meinem Vater. Ich stellte den Eimer neben das Bett und blieb stehen, atmete tief durch, als könnte der Augenblick meine Gefühle ordnen. Aber Lava sickerte durch meine Adern und das beißende Gefühl, als verglühte mein Magen darin. Mir war schlecht. Ich würde Kaiba aus der Wohnung werfen. Ich würde ihm einfach sagen, dass er endlich gehen sollte. Er würde mich mit seinen Kommentaren in den Boden stampfen, aber ich würde nicht zuhören. Ich wusste, wie erbärmlich hier alles war. Als ich mein Zimmer betrat, schaute ich auf Kaibas Rücken. Er saß an meinem Schreibtisch und schrieb etwas. Als ich näher kam, erkannte ich, dass er etwas zeichnete. Mir blieb der Mund offen stehen. »Du kannst ja doch – zeichnen«, stolperte mir über die Lippen und es sollte spöttisch klingen, aber es klang nur lahm. Ich schaute auf eine Skizze, auf mein gezeichnetes Lachen und meinen Vater, der mich ebenso anstrahlte, wie ich ihn. Daneben saßen meine kleine Schwester und meine Mutter. »Jetzt sind wir quitt«, behauptete Kaiba. »Woher –« Er machte eine vage Handbewegung und mein Blick blieb an meiner Pinnwand hängen. Ausschnitte von Turnieren hingen dort, Bilder mit meinen Freunden, Zettel, was ich noch erledigen müsste (und natürlich trotzdem vergaß), Postkarten, die mir meine Freunde gesendet hatten und ein vergilbtes Bild von meiner Familie, als ich fünf Jahre alt gewesen war. Wir sahen glücklich aus. »Ja, was ist vergänglicher als – das?«, wisperte ich bitter. Ich wollte ihn aus meinem Zimmer werfen. Scham brannte in meinen Augen. Wollte ihn los werden, bevor er seine Kommentare loswurde. Aber meine Finger krallten sich in meine Hosen, ich starrte auf den Boden und schwieg. »Bezüglich des Projekts«, begann er, als säßen wir in seinem Büro. Jetzt, wo er die Möglichkeit gehabt hätte, mir meine Gedärme herauszureißen, in eine Wunde zu stechen, die so tief war, das deswegen mein Herz blutete, dass er damit meinen kompletten Körper hätte aufreißen können, da kam kein einziges spöttisches Wort über seine Lippen. Ich starrte auf das Bild meiner Familie und er sprach über unser Projekt, als wäre es normal aus dem Zimmer nebenan das Geräusch zu hören, wie wenn jemand kotzte. Kapitel 12: … ist ein Egoist ---------------------------- __________________________________________ Ein Egoist ist ein Mensch, der sich besser im Singular auskennt als im Plural. © Willy Meurer __________________________________________ Seto Kaiba war ein Egoist. Er teilte nicht, was ihm gehörte und sah es nicht ein, andere in sein Metier einzubeziehen. Wenn er half, dann nicht, weil er freundlich, sondern weil er ein berechnender Arsch war, der etwas im Gegenzug verlangte. Vielleicht traute sich deswegen niemand, ihn um Rat zu fragen. Denn jeder Rat kostete bei ihm unangemessen viel. Von der eigenen Ehre ganz zu schweigen. Kaiba war jemand, der es nicht verschleierte, dass ihm andere am Arsch vorbeigingen – es sei denn, sie konnten ihm etwas beschaffen oder er durch sie etwas erreichen. Die Ausnahme war allein sein kleiner Bruder. »Joey, bist du krank?« Mokuba musterte mich über den Esstisch hinweg und ich schüttelte den Kopf, obwohl mir die Qual wohl ins Gesicht geschrieben stand. Nachdem Kaiba gestern Zeuge meiner Schwäche – die nämlich die Schwäche meines Vaters war – geworden war, er aber bisher kein Wort darüber verloren hatte, pochte in mir das Misstrauen, dass er die dünne Kruste, die sich über dieser Fleischwunde bildete, abreißen würde, wenn ich nicht mehr daran dachte. Das war doch genau die Strategie, die Kaiba sonst an den Tag legte. »Nö, nicht krank. Hab nur keinen großen Hunger.« Das ließ Kaiba – also den älteren – schnauben. Ich stocherte weiter in meiner Pasta herum und warf ihm einen Blick aus zusammengekniffenen Augen zu, der ihn natürlich unbeeindruckt ließ, und zuckte die Schultern, während ich mich wieder Mokuba zuwandte. Manchmal hatte Mokuba Angst einflößende Ähnlichkeit mit seinem großen Bruder. Diesen Blick zu Beispiel, der einen unaufgefordert weiter erklären ließ, weil man hoffte, die Situation zu verbessern. »Übermorgen schreiben wir in Mathe 'ne Klausur und ich hab die Nacht durch gelernt und –« Nur, um es natürlich noch weiter zu verkacken. Am liebsten hätte ich meinen Kopf auf die Tischkante knallen lassen. »Mathe ist nicht so meins«, murmelte ich, um das Thema abzuschließen und grinste ihn verlegen an. Mathe war auch so eine Schwäche von mir – aber eine, die mir sonst gerne am Hintern vorbeiging. Trotzdem. Es war nicht leicht am Tisch mit zwei Genies über die eigenen Unzulänglichkeiten zu plaudern. Mokuba sah das offensichtlich ganz anders. »Warum fragst du nicht einfach Seto?« Mein Blick schnellte hoch und wahrscheinlich erging es Kaiba nicht anders. Jedenfalls trafen sich unsere Blicke und wäre es nicht Kaiba gewesen und ich, ich glaube, wir wären in Lachen ausgebrochen. »Weil – also –« Ich nicht Seto Kaiba um Hilfe fragte? Weil es das ungeschriebene Gesetz gab, dass wir nur dieses Projekt gemeinsam erledigen würde, um den anderen zu beweisen, dass wir konnten, wenn wir wollten, aber einfach normalerweise nicht wollten und deswegen nicht anders konnten? Oder hatte Kaiba dafür schon zu viel mitbekommen? Hatte ich schon zu viel von dem anderen Kaiba gesehen? Konnten wir uns noch in unserer Ignoranz dem anderen gegenüber verstecken? »Ich find' übrigens euer Bild zu dem Projekt richtig schön!« Ich verschluckte mich beinahe an meiner Apfelschorle. »Du hast das gesehen? Wo – ich mein, wieso?« »Seto hat es mir gezeigt. Joeys Bild ist natürlich richtig, richtig schön, nicht Seto?« Mokuba formulierte es als Frage, aber es klang, als wüsste er bereits, dass sein Bruder ihm darauf keine Antwort geben würde. Doch die Tatsache, dass Seto Kaiba das Bild seinem kleinen Bruder gezeigt hatte – Er erhob sich, ohne ein Wort, mit dem er auf Mokubas Behauptung eingegangen wäre, und bedeutete mir, ihm zu folgen. Warum war es so wichtig, den anderen zu beweisen, dass wir konnten und wollten, wenn wir konnten und wollten? Er saß an dem Schreibtisch in seinem Büro zu Hause und ich tigerte durch den Raum, seufzte und schnaubte ab und zu, blieb immer wieder vor unserem Werk stehen, nur um dann wieder durch den Raum zu schreiten. Irgendwann drehte Kaiba sich genervt um und schaute mich an. Mit diesem Blick. Es stimmte. Mokuba hatte Recht. Das Bild, das wir geschaffen hatten – zwei Zeichnungen auf zwei Papieren, die doch so gestaltete waren, dass sie insgesamt ein Bild ergaben – war ausdrucksstark. Es bot alles, was die Aufgabe verlangte und – meiner Meinung nach – noch darüber hinaus, denn es war so intim, dass ich den Gedanken, dass unsere Schulkameraden es sehen würden, unangenehm empfand. Es störte mich. »Es ist nur – ich mein –« Ich verstand nicht, warum es ihn scheinbar nicht störte. »Ich will nicht, dass –« Es jeder sehen konnte. Es war zu privat und die Wunden zu tief. »Stört es dich denn nicht? Ich meine – normalerweise bist du soooo auf deine Privatsphäre bedacht.« »Ich habe es anonymisiert.« »Anony- wo? Was?« »Das bedeutet, dass man charakteristische Gesichtszüge entfernt. Keine privaten Details, anonym.« »Ich weiß, was anonymisieren bedeutet«, brummte ich. »Gut«, sagte er. Es klang wie »Ich weiß, dass du nichts weißt«. »Ich habe bereits digital ein paar Sachen ausprobiert«, fuhr er fort und öffnete das entsprechende Dokument auf seinem Laptop. Ich starrte es mit offenem Mund an und konnte mich nur mit Mühe davon abhalten, auch ihn so anzugaffen. »Du hast es – animiert?« »Mir war langweilig.« »Ich dachte, du hast eine Firma zu leiten?«, zog ich ihn auf. »Es gibt langweilige Besprechungen, Wheeler, und es gibt langweilige Schulstunden. Eigentlich gibt es die sogar häufiger als nicht-langweilige.« »Das heißt, du hast das während des Unterrichts gemacht? Sitzt du deswegen immer in der letzten Reihe? Spielst du da auch Minesweeper? Oder was machst du sonst in den gaaanzen langweiligen Stunden?« »Ich arbeite, Wheeler, immerhin habe ich eine Firma zu leiten.« Ich betrachtete ihn von der Seite. Trotz seines ernsten Tonfalls sah ich, wie seine Mundwinkel zuckten, ehe er sich räusperte und – wie er das gerne tat – die Ergebnisse unserer Zusammenarbeit zusammenfasste. Ich glaubte, dass das eben so etwas wie ein Scherz gewesen war – so eine Art scherzhafte Bemerkung zumindest. Kaibas Humor war unterschwellig. »Wir geben also erstens diese bearbeitete Version ab und zweitens die animierte. Das heißt, –« »Wir brauchen diese da nicht«, schlussfolgerte ich und betrachtete unsere Zeichnungen. »Genau.« »Kann ich – kann ich sie haben?«, fragte ich und deutete auf seine Zeichnung meiner Familie und er folgte meinem Fingerzeig und schwieg einen Moment. »Wenn ich deine Zeichnung haben kann.« Meine Augenbrauen schnellten nach oben. »Mokuba hat danach gefragt.« »Natürlich.« Er fixierte mich einen Moment. Vielleicht war meine Skepsis doch nicht so unterschwellig gewesen, wie sein Humor oder wie ich gedacht hatte. Aber scheinbar besänftigte ihn mein trotteliger Blick. Jedenfalls wäre ich bei seiner nächsten Frage beinahe über meine eigenen Füße gestolpert. »Gut. Nachdem das geklärt ist – welche konkreten Aspekte bereiten deinem Hundegehirn in Mathematik noch Probleme, Hündchen?« Am übernächsten Morgen saß ich auf meinem Platz in der Schule, bevor Yugi und Tristan auf ihren saßen, was mir einige Blicke einbrachte. »Ooookay«, meinte Tristan und betrachtete mich, als wäre ich ein Objekt, das er wissenschaftlich untersuchen sollte, »was genau ist dir im Schlaf auf deine Rübe gefallen, Kumpel?« »Wir schreiben eine Klausur, Tris. Oder haste das vergessen?« Er schnaufte amüsiert. »Das wird schon, Joey«, redete mir Yugi gut zu. Als unser Mathelehrer uns die verdeckten Aufgaben zur Klausur austeilte, wandte ich mich für einen Moment nach hinten und warf Kaiba einen Blick zu. Ihn ohne seinen Laptop dort sitzen zu sehen war seltsam und vielleicht war es dieser Umstand – das Unbeschäftigtsein in den Minuten kurz vor einer Klassenarbeit – der dazu führte, dass er meinen Blick erwiderte. Er nickte mir knapp zu. Und während ich mich wieder nach vorne drehte, zog ein Grinsen an meinen Lippen. Vielleicht konnte ich es doch schaffen. »Uuuund?«, wollte Tristan wissen, nachdem wir aus dem Klassensaal schlenderten, Yugi in unserer Mitte. Ich streckte mich, horchte in mich hinein. Es war bestimmt keine überragende Arbeit, aber – »Ich denke, es war gar nicht so beschissen«, verbalisierte ich mein Bauchgefühl und grinste. Tristan erwiderte es mit einem Schlag gegen meine Schulter. Yugi lächelte. Kaiba schritt hinter uns, als wäre er in Eile. Vielleicht war er das, vielleicht tat er nur so, weil er sich so wichtig fühlte. »Ich hoffe, Köter, dass du meine Zeit nicht vergeudet hast. Immerhin habe ich eine Firma zu leiten und keine Zeit, um mit Flohschleudern zu spielen«, warf er mir an den Kopf und zog an uns vorbei, ohne uns noch eines Blickes zu würdigen. »Was willst du eigen-« Ich hielt Tristan mit einer Handbewegung zurück. »Ist schon okay«, murmelte ich ihm zu und betrachtete Kaibas Rücken, der sich von uns entfernte und hinter der nächsten Ecke verschwand. »Was sollte das denn? Er kommt an, beleidigt dich und du bleibst so ruhig?« Das Erstaunen in Tristans Stimme war unüberhörbar, doch Yugis Augen fixierten mich, als wüsste er, dass das nicht alles war. »Ich glaube nicht, dass das nur eine Beleidigung war«, mutmaßte er und ich zuckte die Schultern. Vielleicht war das wirklich Kaibas Version von »Ich hoffe, die Klausur ist bei dir gut gelaufen«, aber dafür war er eigentlich ein zu großer Egoist. Am selben Tag war ich einige Stunden später im Begriff mich von Mokuba zu verabschieden. Es war das letzte Mal, dass Kaiba und ich uns wegen des Kunstprojektes bei ihm zu Hause hatten zusammensetzen müssen. Jetzt lag unser Werk da und zeugte davon, dass wir konnten, wenn wir wollten, aber meistens eben nicht wollten und deswegen nicht anders konnten. »Wann kommst du mal wieder rüber, Joey?« Mokuba besaß die Fähigkeit, dass es sich anhörte, als läge zwischen unseren Leben keine Welten, als wäre es unkompliziert und als wäre ich jederzeit willkommen. »Ich – ähm – also – weißt du –« Mein Stottern ließ mein Grinsen auch nicht wirklich intelligenter wirken. »Seto, er kann doch einfach mal wieder zum Abendessen kommen, nicht?«, wandte sich Mokuba an seinen Bruder, der sich gerade den Mantel anzog, um mich nach Hause zu fahren. Ich zwang mich ungelenk in meine Jacke, als könnte ich mich so von seiner Erwiderung ablenken. Es war mir natürlich egal, dass er es verneinen würde. Seinen Blick spürte ich trotzdem, als verbrannte er meine Fingerkuppen, als würden sie deswegen so ungeschickt den Reißverschluss schließen. »Wir werden sehen.« Meine Pupille weitete sich, mein Blick schoss zu ihm. Aber er ignorierte mich, öffnete die Tür und bedeutete mir, ihm zu folgen und ihm nicht seine wertvolle Zeit zu stehlen, immerhin hatte er eine Firma zu leiten. Er tat so, als hätte er eben nicht die Möglichkeit zugegeben, dass ich einfach mal wieder zum Abendessen kommen könnte. Kaiba war jemand, der es nicht verschleierte, dass ihm andere am Arsch vorbeigingen – es sei denn, sie konnten ihm etwas beschaffen oder er durch sie etwas erreichen. Er war ein Egoist durch und durch. Sein Ego so groß, dass es mitunter aus ihm herauzuplatzen drohte. Die Ausnahme war allein sein kleiner Bruder. Wenn Mokuba etwas wichtig war, dann war es das auch für Kaiba. Die große Frage war nur, warum es Mokuba wichtig war, dass ich sie ab und zu besuchte. Und die noch größere, warum ich nicht behaupten konnte, dass es mir egal war. Kapitel 13: ... ist ein Streber ------------------------------- __________________________________________ Faule tun zu selten was – Streber zu oft. © Billy __________________________________________ Seto Kaiba war ein Genie. Nicht so eines, das man bewunderte, sondern eines, bei dem man befürchtete, dass es eines Tages die Weltherrschaft an sich riss. Ich war mir sicher, dass Kaiba das irgendwann tun würde – und eines Tages würden wir in Mokuba-City aufwachen. Genau der umarmte gerade Kaibas Beine, als dieser vor ihrer Limousine stand – den Aktenkoffer in der Hand, in der anderen eine Tüte. Ich sah es nur von weitem und sah es gar nicht ein, einen Schritt schneller zu laufen, um ihm zu helfen. Ein Kaiba ließ sich nichts helfen. Und ein Wheeler half keinem Kaiba. Niemals. Ich schlurfte in das Klassenzimmer, Yugi und Tris saßen bereits auf ihren Plätzen und ich begrüßte sie mit Handschlag. »Hey. Alles klar, Leute?« »Und bei dir?« Tristan betrachtete mich, als prüfte er den Gesundheitszustand eines Gauls. »Jo, gut. Mit heute hab ich es geschafft«, behauptete ich, als hätte ich einen Pokal gewonnen und grinste. »Was meinst du, Joey?« Yugis treudoofer Blick kitzelte in mir das Verlangen wach, ihm den Kopf zu streicheln, wie einem Welpen. Etwas, das ein Wheeler nicht tat. »Das Kunst-Projekt. Ich und Kaiba hab'n es geschafft – ha!« Ich hob meine Faust in den Himmel. Den Blick, den sich meine beiden Freunde zuwarfen bekam ich trotzdem mit. »Bin echt gespannt, auf eure Präsentation«, neckte Tristan und ich erbleichte mit jedem Wort. »Ihr macht das bestimmt super«, redete Yugi mir gut zu, weil er mein Erstarren sicherlich für Aufregung hielt. Ich nickte knapp und wandte mich dann mit zusammengepressten Lippen Richtung letzte Reihe. Kaiba tippte seelenruhig auf seiner Tastatur. Im nächsten Moment sah ich mich meine Jacke über den Stuhl rechts von Kaiba werfen, der wiederum tat so, als wäre es der Wind gewesen. »Wir müssen das Zeug präsentieren«, presste ich hervor, als wäre es seine Schuld. Ohne aufzusehen, spöttelte er, wo ich das Wort aufgeschnappt hätte, denn es passe nicht in das Vokabular eines Hundes, der sonst nur wusste, wie man Unsinn kläffte. »Hör zu, Kaiba, von der Sache hängt viel für mich ab, klar? Wenn –« »Ich habe die Präsentation fertig erstellt.« »Wann – was – wie?« »Mit Powerpoint.« War das sein Ernst? Die unwichtigste Frage beantwortete er natürlich. »Warum hast du – warum hast du mich nicht – verdammt, Kaiba!«, zischte ich. Meine Finger ballten sich. Er konnte mich augenblicklich auf die Palme bringen. Mit seiner Arroganz und seinem, diesem, sein, dieser – in meinem Kopf stolperten Beleidigungen übereinander, die nicht durch meine zusammengepressten Lippen passten. Dieser Streber schloss mich einfach von der Arbeit aus – dabei hatte ich mir alle Mühe gegeben, mit ihm zusammen zu arbeiten. Aber für ihn blieb ich einfach dieses kleine, unnütze – Hündchen. »Ich dachte, du hättest genug zu tun, nachdem dein Vater so – krank – im Bett lag.« Die Luft, die sich in meinem Brustkorb angestaut hatte, drückte auf meinen Magen – zumindest wurde mir mit einem Male übel. Im selben Moment spürte ich plötzlich Hände auf meinen Armen und ich bemerkte, dass ich Kaiba am Kragen gepackt hatte – über den Tisch und seinen Laptop hinweg. »Lass meinen Vater da raus, Kaiba«, spie ich ihm entgegen. »Joey, beruhige dich«, quiekte Yugi erschrocken. Tristans Hand an meiner Schulter, ließ mich meine an Kaibas Kragen lösen. »Komm, Kumpel.« Es war keine Bitte, die Tristan an mich stellte. Ich fixierte Kaibas Gesichtszüge, die steinern wirkten. Manchmal sollte man eben doch auf seine Vorurteile bauen. Nein, natürlich nicht. Aber Kaiba war ein Arsch – ein gefühlskalter, gleichgültiger, arroganter Arsch. Daran gab es nichts zu rütteln. Und ein verdammter Streber noch dazu. Ich spürte die Blicke der anderen, das Starren und hörte das Flüstern, als ich Yugi und Tristan folgte, um mich neben den beiden niederzulassen. Sie fragten mich nicht sofort aus. Vielleicht, weil ich einfach stur an die Tafel gestarrt hatte. Selbst Tristans Zettel ließ ich unbeantwortet zu ihm zurückwandern. Yugis Blick fühlte sich weniger missmutig als besorgt an als Tristans. Letztlich konnte ich aber nicht entkommen. In der Pause zog mich Tris hinter sich her bis in die Mensa, wo wir uns an einen Vierertisch setzten. Mit einem Blick in die Gesichter der zwei, drang in mein Bewusstsein, dass ich ihnen womöglich eine Antwort schuldete. Also erklärte ich ihnen, was mich so hatte rot sehen lassen. »Also – er hat eine Präsentation erstellt und deswegen gehst du ihm wortwörtlich an den Kragen?«, fragte Tristan ungläubig. »Er macht so'n Zeug nur, um mich zu – zu – blamieren. Rafft ihr das nicht?« Ich griff mir ins Haar und verkrallte meine Finger darin, ehe ich sie in meinen Schoß sinken ließ. »Vielleicht wollte er dir nur helfen?«, wagte Yugi zu bemerken, zuckte mit den Achseln und ich starrte auf meine Fäuste. Lächerlich. Kaiba half nicht. Und ein Wheeler ließ sich nicht helfen. Oder wie war das? Ich schnaubte, während ich mich zurücklehnte und mir eine Ponysträhne aus dem Gesicht blies. Kaibas Kommentar sollte nie und nimmer darauf hinauslaufen, dass er mir tatsächlich helfen wollte, weil mein Vater krank gewesen war – besoffen in seinem Bett gelegen hatte und die halbe Nacht daneben gekotzt. Seine Aussage sollte doch nur einen Schwachpunkt meinerseits treffen – diese Schande an Vater. Warum musste ausgerechnet Kaiba Zeuge davon werden? »Helfen?«, wiederholte ich spöttisch. »Seit wann macht Kaiba so was? Vor allem mir?« »Seitdem ihr ein Team in diesem Projekt seid?«, gab Yugi zu bedenken und obwohl seine Antwort eher nach einer Mutmaßung klang, sickerte etwas in mein Bewusstsein. Die Möglichkeit. »So ein Unsinn«, wischte ich diesen Einwand mit einer Handbewegung zur Seite. Ich schleppte mich hinter den beiden ins Klassenzimmer und obwohl ich es doch vermeiden wollte, fiel mein Blick auf die letzte Reihe, als würde er angezogen werden, wie zwei Magnete, die sich anzogen, nur um ihn wieder abzustoßen. Mein Blick schnellte vor meine Füße. Ich hatte ihn körperlich bedroht – nicht, dass ich so etwas noch nie getan hätte, aber – ich müsste es doch besser wissen. Spie ich ihm nicht so gerne ins Gesicht, dass er seine Kackvorurteile für sich behalten sollte? Was, wenn er Recht hatte? Hatte ich ihm hiermit nicht einmal mehr bewiesen, dass ich ein Köter war voller Unsicherheiten und Schwächen? Eine Blamage. Die nächste Doppelstunde war Kunst und alle hatten sich bereits in ihren Teams zusammengefunden, schwätzten und betrachteten ihre Werke. Ich schluckte und schlich mich auf den Platz in der letzten Reihe. Ehrlich gesagt hatte ich Spott erwartet, einen Kommentar über meine unerwartete Pünktlichkeit oder welcher geistigen Umnachtung ich erlegen war, um mich gerade neben ihm nieder zu lassen nach der Show von eben. Oder eine Drohung, mich zu verklagen. Stattdessen tippte er auf seiner Tastatur und ignorierte mich. Unruhig rutschte ich auf meinem Platz hin und her. Je länger er schwieg, desto dringender rüttelte das Bedürfnis in meiner Brust, etwas zu sagen. »Hör zu, Kaiba – es –« »Das ist irrelevant. Heb dir diesen Blick und diese – Worte für deine Kindergartengruppe auf«, unterbrach er mich unwirsch und ohne aufzusehen. Ich verstummte. Nicht wegen seiner Worte, sondern wegen des Tons. Es war irgendwie – ich wusste nicht, was. Er war nicht wütend. Oder? Der Lehrer trat ein, der Unterricht begann, meine Gedanken verweilten zwischen Kaibas Worten. War es irrelevant? Entschuldigte ich mich sonst nur bei meinen Freunden? Hatte ich mich je bei Kaiba entschuldigt? Wofür auch? »Kaiba, ich –« »Wheeler, wir sind Projektpartner. Es geht rein um die Arbeit und die Note. Also halt jetzt deine Klappe.« Was er nicht aussprechen musste war, was wir damit seiner Meinung nach nicht waren. Kaiba schloss einen USB-Stick an den Laptop der Schule, der mit dem Beamer verbunden war und hielt eine Präsentation, die davon zeugte, dass er gewohnt war, mit so etwas normalerweise Millionen zu verdienen. Ich stand neben ihm, als wäre ich sein unbezahlter Assistent. Der Streber und der Faulpelz. Das Genie und der Dummkopf. Wir lebten in unterschiedlichen Welten, gingen verschieden damit um, sprachen unterschiedlich und lachten über verschiedene Dinge, wir gestalteten unsere Leben unterschiedlich und obwohl wir in dieselbe Richtung schritten, bewegten wir uns auf verschiedenen Wegen. Seto Kaiba war ein Genie. So eines, in dessen Licht man nur einen kleinen Schatten warf, dort, wo man sich verbrannte und es kaum aushielt, weil einem so schmerzhaft bewusst wurde, wie klein das eigene Licht in seiner Gegenwart schien. Er war ein Streber, der einen immer weiter zog, bis man über die eigenen Füße stolperte und sich die eigene Zunge verbrannte. Eigentlich war nichts daran überraschend. Im Nachhinein war es doch jedem klar gewesen. Seto Kaiba und Joey Wheeler konnten zusammenarbeiten, wenn sie wollten, aber sie wollten nicht und deswegen konnten sie nicht. Und während er unsere Arbeit vorstellte, wurde mir klar, dass nicht das Bild das eigentlich Vergängliche darstellte. Nein. Das eigentlich Vergängliche an diesem ganzen Projekt war nicht wirklich der Inhalt des Bildes, sondern unser Waffenstillstand – unsere Zusammenarbeit. Und die vage Möglichkeit auf so etwas wie Freundschaft zwischen dem großen Streber und dem kleinen Idioten, die vergangen war, ehe sie wirklich begonnen hatte. Kapitel 14: … ist ignorant -------------------------- __________________________________________ Ein Ignorant, wer Fröhlichkeit verachtet;  ein Narr, wer meint, es gebe fröhliche Erklärungen. © Dr. phil. Michael Richter (*1952) __________________________________________ Seto Kaiba schien unerreichbar. Wenn ich seine Auftritte im Fernsehen sah – ein Sechzehnjähriger inmitten von alten Knackern – dann ahnte ich, dass er kein normaler Teenager war. Seine Sprache, seine Haltung – alles an ihm war anders als an mir. Wenn er in meinem Rücken saß – in der letzten Reihe der Klasse, dann wirkte er irgendwie normaler. Und trotzdem war er keiner von uns. Er interessierte sich nicht für uns Normale. (Er würde uns wohl eher als Idioten bezeichnen.) Für die, die keine Millionen machten mit einem Meeting, die, die keine Ahnung von Aktien und Wörtern wie liquid und eloquent hatten, die, die vor seinem Wissen abschnitten wie kleine Kinder, die sich in ein Forschungszentrum verirrt hatten. Er tat so, als hätten wir nichts gemein. Ihm waren wir egal. Er bemerkte uns nur, wenn wir ihn auf seinem rabiaten Aufstieg behinderten. Vielleicht konnte ich deswegen leicht so tun, als wäre es mir egal, was er von mir dachte. »Was willst du, Wheeler?« Ich öffnete den Mund, nur um ihn wieder zu schließen, fuhr mir durchs Haar und lehnte neben Kaibas Laptoptasche am Tisch mit meinem Hintern halb auf der Platte. Kaiba verstaute die Tasche im Aktenkoffer und schob sich am Tisch vorbei. »Kaiba, warte ich – wollte nur –« Er blieb im Laufen stehen, schaute sich nicht zu mir um, aber ich wusste, er wartete auf meinen nächsten Satz. »Joey! Wo bleibst du?« Tristans Stimme drängte uns aus der Starre, ließ den Moment vorbeischießen und mich vom Tisch abstoßen. Kaiba verließ den Klassenraum ohne einen Blick zurück. Das Essen in der Mensa war Spaghetti Bolognese. Es sah zumindest so ähnlich aus. Tristan schnüffelte misstrauisch an seinen Nudeln, während Yugi das Zeug mit Gottvertrauen aß. Meine Gedanken waren ganz woanders. »Ich mein – er tut so, als hätte ich Scheiße gebaut! Ich mein, seit wann –« Tristan seufzte. »Schon wieder das Thema? Frag lieber, wann du es nicht tust«, murmelte er und ich verengte meine Augenlider, woraufhin er abwehrend seine Hände hob. »Seit wann bist du auf der Seite von Kaiba, hä?« Er zuckte mit seinen Achseln und steckte sich nun doch eine Gabel voller Spaghetti in den Mund, während ich lustlos darin herum stocherte. »Du hast ihn am Kragen gepackt, Joey, das ist nicht gerade – nett. Ich mein, nicht, dass es ihm schaden würde, aber was für nen Grund hattest du'n?« »Aber er hat – er hat –« Die Präsentation fertig gestellt. Stillschweigen über die Sache mit meinem Vater bewahrt. Mich beinahe tagtäglich zu Hause bei sich empfangen. Mich zum Abendessen wie selbstverständlich dabei gehabt. Mich immer wieder nach Hause gefahren. Meine Beleidigung blieb mir im Halse stecken. Mit einem Schnauben wandte ich mein Gesicht von meinen beiden Freunden ab. »Er ist so ein arroganter Arsch«, raunte ich. »Und du ein beleidigter«, entgegnete Tristan. Ehe ich ihm den Kommentar entgegen schleudern konnte, der durch meine Gedanken blitzte, legte Yugi eine Hand auf meinen Arm. »Du hast mich mal gefragt, ob wir alle nicht so eine Art Rolle annehmen, weißt du noch? Dass wir uns gegenseitig beeinflussen und uns je nach dem wie andere uns sehen, vielleicht auch unterschiedlich verhalten.« Ich brummte, um ihm mitzuteilen, dass ich mich erinnerte. Wenn uns andere Menschen als hilfsbereit einschätzen, dann fragen sie nach unserer Hilfe und wenn wir zusagen, dann sehen sie die Annahme als bestätigt. Aber vielleicht werden wir erst durch die Gelegenheit, hilfsbereit zu sein, hilfsbereit. So oder so ähnlich hatte Yugi die Sache gesehen. Aber was hatte das alles mit dem Ganzen jetzt zu tun? »Wenn ich für dich ein Referat gemacht hätte, wärst du dann dankbar gewesen für meine Hilfe?«, hakte er nach. »Ja, klar.« »Und wer sagt, dass ich dir hatte helfen wollen?« Er sah mich mit seinen großen Augen vielsagend an, aber was er mir damit sagen wollte, ging in meinem Kopf unter. »Na, weil du – weil du – warum sollte es keine Hilfe sein?« »Weil ein Seto Kaiba ein arroganter Arsch ist, der unmöglich jemandem helfen würde?«, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen und ich zuckte bei seiner Wortwahl zusammen. Das war meine Ausdrucksweise – nicht Yugis. Aus seinem Mund hörte sich das so unpassend an. »Vielleicht beeinflusst nicht nur das Verhalten von jemandem dessen Verhalten – vielleicht sieht dasselbe Verhalten auch ganz unterschiedlich aus, je nach dem wie wir die Person, die sich so verhält, einschätzen.« Ich lehnte mich nach vorne, verschränkte meine Arme vor mir auf dem Tisch und schob damit gleichzeitig den kaum angerührten Teller vor mir weg, schaute Yugi von unten her in die Augen. (Wie ungewohnt, wo er doch eineinhalb Köpfe kleiner war als ich.) Und erwiderte, was mir aufgrund seiner Aussage durch den Kopf ging. »Hä?« Tristan fuhr sich mit der Hand über die Augen, als hätte ich den größten Unsinn von mir gegeben. Doch Yugi lächelte mich unbeirrt an. »Wäre es nicht Kaiba gewesen, der die Präsentation gemacht hat, sondern ich – was hättest du gedacht?«, meinte er bloß und ich überdachte seine Worte mit einem Schlucken, das den Klos in meinem Hals nicht verjagen wollte. Ich belagerte ihn. Anders konnte man es nicht ausdrücken. In der Pause setzte ich mich ihm gegenüber, mit der Stuhllehne an meinem Bauch und sprach mit Kaiba – eigentlich sprach ich eher mit der Rückseite seines Laptopbildschirms, aber von solchen Details ließ ich mich natürlich nicht beirren. Vor dem Unterricht – ich kam extra pünktlich deswegen vor dem ersten Gong – lehnte ich an dem Tisch, neben den er sich gewöhnlich hinsetzte. »Kaffee«, teilte ich ihm mit, um ihn dazu zu zwingen, mir Aufmerksamkeit zu zollen und hob die Pappbecher an – einen für ihn, einen für mich – als würde das alles erklären. Er schaute kaum auf. Ehrlich gesagt hatte ich etwas Spott erwartet, einen Kommentar über meine Frisur am Morgen oder meine unerwartete Pünktlichkeit oder welcher geistigen Umnachtung ich erlegen wäre, um gerade ihn anzusprechen. Stattdessen packte er seinen Laptop aus und ignorierte mich. In den Stunden schrieb ich Zettel, die ich ihm auf seine Tastatur warf. Nach dem Unterricht ging ich mit ihm bis zu seiner Limousine, wo sein Bodyguard-Butler/sklavenähnlicher Diener mir die Tür vor der Nase zuschlug. Seine Ignoranz entmutigte mich nicht. Im Gegenteil. Sie ließ mich zur Höchstform auflaufen. »Was ist das?«, fragte ich, als Tristan einen Zettel durchging, während wir in der Mensa saßen, Yugi eine Cola schlürfte und ich mir eine pizzaähnliche Schwabbelei in den Mund drückte. »Das sind die Prognosen.« »Pro- was?« »Vorschläge, was als nächstes kommt.« Um Tristans Geschnörkel entziffern zu können, reckte ich meinen Hals. »Wofür?« Er grinste mich an, was mich endgültig misstrauisch das Gesicht verziehen ließ. Also schnappte ich ihm das Papier vor der Nase weg und las es. Meine Augen wurden größer mit jeder Zeile, die ich da dechiffrierte. »Blumen? Kaffee? Ein Liebesbrief? Eine Anklage? Eine Giftattacke? Mysteriöses Verschwinden? Was soll das sein?« Die Überschrift lautete: Wheeler vs. Kaiba. »Ganz einfach. Das hier sind Mutmaßungen, was du als nächstes tun wirst«, Tristan deutete auf die Spalte mit Blumen, Kaffee, Liebesbrief, »und das hier sind Kaibas Reaktionen, die die, die wetten, vermuten.« Offensichtlich die andere Spalte. »Moment. Ihr wettet? Auf mich und Kaiba? Und es wetten welche, dass ich –« Röte schoss mir auf die Wangen. Röte vor Zorn. »Beruhig dich, Joey, die machen sich nur einen Spaß draus.« Yugi lächelte mir zu, was mich wohl ermutigen sollte. »In ein paar Tagen ist das vergessen. Mach dir keinen Kopf.« Er hatte recht. So war das eben in der Schule. Gerüchte und dummes Zeug. An so etwas erinnerte man sich nach ein paar Tagen eh nicht mehr. Ich lehnte mich zurück und setzte meine Apfelsaftschorle an meine Lippen. Es war unwichtig, was andere behaupteten. Solange meine Freunde hinter mir standen. Das war doch eine der Lektionen, die ich mit denen gelernt hatte. Solange – »Auf was hattest du nochmal gesetzt, Yugi?«, ließ mich Tristans Stimme aufsehen. »Ähm – wieder Kaffee.« Mein Blick schoss zurück zu ihm. »Yugi?« Ich dehnte seinen Namen auf mindestens fünf Silben, meine Stimme dunkel vor Warnung. Yugi lächelte mich verlegen an. »Das ist doch nur ein – Spiel«, rechtfertigte er sich. Spielen hatte er noch nie widerstehen können. Zu Hause ließ ich mich auf meinen Schreibtischstuhl fallen, stützte den Kopf auf meine Hände und seufzte. Ich war ihnen nicht böse. Irgendwie hatten sie sogar recht. Es war spannend. Was würde Kaiba tun? Und was sollte ich machen? Würde er überhaupt irgendwann eine Reaktion zeigen? Bisher hatte er mich erfolgreich ignoriert. Und mir gingen die Ideen aus. Seto Kaiba war ein ignoranter Bastard. Mein Blick wanderte über meinen Schreibtisch, wo kreatives Chaos herrschte, über mein Mathebuch, wodurch wenig kreatives Chaos in meinem Kopf herrschte. Kaiba hätte mir mit einem Blick sagen können, wo der Fehler in meiner Rechnung lag. Seufzend lehnte ich mich zurück, verschränkte die Arme hinter meinem Kopf. Ich starrte die Rolle an, von der ich genau wusste, was sie zeigte, würde ich sie aufrollen. Denn wie oft hatte ich das getan? Kaibas Lächeln und Mokubas treue Augen. Dieser Augenblick, in dem Kaiba wirkte, wie ein – selbst der Gedanke irritierte mich – großer Bruder. Dann, wenn er seine Rolle, die er für die Welt einstudiert hatte, vergaß. Er hatte das Bild eigentlich haben wollen. Ob er es immer noch wollte? Und dann dieses Bild an der Wand. Es zeigte meine Familie. Glücklich. Ob ich auch so dreinschauen würde wie er, wenn ich meine Schwester ansehen würde? Aber alles, was ich gerade sah, war er, wie er es zeichnete. Obwohl ich nie dabei zugeschaut hatte, erahnte ich seine Bewegungen. Bestimmt hatte er dabei seine Augen leicht verengt, das machte er immer, wenn er sich konzentrierte – oder kurz bevor er mich beleidigte. Bestimmt hatte er immer mal wieder seine Lippen aufeinander gepresst, das tat er auch, wenn er besonders schnell auf seiner Tastatur tippte. Sicherlich auch so eine Angewohnheit, wenn er sich auf etwas fokussierte. Er hatte ebenfalls seine Lippen aufeinander gepresst, als ich ihn am Kragen gepackt hatte. Er hatte mich so angesehen und obwohl sich nichts in seiner Mimik bewegt hatte, war sein Blick alles andere als starr gewesen. Ich legte mein Gesicht auf meine Arme. Dafür, dass es ihm nur um die Note gegangen war, hatte er erstaunlich viel für mich gemacht. Die Präsentation fertig gestellt – auch meinen Teil. Stillschweigen über die Sache mit meinem Vater bewahrt. Mich beinahe tagtäglich zu Hause bei sich empfangen. Mich zum Abendessen dabei gehabt, als wäre es keine Sache. Mich immer wieder nach Hause gefahren. Wäre es nicht Kaiba, hätte ich von ihm wie von einem Freund gedacht. Aber er war so – und ich war so – In diesem Moment wusste ich, dass ich nicht besser war als er – im Gegenteil. Und das machte mich verdammt wütend. Es machte mich wütend, dass es mir nicht egal war, was er von mir denken musste. Und noch zorniger machte mich die Erkenntnis, wie ignorant ich selbst eigentlich war. Kapitel 15: ... ist schwer von Begriff -------------------------------------- __________________________________________ Aus einer Beurteilung: "Intelligent, aber schwer von Begriff". © Michail Genin (1927 - 2003) __________________________________________ Seto Kaiba war schwer von Begriff. Er war ein Überflieger, wenn es um Zahlen, Fakten und so ging. Dinge, die er analysieren konnte und die weniger auf infantilem Sprücheklopfen beruhten. Es war nicht so, dass er mit Menschen nicht konnte. Immerhin war er durchaus in der Lage, Menschen zu führen und damit ging eine gewisse soziale Kompetenz doch einher. Es war eher so, dass es ihn nicht interessierte und er Menschen als Arbeitskräfte, die Aufträge erledigten, schätzte. Und das am besten ohne Widerworte. Er nahm es als selbstverständlich, wenn Leute für ihn herum rannten. Ich rannte nicht für irgendwelche Leute herum. Ich leckte auch niemandem den Arsch – nicht einmal und gerade erst recht nicht den von Seto Kaiba. Auch, wenn es vielleicht ein bisschen meine Schuldgefühle verlangten. Wenn er mich so ignorieren konnte, dann schaffte ich es auch, diese Gewissensbisse zu ignorieren. Bestimmt. Vielleicht. Auf der anderen Seite sah es einem Joey Wheeler nicht ähnlich aufzugeben. »Kaffee und – tadaa – dieses Mal auch Schokolade«, teilte ich ihm wie jeden Morgen seit drei Wochen mit, um ihn dazu zu zwingen, mir Aufmerksamkeit zu zollen und hob den Pappbecher an, als würde das alles erklären– vor zwei Wochen hatte ich noch einen für ihn, einen für mich geholt, inzwischen sparte ich mir den zweiten Becher. Meine Idee mit der Schokolade war neu, aber ich hätte den Kaffee beinahe über seinen Laptop vor Schreck verschüttet, als er tatsächlich nach dem Becher griff, natürlich ohne mich anzusehen, sowie nach der Schokolade. Also eigentlich zog er mir zuerst die Schokolade aus der Hand und danach den Pappbecher. »Was tust du da?«, fragte ich ihn, als er an dem Kaffee nippte, als wäre es sonderbar, das Getränk zu trinken – und nicht einfach zu ignorieren. Genau genommen war es das in Kaibas Falle auch. »Kaffee macht dich unerträglich – noch unerträglicher als du bereits ohne bist«, erwiderte er knapp und ich kratzte mich an der Stirn. Mein Blick wanderte zu Yugi und Tristan, die mich beobachteten, wie jeden Morgen, als fürchteten sie, ich könnte Kaiba etwas antun – oder er mir? »Und jetzt würde ich dir vorschlagen, wieder an deinen Platz zu gehen«, ätzte Kaiba mit seiner Herablassung, die meine Sturheit nur anstachelte. »Nö, ich war noch nicht –« »Herr Wheeler, dürfte ich Sie darum bitten, mir Ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden oder bevorzugen Sie weiterhin Herr Kaiba anzustarren?« Oh, vielleicht deswegen Kaibas Vorschlag? Ein Kichern waberte durch die Reihen und ich verdrehte die Augen, ehe ich mich umdrehte und knapp vor unserem Lehrer verbeugte. Ich schwang mich gerade Richtung meines Platzes zwischen Yugi und Tristan, als mich unser Lehrer mit seiner Stimme aufhielt. »Bleiben Sie doch in der letzten Reihe. Vielleicht fördert die Umgebung ja ihre geistige Produktivität.« »Ich bin kein Idiot«, murrte ich schlecht gelaunt, aber nur so laut, dass es der Lehrer nicht vernahm. Ich wusste, wann mich jemand beleidigte – auch, wenn man Fremdworte dafür benutzte. Kaibas Beleidigungen waren genauso. Und genau der antwortete mir, was mich überraschte. »Nein, lediglich ein Köter mit schlechtem Timing.« Mit einem Schnauben rutschte ich über den Tisch und ließ mich neben Kaiba nieder – nicht ohne, einen Platz zwischen uns frei zu lassen. Nicht zum ersten Mal in meinem Leben langweilte mich der Unterricht. Geographie. Also bitte, für was gab es denn Maps? Und Suchmaschinen? »Kaiba«, raunte ich, »was machst du?« Stille. »Kaiba, arbeitest du?« Stille. »Ist dir auch langweilig?« Stille. »Mir ist langweilig.« Stille. »Kaiba –« »Verdammt, was ist?«, knurrte er. »Hast du Spiele auf deinem Laptop?« Seine Finger auf der Tastatur verharrten und er massierte sich mit Mittelfinger und Daumen seine Nasenwurzel, als müsste er sich konzentrieren, um mich nicht zu erwürgen. »Folge gefälligst dem Unterricht, Köter.« »Machst du doch auch nicht«, murrte ich und legte mein Kinn auf die verkreuzten Arme auf der Tischplatte, denn mein Kopf fühlte sich so an, als drückte ihn all die Langeweile runter. »Hündchen.« In dieser Verniedlichung schwappte mehr Spott mit als in dem Köter von vorher. »Bei dem Thema muss ich nicht dem Unterricht folgen.« Mein Blick glitt wieder hinüber zur Tafel, wo fett drauf stand Wirtschaftsprozesse und Wirtschaftsstrukturen in Domino-City. »Mhm«, brummte ich unbeeindruckt, »also – was für Spiele zockst du auf dem Laptop?« »Herr Wheeler, was gibt es in der letzten Reihe zu besprechen?«, zog unser Lehrer die Aufmerksamkeit der Klasse hinter zu mir und ich fuhr mir durchs Haar, als könnte ich dort in dem Chaos meiner Strähnen, eine Antwort finden, die mich keine Ermahnung – oder schlimmer noch Nachsitzen – kostete. »Also – ich –«, stammelte ich und hoffte, Worte, die die ganze Situation zu meinem Gunsten auslegen würden, würden einfach vom Himmel auf meine Zunge fallen. »Wheeler meinte gerade, dass Sie sein Interesse an den wirtschaftlichen Strukturen Dominos geweckt haben und fragte mich, inwiefern mein Unternehmen eine führende Rolle darin spielt.« Ich starrte Kaiba nicht an, ich gaffte. War das so etwas wie – ein verbaler Einsatz zu meiner Rettung gewesen? War daran der Kaffee schuld? Was mischten die Automaten in das Zeug? Und konnte man das auch so erwerben? »Stimmen Sie dem zu, Herr Wheeler?« Das konnte einfach nicht sein. Kaiba war dafür ein zu großer Arsch – oder war ich nur schwer von Begriff? Was konnte es ihm bringen, die Situation so für mich herumzureißen? »Ja, genau«, stimmte ich gedehnt zu und ließ ihn nicht aus den Augen. In welche Art von Verderben stürzte ich mich gerade? Ich versuchte es. Wirklich. Ich hörte zu. Zumindest eine Weile. Mein Gehirn lockte mich aber automatisch ab einem gewissen Punkt der Langeweile auf völlig andere Gedankenbahnen. Während ich gähnte, ließ ich meinen Blick nach draußen schweifen. Der Frühling zog ein. Knospen färbten die Äste grünlich und die Sonnenstrahlen begannen einen zu wärmen – zumindest dann, wenn man seine Zeit nicht im Unterricht verschwenden musste. »– wirtschaftlichen Faktoren in Domino-City. Herr Wheeler?« Ich hatte mich nicht gemeldet. Auch, wenn unser Lehrer einen anderen Eindruck vermittelte. Tief einatmend wanderte mein Blick von ihm über einige Reihen meiner Mitschüler, ein paar meldeten sich tatsächlich. Warum also ich? Mein Blick blieb an Kaiba hängen, der natürlich unbeirrt weiter tippte. »Herr Wheeler?« »Ja, also –« Was waren wirtschaftliche Faktoren in Domino-City? Oder was war die Frage? Allgemein das war nicht schwierig zu erraten – die Faktoren standen an der Tafel. Harte Standortfaktoren und weiche. So weit, so gut. Also praktische Beispiele oder was? Kaibas Finger flogen neben mir über die Tastatur, bestimmt machte er da unheimlich wichtiges Zeug. Er hatte doch keine Zeit für so einen Schwachsinn wie Unterricht. Immerhin hatte er ja eine – die folgenden Worte purzelten schneller über meine Lippen, als ich überlegte. »Also die Kaiba Corporation ist doch dafür ein gutes Beispiel.« Neben mir vernahm ich – nichts mehr. Also kein Tippen. Es verwirrte mich. Kaiba hielt mit seiner Schreiberei inne. Wegen meiner Antwort? Weil ich seine Firma einbezog? Weil er darauf wartete, dass ich mich lächerlich machte? Weil er mich erwürgen würde, sollte ich seine Firma in einer falschen Antwort erwähnen? Eigentlich wusste ich nicht einmal, ob sie überhaupt ein passendes Beispiel war auf die Frage, die ich nicht einmal wusste. »Ja, denn – also – sie – also die Kaiba Corporation – die ist an harte Standortfaktoren gebunden wie Verkehrsanbindung, Transportkosten, Transportarten und Kommunikationsnetz. Auf der anderen Seite auch an die – weichen Faktoren – wie«, ich überflog ein paar Stichwörter und nahm das, was mir am einleuchtendsten erschien, »die Unternehmensbezogene Faktoren, also das Wirtschaftsklima am Standort und das Image des Standortes und der Region sowie die Konkurrenz«, ich las ein paar Sachen ab, die sich in meinen Ohren nicht ganz so unnachvollziehbar anhörten. Oder was war der Grad der monetären Quantifizierbarkeit? Keine Ahnung. Aber das musste ich ja niemandem auf die Nase binden. »Und klar, die Kaiba Corporation beeinflusst auch diese ganzen –« Ich suchte nach einem cleveren Wort und – »– Sachen.« Scheiterte daran. Aber insgesamt war ich mit meiner Antwort zufrieden. Die Frage war nur, ob sie auch auf die Frage des Lehrers passte. Der nickte langsam. Wahrscheinlich war er so überrascht davon wie ich selbst. »Scheinbar fördert die letzte Reihe tatsächlich Ihre geistige Produktivität.« Dann wandte er sich einer tatsächlichen Meldung zu. Ich lehnte mich zufrieden zurück – ehe sich meine Stirn in Falten legte. Meine hervorragende Improvisation wurde doch nicht etwa jetzt auch noch Kaiba zugunsten ausgelegt? Kaiba neben mir tippte wie immer unbeirrt. Die Pommes in meinen Fingern waren alles andere als knusprig, aber mit viel Ketchup waren sie eigentlich ganz okay. »Er hat nur gemeint, dass Kaffee mich unerträglicher als sonst macht«, antwortete ich auf Tristans Frage und zuckte die Schultern. »Da hat er Recht«, Yugi stieß Tristan in die Seite, »ich meine, Kaffee dopt dich. Du bist da wie auf – naja – Dope halt. Total aufgekratzt und – anstrengend, Kumpel.« »Aber er hat dir echt nicht bei der Antwort mit den Standortfaktoren geholfen?«, wiederholte er sich und ich schüttete genervt meinen Kopf. »Nö, das war absolut meine geistige – Produktivität.« »Ja, dank der letzten Reihe«, behauptete Tristan grinsend und erntete damit eine vertrocknete Pommes ohne Ketchup gegen die Stirn. Vielleicht war ich naiv oder schwer von Begriff, aber er ignorierte mich nach dem Vorfall immer noch – oder wieder. Die ganze nächste Woche. Er ignorierte mich nicht nur, er mied mich, er ging mir aus dem Weg. Hätte ich nicht gewusst, dass ein Kaiba nicht flüchtete, ich hätte es Flucht genannt. »Flucht? Wirklich?« Tristan wirkte nachdenklich. »Wenn ich es doch sage. Ist es euch nicht aufgefallen? Seit letzter Woche macht er einen Bogen um mich. Und ich hab keinen Plan, warum.« Yugi musterte mich forschend. »Wirklich!«, bekräftigte ich. »Kumpel, warum lässt du die Sache nicht einfach sein? Du hast es bewiesen, okay? Du hast mit ihm zusammen gearbeitet und eine Eins kassiert. Seitdem du bei ihm in der Reihe sitzt, sind sogar deine Mitarbeitsnoten echt positiv, Mann. Was willst du eigentlich noch?« Missmutig verschränkte ich meine Arme vor meiner Brust und schnaubte. Waren sie echt alle so schwer von Begriff? War ich es? Hatte Tristan Recht? Was wollte ich eigentlich noch? Ich wusste es nicht. Ich hatte keine Ahnung, warum ich auf die Klingel drückte und vor diesem Tor wartete wie ein Idiot mit den Fingern, die sich um diese Rolle klammerten, als wäre sie alles, die mich nicht die Flucht ergreifen ließ. Ich war keiner. Weder so einer, der für irgendwelche Leute herum rannte, noch leckte ich jemandem den Arsch – nicht einmal und gerade erst recht nicht den von Seto Kaiba. Meine Augen starrten unwillkürlich die Rolle an, von der ich genau wusste, was sie zeigen würde, wenn ich sie aufrollte. »Hör zu, Kaiba!« Ich streckte meine Faust in die Richtung der Überwachungskamera. Früher oder später würde er das schon sehen. Oder? »Es ist mir total egal, was du denkst, kapiert?«, rief ich dem Objekt entgegen und stellte mir Kaibas Mimik vor. »Aber ich – weißt du, du bist echt so ein verdammter arroganter Geldsack! Und du gehst mir so auf die – deine ganze Art und – du bist so ein Arsch! Aber – du wolltest doch das hier. Oder nicht? Hier hast du es.« Ich streckte das aufgerollte Papier in die Kamera. Kaibas Lächeln und Mokubas treue Augen. Dieser Augenblick, in dem Kaiba wirkte, wie ein großer Bruder. Dann, wenn er seine Rolle, die er für die Welt einstudiert hatte, vergaß. Nur für diesen Moment. »Ich hoffe, du hast nicht markiert, wie das unerzogene Köter machen«, ließ mich seine Stimme zusammenfahren. Er lehnte in der Dämmerung am Tor und hatte mich anscheinend eine Weile beobachtet, während ich der Einfahrt halb den Rücken zugedreht hatte. »Nicht marki- was? Ich bin nicht unerzogen!« Sein Mundwinkel zuckte – oder bildete ich mir das nur ein? – während sich das Tor wie von selbst öffnete. »Und auch kein Köter!«, fuhr ich aufgebracht fort. »Komm endlich rein, Hündchen«, warf er mir dazwischen, als ich keine Anstalten machte, mich zu bewegen. »Du – ich soll reinkommen?« »Unauffälliger als ein verlauster Köter, der sich vor meinem Eingang herumtreibt«, erklärte er mir nonchalant. »Warum?«, fragte er und sein Blick hing auf der Rolle Papier, als ich den Flur betrat und verwirrte mich damit. Vielleicht Teil seiner Taktik, was auch immer er bezwecken wollte. »Ähm – das ist – also – du hast das gesagt gehabt – deswegen«, bezog ich mich auf das Bild, doch er ignorierte meine Erläuterung. »Warum hast du die ganzen letzten Wochen genervt, Wheeler? Mehr als sonst, meine ich. Dein Benehmen war selbst für deine Verhältnisse außerordentlich infantil. Und das hast du auch noch mit deinem Auftritt draußen getoppt.« Vielleicht war es dieser Moment gewesen, als mir bewusst geworden war, dass Kaiba schwer von Begriff war. Oder einer von vielen kleineren, wodurch ich es allmählich verstand. Mir wurde aber ganz sicher in diesem Moment klar, dass auch ich schwer von Begriff gewesen war, denn in diesem Augenblick wusste ich, was ich hier eigentlich noch wollte. »Weil es mir nicht nur um die Note ging«, erwiderte ich also verärgert und funkelte ihm mit geballter Faust entgegen. »Hier«, ich drückte ihm das Bild in die Hand, »das wolltest du doch haben.« »Nein«, korrigierte er mich, »das wollte Mokuba gerne haben.« Ich verdrehte die Augen und wandte mich zum Gehen. »Und das war es?«, hakte er aalglatt nach. »Was willst du denn noch?«, fragte ich und sprach es wie eine Provokation aus. Irgendwie kam mir die Frage bekannt vor. »Du hast dich immerhin nicht entschuldigt, Hündchen.« »Ich habe mich nicht – geht’s dir noch ganz gut? Was war das mit dem Kaffee? Und wie ich dein bescheuertes Verhalten einfach ausgehalten habe! Und die Schokolade! Und ich bin extra hierher gekommen! Blöder Idiot!« Er ließ diese Einwände mit einer Handgeste an sich abprallen. »Achtundneunzig Prozent aller Einwohner von Domino-City würden Geld dafür bezahlen, mit mir einmal hier mein Haus betreten zu dürfen«, behauptete er mit Herablassung. »Gut, dass es mir nicht um Geld geht«, entgegnete ich unbeeindruckt. Er schwieg. »Die ganze Sache mit dir, könnte mir eh niemand mit Geld bezahlen«, schnaubte ich und legte meine Hand auf die Türklinke, um wieder zu gehen. Irgendwie hatte es in meinem Kopf noch völlig anders geklungen. Fieser und nicht so – doppeldeutig. Also beeilte ich mich mit der folgenden Bemerkung. »Weil du so ein arroganter Arsch bist, Geldsack.« Kaiba schwieg weiter. »Joey? Wie cool! Ich hab mich schon gewundert, warum mich Seto plötzlich allein beim Essen sitzen lässt.« Wir wandten uns beide um. Mokuba stand mit im Flur und strahlte mich an. Es passte so gar nicht zu unserer Stimmung, aber das bemerkte Mokuba nicht oder er bemerkte es, ließ sich aber davon nicht irritieren – im Gegenteil. »Hat dich Roland deswegen angerufen?«, mutmaßte er an seinen großen Bruder gewandt, ehe er mich sofort wieder in die Pflicht nahm – beziehungsweise an die Hand. »Komm, Joey, iss mit uns! Wir haben noch Tonnen Lasagne! Die magst du doch so!« Er packte an der anderen Hand seinen Bruder und zog uns beide einfach mit sich, während er ununterbrochen redete, so dass ich Mühe hatte, meine Einwände hervor zu bringen. »Ich kann nicht, ich muss nach Hause. Der letzte Bus fährt schon um –« »Seto fährt dich einfach, nicht?«, entgegnete Mokuba sofort und lächelte mich an, dann seinen Bruder, als wüsste er, dass wir gegen diesen Gesichtsausdruck keine Chance hatten. »Oh, das ist das Bild, das du so gerne haben wolltest, nicht?«, bemerkte Mokuba an seinen Bruder gewandt. Kaiba korrigierte ihn nicht. Stattdessen warf er mir einen Blick zu, den ich stumm erwiderte. Und wir begriffen in diesem Moment beide, dass Mokuba Recht hatte. Vielleicht war er der einzige damals, der nicht schwer von Begriff war. Kapitel 16: … ist sorglos ------------------------- __________________________________________ Sorgenlos sein ist ein Glück, sorglos sein ein Unglück. Verfasser unbekannt __________________________________________ Seto Kaiba führte seine eigene Firma. Er war unglaublich reich, intelligent und gutaussehend. Er hatte keine Sorgen. Mit sechzehn Jahren hatte er geschafft, wovon andere ihr Leben lang träumten. Er hatte seine Karriere bereits als Jugendlicher mit Erfolg durchgezogen und hätte sich mit siebzehn in den Ruhestand setzen können – irgendwo in der Südsee einem Luxusleben frönen, mit Strand, Cocktails und ohne seinen bescheuerten Laptop. Aber vor allem weit weg von mir. Wir saßen im Auto, nachdem Mokuba mich umarmt und mir das Versprechen abgerungen hatte, dass ich bald mal wieder vorbeischauen würde. Ich wusste nicht, wie ich das Versprechen einhalten sollte, denn Kaiba und ich – das war halt so eine Sache. Am Autofenster zogen Bäume vorbei, die umzäunt waren, blitzblanke Hausfassaden, die sich in gepflegte Hauswände wandelten, statt Vorgärten zogen bald Garagen vorbei, statt Garagen bald Parkplätze. Meine Wohngegend war wirklich nicht die letzte. Klar, sie galt als sozialer Brennpunkt und ein paar Gestalten sollte man lieber nicht alleine nachts begegnen, aber eigentlich war es gar nicht so schlimm. Ein paar Kids hingen noch draußen herum, obwohl es schon dunkel war, und wahrscheinlich wirkten sie auch nur deswegen so zwielichtig. In Wirklichkeit waren es nur gelangweilte Jugendliche, die ein Bier tranken und coole Sprüche klopften. Irgendwie erkannte ich mich in ihnen wieder. Kaiba hielt und ich schnallte mich ab, warf den drei Teenagern einen Blick zu, sie mussten jetzt so vierzehn Jahre sein. Obwohl ich nur knapp zwei Jahre älter war, kam es mir so vor, als hätte ich schon viel mehr erlebt als sie – als wäre ich in der Lage ihnen Ratschläge zu erteilen und zu sagen: »Wenn ihr erst einmal so alt seid wie ich –« Dabei war ich selber noch ein halbes Kind. Kaiba dagegen – Mein Blick schnellte zurück zu ihm, als er mich fragte, ob ich vergessen hatte, wie man eine Autotür öffnete. Zur Antwort schnaubte ich und verzog meinen Mund. »Oder hast du Angst vor denen?«, sein Kopf ruckte in die Richtung der Jugendlichen, die auf der Bank herumlungerten. Ich verdrehte die Augen. »Ich kenn die. Das sind nur Kids aus der Nachbarschaft.« »Gerade deswegen«, entgegnete er und warf mir einen vielsagenden Blick zu, den ich irritiert erwiderte. Er zog mich nur auf, also schenkte ich mir eine Antwort und kam gleich zum Punkt, weswegen ich gezögert hatte. »Ich – wollte mich«, das Wort klebte an meinem Gaumen, »bedanken.« »Und deswegen hältst du mich davon ab, Sinnvolleres zu tun, als meine Zeit hier im Auto zu vergeuden?« Obwohl seine Worte scharf klangen, war es sein Ton nicht, so, als sagte er das rein aus Gewohnheit. »Ich mein – nicht nur für heute. Auch – also für alles und so. Auch den Vortrag und dass du nichts wegen meinem – also wie auch immer. Danke«, plapperte ich und verhaspelte mich, weil ich eigentlich so vieles hatte aussprechen wollen, was mir dann doch nicht über die Lippen kam, weil wenn ich es sagte, dann war es – Wirklichkeit. Kaiba bedachte mich mit einem Blick, den ich nicht einzuschätzen wusste. Als er nickte, nickte ich einfach zurück und dann stieß ich die Tür auf und stieg aus dem Auto. Er brauste davon und ich stand da, schaute dem Auto nach, als hätte ich etwas vergessen, dann riss ich mich davon los, schlappte bei den Jugendlichen vorbei und verscheuchte sie mit den Worten: »Macht, dass ihr nach Hause kommt, Leute! Peter, Yukiko, Jerry! Morgen ist Schule!« Sie warfen sich Blicke mit hochgezogenen Augenbrauen zu. »Meine Eltern juckt's eh net!«, behauptete Peter und zog die Rotze hoch, aber als ich mein Handy zückte mit den Worten, dass ich das seine Eltern gerne persönlich fragen würde, hob er abwehrend die Hände. »Is ja gut, Kumpel.« »Wer war'n das eigentlich?«, fragte Yukiko und spielte mit einer bunt gefärbten Haarsträhne. »Dein Freund?« Ihre beiden Kumpels lachten auf. »Niemand, für den ihr euch interessieren braucht und jetzt zieht ab.« Sie verdrehte die Augen, zog aber Jerry an der Hand mit sich. »Joey, du wirst echt wie so n Knacker, voll die Spaßbremse«, maulte er und ich zuckte die Schultern, wandte mich um und trottete Richtung Haustür. Ein Stirnrunzeln lief über meine Stirn. Vielleicht wurde ich allmählich wirklich alt? Sechzehn und von Vierzehnjährigen als Spaßbremse beschimpft. War ich nicht früher genauso sorglos gewesen wie sie? Oder war das Dummheit? Es war kein Herbst mehr. Langsam bemerkte man es nicht nur am Kalender, sondern auch am Wetter. Dass Frühling war, erkannte man nämlich daran, dass man plötzlich mitbekam, dass die Nachbarn nicht heimlich ausgewandert waren. Dass draußen auf einmal Menschen die Straße entlang gingen und dich grüßten (»Jo, Joey, Alter. Was geht?«). Und daran, dass es länger hell blieb. Morgens, wenn ich aufstand, lugte die Sonne über die Dächer und gegen Abend, wenn ich heim kam, schlenderte ich in ein paar Sonnenstrahlen – wenn es nicht gerade regnete. »Oh, Mann«, seufzte ich und beobachtete die Regentropfen, die das Fenster entlang rannen voller Missmut. »Joey, du machst mich noch verrückt mit deiner Seufzerei!«, rügte mich Yugis Großvater und drückte mir eine Kiste mit neu angelieferter Ware gegen die Brust. »Außerdem macht es das Wetter nicht besser.« »Ja, ich weiß«, stimmte ich niedergeschlagen zu und verräumte die Kiste, unterdrückte den Seufzer, der mir schon wieder zwischen den Lippen entfliehen wollte und rannte beinahe Yugi um, der gerade zur Tür hereintrat und den Regenschirm zusammenfaltete. »So ein Sauwetter«, fasste er zusammen, aber trotz der Worte klang es kein bisschen verärgert, sondern eher amüsiert. Ich beneidete Yugi manchmal um seine Unbekümmertheit. »Nicht du auch noch«, meinte sein Großvater und drückte ihm ebenfalls eine Kiste in die Hände, woraufhin er mir einen fragenden Blick zuwarf. Ich zuckte verlegen die Schultern und grinste. Gewöhnlich saßen wir nach der Arbeit noch zusammen, wobei es Yugis Großvater nach einigen Minuten wieder in den Verkaufsraum zog, während es sich Yugi und ich in dessen Zimmer bequem machten. Ich lungerte in Yugis Bett und er lehnte sich an meine angewinkelten Beine, sortierte seine Karten oder blätterte durch Zeitschriften mit den neuesten Video- und Gesellschaftsspielen. »Joey, was willst du eigentlich später mal werden?« Er schlug eine weitere Seite um, blinzelte dann aber zu mir hoch. Ich stutzte erst, weil es mir so vorkam, als passte die Frage nicht zu uns. Wir waren Freunde, die die Zeit jetzt genossen, Spaß hatten, sich durch Turniere zockten, aufeinander verlassen konnten. Aber wie würde das Ganze in der Zukunft aussehen? Würde es immer so bleiben? »Mmmh – superreich und glücklich?«, frotzele ich und lehnte mich zurück, starrte an die Decke und nickte ihr zu. »Das wär's.« »Bist du das nicht schon?«, hakte Yugi nach, woraufhin ich meine Taschen tätschelte, deren Inneres hinaus zog und meinte: »Für superreich sind meine Taschen noch zu leer.« »Ich meine doch das mit dem glücklich.« Yugi lächelte mich an. Nachdenklich schob ich meinen Mundwinkel zur Seite. War ich nicht schon glücklich? Was wollte ich verändern, um noch glücklicher zu werden? Machte Geld glücklicher? »Also – joar. Unglücklich bin ich schon mal nicht«, wog ich ab, »aber ich könnte glücklicher sein. Aber vielleicht kann man immer noch glücklicher sein, noch reicher, noch besser, noch – toller.« Während ich mit den Achseln zuckte, schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. »Ist es nicht unheimlich schwer«, begann ich, »wenn man schon als Teenager superreich ist und so – was will man dann noch in seinem Leben machen?« »Redest du von Kaiba?« Yugis Augenbrauen berührten seine Ponysträhnen, während er mir das nächste Magazin reichte und sich einem weiteren zuwandte. »Was? Nein, wie kommst du ausgerechnet auf den? Ich meine nur – so allgemein.« Natürlich hatte ich an Kaiba gedacht. Wahrscheinlich wusste das auch Yugi, aber er vertiefte das Thema nicht weiter. »Ich glaube – im Leben geht es nicht nur um Geld. Es geht darum, etwas zu bewirken, zufrieden zu sein und seine Träume zu verwirklichen. Und wenn es nur bedeutet, mit einem anderen Menschen eine Familie zu gründen und glücklich zu leben. Oder – in ein fremdes Land zu reisen oder – Medizin zu studieren.« »Mh, ja, bestimmt hast du recht.« Wir schwiegen. »Was willst du mal später machen, Yugi?« »Ich – weiß nicht – also ich bin mir nicht sicher, ob – ich das schaffe und – naja«, stammelte er, wie in einer Prüfung, für die er nicht genug gelernt hatte. »Moment. Wie bist du auf Medizin studieren gekommen? Willst du etwa –?« Mit meinem Finger zeigte ich auf ihn, als könnte er mir dadurch nicht entkommen. »Ich – also – vielleicht?« Er schaute mich an, als erwartete er, dass ich ihn auslachte oder diese Idee für Unsinn hielt. Ich ließ meinen Finger sinken. Wann hatte ich ihn das letzte Mal so behandelt? Bevor wir Freunde wurden – okay, das war aber eine andere Zeit gewesen irgendwie. Mir kam es vor, als wäre ich damals ein anderer Mensch gewesen. Aber vielleicht steckte die Erinnerung solche Erfahrungen nicht einfach weg. Ich legte Yugi meine Hand auf die Schulter und forderte ihn so auf, mir nicht mit seinem Blick auszuweichen. Natürlich war es ein Plan, der mich überraschte, denn ich hatte mir Yugi irgendwie immer als Spieleerfinder/professionellen Gamer vorgestellt, der auch noch mit Mitte Dreißig als Champion auf Weltturnieren antrat. Aber wahrscheinlich wollte auch Yugi irgendwann erwachsen werden. Und hatte ich nicht schon vor langer Zeit festgestellt, dass Menschen die unterschiedlichsten Facetten auslebten? Dass sich Menschen veränderten und verschiedene Interessen in sich vereinten? Yugi als Arzt. Ich versuchte es mir vorzustellen und wenn ich es recht bedachte, dann konnte ich es mir sogar gut vorstellen. Yugi war schon immer eine Person gewesen, die sich für andere aufopferte, die niemals tatenlos daneben stand, auch wenn die Herausforderungen für so einen kleinen Jungen überwältigend schienen. »Ich glaube, du wärst ein verdammt guter Arzt«, teilte ich ihm überzeugt mit. Yugis funkelnder Blick sagte mir, dass das die einzig richtige Antwort war. »Und wie stellst du es an?«, hakte er nach, lehnte sich wieder gegen meine Beine und blätterte weiter in der Zeitschrift. »Hä? Was meinst du?« »Na, die Sache mit dem Superreichwerden? Hast du schon einen Plan?« Ich war mir unsicher, ob er das ernst meinte. Letztlich musste Yugi wissen, dass mir die Sache mit dem Reichtum gar nicht so wichtig war. Aber ich wollte etwas erreichen, das andere in Staunen versetzte, mit dem ich ihnen ins Gesicht lachen konnte und vorhalten:»Ha! Ich hab's doch geschafft! Ihr könnt mir gar nichts!« Stattdessen jedoch hing ich hier auf Yugis Bett herum, durchblätterte ältere und neuere Zeitschriften voller Spiele und Neuigkeiten auf dem Gamers-Markt und war planlos, was mein Leben anging. »Ich hab keine Ahnung, was ich nächstes Jahr machen soll«, gab ich zu und seufzte. Er schlug das Heft zu und reichte es mir. »Mh, vielleicht könntest du dir ja Ideen von jemandem holen, der sich damit auskennt?« Das Cover des Magazins bildete Seto Kaiba ab. Ich lebte in den Tag hinein, freute mich, wenn es etwas zu freuen gab, ärgerte mich über Ärgerliches, war stolz, wenn es etwas gab, worauf ich stolz sein konnte, fürchtete mich vor Sachen, die zum Fürchten waren. Ich war nicht der Typ, der sich einen großen Plan zurecht legte und dann danach arbeitete – das hatte mir in der Schule schon ein paar Mal die Füße gestellt, aber irgendwie hatte ich es immer hinbekommen. War das das Problem? War ich zu sorglos? Kaiba würde sicherlich nie denken: klappt schon. Er dachte bestimmt: A und dann muss ich B machen und wenn A nicht klappt, mach ich C und dann D. Wie schaffte Kaiba das alles nur? War er nicht auch sorglos? Aber nur deswegen, weil er immer einen Plan hatte? Ich hatte das Gefühl, dass mir alles über den Kopf wuchs. Die zehnte Klasse neigte sich bald dem Ende und ich hatte keinen Plan, was ich machen sollte oder überhaupt wollte. Um mich herum posaunten meine Mitschüler heraus, was sie für tolle Pläne hatten in den Sommerferien. Mir grauste schon jetzt vor der Zeit danach. Oberstufe. Sollte ich nicht lieber die Sache sausen lassen und eine Ausbildung machen? Ich war wohl kaum der klassische Typ für ein Studium. Wenn man es recht bedachte, dann konnte ich es mir eh nicht leisten. Aber was für eine Ausbildung? Würde mich überhaupt jemand übernehmen? Meine Noten waren – naja. Mit einem Seufzen lehnte ich mich zurück und kippelte mit meinem Stuhl. Ich mochte Kinder. Ich konnte eine Ausbildung zum Kindergärtner machen. Aber immer mit so kleinen Nervensägen? Hatte ich dafür genug Geduld? Ich mochte Tiere! Vielleicht gab es etwas in die Richtung? Ich konnte gut mit – »Da ich wahrscheinlich in die Verantwortung genommen würde bei unterlassener Erster Hilfe, wirst du jetzt aufhören, dir jedes Mal beinahe deinen Kopf aufzuschlagen, verstanden, Wheeler?« Mein Blick huschte zu ihm, ich zuckte die Schultern und runzelte die Stirn, ließ die vorderen beiden Stuhlbeine zurück auf den Boden sinken. »Sag mal, Kaiba«, ich lehnte mich vor, ihm zugewandt, mit einem Arm auf der Stuhllehne, »was willst du später eigentlich mal werden?« Er starrte mich einen Augenblick lang an, in dem er abzuwägen schien, ob ich das realsatirisch meinte – oder eben nicht. Jedenfalls fasste er sich dann an die Stirn, strich sich seinen Pony zur Seite, als hätte er Kopfschmerzen und warf mir einen Blick zu, der mir mitteilte, dass ich ein verdammter Idiot war. Doch statt einer Antwort auf meine Frage, drehte er sein Gesicht erneut seinem Bildschirm zu und tippte auf seinem Laptop. »Wenn du weiter auf dem Stuhl herumturnen möchtest, dann setze dich neben deine Freunde und schlag dir neben ihnen deinen Kopf auf«, meinte er, ohne mich anzuschauen. Ich schnaubte und kippelte weiter. Kaiba wusste zu neunundneunzig Prozent schon, was er einmal in zwanzig Jahren machen würde – irgendwo hatte er bestimmt so einen Superplan, den er Jahr für Jahr abarbeitete und den er befolgte. »Hast du keinen – Plan, was du nach der Schule mal machen willst?«, hakte ich nach. Wahrscheinlich dachte Kaiba, er würde mich nach einer Antwort schneller loswerden, als wenn er es mit Ignoranz herauszögerte. »Ich leite bereits eine Firma, Köter«, erwiderte er wie nebenbei, doch ich ließ nicht locker. »Also gründest du eine zweite?« Stille. So eine, in der mir bewusst wurde, dass Kaiba ein arroganter Arsch war. Und was für einer. Und er mich für einen Köter hielt, der nichts begriff, weswegen er erst gar nicht zu einer Antwort ansetzte. »Warum sitzt du überhaupt hier, Wheeler?« Wahrscheinlich wüsste ich nicht einmal mit so einem Plan, was ich nächste Woche machen sollte. Vielleicht lag Kaiba also gar nicht so falsch mit der Annahme, dass ich nichts begriff. »Yugi hat gemeint – also – irgendwie hast du doch«, ich stoppte mich selbst und begann nochmal von vorne. »Du bist doch reich, Geldsack. Bist du deswegen glücklich?« So oder so ähnlich hatte Yugi es gesagt, nicht? »Du bist es nicht, Hündchen. Bist du deswegen glücklich?« Er warf mir einen provokanten Blick zu, der mich die Lippen zusammenpressen ließ. »Yugi hat gemeint, dass ich dich deswegen fragen soll – wenn einer Ahnung hat, dann –« »Schön, dass er mich dafür verantwortlich macht, deine Perspektive zu bereichern, aber du störst mich.« »Ich stör dich doch nicht, Kaiba, ich bereichere auch – ähm – deine Perspektive.« Und grinste ihn an. Ich sah, wie sich sein Brustkorb hob, während er tief einatmete, sich an die Nasenwurzel fasste und dann ausatmete. Dann wandte er sich seinem Laptop zu, als hätten wir den Dialog nie geführt. Kaibas Ignoranz lenkte meine Aufmerksamkeit wieder zurück auf meine eigenen Gedanken. »Entgegen deiner Behauptung: Deine Seufzerei stört mich beim Arbeiten, Wheeler.« »Jaaah, sorry«, seufzte ich. Mein Blick schweifte über die Reihen meiner Mitschüler vor mir. Schnatternde Mädels, ein paar Jungs zielten mit Papierfliegern auf den Mülleimer, Yugi und Tristan diskutierten über irgendetwas. Alle hatten bestimmt irgendeinen Plan für ihre Zukunft. Und ich? Mein Blick wanderte weiter und blieb an blauen Augen hängen, die mich fixierten. Seto Kaiba saß mir mit seinem Oberkörper seitlich zugewandt, die Arme vor der Brust verschränkt, die Beine übereinander geschlagen, schräg auf dem Stuhl – das Verrückte war, dass er erstens nicht tippte und zweitens seine Aufmerksamkeit mir schenkte, ohne, dass ich ihn dazu zwang. »Wie bitte?« Diese zwei Wörter klangen aus seinem Mund, als hätte ich ihn gerade beleidigt. In diesem Augenblick erinnerte ich mich daran, warum es in neunundachtzig Prozent der Fälle gar nicht mal so schlecht war, Kaibas Aufmerksamkeit zu entkommen. In der Klasse lachte jemand laut auf. »Äh? Hä?«, meinte ich und schaute wahrscheinlich so klug, wie ich mich gerade fühlte. Kaiba schnaubte, ehe er sich dazu hinab ließ, zu erklären, was sein Stirnrunzeln verursachte. »Wheeler, was überfordert dein Gehirn dermaßen, dass dir eine Entschuldigung mir gegenüber herausrutscht?« Ich seufzte und wedelte mit einer Hand Richtung der Anderen vor uns. Ein Mädchen quietschte, Jungs riefen etwas und lachten, jemand rannte im Klassenzimmer umher, einige veranstalteten eine Art Wettbewerb im Papierfliegerweitflug. Das ganz normale Chaos eben. »Die anderen Mitschüler stören deine Konzentration, was dich nicht nur nervt, sondern unter Druck setzt, weil du eine große Anzahl von Dokumenten durchgearbeitet haben musst bis in«, er schaute auf die Uhr, »drei Stunden für ein Meeting?« »Was? Wie kommst du –?« »Ach, stimmt ja, das warst nicht du – das war ich«, grollte er und ich verdrehte die Augen. »Ist ja schon gut, hab's kapiert.« Während ich mein Heft in den Rucksack warf und ein Mäppchen, das halb auseinander fiel, fragte er, was das werden sollte. »Ich verzieh mich.« »Gut.« »Ja.« »Schön.« »Denk ich auch.« »Endlich.« »Mh?« »Nach zwei Jahren, in denen wir uns kennen, schaffst du es endlich einmal, zu denken.« Mir fiel eine passende Antwort ein: Ich streckte ihm die Zunge heraus und wandte mich dann um und schritt mit gestrecktem Kinn zu Yugi und Tristan. Erwachsensein war vielleicht nicht meine Stärke. (Weder Pläne, noch Organisation und all der Kram, den ich als erwachsen definierte.) Ich wusste nicht genau, wie meine Zukunft aussehen sollte und lebte trotzdem sorglos in den Tag hinein. Meistens jedenfalls. Öfters als ich sollte. »Jungs, wir müssen mal wieder einen Spiele-Marathon veranstalten, die ganze Nacht durchgezockt«, warf ich mich in ihr Gespräch und wurde von einem grinsenden Gesicht und einem funkelnden Blick empfangen. Yugi zog mich zur Seite, als wir auf dem Weg zur Mensa waren. »Und – weißt du jetzt, wie du superreich wirst?«, fragte er mich lächelnd und da war kein Sarkasmus, sondern nur Zuversicht und Fürsorge in seiner Stimme. »Nö.« Dafür konnte ich mich auf meine Freunde verlassen – und zu denen zählte Seto Kaiba eindeutig nicht. Kapitel 17: … ist erwachsen --------------------------- __________________________________________ Wer resigniert der wird erwachsen. Alte begreifens: genug bedacht! © Max P. Baumann __________________________________________ Seto Kaiba trug bereits als Kind Verantwortung, wie es manche Erwachsenen nicht mussten. Für sein Unternehmen, für seinen Bruder, aber nicht zuletzt auch für sich selbst. Er war eine Führungspersönlichkeit – vielleicht tat er sich deswegen schwer, wenn er nicht derjenige war, der führte. Das eigentliche Problem aber war, dass er niemals zugab, wenn ein Anderer recht hatte. Er war nicht nur ein führender Geschäftsmann, sondern auch ein führender Besserwisser. Er selbst nannte es erwachsen, ich nannte es ein arroganter Arsch sein. Wahrscheinlich hatten wir beide Unrecht. Der Sommer verwandelte die Blüten in Blätter. Statt über Sonne, freute man sich über Schatten. Die Sommerferien waren zum Greifen nahe – zumindest dann, wenn man nicht in der Schule festhing. Dort kam einem das Ganze nämlich verdammt lang hin vor. Wenn man am Wochenende mit Freunden grillte (Yugi schaffte es beinahe, den Grill abzufackeln, ich löschte ihn – also nicht Yugi, sondern den Grill), dann raste die Zeit vorbei. Wenn man hingegen nur einige Stunden in der Schule saß, dann zog sich die Sache wie ein Gummiband. Yugi erklärte mit die Sache mit Relativität. Aber richtig begreifen sollte ich das Ganze erst ein paar Wochen später. Das Schlimmste an der Schule (abgesehen von Tests, Referaten, Mathematik, langweiligen Unterrichtsstunden, die man nicht schwänzen konnte, weil man sonst wieder zum Schulleiter zitiert wurde, Schwimmunterricht, Vertretungsstunden, Strebern und Kaiba – wobei sich letztere ja ergänzten) waren die Stunden, in denen den Lehrern plötzlich einfiel, dass die zehnte Klasse bald zu Ende ging und wir Schüler uns Gedanken über unsere Zukunft machen sollten. Und zwar jetzt. Sofort. Genau so eine Stunde verbrachte ich in Sozialkunde, saß zwischen Yugi und Tristan und seufzte leise vor mich her. Mein Blick schweifte über die Tafel, an der der Auftrag für die Gruppenarbeit stand:»Wo sehen Sie sich in zehn Jahren? Diskutieren Sie in einer Kleingruppe und stellen Sie einen Kurzvortrag zusammen.« Um uns herum diskutierten und quatschten unsere Mitschülerinnen und Mitschüler, witzelten und traten ihre Träume breit. Manche schnappte ich auf. Schauspielerin, Fotograf, Anwältin, Kinderarzt, Psychologin, Marketingexperte, Sängerin, Lehrer, Nachrichtensprecherin. Tristan legte mir eine Hand auf die Schulter, um meine Aufmerksamkeit zu erlangen. »Was gibt’s da groß zu erzählen?«, brummte ich. »Joey, du kannst irgendwas erzählen. Wir müssen das halt am Ende vortragen«, gab er zu bedenken und ich verdrehte die Augen. »Ich hoff, ich schaff den Abschluss und danach mach ich halt irgendeinen Job«, erzählte ich irgendwas und lehnte mich zurück, soweit, dass ich ein bisschen kippeln konnte. »Meinst du das ernst?«, zweifelte Tris mit diesem Ausdruck in den Augen, der mich rasend machte. Oder war es der Ton? »Du meinst so nen Verliererjob? Dabei kannst du doch mehr aus dir machen. Das ist doch echt kein Plan für die Zukunft.« Das sagte er, aber zwischen den Silben hingen andere Wörter. Jemand, der mir in mein Ohr raunte. War das die Stimme meines Vaters? Ich kaute auf meiner Lippe, schnaubte dann und tippte mit meinem Stift gegen meine Stirn. »Na, dann fang du doch an Tris. Wo siehst du dich in zehn Jahren?« »Mh, dann bin ich sechsundzwanzig. Dann will ich studiert haben und arbeiten, am liebsten hab ich dann ne richtig gutaussehende Freundin, mit der ich zusammenwohne.« »Das ist doch was«, stimmte Yugi freundlich ein. »Moment, Moment. Du willst studieren?«, hakte ich nach und betrachtete Tristan mit hochgezogenen Augenbrauen, umgriff mit meinem Stift, als müsste ich mich daran klammern, um nicht vom Stuhl zu fallen. »Warum nicht?« »Du bist nicht gerade der Typ.« Ich grinste ihn an, so, als müsste er das doch wissen, spielte mit meinem Stift, warf Tris einen Blick zu. Als hätte er lediglich einen Scherz gemacht, den ich verstand, aber andere nicht. Doch als sich sein ernster Ausdruck auf den Lippen nicht zu einem Grinsen verzog, rümpfte ich die Nase. Seit wann hatte sich Tris Gedanken um seine Zukunft gemacht? Früher hatte er auch nur in den Tag gelebt – das hatten wir gemeinsam. Seit wann hatte er Pläne, die sich von meinen unterschieden? Pläne ohne mich? »Warum? Weil ich mich bisher von einem Nebenjob zum nächsten gehangelt hab und das nicht mein ganzes Leben so durchziehen will?«, fragte er nach und ich kniff meine Lippen zusammen, stoppte das Spiel mit meinem Kugelschreiber und beobachtete ihn genau. »Was genau willst du damit sagen?« »Ich bin nicht mehr der Loser von vor einigen Jahren.« »Aber ich? Oder was meinst du damit?« Ich bemerkte erst, während sich mir einige Gesichter zugewandten, dass ich lauter geworden und von meinem Stuhl aufgesprungen war. »Bitte zügeln Sie sich, meine Herren«, wandte sich unser Lehrer an uns, die Langeweile in der Stimme dehnte seine Worte, dann las er weiter unbekümmert seine Zeitung. Tristans Gesicht drehte sich mir wieder zu, während er ebenfalls aufstand und er sprach auf mich ein, als bemerkte er die neugierigen Blicke nicht, fasste mich stattdessen mit beiden Händen an den Schultern, als wollte er, dass ich nur ihn ansah und nicht die Kleingruppen um uns herum, die mit ihren Träumen und Plänen, die sie wirklich glaubten, erfüllen zu können, schwachsinnige Ziele von Kindern. »Vielleicht solltest du dich einfach auch mal um deine Zukunft kümmern, Joey.« »Es ist nicht meine Schuld, dass ich genug Probleme in der Gegenwart habe«, zischte ich und spürte diese Wut, die sich um meine Kehle schloss, während wir in der vorletzten Reihe standen wie zwei Idioten. Aber es kam mir vor, als gäbe es plötzlich nur noch uns zwei. »Du bist nicht der Einzige mit einer schwierigen Familie, Joey«, beschwor er mich mit einer Warnung in der Stimme und fixierte mich. »Halt meine Familie da raus!« Er kannte mich – länger als Yugi es tat und wenn auch anders als der, so doch gerade besser in diesen Bereichen meines Lebens, auf die ich nicht besonders stolz war. »Das ist es doch! Es geht nicht immer nur um dich und deine Familie! Willst du in zehn Jahren noch immer in unserem Viertel hocken? Traust du dir echt nicht mehr zu?« Ich riss meine Augen auf, als hätte er eine Faust zwischen meine Rippen gebohrt. Körperliche Verletzung. Es wäre nicht das erste Mal, das Tris so etwas tun würde – nur bisher war nie ich sein Opfer gewesen, sondern sein Partner, der sie festhielt oder selbst noch zuschlug. Aber seine Hände lagen noch immer auf meinen Schultern. »Darum geht es nicht, du Idiot! Lass mich los«, knurrte ich und unterdrückte das Zittern in meiner Stimme. »Worum geht es dann?« Ich riss mich von ihm los, schmiss den Stuhl fast um, meine Augen stierten ihn an, ich zögerte einen Moment lang, als überlegte ich noch, ehe mein Körper schon reagierte. Ich rannte mehr, als dass ich aus dem Klassenzimmer ging. Den überraschten Blick des Lehrers im Rücken. Ich übersprang jede zweite Stufe der Treppe und hechtete hoch, als jagte mich jemand. So wie früher. Als wäre der Kioskbesitzer hinter uns her – oder in späteren Jahren – ein Polizist, dem wir entwichen konnten. Irgendwann standen sie trotzdem alle vor meiner Tür zu Hause, aber meinem Vater war das egal gewesen. Bis ich erkannte, dass das nicht daran lag, dass ihm Gesetze unwichtig waren, sondern, dass ich ihm unwichtig war, wenn er im Suff vor sich her vegetierte. Trotzdem war ich nie allein gewesen. Auf Tristan hatte ich mich stets verlassen können. Und irgendwann war Yugi dazu gekommen. Yugi, der Junge, den wir so oft gehänselt hatten, obwohl ich gewusst hatte, dass ich ihn eigentlich beneidete. Oben angekommen schlenderte ich Richtung Sportplatz. Auf dem Dach der Schule befand sich ein Basketballplatz – wobei das übertrieben war. Eigentlich war es ein Korb, denn der andere war einmal wieder beschädigt – und ein Fußballtor. Von hier oben sah man über die Baumkronen hinweg über den Schulhof. Die Sonne brutzelte mir auf meinen Schädel, während ich mich auf das Geländer stützte und in die Ferne blickte. »Hey.« Ich zuckte zusammen. Während Yugi sich neben mich gestellte, erklärte er, dass er dem Lehrer gesagt hatte, dass es mir schlecht wäre und er nach mir sehen würde. »Und das hat er dir abgenommen?«, »Wieso? Ich sehe doch nach dir«, entgegnete Yugi und lächelte mich an. Ich rieb mir übers Kinn und atmete tief durch. Trotz der Hitze fühlte ich mich hier befreit von der Enge, die mich im Klassenzimmer gepackt hatte. Diesen Druck, der sich auf den Brustkorb setzte und die Kehle austrocknete. »Woher wusstest du, dass ich hier bin?« »Wenn du ein schlechtes Gewissen hattest, nachdem du und Tristan mich geärgert haben, oder wenn du früher heimlich geraucht hast, bist du immer hierher gegangen. Meistens hast du eine geraucht, während du ein schlechtes Gewissen hattest.« »Und woher weißt du das?« »Ich bin euch gefolgt. Normalerweise lagen meine Sachen dann auch hier irgendwo herum.« »Ah – okay – aber – ich meinte – woher willst du wissen, dass ich ein schlechtes Gewissen hatte? Vielleicht habe ich es genossen?« Yugi kaute sich auf der Lippe, doch dann verzog sich sein Mund zu einem Grinsen, was mich verwunderte, doch seine Worte ließen mich schlucken. »Hättest du das, wären wir heute keine Freunde.« Die Stille zwischen Yugi und mir war seit unserer Freundschaft nie belastet gewesen. Wenn wir schwiegen, dann war das okay. Ich hatte nicht das Gefühl, etwas sagen zu müssen, um sie zu vertreiben, einfach, weil Yugi auch wortlose Erklärungen, Entschuldigungen und Versprechen verstand. Aber manchmal war es wichtig, Dinge beim Namen zu nennen. »Es tut mir leid, dass ich früher so ein Arsch war«, gab ich zu und wandte meinen Blick von ihm ab. Solche Sätze fielen mir nie leicht, vor allem nicht, wenn ich jemandem, den ich jahrelang schikaniert hatte, dabei in die Augen sehen sollte. Aber das musste ich nicht. Yugi berührte meinen Arm und schaute mich von der Seite an. »Ich weiß.« In seiner Stimme klang das Lächeln auf seinen Lippen. Vielleicht gab mir das den Mut, seinem Blick mit dem meinen zu begegnen. »Aber Joey, nur weil es früher nicht oft für dich gut lief, brauchst du keine Angst vor der Zukunft zu haben.« Ich öffnete den Mund, um ihm zu widersprechen. Angst vor der Zukunft? Wieso sollte ich – aber da sprach er auch schon weiter und ich schloss den Mund einfach wieder, weil ohnehin nur Unsinn herausgekommen wäre. »Ich bin mir sicher, dass du es richtig gut hinbekommst. Und wenn was ist, bin ich immer für dich da. Sowieso.« So wie er jetzt gerade für mich da war. Ich sonnte mich in diesem Gefühl für einen Augenblick. Dieses Gefühl, dass in diesem Moment alles stimmte, dass es okay war, dass ich zufrieden sein konnte. Diese Wärme, die einen dann durchströmte und das Lächeln, das sich automatisch in jeden Mundwinkel schlich. Aber dann öffnete ich die Augen – wann hatte ich die eigentlich geschlossen? – und seufzte. »Glaubst du? Manche Sachen ändern sich nicht im Leben«, gab ich zu bedenken, doch Yugi ließ sich nicht beirren. »Andere schon.« Er machte eine Handbewegung, die mich einschloss. Natürlich. Wir waren das beste Beispiel. Also nickte ich, weil ich ahnte, was er sagen würde, doch er überraschte mich. »Du rauchst heute nicht mehr«, meinte er und schaute mich an, als wäre es eine große Offenbarung. Das Lachen, das mich im Rachen kitzelte, brach aus mir heraus. So leicht mir ein offenes Gespräch mit Yugi fiel, so schwer war es mit Tris. Unsere Freundschaft hatte sich nie auf Gespräche gegründet, sondern eher auf Taten. Einschließlich allerlei unschöner. Und so fanden wir keine Gelegenheit, miteinander zu reden und gingen uns aus dem Weg. Beziehungsweise – eigentlich gab es eine Menge Gelegenheiten, aber nicht die Worte, die dazu passten. Sie blieben mir alle im Gaumen kleben. Und so saßen wir uns lieber wortlos gegenüber und taten so, als wäre alles okay – vielleicht Yugi zuliebe oder weil wir feige waren, wahrscheinlich irgendwie beides. Obwohl wir wussten, dass es das nicht war. »Weißt du schon, wo du hingehen willst?«, weckte mich Yugi aus meinen Überlegungen, während wir in der Mensa saßen und etwas, das Lasagne sein sollte, verdrückten. »Sorry, was hast du gesagt?« Er schob mir zwei Papiere zu, auf denen eine Liste abgedruckt war mit freien Praktikastellen. »Wir müssen uns bis Donnerstag anmelden für die Praktikawochen. Hast du schon eins im Kopf?« Das Schlimmste an der Schule (abgesehen von Tests, Referaten, Mathematik, langweiligen Unterrichtsstunden, die man nicht schwänzen konnte, weil man sonst wieder zum Schulleiter zitiert wurde, Schwimmunterricht, Vertretungsstunden, Strebern und Kaiba – wobei sich letztere beide ja ergänzten – und Stunden, in denen den Lehrern plötzlich einfiel, dass die zehnte Klasse bald zu Ende ging) waren die Praktikawochen der zehnten Klassen. Zwei Wochen, in denen man als Idiot im Dienst unbezahlt Arbeit verrichten durfte, statt gemütlich in der vorletzten Reihe seine Zeit zu vertrödeln. »Ich hab mir mal die Übersicht angesehen. Wie wäre es mit – Medien oder Fotografie für dich? Das sind doch kreative Bereiche, nicht?«, er tippte mit seinem Finger auf die entsprechenden Zeilen in der Liste. Ich schaute über die Stellen. »Tristan, hast du dich schon angemeldet?«, wandte sich Yugi an ihn und trotz seines Schweigens musste er unserem Gespräch gefolgt sein, denn er antwortete ohne ein Zögern. »Ich mache ein Praktikum in der KC.« »Und in welchem Bereich?«, hakte Yugi nach und es schien ihn wirklich zu interessieren. »Beim Marketing.« »Das ist ja su-« Doch ehe Yugi seiner Begeisterung hatte Worte verleihen können, warf ich meine dazwischen. »Bitte – was?« »Was ist dein Problem, Joey?« Er betrachtete mich, während er seine Fingerknöchel knacken ließ. Ich hasste es, wenn er das tat. »Mein Problem?«, echote ich. »Die Frage ist, was ist deins? Was willst du in der KC?« »Ein Praktikum machen«, wiederholte er, als wäre ich schwer von Begriff. »Willst du mich eigentlich verarschen? Ich meine, was du da willst! Früher hast du solche Typen wie Kaiba gehasst und jetzt rennst du ihm nach?« »Früher haben wir Leute erpresst und verkloppt. Möchtest du lieber, dass wir uns unseren alten Hobbies zuwenden?«, spottete er. »Ich denke, das wird Yugi nicht gefallen.« Der sank neben ihm sichtlich zusammen. »Und wer hier Kaiba nachrennt – eindeutig nicht ich von uns beiden.« »Ich renne niemandem hinterher!« »Stimmt, früher bist du ja auch eher vor Leuten weggerannt. Leuten wie den Bullen.« »Weil du mal wieder geklaut hattest!«, behauptete ich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nicht weniger als du! Seit wann suchst du die Schuld eigentlich ständig bei anderen?«, entgegnete er. »Was für Schuld? Seit wann bist du so ein Idiot?« »Wenn du mit Idiot meinst, einer zu sein, der daran glaubt, aus dem Viertel herauszukommen, etwas aus sich zu machen, statt einer, der sich daran klammert, es nicht zu können, weil sich der Vater sonst noch die Kehle aufschli-« Mit einem Schlag packte ich ihm am Kragen, zog ihn halb über den Tisch und schüttelte ihn, schrie ihm ins Gesicht, dass ihm meine Spucke entgegenflog: »Halt dein verkacktes Maul! Kümmer dich lieber um deine Hure von Mutter!« »Wenigstens kümmert sich meine Mutter um mich!«, schrie Tristan zurück, drängte seine Arme zwischen meine, so dass eine Rangelei entstand, wer wen packte. Er riss sich los, stand mir atemlos gegenüber. »Deine Mutter kümmert sich um das halbe Viertel«, höhnte ich. Er holte aus und verpasste mir eine Backpfeife, ich befreite meine Hand und schlug ihm gegen den Mundwinkel. Hitze brannte durch meine Venen, Kälte vereiste meine Gedanken. Es tat gut, nicht denken zu müssen. Da war Schmerz und die Frage, warum sie uns verließ. Die Unsicherheit in den Augen meiner Schwester, eine Frage, die ich nicht zu beantworten wusste, ein Abschied, den ich nicht meisten konnte. Da waren nur – mein Vater und ich, wie er sich zurückzog. Jeden Tag mich ein bisschen mehr verließ – Tristan und ich. »Tristan! Joey!« Ich hörte Yugis Stimme wie aus der Ferne, so benebelte das Adrenalin meine Gedankenbahnen, die sich einzig auf Tristans wutverzerrtes Gesicht konzentrierten, in das meine Faust versuchte zu schlagen, während sich Tristans Finger in meine Wange bohrten. Wir schoben uns am Tisch vorbei. Tristan boxte mir gegen die Wange, ich trat gegen sein Bein, er stieß mich zurück, damit ich ihn nicht am Kinn traf, wobei ich ausrutschte, ihn aber mit mir zog. Ich stürzte zu Boden, konnte mich kaum mehr abfangen, weil meine Arme mit Tristans verheddert waren. Ich jaulte auf, hielt mir meinen Hinterkopf und spürte den Schmerz, der durch meinen Schädel schoss. Er lag halb auf mir, rutschte aber sofort hinunter und stand über mich gebeugt. Ich rappelte mich auf, eine Hand auf meinen Kopf gepresst, die andere in Erwartung weiterer Schläge. Jemand zog mich zurück, griff meinen Arm und drückte mich weg, hinaus aus Tristans Reichweite. »Lass mich los! Lass mich!«, rief ich vor Frust und Zorn. »Wenn du es wagen solltest, mich zu schlagen, Wheeler, dann schwöre ich, dass du von der Schule fliegst.« Das Eis in Kaibas Stimme klirrte. Sofort kehrte Ruhe in meinen Kopf ein, so dass ich die Situation erfassen konnte. Yugi musste Tristan einige Meter weitergeführt haben, jetzt stand er bei ihm, redete auf ihn ein, schien ihn teils beruhigen, teils umstimmen zu wollen – wegen was auch immer. Neugierige Blicke stierten uns entgegen, aber keiner wagte, sich uns zu nähern. Ich bemerkte, dass mich Kaiba noch immer am Arm festhielt, als rechnete er damit, dass ich jederzeit losstürmte, um irgendwem noch eine zu verpassen. Doch was mich wirklich überraschte war, dass mich seine Berührung nicht weiter wütend machte, sondern beruhigte. Mein Schädel pulsierte vor Schmerz. »Du kannst mich loslassen«, meinte ich, doch Kaiba machte keinerlei Anstalten dazu, stattdessen verscheuchte er einige Schaulustige mit seinem Blick – ich wäre zu gerne mit ihnen davon gegangen – und zückte sein Handy, wählte eine Nummer und hielt es sich ans Ohr. »Ja, in zehn Minuten vor der Schule«, ordnete er ohne Begrüßung oder Verabschiedung an, ließ das Smartphone wieder in seine Hosentasche gleiten und warf Yugi einen Blick zu, der Tristan gerade ein weiteres Taschentuch reichte. Ich spürte, wie mir etwas über die Lippen lief, drückte mit meinem Finger meine Nase zusammen, weil ich das Gefühl hatte, dass mir Rotze aus den Löchern rann, doch stattdessen färbten sich meine Fingerkuppen rot. Dann entließ mich Kaiba endlich aus seinem Griff, schritt zu Yugi und wechselte mit ihm Wörter, die ich nicht mitbekam. Yugi nickte, warf mir einen Blick zu, schien eine Frage zu stellen. Dann kramte er in seiner Schultasche und überreichte Kaiba etwas. Tristan lehnte gegen einen Tisch und bedachte mich mit keinem Blick, schien sorgsam Blickkontakt zu vermeiden. »Yugi wird dich für den restlichen Tag entschuldigen.« Kaiba stand plötzlich wieder neben mir, seinen Aktenkoffer fest im Griff und drückte mir ein Taschentuch in die Hand. »Von Yugi.« »Was ist mit Tristan?« »Yugi kümmert sich um ihn. Und jetzt komm.« Statt blind darauf zu vertrauen, dass ich ihm folgte – wie er sonst gerne während des Kunstprojekts getan hatte – bugsierte er mich mit seiner Hand an meiner Schulter. Erst als wir außerhalb des Schulgebäudes über den Schulhof Richtung Ausgang schritten und dann vor einer Limousine standen, vor der einer seiner Schergen wartete, ihm die hintere Tür aufhielt, ging ein Ruck durch mich hindurch. »Einsteigen«, wies Kaiba mich an. »Was? Ich steige da ganz sicher nicht –« Sein Blick sagte mir ganz deutlich das Gegenteil. »Wenn du etwas vollblutest, bezahlst du die Reinigung«, teilte er mir mit, während er sich anschnallte. Ich brummte, dass er sich seine Reinigung sonst wo hin stopfen konnte. Aber statt mich aus dem Wagen zu werfen (was ich doch heimlich gehofft hatte), nickte er dem Fahrer zu, der sofort losbrauste. An meinem Fenster zogen Bäume vorbei, die ich zählte, als hätte das irgendeinen Sinn. »Moment, hier geht es nicht zu mir nach Hause«, erkannte ich, bevor der Fahrer links abbog. »Dort fahren wir auch nicht hin«, hielt Kaiba dagegen, was mich nicht gerade beruhigte. »Wohin fahren wir?«, fragte ich gelangweilt, um meine Unsicherheit zu überspielen. »Ins Krankenhaus.« »Was? Willst du mich ver–«, ich schluckte das Wort. Vielleicht, weil es nicht in eine Limousine passte. »Nein, nicht da hin«, begann ich anders, zwang mich ruhig zu atmen und die Wörter nicht zu stottern. »Ich weiß nicht, ob du es begreifst, Wheeler, weil dein Kötergehirn scheinbar heute schon einmal ausgesetzt hat, aber du bist verletzt und du solltest –« »Ich gehe nicht ins Krankenhaus. Mir geht es gut«, beharrte ich. »Du könntest eine Gehirnerschütterung haben.« »Ich will nach Hause. Wenn es mir schlecht geht, dann ruf ich haltn Arzt.« Er musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen. »Ist bei dir jemand zu Hause um die Uhrzeit?« »Nö. Ich krieg das schon hin«, winkte ich ab und verzog das Gesicht, weil sich langsam das Adrenalin verabschiedete und der Schmerz mit voller Wucht zuschlug. »Wie du das alles hinbekommst, durfte ich ja eben erleben«, erwiderte er kalt. Er nannte mich kognitiv limitiert, ich nannte ihn einen Arsch, der mich nervte. Wahrscheinlich hatten wir beide Unrecht. Zumindest ein bisschen. »Roland, wir fahren nach Hause.« »Na, endlich«, seufzte ich und lehnte mich im Auto zurück mit dem Gefühl wenigstens etwas – wenigstens diese Diskussion – gewonnen zu haben. »Nicht zu dir«, führte Kaiba aus, »in diesem Zustand solltest du nicht alleine sein.« Und ich sank in mich zusammen. Das meinte er jetzt nicht ernst, oder? Es war ein seltsames Gefühl, aus einem Auto zu steigen, bei dem man die Tür aufgehalten bekam. Aber vielleicht hatte ich tatsächlich einfach eine Gehirnerschütterung. Mokuba stürmte uns entgegen. »Oh, mein – was ist passiert?« Was mich trotz allem amüsierte war, dass Mokuba seinen großen Bruder (der geschniegelt und ordentlich mit Hemd und Krawatte da stand) vorwurfsvoll anschaute und nicht mich (der mit blutigem Taschentuch und roten Flecken im Gesicht doch viel schuldiger erscheinen musste). Kaiba hielt sich nicht mit langen Erklärungen auf – und zum ersten Mal war ich für seine Wortkargheit dankbar. »Bring ihn ins Bett, Mokuba. Ich muss telefonieren.« Zumindest bis zu dieser Anweisung. »Hey, Moment – ich –«, widersprach ich, doch Kaiba tippte bereits eine Nummer in sein Smartphone – Déjà-vu? – und Mokuba griff nach meinem Arm. »Kommst du? Das Gästezimmer ist ganz schnell fertig gemacht.« Ich wusste nicht, was seltsamer war: von einer fremden Frau das Bett gemacht zu bekommen oder in Kaibas Villa in einem Bett zu liegen. Mokuba brachte mir eine heiße Schokolade und blieb neben mir auf dem Bett sitzen, erkundigte sich danach, wie es mir ging und ob ich irgendetwas brauchte. Was mich verwunderte war, dass er nicht nachhakte, was passiert war. Stattdessen berichtete er mir von seinem Tag, entschuldigte sich danach, dass er mich nicht hatte volltexten wollen, dass ich sicherlich müde war – wie kam er auf den Gedanken? – und dass ich echt beschissen aussah. Gut, er wählte ein anderes Wort, der Sinn blieb derselbe. Mokuba brachte mich zum Lächeln, obwohl es mich im ersten Moment schmerzte, weil die Kratzer durch die Bewegung wieder zu brennen begannen. Er war voll und ganz noch ein Kind, unbekümmert, sorglos, aber mitfühlend und erstaunlich clever. (Vielleicht aber nicht erstaunlich, immerhin war er ein Kaiba.) Ich fragte ihn trocken, wie viele Leute sie sonst hier gesundpflegten und er kicherte (was mir die Frage nicht beantwortete). Die Tür öffnete sich, ohne dass jemand anklopfte. Wir schauten wie auf Kommando dorthin und zwar erwartungsvoll. Kaiba trat herein und informierte mich, dass ein Arzt nach mir sehen würde. »Warum hast du mich nicht doch einfach ins Krankenhaus verfrachtet?«, fragte ich ihn, während er in der Tür stand, als wollte er gleich wieder gehen. »Ich mag Krankenhäuser nicht«, erwiderte er knapp, »Mokuba, du musst sicherlich noch Hausaufgaben machen.« Weil Mokubas von der Matratze aufstand, hob sie sich, als atmete sie ein. »Japp«, meinte er und klang, als hätte ihn sein großer Bruder daran erinnert, dass er noch eine Runde zocken sollte. Für Hausaufgaben jedenfalls hörte er sich meiner Meinung nach viel zu gut gelaunt an. Mokuba lächelte mir zu und meinte, dass er später nochmal kommen würde und ob ich gut in Gesellschaftskunde wäre, weil sie da noch eine Aufgabe auf hätten. »Ich glaube, das ist momentan eher nicht so meine Stärke«, seufzte ich, weil ich mich an meine Sozialkundestunde erinnerte. »Oh, okay. Und Japanisch?«, hakte er nach. »Mokuba«, brummte Kaiba und der warf ihm ein Lächeln entgegen, als würde er niemals Zeit schinden, sputete sich dennoch, drückte sein Gesicht noch einen Moment an Kaibas Brust, ehe er durch die Tür verschwand, die er hinter sich schloss. Mein Blick wanderte von der Tür zu Kaiba, der den Stuhl vom Schreibtisch in Augenschein nahm, sich aber dagegen entschieden haben musste, sich zu setzen, denn er stand weiter in der Nähe der Tür. »Ist dir übel?«, fragte er mich. »Nein.« »Fühlst du dich benommen? Schwindlig?« »Nö.« »Gut. Der Arzt wird dich trotzdem durchchecken«, bestimmte er und ich lehnte mich erst gar nicht gegen seine Anordnung auf, denn Kaiba machte, was er wollte und dieses Bett war gerade so schön weich und warm – und leider nicht mein eigenes, sondern Kaibas. Ausgerechnet. Aber. Nur zehn Minuten wollte ich einfach hier liegen und später – Mokubas Versprechen, später wieder zu mir zu kommen, sprang mir in die Gedanken. Dieses Lächeln und der Blick, den er seinem Bruder zuwarf, als kannte er kein Übel, als hätte er bisher immer Kind sein dürfen. Hatte er das sein können, weil Kaiba für ihn sein Kindsein aufgegeben hatte? Kaibas Präsenz zuckte durch mein Bewusstsein. »Wie schaffst du das?«, flüsterte ich in den Raum hinein. Kaiba antwortete nicht sofort. Es schien, als wich er die Erwiderung aus, aber vielleicht kam es mir auch nur so vor, weil ich von ihm gewohnt war, dass er mir ohne zu zögern eine Beleidigung an den Kopf warf oder mich komplett ignorierte. Doch stattdessen er fragte nach. »Was?« Und wirkte trotzdem so desinteressiert, dass ich mit der Möglichkeit spielte, meine Frage nicht zu konkretisieren. Aber wahrscheinlich war es meine Neugier oder meine eigene Unfähigkeit, die mir da einen Strich durch die Rechnung machten. »Wie kannst du so – das alles so durchziehen. Diese Interviews, in den Medien zu sein und du arbeitest immer und dann bist du noch in der Schule und zu Hause bist du für Mokuba da und du bist so – wie schaffst du es, so erwachsen zu sein?« Mir fiel kein besserer Begriff dafür ein. Er öffnete den Mund und schien sich im letzten Moment anders zu entscheiden, wobei die Worte, die seine Lippen verließen, nicht die waren, die zuerst in seinem Kopf gesteckt hatten. »Unser Tun zieht immer Konsequenzen mit sich. Und alles im Leben geht mit Opfern einher, Wheeler.« Die Frage, die in der Luft hing, war, ob sich diese Opfer lohnten. In dem Moment klingelte es an der Tür. Wahrscheinlich der Arzt. Kaiba stand da, zog sein Smartphone aus der Hosentasche und warf einen Blick darauf. Ich betrachtete ihn aus den Augenwinkeln und fragte mich, welche Opfer er hatte bringen müssen. Seto Kaiba führte seine eigene Firma. Er war unglaublich reich, intelligent und gutaussehend. Von außen betrachtet musste man einfach davon ausgehen, dass der Kerl alles kontrollierte. Betrachtete man Dinge von außen, waren sie meistens leichter, als wenn man in das Innerste schaute. Es war so einfacher, Kaiba zu beneiden, ihn zu idealisieren, ihn zu verdammen, wenn man nur die Schale begutachtete. Ich sprach die Frage nicht aus. Vielleicht, weil ich Kaibas Antwort nicht wissen wollte – abgesehen davon, dass er es mir wahrscheinlich nicht verraten hätte. Sein Innerstes – der Kern der Sache – erschien mir voller Geheimnisse. Geheimnisse, vor denen man sich im Dunkeln vielleicht fürchtete. Geheimnisse, die nichts für Kinder waren. Kapitel 18: ... ist ein Idiot ----------------------------- __________________________________________ Ein reicher Idiot ist ein Reicher, ein armer Idiot ist ein Idiot. Unbekannt Quelle: »Klages-Tagesspruchkalender« 2002 __________________________________________ Seto Kaiba trug bereits als Kind Verantwortung, wie es manche Erwachsene nicht mussten. Für sein Unternehmen, für seinen Bruder, aber nicht zuletzt auch für sich selbst. Es war, als hätte er seine Jugend übersprungen und wäre gleich ins Erwachsenenalter gerutscht. Sein Geniestatus hatte ihm diesen Weg geebnet und leuchtete seither förmlich über seinem Kopf und stieß alle anderen aus dem Rampenlicht. Doch sein Intellekt schützte ihn auch nicht davor, ein Idiot zu sein. Das Problem war, dass er niemals zugab, wenn ein Anderer Recht hatte. Er war nicht nur ein führender Geschäftsmann, sondern auch ein führender Besserwisser. Er selbst nannte es erwachsen, ich nannte es ein arroganter Arsch sein. Wahrscheinlich hatten wir beide Unrecht. Der Arzt untersuchte mich, stellte aber nichts außer ein paar Kratzern – und einer Schwellung an meinem Arm – und einer Verstauchung meines Fußes fest. Nachdem er mir einen Kompressionsverband angelegt hatte, nickte er Kaiba zu (warum auch immer) und reichte mir die Hand zum Abschied. Mit den Worten »Toll, dann ist ja alles gut, dann geh ich jetzt« wollte ich mich auch erheben, aber der Arzt hielt mich zurück. »Manche Symptome treten verzögert ein. Bis zu zwölf Stunden nach der Gehirnerschütterung. Sollten Sie etwas bemerken, rufen Sie sofort einen Arzt, Herr Wheeler.« »Ähm – klar. Danke.« »Und kühlen Sie ihren Fuß weiter. Sie sollten ihn ruhig stellen und nicht belasten. Am besten legen Sie ihn hoch. Dann sind Sie in wenigen Tagen wieder beschwerdefrei.« Beschwerdefrei war ich noch nie in meinem Leben gewesen, aber mein Gehirn hatte nicht gelitten – auch wenn Kaiba das wohl anders sah. Doch das war wieder eine Sache für sich. Genauso wie ein Gespräch mit Kaiba über die Zukunft, wenn ich genug Probleme in der Gegenwart hatte. Aber zunächst pinnte er mich mit seinem Blick an Ort und Stelle fest, verabschiedete den Arzt, indem er ihm die Hand reichte und den Raum fragte: »Hast du Hunger?« Es klang so, als sollte ich mir besser überlegen, was ich antwortete. Als er nach meiner Bejahung aus dem Gästezimmer verschwand, fragte ich mich, ob das die richtige Antwort gewesen war oder mich ein paar seiner Bodyguards in dem Raum erdrosseln würden, während er selbst sich an seinen Laptop verzog. Klar war, dass er mich nicht einfach nach Hause verschwinden lassen würde. Also ließ ich mich mit einem Seufzen zurück ins Bett sinken. Die Frage war nur: wieso? Jemand klopfte, ich brummte, jemand zog die Tür auf und ich wandte meinen Blick von der Decke zum Eingang – oder besser gesagt zu Mokuba, der dort stand. »Wenn du auch für Pizza bist, dann können wir Seto überstimmen«, teilte er mit und grinste mich an und bei seinem Tonfall und diesem Schalk in den Augen, musste ich selbst grinsen. Wir saßen in dem Esszimmer, das an die Küche grenzte und mit einem Panoramafenster den Blick in den Garten eröffnete. Die Wände waren weiß, außer dort, wo der Kamin prangte. Dort stach dunkler Stein hervor. Die Stühle gruppierten sich um einen langen Tisch, der nicht in ein Zweipersonenhaushalt passte, und trotz der Bilder an der Wand wirkte der Raum steril. Aber vielleicht lag das auch nur an Kaibas Schweigen, das den Raum einnahm, während wir Pizza aßen. Selbst Mokubas Erzählungen konnten das nicht auflockern. Mir war nie aufgefallen, dass sonst der jüngere Kaiba die Atmosphäre des Zimmers bestimmte. Dieses Mal tat er es nicht. »Joey, was für ein Praktikum willst du eigentlich machen? Seto hat erzählt, dass bald wieder diese Praktikumswochen sind. Hast du schon was?«, fragte er mich und ließ mich damit kerzengerade aufrichten. Soweit das eben möglich war, mit dem Fuß auf einem weiteren Stuhl, weil ich ihn ja hochlegen sollte. Ich spürte Kaibas Blick auf mir ruhen, was mir ein Kribbeln über die Arme jagte. »Ich – weiß es noch nicht«, gab ich zu und spielte mit dem Messer, weil ich mich damit von Kaibas stechenden Augen ablenkte. Ich konnte dem Gefühl nicht entfliehen, dass ich ihn verärgert hatte. Aber mit was? »Was magst du denn so generell?«, hakte Mokuba nach und schob sich ein Stück Pizza in den Mund. Ich betrachtete meines, als stünde dort die Antwort. »Also – ich mag Tiere.« »Dann mach doch ein Praktikum beim Tierarzt!«, schlug Mokuba begeistert vor. »Mh – ich glaube eher nicht, dass das was für mich ist.« »Wieso?« »Es geht doch drum, zu schauen, was man später mal machen will vielleicht. Und Tiermedizin – ich bin nicht der Typ fürn Studium.« Die Pause, die folgte, machte mich irgendwie verlegen. »Ich dachte vielleicht, ich könnte mal im Kindergarten vorbeischauen. Ich mag Kinder. Und Kinder mögen mich auch.« Kaiba verzog seinen Mund zu einem spöttischen Halbgrinsen. »Ich denke, damit hättest du endlich ein passendes geistiges Umfeld gefunden«, bemerkte er und ich kniff meine Augen zusammen. Kaiba war eben ein Arsch. Gefährlich wurde es nur, wenn ihn jemand verärgerte – also anders als ich normalerweise. So ernsthaft. Und den Ton, der er anschlug, war anders als sonst. »Mokuba, du magst mich, oder?«, wandte ich mich an seinen kleinen Bruder, damit mir wenigstens ein Kaiba den Rücken stärkte. »Klar! Da hat er recht, Seto. Ich find ihn total nett.« Es klang fast wie ein Vorwurf gegen seinen Bruder, das brachte den aber nicht aus dem Konzept. Es war, als ging es gar nicht um das Thema, das wir besprachen, sondern etwas, das zwischen den Zeilen stand. Ich wollte nur nicht begreifen, was. »Du bist zwölf. Also mindestens doppelt so alt als es Kindergartenkinder sind. Du bist also kein Maßstab, Mokuba.« »Und du, Kaiba?« Er sah mich forschend an. Erst da fiel mir auf, dass er es hätte so verstehen können, dass ich fragte, ob er der Maßstab war. »Ich meine – was machst du in den Praktikawochen?« »Ich leite bereits eine Firma, Köter.« »Ja – und?«, brummte ich. »Geldsack.« »Ich werde arbeiten.« »Echt? Arbeiten? Ich mein, du – dir steht doch alles offen. Du könntest tun, was du willst! Könntest woanders reinschauen. Wo auch immer.« »Du doch auch, Wheeler. Oder was hält dich ab?« Mokuba musterte seinen Bruder, während er sich ein Stück Pizza in den Mund stopfte. Kaiba stierte mich an, ließ mich nicht entkommen aus diesem eiskalten Blick. Mir schwante, warum die Weißen Drachen seine Lieblingskarten waren. Während Kaiba wie versteifte, rutschte ich auf meinem Platz hin und her. »Okay, was ist los? Ich hab das Gefühl, ich hab was verpasst.« »Das wäre nicht das erste Mal«, schnaubte er, lehnte sich zurück, die Schultern zog er nach hinten und richtete sich auf, als thronte er mir gegenüber. Und ich fühlte mich plötzlich schrumpfen. »Was ist los, Kaiba? Warum lässt du mich hier verarzten und ich hab das Gefühl, du hättest mich am liebsten liegen lassen! Da aufm Boden, mein ich.« »Seit wann schlägst du deine Freunde, Wheeler?«, warf er mir an den Kopf und für einen Augenblick glaubte ich, vielleicht doch eine Gehirnerschütterung zu erleiden. »Seit wann geht dich das was an?«, knurrte ich. Mokubas Blick hüpfte von mir zu ihm und von ihm zu mir, als verfolgte er ein Spiel, bei dem sich die Spieler gegenseitig einen Ball zu spielten – oder in unserem Fall: eher mit Kugeln abschossen. »Seit wann fürchtest du dich so sehr, dass du wie ein verängstigter Köter denjenigen beißt, der dir helfen will?« »Was weißt du schon? Was kümmert's dich?«, murrte ich. Er tippte mit seinen Fingern auf der Tischplatte, als strömte dort die Ungeduld aus ihm heraus, als wollte er mir etwas erklären, was ich mich weigerte zu begreifen. »Mir hat niemals jemand Hilfe angeboten. Und ich habe niemals jemanden um Hilfe gebeten.« »Du bist ja auch so ein tolles Beispiel«, brauste ich auf. Der hat es verdient. Der hat was aus sich gemacht. Der ist halt nicht son Verlierer wie wir. »Du bist reich und intelligent und siehst gut aus. In welcher Realität würde dir jemand sagen – dass du – dass du ein Versager bist? Du hast doch keine Ahnung! Du bist nicht so wie ich!«, schleuderte ich ihm entgegen. Weil er was Besseres ist als wir. Muss man einsehen, Junge. Er starrte mich einen Moment lang an, betrachtete mich, als erkannte er eben erst etwas, strich sich dann seinen Pony aus der Stirn und atmete tief durch. »Du bist so ein Idiot, Wheeler.« Damit erhob er sich vom Stuhl und schritt aus dem Zimmer. Perplex schaute ich ihm hinterher. Stille. Ich wagte mich nicht zu rühren, weil ich das Gefühl hatte, mir würde sonst die Decke auf den Kopf fallen. Mokuba neben mir kaute bedächtig, fast, als wollte er meine Gedanken nicht unterbrechen, doch dort herrschte ein Chaos, wie wenn die Glocke zur Pause in einem Klassenraum schellte und alle Schüler durcheinander riefen. »Ich glaube, was er sagen wollte«, begann Mokuba leise und ich zuckte zusammen, als hätte er geschrien, »wenn du ein Problem hast, dann kannst du doch zu deinen Freunden gehen.« Mein Blick flog zu Mokuba und ich beobachtete ihn wie jemand, dem er gerade geraten hatte, vor Kaiba einen Bauchtanz in seinem Büro aufzuführen. »Warum? Ich meine, warum sollte er – das meinen?«, hakte ich nach. »Hat er doch gesagt«, erwiderte Mokuba überlegt, »weil er nie jemanden hatte, den er hätte fragen können.« Ich schob meinen Teller von mir. Der Appetit war mir vergangen. Seto Kaiba lag mit vielen seiner Meinungen falsch. Seine Arroganz und die Distanz, die er zu seinen Mitmenschen einhielt, bescherten ihn Bewunderer und Neider, Hasser und Nacheiferer. Meistens eine Mischung aus allem. Es war einfach, jemanden mit Sicherheitsabstand zu idealisieren oder zu verunglimpfen. Wenn ich ihn im Fernsehen sah, dann sah ich ab und zu immer noch den kleinen Jungen von damals, als ich ihn das erste Mal gesehen hatte und ich fragte mich, wie viel er von ihm hatte verlieren müssen, um der zu werden, der er heute war. Und ich merkte, dass meine Meinungen nicht richtiger waren als seine. Mokuba fragte mich, ob ich meine Pizza noch fertig essen würde und ich fragte mich, wohin diese Teigmassen verschwanden. Als ich verneinte, griff er nach meinem Teller. »Wo glaubst du, ist dein Bruder jetzt?«, fragte ich. Mokuba beschrieb mir den Weg zu Kaibas Büro. Es war wirklich nicht schwierig. Ein Stock nach oben, dann gerade aus, rechts und dann dritte Tür links. Oder links und dritte Tür rechts? Ich humpelte durch den Gang und klopfte an die Tür, nachdem ich eine Weile einfach davor gestanden hatte, um mir Worte zurechtzulegen. Nicht, dass es etwas gebracht hätte. Niemand antwortete, was mich nicht aufhielt. Ich öffnete die Tür und – starrte in eine Abstellkammer. Verdammt. »Wheeler.« Die Stimme hinter mir schreckte mich auf, so dass ich herum fuhr. »Verdammt, Kaiba. Ich krieg noch einen Herzinfarkt.« »Was willst du in meiner Abstellkammer?« »Ich – ähm – wollte zu dir.« »Und du suchst mich in der Abstellkammer?« »Ja, ich meine – nein. Ich –« Eigentlich wusste ich gerade nicht mehr, warum ich ihm überhaupt gefolgt war. Wo waren die Worte hin, die ich mir eben noch in meinem Kopf vorgebetet hatte? »Mein Büro ist zwei Zimmer weiter.« Er seufzte, als sähe er ein, dass mein Gehirn mit so vielen Zimmern in einem Gang überfordert sein musste. Er zog die Tür auf und gebot mir, ihm zu folgen, doch die Worte purzelten schon auf dem Gang aus meinem Mund, wo ich den Bildern an den Wänden danken konnte und nicht Kaibas blauen Augen begegnen musste. »Du bist – und ich wollte nur sagen, dass ich jetzt gehe. Danke für – den Arzt und so.« Ich spürte trotzdem, wie sich seine Pupillen in meiner Haut versenkten, als wollte er sie verbrennen. »Und – es – es tut mir leid.« »Weil du ein Idiot bist?« »Du bist ein arroganter Arsch, Kaiba, und selber ein Idiot!«, pfefferte ich entgegen, doch dann fuhr ich mir über meine Mund, als könnte ich so die Worte wieder in die richtige Bahn lenken, konzentrierte mich darauf, zu sagen, was zu sagen war. »Ich meine – ich glaube nur, dass viele Leute neidisch sind, ohne zu wissen, was derjenige, auf den man neidisch ist, eigentlich dafür geopfert hat. Du hast gemeint, dass alles im Leben Opfer fordert. Und ich glaube die meisten Menschen würden es gar nicht schaffen, das zu opfern, um an deiner Stelle zu sein. Deswegen – wollte ich nur – ich geh jetzt.« Mein Abgang wäre sicherlich eleganter gewesen, hätte ich nicht bei jedem Schritt durch die Zähne gezischt, weil es schmerzte. Und hätte ich schneller gehen können. Und hätte ich nicht gehumpelt. Und hätte ich nicht die falsche Richtung genommen, und wäre ich nicht vor einer Sackgasse gestanden, nur um wieder umzukehren. Ich spürte Kaibas Blick im Nacken und dann schritt er mit den Worten »Ich warte zwei Minuten im Auto auf dich, wenn du bis da nicht unten bist und angeschnallt, musst du sehen, wie du nach Hause kommst, kapiert?« an mir vorbei, während er sein Smartphone zückte. »Mokuba, ich bin in einer halben Stunde zurück«, rief er Richtung Wohnzimmer und ich vernahm noch Mokubas Worte:»Aber danach musst du eine Runde mit mir zocken!« »Hast du deine Hausaufgaben schon gemacht?« »Alles fertig!« Langsam verstand ich, warum Mokuba immer seine Aufgaben erledigte. Mit einem Keuchen, ließ ich mich im Autositz nieder, zog den Gurt über meine Brust und atmete tief aus. »Geschafft«, seufzte ich, als hätte ich einen Marathon gewonnen. »Du siehst mitgenommen aus. Wenn ich solche Worte benutzen würde, würde ich sagen scheiße«, teilte er mir nonchalant mit, während Roland losfuhr. »Du auch«, knurrte ich. Es war nicht einmal gelogen. Wenn man genau hinsah, dann erkannte man, dass Kaiba müde war, dass hinter seiner Fassade aus Eis, ein Mensch hing, der zu viel zu tun hatte. Aber vielleicht bildete ich mir auch nur ein, das zu sehen, was andere gerne übersahen. Wir überholten ein paar Autos, scherten links aus, brausten durch die Stadt. Ich stellte mir vor, wie es wäre mit Cabrio und offenem Verdeck über die Autobahn zu rasen. Die Hitze des Sommers, die im Wind über die Haut leckte. Das Haar zerzaust. Nichts als Geschwindigkeit und Straße. Freiheit, die einen aus der Stadt trieb. Stattdessen betrachtete ich Straßen, die ich seit meiner Kindheit kannte. Ich hing hier fest, kehrte immer wieder zurück. Es hielt mir vor Augen, wer ich war. Was ich war. »Das klang vorhin aber noch anders«, behauptete er und weckte mich aus meinen Überlegungen. »Hä?« Zumindest teilweise. »Reich, intelligent und gut aussehend. Deine Worte.« »Echt? Ich könnte schwören, meine Worte wären eher gewesen, dass du ein arroganter Arsch bist«, entgegnete ich trocken. »Ich kann dich jederzeit aus dem Auto werfen.« »Das würdest du nicht –« »Roland, halten Sie bitte recht.« Er setzte den Blinker, um rechts heranzufahren. »Okay, okay, ist ja gut!«, beschwor ich ihn. »Alter, du verstehst echt keinen Humor.« »Das ist mein Humor«, widersprach er und ein Mundwinkel zuckte, als traute der sich kein Lächeln. Kaiba bedeutete Roland weiterzufahren und ich verdrehte die Augen. Plattenbauten zeugten in meinem Viertel von der Wohnungsnot von vor einigen Jahrzehnten, als die billigen Gebäude errichtet worden waren. Die Verputze ergrauten inzwischen, an manchen Stellen blätterte er ab. Immer mal wieder stellte ich mir vor, was man alles aus den Wohnungen hätte herausholen können mit ein bisschen Geld und Mut. Mir fehlte wahrscheinlich beides – zumindest eines. Peter, Yukiko und Jerry hingen auf dem Spielplatz herum, auf dem abends noch Jugendliche rauchten. Die Wippe war kaputt, der Sandkasten mit Fäkalien verschmiert. Ich schnallte mich ab, bedankte mich bei Roland fürs Fahren und drückte dann die Tür auf. Kaiba blickte durch das getönte Fenster hinaus, als besuchte er einen Zoo und könnte von hier aus alles sicher beobachten. »Das Interessante ist«, begann er und ließ mich damit innehalten, »dass du auch nicht weißt, mit was ich für meine Position zahlen musste. Und trotzdem frage ich mich, ob du es wagen würdest, zu tauschen, wenn es möglich wäre. Bist du neidisch auf mich?« Ich zögerte, schaute zu ihm zurück, doch er sah weiterhin hinaus, entließ mich zu den anderen Subjekten, die er durch diese Scheibe auf Abstand hielt. »Du weißt auch nicht, was ich in meinem Leben verloren hab, Kaiba. Zu einem Tausch gehören immer noch zwei«, entgegnete ich und verließ den Wagen. Anders als Seto Kaiba trug ich keine Verantwortung für ein Unternehmen oder für meine Schwester und oft packte ich es nicht einmal, Verantwortung für mich selbst zu übernehmen. Das eigentliche Problem aber war, dass wir beide nicht zugaben, wenn ein Anderer Recht hatte. Was mir bald klar werden sollte war, dass man im Leben Fehler machte, aber dass das dazugehörte. Dass man Angst hatte und dass das nicht aufhörte, wenn man kein Kind mehr war, sondern dass sich die Ängste nur veränderten. Dass man Freunden seine Unterstützung anbot, auch, wenn sie sie ablehnten und dass man auch Freunde sein konnte, ohne es auszusprechen. Er nannte es ein Idiot sein, ich nannte es erwachsen werden. Wahrscheinlich hatten wir beide Recht. Kapitel 19: … ist ein Praktikant -------------------------------- __________________________________________ Die Praxis sollte das Ergebnis des Nachdenkens sein, nicht umgekehrt. Hermann Hesse (1877-1962) __________________________________________ Seto Kaiba war Geschäftsmann, Geldsack, arroganter Arsch und Besserwisser. Das waren Rollen, in denen ihn jeder kannte – mehr oder weniger. Es war kein Geheimnis, dass er sein Unternehmen an die Spitze der Wirtschaft getrieben hatte – in einem Alter, in dem andere nicht einmal in einem Bürogebäude gewesen waren – oder einen Anzug getragen hatten. Für ihn war es kein Problem den Geschäftsführer heraushängen zu lassen. Er war eine Führungspersönlichkeit – vielleicht tat er sich deswegen schwer, wenn er nicht derjenige war, der führte. In der Schule begafften mich manche, als hätten sie noch nie einen Verband gesehen. Meine blauen Flecke im Gesicht waren nicht schön, ja, aber ich war trotzdem noch ein Mensch und kein Alien. Vielleicht ignorierte Kaiba deswegen Menschen: manche waren nicht nur dumm, sondern auch nervig und das ziemlich hartnäckig. Mit dumm meine ich nicht, einen Mangel an Bildung, sondern so ein Grundverständnis, was Fragen und Antworten betraf und vor allem Empathie. (Auch, wenn das Wort zu der Bedeutung erst später in meinen Wortschatz gewandert war.) »Ich hab gehört, du und Tristan habt euch mit euren Gangs gegenseitig geschlagen! Stimmt das?« Welche Gangs? »Hast du wirklich etwas mit Tristans Mutter gehabt?« Bitte? »Hat Kaiba dich weggebracht, weil er auf Tristan eifersüchtig war?« Hä? Anfangs versuchte ich, die Gerüchte richtig zu stellen. Aber irgendwann musste ich einsehen, dass Menschen nur hörten, was sie wollten. Also ignorierte ich das Raunen, sobald ich ein Klassenzimmer betrat oder verließ. Tristan schien es ebenso zu halten. Nicht, dass ich mit ihm gesprochen hätte. Ich erkannte, dass er einen Verband um die Hand trug, ansonsten hatte er ein paar Kratzer im Gesicht. Mehr konnte ich auf die Schnelle nicht ausmachen. Es schien ihm gut zu gehen. So gut, wie es eben einem ging, wenn er sich mit seinem besten Freund geprügelt hatte. Tristan ging mir aus dem Weg. (Er würde später behaupten, dass ich ihm aus dem Weg gegangen war.) Dienstag und Mittwoch war das mein größtes Problem. Mittwochabend aber gesellte sich ein weiteres dazu. Der Stift schwebte über dem Papier. Jetzt hieß es, eine Entscheidung zu fällen. »Du zählst es gerade mit Ene-mene-muh aus, nicht?« In Yugis Stimme hockte ein Lächeln. Mit einem Seufzen lehnte ich mich zurück, den Stift zwischen meinen Fingern und blickte an die Decke, als würde dort die Antwort stehen, was es natürlich nicht tat. Stattdessen starrte ich auf eine weiße Fläche. Yugi saß auf seinem Bett und betrachtete mich amüsiert, während ich an seinem Schreibtisch gebeugt hockte und wieder die Zeilen überflog, als stünde da plötzlich etwas Neues – und nicht dasselbe, was ich bereits vor einer Minute gelesen hatte. »Ich weiß einfach nicht, welches Praktikum ich nehmen soll«, gab ich zu und raufte mir die Haare, packte das Papier und den Stift und ließ mich neben Yugi auf der Matratze nieder. »Schau, du musst doch einfach nur überlegen, was du gerne machst. Und dann schreibst du eine Stelle rein, die da am ehesten zu passt.« Ich sah ihn skeptisch an. »Es sind doch nur zwei Wochen«, munterte er mich auf, »selbst wenn das Praktikum bescheiden sein sollte – was ich nicht einmal denke – dann weißt du eben, was dir nicht liegt.« »Und wenn mir einfach nichts auf der Welt liegt?«, schnappte ich verzweifelt. Er lächelte, drückte mir die Schulter. Ja, okay, ich sah es ein. Eine Stufe weniger Drama hätte es auch getan. »Also?«, fragte er. »Ja, also. Ähm – ich esse gerne.« Für einen Moment warf er mir einen entgeisterten Blick zu. »Es gibt keine Praktikumsstelle als Restauranttester«, erwiderte er kichernd. »So was gibt’s?«, fragte ich ungläubig. »Du könntest bei einem Koch reinschauen.« »Ich will nicht kochen, ich will essen. Wenn schon«, murmelte ich. »Okay, was noch?« Er schielte über meine Schulter auf das zerknitterte Papier, auf dem Praktikumsangebote verzeichnet standen. »Ich komm gut mit deinem Opa klar. Aber dazu gibt’s wohl kaum ein Praktikum.« »Du könntest ein Praktikum hier machen.« »Echt? Aber ich – helfe hier doch schon aus. Ich brauch das Geld. Wenn ich das jetzt nur als Praktikum mache, dann –« »Ach was«, beruhigte mich Yugi lächelnd, »wenn du die Arbeit neben der Schule schaffst, dann schaffst du es auch allemal neben dem Praktikum.« Ich brummte zur Zustimmung und ließ mich auf meinen Rücken fallen, schaute Yugi von unten an und grinste. Zufriedenheit kitzelte in meinem Bauch. »Sag mal, Joey.« Es gab besonders drei Tonlagen, die Yugi anschlug. A) Der Wir-schaffen-das-schon-Ton. B) Der Denk-nochmal-nach-Joey-Ton und C) der Hast-du-denn-kein-schlechtes-Gewissen-Ton. Diesmal war es eindeutig C). »Wegen Tristan.« Treffer versenkt. Mit einem Schnauben setzte ich mich auf. »Was er gesagt hat«, begann ich dunkel, doch Yugi beeindruckte mein Gebären nicht. Nicht mehr zumindest. »Was ihr beide gesagt habt«, korrigierte er sanft. »Aber vor allem. Joey, ihr habt euch geschlagen! Ihr habt euch noch nie geschlagen.« Ich zog die Augenbrauen hoch, was ihn seufzten ließ. »Ich meine, ihr euch gegenseitig. Zumindest seit ich euch kenne.« »Er hat Sachen gesagt, die – das sagt ein Freund einfach nicht.« »Dasselbe hat er mir auch über dich erzählt.« Ich sah auf und verengte meine Augen. »Nur weil ihr nicht miteinander sprecht, heißt das nicht, dass ich ihn auch ignoriere.« »Ich ignoriere ihn nicht. Ich bin ja nicht Kaiba«, murrte ich, den letzten Teil noch leiser als den ersten. Aber wohl trotzdem laut genug. Wahrscheinlich führte ihn der auch zu seinem folgenden Gedankengang. »Warum geht es dir eigentlich so nahe, dass er ein Praktikum bei der KC macht? Du – kannst doch auch einfach eines dort machen. Wenn dir das lieber ist.« »Darum geht es doch gar nicht.« »Aber – was ist es denn dann?« Ich schluckte. Die Gefühle, die ich unterdrückte, quollen aus meinem Magen in meine Brust, wo sie bis in meinen Hals kratzten. »Ich war – ich weiß nicht – ich war plötzlich so verdammt wütend. Tris war immer für mich da. Wenn mein Vater – ich meine, er war einfach da, okay? Als die Sache mit meiner Mutter war und meiner Schwester und – immer einfach. Und jetzt – unser Leben war nicht schlecht, weißt du? Ich mein, es war manchmal echt bekackt, aber zusammen haben wir es durchgezogen und –« Ich wusste nicht, wie ich dieses Gefühl in meiner Brust, das mir die Luftröhre abdrückte in Worten bändigen sollte. »Und jetzt hast du Angst, dass er sich von dir abwendet?« War es das? Hatte ich Angst, dass mich Tristan zurückließ, so wie es meine Mutter getan hatte? Mich in dem Stadtteil ließ und sich selbst ein neues, besseres Leben in einem schönen Viertel mit sauberen Nachbarn und ordentlichen Fassaden suchte? Hatte es dieses Gefühl der Ohnmacht in mir geweckt, wie damals, als meine Mutter im Wohnzimmer gestanden hatte, Serenity an der Hand, den Koffer in der anderen und sich von mir verabschiedete, als wäre ich ein Fremder? »Ich glaube«, begann ich mit erstickter Stimme, »dass ich es nicht schaffe. Das ganze – Zeug. Was kommt und – irgendwie –« Wann hatten meine Augen begonnen zu brennen? Ich drehte Yugi meinen Rücken zu, wischte mit meinem Ärmel über meine Augen und versuchte das Schniefen zu unterdrücken, weil es so verdammt peinlich war. Heul nicht, du kleiner Hosenscheißer. »Das hat Tristan mir auch gesagt. So oder so ähnlich«, flüsterte Yugi und seine Hand mit einem Taschentuch schob sich in mein Blickfeld. »Dass er es nicht schaffen kann. Er hat auch lange mit sich gehadert und tut es immer noch, Joey. Weißt du, wie oft er und ich deswegen geredet haben?« »Warum?« Ich schniefte und wartete kurz, damit sich meine Stimme klärte. »Warum«, wiederholte ich, »hat er mir kein Wort gesagt?« »Warum hast du ihm nicht gesagt, was du wirklich fühlst?« Weil ich mich schämte. Männer weinen nicht, du Schwächling. Männer sind stark, du Heulsuse. Männer haben keine Angst, du Schwächling. Männer. Wir schwiegen. Es war toll, wenn man mit jemandem schweigen konnte und es einen nicht bedrückte. Yugis Hand lag auf meiner Schulter, so als wollte er mir versichern, dass er für mich da war. Das Taschentuch knüllte ich abwechselnd in meinen Händen und sah es an, als würde es mir die folgenden Sätze diktieren. »Weißt du. Ich werde nie vergessen, was mein Vater zu mir gesagt hat, als er Kaiba zum ersten Mal im TV gesehen hat.« Yugi drückte mich kurz mit seiner Hand an der Schulter, als könnte er mir dadurch Kraft geben, weiterzusprechen. »Er meinte, dass Kaiba etwas Besseres ist als wir. Dass er nicht so ein Verlierer ist wie wir. Ich glaub, ich hab meinem Vater damals recht gegeben – nicht mit Worten, keinesfalls. Aber so – innen drinnen.« Yugi schwang seine Beine über das Ende des Bettes, als wollte er davon aufsteigen, doch dann fragte er mich, ohne sich zu bewegen:»Und weißt du noch, was du gedacht hattest, als du Kaiba zum ersten Mal gesehen hast?« Ich lehnte mich an ihn, Seite an Seite. Obwohl Yugi recht klein war, hatte ich nicht das Gefühl, dass er schwach gewesen wäre. Sicherlich war er mir im Armdrücken unterlegen und beim Sprinten verlor er gegen mich, aber ich meine, so eine andere Art Stärke. Wenn Yugi da war, dann war da Wärme in meinem Brustkorb, Leichtigkeit in meinen Schultern, Zuversicht in meinem Kopf. Meistens. »Mh, da war er vielleicht grade mal neun oder zehn oder so. Und er hat so böse geguckt, dabei war er nur ein kleiner Junge. Aber er hat so geschaut, als wüsste er viel mehr als er wissen sollte. Ich hab mich gefragt, was er mehr wusste als ich. Ob er mehr wusste als ich. Und als ich ihn so neben Gozaburo Kaiba stehen sah, tat er mir irgendwie leid.« »Obwohl er mit einem Spiel ein Leben in Reichtum für sich und seinen Bruder gewonnen hatte?«, hakte Yugi nach. »Ja, ich war wohl ziemlich blöd als Kind«, scherzte ich humorlos. »Nee, ich glaube, du hast damals schon mehr erkannt als andere«, flüsterte Yugi mir zu und nahm ich in den Arm. »Und jetzt gehen wir und trinken ein Schokoshake. Ich lad dich ein.« »Und das mit dem Praktikum?«, fragte ich schwermütig. Er erhob sich von der Bettkante, öffnete die Tür, schritt in den Flur und rief hinunter: »Opa? Kann Joey ein Praktikum bei dir machen? Für die Schule das?« Eine Antwort aus dem Verkaufsraum unten, die ich nicht verstand. »Okay, da muss ich ihn leider nochmals fragen«, erwiderte Yugi und schlenderte mit ernster Miene zurück in sein Zimmer, zu mir. Ich beobachtete ihn ungeduldig. »Und?«, wollte ich wissen, weil er einfach vor mir stand und mich anschaute, als müsste er bekennen, ab sofort nie wieder DuelMonsters zu spielen. »Er meinte: nur, wenn er dir die Stunden vergüten darf.« Mit einem gespielt erbosten Schnaufen, mich so auf die Folter zu spannen, warf ich ihn aufs Bett und folterte ihn ebenfalls – indem ich ihn durchkitzelte. Lachend warf er einen Kopf hin und her und ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Es war toll, wenn das Gefühl in meinem Magen für Augenblicke wie diese von anderen überschwemmt wurde. Donnerstag öffnete ich die Tür zum Sekretariat und wollte mit einem breiten Grinsen mein Formular für die Praktikumswochen abgeben, bis ich vor mir Kaiba entdeckte, der mit der Sekretärin diskutierte. Ihr roter Kopf schien kurz davor zu explodieren. Mein Grinsen verblasste, dafür reckte ich den Kopf, um auch ja kein Wort zu verpassen. »In dem Vertrag zwischen Schule und KC steht nichts davon, dass ich kein Praktikum bei meiner Firma absolvieren könnte.« »Weil es nicht der Norm entspricht, dass Sechzehnjährige eine Firma leiten«, erklärte die Dame genervt und ich war mir sicher, dass sie das nicht zum ersten Mal tat. »Dann sehe ich das Problem nicht«, erwiderte Kaiba nonchalant. »Sie dürfen gerne in Ihrer Firma ein Praktikum machen, allerdings dürfen Sie nicht selbst das Praktikum leiten.« »Sie möchten, dass ich ein Praktikum bei einem Mitarbeiter mache«, klärte Kaiba mit einem Ton, der deutlich verriet, dass er sie damit verfluchen wollte. »Das wäre kein Problem«, stimmte sie zu. Er warf ihr einen Blick zu, der genau dieser Annahme widersprach. »Sie können also entweder in Ihrer Firma bei einem Abteilungsleiter oder dergleichen ein Praktikum machen oder Sie wählen eines der offenen Praktikumsangebote aus der Liste.« Kaibas Augen sprühten Abscheu und Verdammnis, aber die Frau hinter der Theke knickte nicht ein. Ich bewunderte sie dafür. »Oder Sie machen kein Praktikum, was aber in Ihrem Zeugnis vermerkt werden würde.« Mein Blick huschte zu Kaiba, dessen Kiefer zu mahlen begann. Ein negativer Eintrag in Kaibas perfektem Zeugnis. Ich sah bereits vor mir, wie die Presse einen Exklusivbeitrag deswegen veröffentlichte. S. Kaiba – Praktikumsverweigerer bekommt kein Praktikum. Schule verklagt. Sekretärin verklagt. Praktikum verklagt. »Köter, welchen Gedankengang kann dein Hundegehirn nicht verarbeiten, dass du so geistesabwesend in die Gegend starrst? Die Mensa ist am anderen Ende des Gebäudes«, höhnte Kaiba und stieß mich mental zurück in das Sekretariat. »Erzähl keinen Scheiß, Eisschrank«, erwiderte ich lässig, »ich bin hier, um meinen Praktikumsplatz anzumelden, was bestimmt richtig positiv in meinem Zeugnis vermerkt wird.« Ich überreichte der Sekretärin den Anmeldebogen, grinste Kaiba breit an und machte, dass ich aus dem Raum verschwand. Zumindest versuchte ich es. Ich drückte bereits die Türklinke herunter, als mich Kaibas Tonfall innehalten ließ. »Selbst das kann dein Zeugnis nicht mehr retten, Köter. Wer hier Scheiß erzählt, ist wohl hinfällig.« Das Wort Scheiß aus Kaibas Mund verhieß nichts Gutes, im Gegenteil. Es ließ mich schaudern, was mich dazu brachte, den Mund zu halten, die Schultern zu zucken und das Sekretariat zu verlassen. Einen tobenden Kaiba schloss man am besten hinter sich aus. Nicht mit sich selbst in einem Raum ein. In Gedanken wünschte ich der Sekretärin alles Gute. »Und er wollte wirklich ein Praktikum bei sich selbst machen?«, kicherte Yugi. Ich nickte, streckte mich. »So etwas fällt doch auch nur dem ein, echt, Alter. Wenn er nicht so furchteinflößend gewesen wäre, wäre es einfach zum Schießen.« Ich schob mir den Reis und den Fisch – ich glaubte, es war Fisch – in den Mund, während Yugi an seinem Eistee schlurfte. In diesem Moment schlenderte Tristan an unserem Tisch vorbei, zögerte kurz und schritt dann weiter. Ich sah ihm nach. Eine Sekunde lang spielte ich mit dem Gedanken, Tris zurückzurufen oder zu ihm zu sprinten, aber dann war die Sekunde auch schon vorbei. Ich bemerkte Yugis Blick. Er wirkte irgendwie enttäuscht und ich schob meinen Mund vor. Sommer war wunderbar – wenn man ihn genießen konnte. Sommer war – Kaiba würde sagen suboptimal, ich scheiße – wenn man drinnen einen Wärmestau bekam, weil man Kisten im Lagerraum prüfte. Draußen brütete eine Hitze, die die Temperaturen dort in Höhen schnellen ließ, die meinem Gefühl nach gar nicht mehr auf dem Thermometer verzeichnet standen. »Joey! Hast du den Bestand schon protokolliert und die neue Lieferung angenommen?«, rief Herr Mutos Stimme aus dem Verkaufsraum und ließ mich von meiner Liste aufblicken und nicken – was er natürlich nicht sehen konnte und setzte daher ein lautes »Jo! Bin dabei!« nach. »Gut, dann komm mal eben her!« Mit einem Seufzen entrann ich den drückenden Temperaturen und trat durch das Zwischenzimmer in den Verkaufsraum, wo meine Füße zu Wurzeln mutierten und meine Augen hervorquollen. »Joey, am besten arbeitest du ihn gleich ein.« Da stand er mit dem Schildchen an der Brust, das verkündete: Seto Kaiba. Praktikant. Seto Kaiba war Geschäftsmann, Geldsack, arroganter Arsch und Besserwisser. Das waren Rollen, in denen ihn jeder kannte – mehr oder weniger. Aber er war niemals – niemals! – Praktikant. Und ich niemals der, der ihn einarbeitete. »Ich habe ihm schon eine grobe Einweisung gegeben«, fuhr Yugis Opa fort, als wären wir plötzlich nicht in einer Zwischendimension gefangen, wo die Zeit stillstand und ein Paradoxon das nächste jagte, »aber wenn du gerade eh bei der neuen Lieferung bist, dann könnt ihr da ja zusammen anpacken.« »Was? Wieso? Hier? Wir?«, stammelte ich und mein Blick wanderte von Herrn Muto zu Kaiba, der so aussah, als wäre er gar nicht hier, sondern bei wichtigeren Sachen – oder überhaupt wichtigen. »Geteilte Arbeit ist halbe Arbeit, Joey.« Herr Muto zwinkerte mir zu und ich blinzelte zurück. Kaiba war vor mir bereit, sich der Realität zu stellen – vielleicht, weil er schon früher als ich gewusst hatte, dass er hierher kommen und jetzt so vor mir stehen würde. Das Problem war, dass sich mit Seto Kaiba geteilte Arbeit verdoppelte. Kunden betraten den Laden und Herr Muto wandte sich mit einem Lächeln den zwei Jungs zu. »Wo ist das Lager?«, verlangte Kaiba zu wissen und sah mich nicht einmal an. »Ähm – ja, komm einfach mit.« Wie ein Roboter, dessen mechanische Gelenke eingerostet waren, schritt ich voran, zurück in den Zwischenraum, öffnete die knarzende Holztür und zeigte in unser Lager, das eher an eine Kammer erinnerte. Circa zwanzig Quadratmeter voller Regale, auf denen sich Gesellschaftspiele, Videogames, Karten, Figuren, Zeitschriften den engen Platz teilten und Kartons, die sich auf dem Boden stapelten, so dass nur Gassen blieben, durch die ich balancierte, um ja nichts umzuwerfen. Seto Kaiba stand in der Tür, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute stumm die Schränke entlang. Er passte hier nicht rein. Nicht nur optisch nicht – mit seinem weißen Mantel, der so überhaupt nicht dem Wetter angemessen schien. Ich gab ihm zehn Minuten, bis er einen Hitzeschlag bekam. »Jetzt bist du doch froh, dass du den Laden damals nicht platt gemacht hast, ne?«, zog ich ihn auf. »Abgesehen von der Hitze hier im Lager ist es echt ganz nett hier.« »Wohl eher im Gegenteil«, erwiderte er kühl und ließ mich schnauben. »Warum bist du überhaupt hier?«, wollte ich wissen und vergrub meine Hände in den Hosentaschen. »Kannst du lesen?« »Was?« Ich verengte meine Lider. »Denn wenn ja, dann frage ich mich, was du hieran nicht verstehst.« Er deutete auf das Schildchen, das an seinem Hemd befestigt war. Praktikant. »Das beantwortet nichts – im Gegenteil«, spöttelte ich, »da stellen sich nur noch mehr Fragen.« »Fragen, die du dir nicht stellen musst, weil es dich nichts angeht, Wheeler.« Ich zuckte die Schultern, während ich sagte:»Ich hoffe, die Sekretärin lebt noch.« Sein Blick, den er mir daraufhin zuwarf, beunruhigte mich ein wenig. Aber wirklich nur ein bisschen, denn es hinderte mich nicht daran, ihn einzuarbeiten. Das war immerhin der Auftrag, nicht? »Ich muss das neue Zeug da noch etikettieren. Beziehungsweise. Hier.« Ich griff nach dem Gerät und drückte es ihm in die Hand, grinste dabei. »Immerhin bist du ja der Praktikant.« Ich rechnete mit Protest, einem eiskalten Kommentar, Abweisung und Hohn. Stattdessen nahm er die Etikettiermaschine und begann. Ich zog die Liste von vorhin von dem Regal und hakte ab, welche Spiele jetzt wieder vorrätig waren, verglich Bestellungen und Nachfragen von Kunden zu Produkten, die erst noch offiziell erscheinen sollten und notierte mir, wie viele wir beim Großhändler bestellen sollten. Meine Zunge hing mir irgendwann am Gaumen und das Papier der Liste wellte sich, weil meine Hände so schwitzten. Trotz T-Shirt und kurzer Hose fühlte ich mich klatschnass. Am liebsten hätte ich mich ausgezogen und wäre in einen Weiher gesprungen. Stattdessen stand ich in einem viel zu vollgestopften, viel zu heißen Raum mit Kaiba, der unerschütterlich seinen Mantel anbehielt, als könnte er so schneller wieder von hier verschwinden. Wir arbeiteten stumm nebeneinander her, tolerierten den anderen, wichen uns aus, wie bei einem Tanz mit einstudierten Schritten. Ich erzählte ihm, während er etikettierte, wie was einsortiert wurde und die Kundenkarten auszufüllen waren – er nannte es archaisch, ich freundlich. »Weißt du, du kannst dich auch ausziehen«, schlug ich ihm vor, nachdem wir knapp zwei Stunden ohne Probleme unseren Kram erledigt hatten, was ich erstaunlich genug fand. Ich fächelte mit meinem T-Shirt-Saum in der Hoffnung, so ein Lüftchen abzubekommen. »Ich mein – weil es heiß ist.« Ich erstarrte. In meinem Kopf hatte es sich noch nicht so angehört. Das war der Punkt, an dem ich in meinen Gedanken meinen Kopf an das nächste Regal schlug. Ich kritzelte hastig Auftragsnummern auf meine Liste. »Ich meinte, weil es hier so heiß ist – nicht – also – egal.« »Wenn das dann alles war«, erwiderte er nur, ignorierte mein Gestammel und drückte mir die Etikettiermaschine gegen die Brust, »dann gehe ich jetzt richtiger Arbeit nach.« Er drehte sich um, verschwand im Zwischenraum, eindeutig Richtung Ausgang und ließ mich wie einen Trottel stehen. Als Kaiba gerade Worte mit Herrn Muto wechselte, stürmte ich in den Verkaufsraum und giftete, dass der Arbeitstag noch nicht vorbei war und er den Rest nicht schwänzen könnte. »Es ist beinahe amüsant, dass ausgerechnet du mir das sagst«, entgegnete er trocken, hob die Hand und trat aus der Tür. Die Glocke, die dort befestigt war, klingelte und es klang wie spöttisches Kichern. Verärgert wandte ich mich an Herrn Muto, der mir nur eine Hand auf die Schulter legte und lächelte. (Daher hatte Yugi das also.) Ich wollte gerade meinen Mund öffnen, als Yugis Opa mir zuvorkam:»Er hat eine Befreiung für den Nachmittag – irgendeine Konferenz. Die Schule hat das im Rahmen des Praktikums erlaubt. Immerhin soll das Praktikum berufspraktische Einblicke gewähren. Und wenn er in der Kaiba Corp. keine solchen Einblicke hat – dann wohl nirgends.« Mit einem Schnauben machte ich mich wieder Richtung Lagerraum auf. Manchmal war das Leben einfach verdammt ungerecht. Kaiba war ein genialer Geschäftsmann, aber taugte nichts als Praktikant. Ich war ein genialer Praktikant und taugte nichts als Geschäftsmann. Und dazu hatte er auch noch eine Klimaanlage in seinem Büro. Und ich – ich hatte nicht einmal ein Büro. Kapitel 20: … ist berühmt ------------------------- __________________________________________ Berühmt sein ist Bekanntsein bei Menschen, die man nicht kennt. Charlotte Stieglitz (1806 - 1834) __________________________________________ Seto Kaibas Name bedeutete für Kinder abgefahrenes Spielzeug und für deren Eltern eine ganze Stange Geld, die sie dafür bezahlen mussten. Mit seinem Namen verband man nicht nur internationale Geschäfte, sondern auch Ideenreichtum und Innovationen. Sein Name verursachte Aufruhr und Raunen. In Wirtschaftsmagazinen hieß der Name Kaiba Erfolg und Aufschwung. In Magazinen zu Games verknüpfte man den Namen mit Neuerscheinungen und Hype. Ich verband mit ihm Hundekommentare und Arroganz, die einen – insbesondere mich – zum Rasen brachte. Ich wusste ja noch nicht, dass sich das ändern würde. Hinter dem Geschäft, das Yugis Großvater betrieb, gab es einen kleinen Garten mit einem Apfelbaum, der Schatten spendete. Blumenbeete umsäumten die Rasenfläche vor dem Gartenzaun aus Holz und in einem Teich schwammen Goldfische. Wenn ich Pause machte, dann legte ich mich gerne an den Baumstamm und schloss die Augen für eine Weile oder beobachtete die Fische. Vögel zwitscherten, über mir erstreckte sich der Sommerhimmel, eine warme Brise strich über meine Arme. Es war fast wie Urlaub – nur halt für kurz. Yugi lehnte neben mir und schaute hinauf in die Äste. »Ich hab große Lust auf einen DVD-Abend oder/und Spiele-Abend, Joey, was sagst du?« Ich brummte. »Bist du müde?« Ich brummte. »Hast du schlechte Laune?« Ich brummte. »Hat es etwas damit zu tun, dass Kaiba hier auch das Schulpraktikum macht?« Ich öffnete ein Auge und schaute ihn düster von der Seite an. »Du hättest es mir wenigstens vorher sagen können«, grummelte ich. »Ich wusste es nicht viel früher als du«, verteidigte er sich und ich brummte nur – schon wieder. »Ein DVD-Abend klingt gut – wir können auch zocken. Ich hab schon eeeeewig kein DuelMonsters mehr gespielt«, murmelte ich, was meiner Art einer Versöhnung entsprach. »Ich dachte eher an Monopoly und so.« »Monopoly zu zweit?«, erwiderte ich zweifeln. »Hört sich nicht sehr genial an.« »Tristan würde auch kommen.« Ich fuhr hoch, als hätte er mir kaltes Wasser über geschüttet. »Was? Wieso?« »Weil wir befreundet sind, Joey, erinnerst du dich?« Mit einem Ziehen im Magen stimmte ich ihm zu, aber mein Gesicht verzog sich, als hätte ich Bauchschmerzen. »Am besten wir laden Kaiba auch noch ein«, spöttelte ich, »dann haben wir beide Leute zusammen, die mir unter die Nasen reiben können, was fürn Loser ich bin.« Der Satz endete auf ein Schnauben. »So ein Unsinn«, widersprach Yugi und stierte mich an, »du weißt genau, dass Tristan das nicht macht.« Er wollte auch Kaiba einbeziehen, aber bei meiner Miene, ließ er wenigstens das. »Ja, nee. Ist klar.« Mit einem Blick auf mein Handy erhob ich mich und reichte Yugi meine Hand, an der er sich hochzog. Die Mittagspause war vorüber. »Wer weiß. Vielleicht eifert er jetzt in seinem Praktikum so arg Kaiba nach, dass er das auch schon drauf hat«, mutmaßte ich und die Ironie zwischen meinen Worten klebte mir auf der Zunge, hinterließ so einen ekligen Geschmack. »Du spinnst, Joey, und du bist stur. Du solltest einfach mal mit Tristan reden.« Yugi trottete mir hinterher, quer über den Rasen, zurück zum Hintereingang des Geschäfts. Die Sonne blendete mich, aber ich konnte mir seinen Gesichtsausdruck eh viel zu gut vorstellen. »Und warum glaubst du, dass das was bringt?«, fragte ich gereizt. Yugi brachte mich mit seinen nächsten Worten zum Innehalten und ließ mich einfach im Eingang stehen. »Immerhin bist du der, der Kaiba dazu gebracht hat, mit dir zusammenzuarbeiten.« Ich biss mir auf die Lippe. »Ich muss wieder zurück. Komischerweise wird es nach der Mittagspause immer besonders hektisch im Krankenhaus. Ich hab mich schon gefragt, ob Leute das irgendwie unbewusst timen. Dass sie sich nach der Mittagspause verletzten, meine ich«, plauderte Yugi, während er ich das Schild von der Tür auf »Offen« umdrehte. »Wo ist eigentlich Kaiba?«, fragte er dann nach, als wäre ihm dessen Abwesenheit eben erst aufgefallen. »War für den Vormittag entschuldigt, irgendeine blöde Konferenz angeblich, müsste aber bald kommen, meinte er zumindest, aber wer weiß. Vielleicht musste er ja nach China für ein Geschäftsessen«, antwortete ich trocken, Yugis Augen weiteten sich, während die helle Klingen der Glocke erklang, »vielleicht ist er sich aber auch einfach nur zu fein, um hier zu arbeiten.« »Vielleicht halte ich dich auch einfach nur für zu verlaust«, ließ mich eine dunkle Stimme herumfahren. Kaiba stand im Eingang mit einem dunkelblauen Anzug und weißem Hemd. Seine Krawatte leuchtete in einem Royalblau (auch, wenn ich den Namen des Farbtons erst später herausfinden sollte) und seine Augen ruhten auf mir, als könnte er mich damit erdolchen. Ich erwiderte seinen Blick versucht unschuldig – was mein Sarkasmus gleichzeitig zunichte machte. »Wie traurig«, behauptete ich, »das heißt dann wohl, dass du nicht kommen willst zu unserem DVD-Abend. Ich bin so was von gekränkt.« Ich wandte mich an Yugi, zeigte mit meinem Daumen zurück zu Kaiba, als würde er die Schuld tragen. »Siehst du, das mit Tris wird nichts.« »Ich glaube, dein Gehirn hat auf Sparmodus umgeschaltet – mehr als sonst«, entgegnete Kaiba ruhig, aber ich hörte seinen schweren Atem, als müsste er sich zügeln, »ich wüsste nicht, was dein Freund mit mir zu tun hätte.« »Echt nicht? Ich dachte, ihr hängt seit neuestem zusammen rum«, erwiderte ich sarkastisch, »wo er doch das Praktikum in deiner tollen Firma macht.« Yugi seufzte und kam zu mir, stand mir gegenüber, wollte mir gerade seine Hand auf die Schulter legen, als Kaiba einfach in den Raum stellte, dass – was auch immer. »Du hast dich nicht bei der Kaiba Corp. beworben.« »Hä?« Ich stemmte die Hände in meine Seiten. »An welchem Wort genau scheitert dein Verständnis?«, spottete er. »An keinem Wort. An deiner Visage hier in diesem Laden, Geldsack.« »Dieses Wort – hast du das von mir gelernt, Köter?« »Nö, das Wort Geldsack kannte ich schon, bevor ich dich kannte. Hätte nur nie gedacht, einen kennen zu lernen. So in live und Farbe.« »Weil du in deinem Milieu verhaftet bist, in dem es bereits herausragend ist, keine Drogen zu nehmen?« Er fragte es allem Anschein nach, aber die Beleidigung roch ich zehn Meter gegen den Wind – obwohl ich kein Hund war! »Weil ich kein Praktikum in deiner ach-so-tollen Firma machen wollte«, erwiderte ich betont gelangweilt und täuschte ein Gähnen vor und wenn er für einen Moment verwirrt war, dann kaschierte er es leider zu gut. Ich hätte ihn gerne mit der Mimik bloßgestellt. »Das ist überraschend«, fasste er zusammen. »Weil deine Superfirma so toll ist oder was?« »Du wiederholst dich. Wobei es der Tatsache entspricht«, hier schnaubte ich, »ich meinte allerdings, weil dein Freund ein Praktikum in der KC macht. Du nicht. Was per se unproblematisch wäre, würdest du es ihm nicht offensichtlich übel nehmen. Daraus schließe ich, dass du eifersüchtig auf ihn bist, weil er ein Praktikum dort macht. Mir erschließt sich nur nicht, warum – abgesehen von den üblichen Faktoren, die deine kognitiv limitierte Existenz mit sich bringt – immerhin hast du dich nicht einmal beworben.« Ich zog die Luft zwischen meinen Zähnen ein, jetzt – oder seit wann? – lag Yugis Hand auf meiner Schulter, wahrscheinlich, weil er hoffte, dass die Ruhe, die er ausstrahlte, auf mich überging – stattdessen schwappte Kaibas Arroganz über mich und ließ mich innerlich rasen. »Aber vielleicht ist das auch das Problem«, mutmaßte er, »seit wann hat dich deine große Klappe verschluckt? Seit wann traust du dir nicht einmal mehr zu, zu scheitern?« Meine Nasenflügel bebten, ich holte aus und – starrte hinunter zu Yugi, der nahezu an meiner Faust klammerte. »Nicht, Joey, das bist nicht du«, behauptete er und drückte meine Finger in seinen. Ich spielte mit dem Gedanken, ihn abzuschütteln und ihm zu zeigen, wie sehr das ich war. Erinnerte er sich nicht mehr? Hatte er das nicht oft genug am eigenen Körper erlebt? Wie oft hatte ich ihm diese Seite an mir demonstriert? Und trotzdem glaubte er, dass ich das nicht war? Ich senkte meine Faust, Yugis Hand hielt noch immer meine, was irgendwie für einen Moment seltsam aussehen musste, aber das war mir egal. »Hey, ihr habt geöffnet, oder?« Der zottelige Kopf eines elfjährigen Stammkunden lugte durch die Tür, während er Kaugummi kaute. Das stieß mich auf den Boden der Tatsachen. Seit wann hatte ich mich wieder so schlecht unter Kontrolle? »Ja, haben wir. Komm rein, Shin«, antwortete ich ihm und brach den Kontakt zu Yugi geradezu fluchtartig ab. »Wow! Seto Kaiba!«, rief der Junge und fragte nach einem Autogramm. Mir kam die Galle hoch, während ich mich umdrehte und Richtung Kasse schlurfte. »Alles okay?«, raunte Yugi, der neben mir trottete und ich zuckte die Schultern, nickte, atmete tief durch. »Yugi, ich –« »Lass den Kopf nicht hängen, Joey, ich muss jetzt wirklich los!« Er war schon viel zu spät dran. Ich nickte und versuchte ihn anzulächeln. Wahrscheinlich scheiterte ich kläglich. »Zum letzten Mal. Wenn du mich weiter belästigst, werde ich dich verklagen und deine Eltern und deren Eltern«, hörte ich Kaibas kühle Stimme, was mich meine Augen verdrehen ließ. Yugi schickte mir einen letzten aufmunternden Blick, bevor er durch die Tür nach draußen verschwand. Shinichi zog die Nase kraus, was die Sommersprossen darauf zum Tanzen brachte. »Ich glaube, was er sagen wollte«, bemühte ich mich um einen freundlichen Ton, während ich Kaiba anfunkelte, »wenn du ein Autogramm haben willst, dann brauchst du ein gescheites Papier oder so, wo es drauf soll, dein Kaugummipapier«, ich beäugte es, »ist eher nicht so cool. Warte.« Ich kramte in einer der Schublade, die Werbematerial für die verschiedenen Meisterschaften enthielt und zog eine Sammelkarte heraus. Seto Kaibas Blick wirkte darauf nicht halb so weit unter dem Gefrierpunkt, wie es bei dem echten gerade der Fall war. Ich drückte Kaiba die Sammelkarte in die Hand und wir fochten ein Blickduell aus, was ich zwar verlor, was mich aber nicht davon abbrachte, ihm seine Schwäche vor Augen zu halten. »Wusstest du, Shinichi, dass Seto Kaiba einen kleinen Bruder hat, der ungefähr so alt ist, wie du? Er würde dich bestimmt mögen. Und irgendwie erinnerst du mich an ihn.« Später würde Kaiba behaupten, dass er das Autogramm bereitwillig gegeben hatte – und dass ich nichts damit zu tun hatte. Ebenso wenig sein kleiner Bruder. Ich wusste es besser. Kaiba rauschte Richtung Lagerraum davon und mir strahlte unbeirrt der Junge entgegen. »Cool! Das ist so genial!« Shins dunkle Augen leuchteten, während er die Karte mit dem Autogramm in seinen Fingern hielt, wie einen Schatz, und es betrachtete, als befürchtete er, dass es verschwinden könnte, doch dann sah er mich erwartungsvoll an. »Kann ich auch von dir eins haben, Joey?« »Shinichi, hast du nicht schon –?« »Bitte, Joey. Nur noch eines!« »Und wo soll ich dieses Mal unterschreiben? Du weißt, ich hab keine Karten für so was.« Er streckte mir die Karte mit Kaibas Bild entgegen und forderte mich auf, dort neben Kaibas Autogramm zu unterschreiben. Ich stutzte, aber Shinichis entschlossener Blick, ließ mich die Achseln zucken. Tat ich ihm den Gefallen halt. »Was machst du eigentlich mit den ganzen Autogrammen von Yugi? Tapezierst du damit dein Zimmer?«, scherzte ich. »Oder verkaufst du die oder was?« »Quatsch! Ich behalte die natürlich. Gut, ein paar hab ich Freunden geschenkt.« Er grinste verlegen, was ich mit einem Glucksen quittierte und ihm die Karte zurück gab. »Und was willst du mit meiner Unterschrift? Yugis versteh ich ja noch, hat ja ein paar lokale Wettbewerbe gewonnen – aber –« »Wenn du es wirklich wollen würdest, würdest du da auch gewinnen, Joey. Du bist so chaotisch, dass du ständig die Anmeldungen vergisst, Mensch«, behauptete er, »du musst nur mal endlich hingehen. Du hättest eine echte Chance! Aber wirklich!« Er verließ den Laden mit vier Packungen Sammelkarten und zwei Autogrammen. »Er hat Recht«, zog mich Kaibas Stimme zurück und ließ meinen Kopf zu ihm umdrehen. Er lehnte am Türrahmen zwischen Durchgangszimmer und Verkaufsraum. »Hä? Seit wann stehst du da? Und was meinst du?« Er stieß sich von dem Rahmen ab und schlenderte in den Verkaufsraum, wo er hinter mir stehen blieb, schaute mir über die Schulter, als interessierte er sich dafür, was ich mit meinen Händen tat, dabei zupfte ich nur an den Rändern der Nägel, dort, wo sie an Haut grenzten und zog an kleinen Hautfetzen. Das tat ich vor Nervosität, die ich mir nicht eingestand. »Der Junge. Er hat Recht. Du bist chaotisch«, flüsterte Kaiba, »aber ich glaube nicht, dass du so etwas einfach vergisst, Hündchen.« »Was weißt du schon«, raunte ich, spürte plötzlich seinen Atem in meinem Nacken und erstarrte. »Im Gegensatz zu dir weiß ich, was ich kann.« Als ich mich umwandte, um ihm eine Antwort ins Gesicht zu schleudern, sah ich nur noch seinen Rücken und wie er zurück in den Lagerraum verschwand. Kaibas Anwesenheit blieb nur wenige Tage unspektakulär. Dann drängten sich Kinder und Jugendliche die Nasen an dem Schaufenster platt, weil sie vor Neugier zu platzen schienen, aber sich nicht trauten, Kaiba persönlich vors Gesicht zu treten – zumindest zunächst. Sein Name verursachte auch in diesem kleinen Laden Aufruhr und Raunen. In Wirtschaftsmagazinen hieß der Name Kaiba Erfolg und Aufschwung. In Magazinen zu Games verknüpfte man den Namen mit Neuerscheinungen und Hype. Ich verstand den Wirbel nicht. Yugis Großvater schien das Ganze nicht weiter zu stören. Er lächelte die Neugierigen an, als wollte er sie damit in den Laden locken. Nachdem sich die Neugier mit Willen vermischt hatte, stürmten sie regelrecht den Laden. Als sie aber den Verkaufsraum blockiert und die ersten Sachen von den Regalen geworfen hatten, weil sie sich gegenseitig anrempelten, sprach ich ein Machtwort und verbannte jeden, der nicht nach zehn Minuten etwas kaufen wollte, nach draußen vor die Tür. Ein Wuschelkopf stolperte durch die Menge und schaffte es hinein. Ihm folgte ein Bodyguard. Vielleicht war das der Grund für seinen Erfolg. Mokuba strich sich eine Strähne seines buschigen Haares aus der Stirn und schaute sich um, als müsste er sich orientieren. Dann fiel sein Blick auf mich. »Hey, Joey! Sag mal –«, er hob die Augenbrauen, »ist hier was passiert?« »Dein Bruder ist passiert«, erwiderte ich missmutig, was ihn zum Grinsen brachte. Rolands Mimik blieb unbewegt, während er wie ein Schatten Mokuba folgte, aber ohne in das Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. »Ja, der hat manchmal diese – Wirkung«, gab Mokuba schulterzuckend zu und blieb vor mir an der Theke stehen. »Er ist im Lager und versteckt sich«, behauptete ich und deutete mit meinem Daumen Richtung Gang. »Eigentlich wollte ich zu Yugi«, erklärte Mokuba, »wir wollen nämlich bald ein Turnier organisieren. Und ich wollte Yugi fragen, ob er mitmachen will. Seto meint, –« »Wer ist wir? Und warum fragt dein Bruder ihn das nicht selbst?«, unterbrach ich ihn mit gehobenen Augenbrauen. »Seto und ich. Also offiziell die Kaiba Corp. Und – naja – Seto ist da ein bisschen – kompliziert«, erwiderte Mokuba ernst und ich tauschte den Ausdruck gedanklich mit arrogant, seit seiner Niederlage gegen Yugi eingeschnappt, angepisst, wie ein beleidigtes Kind – doch ich schnaubte nur leise, sagte stattdessen:»Ja, nee. Ist klar.« Mokubas Blick schweifte durch den Verkaufsraum, blieb mal hier, mal dort hängen. Mit den Händen in den Hosentaschen, dem chaotischen Haar und seinen Augen, die trotz des Blautons, der dem seines Bruders ähnelte, keine Spur von Eis bargen, sah er aus wie ein Kind, das sich nicht entscheiden konnte, was es sich von seinem Taschengeld holen sollte. Dabei war ich mir sicher, dass Kaiba ihm jeden Wunsch erfüllen, ihm den verdammten Laden kaufen würde, hätte sein kleiner Bruder es wirklich gewollt. »Warum rufst du nicht einfach Yugi an? Ich mein, warum kommst du hier extra vorbei?«, wollte ich wissen, doch er winkte ab. »Achwas, Roland musste sowieso Seto abholen und dann dachte ich, kann ich gleich mitkommen. Seto hat mir auch versprochen, dass wir ein Eis essen gehen. Aber er vergisst so was gerne mal. Also bin ich einfach hierher. Wäre cool gewesen, wenn ich die Sache mit Yugi gleich hätte klären können, aber Seto hat ihm eh schon die Einladung per Brief senden lassen. Aber so kann ich jetzt auch mit Seto ein Eis essen.« Mein Blick wanderte von Mokuba zu der Glasscheibe, hinter der sich etliche Kinder und Jugendliche tummelten, dann rief ich Kaibas Namen nach hinten über meine Schulter, als würde er mich schon allein durch den Klang nerven. Sein Name verursachte in diesem kleinen Laden Aufruhr und Raunen, aber er trug die Fähigkeit, Firmenbosse erzittern, Wirtschaftsexperten schwärmen und mich ausrasten zu lassen. Das Faszinierendste aber war, wenn Seto Kaibas Name seinen kleinen Bruder lächeln ließ. Kapitel 21: … ist kundenorientiert ---------------------------------- __________________________________________     Ein gut beratener Kunde hat einen großen Bekanntenkreis – ein schlecht beratener kennt die halbe Stadt! © Marc Borlinghaus   __________________________________________           Seto Kaiba war ein Stratege, der die Entwicklung des Marktes im Auge behielt und prognostizieren konnte, seitdem er elf Jahre war. Sein Führungsstil zeichnete sich durch Strenge und Klarheit aus. Trotz anders lautender Gerüchte trat er seinen Mitarbeitern gegenüber fair auf, denn er wusste, dass der Erfolg eines Unternehmens mit treuen Beschäftigten stieg und fiel. Er arbeitete zudem kundenorientiert. Was in seinem konkreten Fall bedeutete, dass er sich so wenig wie möglich persönlich um deren Belange kümmerte. Dafür hatte er ja Mitarbeiter, auf die er zählte.   »Ein Turnier?«, hakte Yugi nach. »Ja, Mokuba meinte, Kaiba hätte dir schon die Einladung zusenden lassen, aber Mokuba wollte dich auch persönlich fragen, deswegen war er hier.« Yugi nickte, während wir hinten im Garten saßen und Wassereis verschlangen. Neben uns plätscherte der Teich, irgendwo hupte ein Auto, aber ansonsten herrschte Ruhe. »Achja, wie sieht's aus, Joey? Wir wollten doch mal wieder einen Spielabend machen, nicht?« Ich nickte, schlürfte abwesend mein Eis und lehnte mich mit dem Rücken an den Baum. »Warum hört es sich so an, als gäbe es gleich noch den Haken?«, murmelte ich, was Yugi dazu veranlasste, mir in die Seite zu pieksen. »Es gibt keinen Haken«, behauptete er. Nach einem Moment der Stille, erhob ich mich, reichte Yugi meine Hand, die er ergriff, um sich hochziehen zu lassen. »Ich mach mich wieder Richtung Krankenhaus auf«, verabschiedete sich Yugi und ich nahm meine Position bei der Ladentheke ein. Als er an der Tür war, das Schild auf geöffnet umdrehte, teilte er mir mit einem Lächeln mit:»Tristan kommt natürlich auch.« Und verschwand. Mit einem Grummeln ließ ich die Verpackung des Wassereises in den Mülleimer segeln. Ich wusste nicht mehr, was schlimmer war: Kaiba als Praktikant oder Tristan als Mitspieler. Und warf den Fangirls und -boys vor dem Laden einen düsteren Blick zu.   Am späten Nachmittag – Kaiba hatte sich seit ein paar Stunden mit Herrn Muto in dessen Büro verzogen – stieß er plötzlich die Bürotür auf, was mich hochschrecken ließ. »Ich nehme an, du kannst – deinem Niveau entsprechend – mit Technik umgehen.« Kaiba stellte keine Fragen (oder leitete ein Gespräch durch eine höfliche Floskel ein), er befahl, als könnte er seine Forderungen einfach so mit diesem Ton zur Realität werden lassen. »Ähm – joar«, erwiderte ich irritiert, seine subtile Beleidigung durchaus registrierend, und warf Yugis Großvater einen Blick zu, in dem eindeutig stand:»Was zur Hölle?« Doch Kaiba zwang mich, ihm sofort wieder Aufmerksamkeit zu zollen, indem er mir ein Tablet in die Hände drückte, was mich ziemlich dumm schauen ließ. »Du wirst den Bestand dort in das Programm eintragen. Danach wirst du festhalten, welche Produkte in den letzten vier Wochen gut verkauft wurden, Herr Muto geht die Finanzen durch und anschließend –« »Hey! Moment!«, unterbrach ich seine Befehle, was mir einen genervten Blick von ihm einbrachte. »Was hat dich vom Praktikanten zum Chef mutieren lassen, hä?« »Herr Muto stimmte mit mir darin überein, dass die Finanzen des Ladens – sagen wir – schon einmal bessere Tage erlebt haben. Eine Umstrukturierung wird –« »Warte!«, knurrte ich verstimmt. »Wir sind hier nicht in deiner ach-so-tollen Firma!« »Genau das ist das Problem«, erwiderte Kaiba süffisant. »Joey, ein bisschen Hilfe sollten wir nicht ausschlagen«, schlug Herr Muto einen versöhnlichen Ton an und nahm mich zur Seite. »Du weißt, dass dieser kleine Laden einen schweren Stand hat und –« »Und deswegen tanzen wir nach seiner Pfeife? Wir schaffen das schon! Auch ohne den!«, fragte ich aufgebracht und schaute griesgrämig über die Schulter des älteren Mannes zu Kaiba, der dastand, mit Hemd und Krawatte, als würde er gleich zu einem Geschäftsessen gehen. Herr Muto lächelte mich an und es war wahrscheinlich die Tatsache, dass mich sein Blick so sehr an Yugis erinnerte, den er mir zuwarf, wenn ich etwas Offensichtliches übersah, etwas Naheliegendes noch nicht begriff, dass ich innehielt und seinen nächsten Worten trotz des Ärgers in meinem Bauch lauschte. »Es wäre ziemlich dumm, seine Hilfe aus falschem Stolz heraus auszuschlagen. Überhaupt sollte uns Stolz nicht im Wege stehen, wenn es um wichtige Dinge geht. Findest du nicht?« Ich hatte das Gefühl, dass er nicht nur von dieser Sache sprach.   »Nein! Letzten Satz löschen – nein, verdammt, letzte zwei Sätze lö- ach, oh, Mann, ich schreib's einfach«, verzweifelte ich an der Spracherkennung und tippte die Produktnamen einfach selbst ein. Wir standen im Lagerraum und während ich den Bestand in das Tablet übertrug, verzeichnete Kaiba eine neu eingetroffene Ladung von Spielen. Ein Großteil stammte direkt aus der Kaiba Corporation. »Bei deiner Aussprache ist es ein Wunder, dass der Computer überhaupt die Sprache erkannt hat«, klatschte mir Kaiba um die Ohren, was mich knurrend aufschauen ließ. »Du könntest auch helfen«, erwiderte ich grimmig. »Es ist meine Idee, die hilft, diesen Laden aus der Versenkung zu hieven.« »Schön«, schnaufte ich, hörte die Klingel aus dem Verkaufsraum und grinste ihn gehässig an, »dann übernimmst du aber die Kunden.« Vielleicht wollte er sich eine Diskussion sparen oder aber er dachte wirklich, dass letzteres die günstigere Option für ihn war, jedenfalls verschwand er durch die Tür Richtung Verkaufsraum und ließ mich erst überrascht, dann genervt zurück. Das aber auch nur für knapp zehn Minuten, denn dann hörte ich, wie ein Schluchzen vom Verkaufsraum zu mir drang. Ich spitzte die Ohren. Eindeutig. Da war es wieder. Also legte ich den Karton zur Seite und verließ den Lagerraum zügig (und mit einer gewissen Neugier).   Als erstes sah ich ein Mädchen, das mich neben seiner aufgebrachten Mutter mit verquollenen Augen anblinzelte, dann schwenkte mein Blick zu Kaiba, der mit versteinerter Mimik der Situation nur beizuwohnen schien. »Was ist denn passiert?«, raunte ich ihm zu, schenkte dem Kind ein breites Lächeln und beschwor, dass alles wieder gut werden würde. Was auch immer alles war. »Ich erklärte ihr, dass wir beschädigte Ware nur zurücknehmen, wenn es sich um einen Produktionsfehler handelt – und das ist eindeutig keiner.« Das Mädchen hielt eine Sammelfigur in der Rechten, deren Flügel abgebrochen war. In der anderen Hand hielt sie ein Stück Flügel. »Aber –«, wimmerte das Mädchen und sah mich an, »jetzt kann die Fee nicht mehr fliegen, Joey.« »Abgesehen davon, dass die Figur rein physikalisch auch davor nicht in der Lage dazu war«, begann Kaiba kühl, doch ich unterbrach seine Belehrung, in dem ich einen Sekundenkleber aus der Schublade kramte, dem Mädchen die Figur aus den Fingen nahm und den kleinen Flügel an den Körper der Fee klebte. Die Augen des Mädchen weiteten sich, dann glänzten sie, als ich ihr noch eine Verpackung mit einer weiteren Feenfigur entgegenhielt. »Pass gut auf die beiden auf, Yuna.« Sie nickte eifrig und ihre Mutter bedankte sich mehrmals, während sie ihre monatliche Bestellung an Puzzles, Kreide und Ersatzfiguren für bekannte Gesellschaftsspiele aufgab. Als die beiden gegangen waren, blitzte ich Kaiba an. »Sie ist die Leiterin der Kindertagesstätte ein paar Straßen weiter. Hast du eigentlich –« »Es war kein Produktionsfehler. Das Mädchen hat die Figur eindeutig fallen lassen«, warf er ungerührt ein und ließ mich stehen. Wahrscheinlich war es wirklich besser, Kaiba von Kunden fernzuhalten.   »Ihr seid ja immer noch hier«, begrüßte uns Yugi am frühen Abend, steckte seinen Kopf durch die Tür zum Lager und ich schaute auf die Uhr. »Oha, ja, ich – hab irgendwie die Zeit vergessen«, murmelte ich und senkte meine Hand mit dem Tablet, während Kaiba von irgendwelchen Unterlagen aufsah, die er mit den Spielen verglich. »Wo ist Großvater?«, fragte Yugi und ich schaute verwirrt zu Kaiba, der meinen Blick wortlos erwiderte. Eine Antwort seinerseits war wohl wirklich der Höflichkeit zu viel. »Ähm –« Oder auch nicht. »Er ist sicherlich noch in der KC«, entgegnete Kaiba, als wäre das ganz normal. Meine Augenbrauen schossen nahe an meinen Haaransatz. Yugi überspielte sein Erstaunen eleganter und fragte lediglich:»Wirklich? Was wollte er denn da?« »Ich habe eine hervorragende Finanzabteilung«, erklärte Kaiba kurzangebunden. Yugi und ich tauschten einen Blick. »Ahja, also – Joey, wie war das eigentlich? Wie wäre es dieses Wochenende mit unserem Spieleabend?« Der Themenwechsel brachte mich dazu, über meine eigenen Worte zu stolpern. »Ja, also – mh – joar, warum nicht? Dann hauen wir uns Eis ohne Ende rein und zocken.« Yugi stimmte zu und wandte sich an Kaiba. »Wie sieht es aus? Hast du Lust –« Mit jedem seiner Silben weiteten sich meine Pupillen, während sich Kaibas Augen verengten. Doch bevor Yugi die Katastrophe durch seine Frage provozieren konnte, klingelte Kaibas Smartphone. Er zog es aus seiner Hosentasche und antwortete ohne eine Begrüßung. »Ja, ich bin unterwegs. Entschuldige. Ja, es ist alles okay. Bis gleich.« Mit einem Blick, der sagte, dass diese Frage besser unbeendet blieb, schnappte er sich seinen Aktenkoffer und rauschte aus dem Laden. Meine Augen klebten an der Tür des Lagerraums, schnellten dann zurück zu Yugi, ehe ich ihn fragte, als würde ich mit einem psychisch labilen Patienten reden:»Wolltest du gerade echt Seto ich-bin-ein-arroganter-Großkotz Kaiba zu unserem genialen Spieleabend einladen? Bist du noch ganz – hast du – bist du verrückt?« Yugi hatte die Nerven, mir ohne Schuldbewusstsein entgegen zu blinzeln. »Ich glaube, Joey, dass das eine gute Idee gewesen wäre.« »Da müssen wir aber nochmal diskutieren, was gute Idee überhaupt heißt«, schnaufte ich.   Wochenende hieß eine Pause vom Alltag. All die Menschen, die mich sonst nervten (insbesondere Kaiba und achtzig Prozent der Lehrer) wusste ich weit weg von mir. Stattdessen durfte ich meine Zeit mit wirklich wichtigen Menschen verbringen. Normalerweise war das eine Garantie für ein paar super gute Stunden. Stattdessen schritt ich in meinem Zimmer auf und ab und rang meine Finger. Der Gedanke, Tristan gegenüberzutreten war alles andere als super. Mich durchbohrten zwei Gefühle. Da war Ärger – und Scham.   Ich klingelte an der Hintertür, dort, wo man über eine Wendeltreppe gleich in die Wohnung der Mutos gelangte, die über den Geschäftsräumen lag. Yugi begrüßte mich mit einem traurigen Lächeln. »Tristan hat abgesagt.«   Wir saßen in Yugis Zimmer und ich konnte nicht anders als ein schlechtes Gewissen zu haben. Irgendwie war es meine Schuld. Das hieß natürlich nicht, dass Tristan keine traf. Statt eines lustigen Abends saßen wir stumm nebeneinander und schauten fern. »Ich mein – so schlecht ist es doch nicht. Haben wir halt einen entspannten Abend zu zweit«, versuchte ich Yugi aufzumuntern. Er schaute mich an und ich fragte mich, wann ich zu dem Optimisten unseres Gespanns mutiert war. »Vielleicht hast du Recht«, seufzte Yugi, doch sein Ton erzählte etwas Anderes und bei seinen gesenkten Schultern und den hängenden Mundwinkeln, nahm ich mir fest vor, die Sache mit Tristan zu klären. Sachlich und erwachsen.   Das Praktikum mit Kaiba entwickelte eine Routine, die ich niemals von uns erwartet hätte. Während er das ganze Zeug übernahm, das ich sonst gerne bis zuletzt aufschob (vorzüglich das, was mit Rechnungen und Verträgen zu tun hatte), überließ er mir alles, was mit direktem Kundenkontakt zu tun hatte. Als ich von der Theke aufsah, wo ich gerade das Formular für Werbematerial bei der KC ausfüllte, schob sich ein wohlbekanntes Gesicht vor meine Nase.   »Was machst denn du hier?«, fuhr ich ihn an. Tristan zuckte die Schultern. »Ich treff mich mit Yugi. Ist er schon da?« Diesmal zuckte ich die Schultern. »Er müsste gleich kommen. Arbeitet normalerweise immer ein bisschen länger im Krankenhaus.« Wir sprachen miteinander, als würden wir uns nur oberflächlich kennen, wie Nachbarn, die sich nur grüßten oder mit dem Apotheker, dessen Name man nicht einmal wusste. »Sonst noch was?«, fragte ich. Er schüttelte den Kopf und drehte sich um, schlenderte durch den Laden. Ich rieb mir über die inneren Augenwinkel, als könnte ich so eine klare Sicht auf die Situation bekommen. Jetzt wäre die Möglichkeit. Sachlich und erwachsen. Keine Eskalation.   »Hör zu«, wollte ich sagen, »die ganze Sache ist doch blöd. Sorry, Alter, lass uns –« Irgend so etwas. Ein paar Worte, die diese Distanz durchbrachen. Stattdessen kritzelte ich in dem Formular herum und schwieg. Yugi tauchte auf, begrüßte mich und Tristan, ließ seinen Blick zwischen uns hin und her wandern, sagte aber nichts dazu und verabschiedete sich wieder, Tristan folgte ihm, murmelte ein »Jo, dann« und ließ mich in dem Geschäft zurück, ohne mich nochmals anzusehen.   »Bist du langsam fertig damit?« Ich fuhr zusammen, als Kaibas Stimme hinter mir erklang, mein Blick huschte zu ihm. Er stand da, lehnte am Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt, dann wanderten meine Pupillen wieder zu dem Dokument. Ich schob meine Lippen vor, kratzte mich mit dem Ende des Stifts in meiner Hand an der Schläfe. »Ja, hab's ausgefüllt.« »Ich meinte, mit dem infantilen Gehabe«, stellte er klar. »Was weißt du schon«, grummelte ich. »Infantil bedeutet übrigens kindisch, Wheeler. Was dein Verhalten gegenüber Taylor auf den Punkt bringt.« »Seit wann bist du der Experte für Freunde, hä?«, höhnte ich, schnaubte und schaute dann auf die Uhr. »Ist schon spät, solltest deinen Bruder nicht schon wieder warten lassen.« »Und seit wann bist du der Experte für Brüder?«, fragte er trocken. Ich blieb ihm eine Antwort schuldig, warf ihm nur einen düsteren Blick zu. Vielleicht war das auch Antwort genug. Mir kam es jedoch so vor, als amüsierte er sich lediglich darüber. Er nahm seinen Mantel von der Garderobe im Zwischenzimmer – den er trotz hochsommerlicher Temperaturen immer mitnahm – zog ihn sich drüber und hielt mir dann seine Hand auffordernd entgegen. Ich starrte sie an, dann seine Mimik. Seine Augenbrauen wanderten Richtung Haaransatz. »Das Formular«, verbalisierte er seine Geste und ich verstand endlich, was er wollte. Mit einem genervten Seufzen drückte ich ihm das Papier in die Finger. Als gäbe es nichts Wichtigeres. »Mokuba lädt dich diesen Samstag zum Essen ein. 18 Uhr. Sei pünktlich, Wheeler.« Mit diesen Worten ließ er mich in dem kleinen Laden stehen.   »Was meinst du mit ich bin auch eingeladen?«, fragte ich ungläubig. Yugi streckte sich und ließ seinen Blick in die Äste des Baumes wandern, unter dem wir saßen. Es war Mittag und die Sonne brannte auf das Gras. Wir hatten uns in den Schatten geflüchtet und sahen den Fischen beim Schwimmen zu. »Samstag, 18 Uhr. Ich bin eingeladen zum Essen wegen – diesem Turnier.« Ich warf ihm einen Blick zu. »Und was soll ich dann da?«, verlangte ich zu wissen, als ob Yugi mehr wüsste als ich. Er schaute mich mit seinen großen Augen an und zuckte die Achseln. »Vielleicht weil du mitmachen willst?« »Will ich nicht«, grummelte ich. »Und überhaupt. Kaiba hat diesen Befehlston drauf, bei dem ich kotzen könnte. Am besten ich sag einfach ab. Soll er gucken, was er bekommt, wenn er mich so behandelt.« Yugi seufzte, vielleicht, weil er nichts dagegen einwenden konnte. Kaiba hatte nun einmal diese Art an sich. »Mit einem hat er aber recht«, behauptete er und ich horchte auf. »Du könntest die Sache mit Tristan langsam mal klären.« »Hä? Das hat er doch gar nicht gesagt«, erwiderte ich und obwohl es wie eine Tatsache klingen sollte, hörte es sich eher wie eine Frage an.   Am nächsten Tag fixierte ich Kaiba, während er den Aktenkoffer im Zwischenraum abstellte, seinen Mantel an die Garderobe hing und den Laptop aus seiner Tasche zog. »Ich komm nicht«, warf ich ihm einfach an die Stirn, ohne Begrüßung, ohne Floskel, ganz so, wie er es auch selbst gerne machte, »ich meine wegen Samstag.« Und konnte förmlich sehen, wie er sich aufrichtete, seinen Laptop in den Fingern, um mich dann mit seinem Blick in den Boden zu stampfen. »Wheeler«, knurrte er und für einen Moment befürchtete ich, dass er mich mit dem Gerät in den Händen verprügeln würde. Ich straffte meine Schultern. »Wirklich mal«, unterbrach ich ihn, ehe er hätte anfangen können, »was soll ich da überhaupt. Es geht doch um dieses Turnier, nicht?« Ich wappnete mich für den Sturm, der gleich über mich hinweg fege würde. Ich sah es schon in Kaibas Augen. Das Eis und die Zerstörungswut. Wie ein Blizzard. »So sehr ich es auch begrüße, dass du deine fehlende Kompetenz angemessen einzuschätzen weißt«, scharrte er, »hat sich Mokuba in dem Irrglauben verloren, dass deine Anwesenheit sich positiv auf die Gespräche auswirken könnte. Du repräsentierst einen Faktor, den absolut durchschnittlichen Kunden, den das Turnier darauf aufmerksam machen soll, das Spiel zu erwerben.« Durchschnittlich klang wie eine Beleidigung aus Kaibas Mund. Ich verschränkte meine Hände vor der Brust, reckte mein Kinn, ehe ich mich umwandte. »Du kannst mich mal. Such dir doch einen anderen durchschnittlichen Faktor.«   Die nächsten Tage zogen an mir vorbei. Ich zählte sie, als erwartete mich eine Prüfung, für die ich keine Zeit hatte zu lernen. Ich versuchte es zu ignorieren, aber das Treffen Samstag war in mein Hirn eingebrannt. Obwohl ich Kaiba schon abgesagt hatte, erinnerte ich mich immer wieder, warum ich nicht kommen würde, diskutierte mit mir, ertappte mich dabei, wie ich aus dem Fenster starrte und mir vorstellte, was bei diesem Essen herumkommen würde. Umso zerknirschter schaute ich auf, als freitags ein Wuschelkopf in das Geschäft marschierte und mich mit der ganzen Sache konfrontierte. »Hey, Joey!“, begrüßte mich Mokuba und ich teilte ihm sofort mit, dass sein Bruder gleich fertig sein müsste, gerade noch kurz im Lager verschwunden war. »Ich wollte sowieso mit dir reden.« Ich betrachtete ihn neugierig, während ich eine Zeitschrift über die Neuerscheinungen auf dem Games-Markt in meinen Händen senkte. »Was gibt’s?« »Hat Seto dich für morgen wirklich eingeladen?«, wollte Mokuba wissen. Ich nickte langsam. »Also – er meinte eigentlich, dass du mich einladen wolltest. Aber wie auch immer – ich habe schon abgesagt.« Er zuckte die Schultern. »Reine Formsache«, erklärte er und ich runzelte meine Stirn, was er aber nicht weiter kommentierte. »Also – ich hab vorgeschlagen, dass wir grillen. Diese Treffen werden total schnell langweilige Geschäftsessen. Und – ich hab gehofft, wenn du dabei bist – also – dass wir grillen und so – weißt du, so als wären wir alle – befreundet.« Nach einem Moment Stille, seufzte ich. »Und hast du das Kaiba auch so gesagt?« Mokuba hob seine Augenbraue. »Hast du ihn schon einmal mit Kunden erlebt?«, fragte er statt zu antworten. Ich schnaubte, meine Mundwinkel zuckten. Mokuba nahm es als Bejahung. »Ich habe ihm gesagt, dass es sich positiv auf die Kundenorientierung auswirken könnte. Ich glaube einfach, dass er das einfacher schlucken kann, als die Tatsache, dass er dich mag und ein Abendessen mit dir einfach so viel besser wird, als ein blödes Geschäftsessen mit langweiligen Geschäftsleuten.« Mein Kiefer klappte auf und ich war dabei lautstark zu protestieren, als mich Mokuba mit einfachen Worten verstummen ließ. »Ah! Großer Bruder, da bist du ja!«   Ich drehte mich zu den beiden um. Mokuba drängte sein Gesicht an Kaibas Oberkörper, lächelte, während Kaiba ihn mit einer Hand an sich drückte, in der anderen seinen Aktenkoffer. Ich schob meine Lippen vor, wusste schon jetzt, dass ich es wahrscheinlich bereuen würde. »Dann bis morgen«, seufzte ich. Kaibas Blick fing meinen auf. Seine Lippen kräuselten sich. Mokuba strahlte. Ich nickte den beiden zu und verzog mich hinter die Theke, hob das Magazin in meinen Fingern wieder vor meine Nase.   Kaibas Kundenorientierung zeichnete sich durch ein Ausweichen an persönlichem Kundenkontakt aus. Dafür hatte er ja seine Mitarbeiter. Die Sache war, dass er nicht mit seinem Bruder gerechnet hatte. Oder mit mir.   Kapitel 22: … ist ein Geschäftsmann ----------------------------------- __________________________________________   Ein Geschäftsmann ist eine Gerade, ein Künstler eine Kurve. Sully Prudhomme   __________________________________________           Seto Kaiba hatte ein Unternehmen übernommen, als ich es kaum schaffte, meine Hausaufgaben ordentlich zu machen. (Nicht, dass ich es irgendwann schaffte.) Während er ein angesehener Geschäftsmann wurde, hangelte ich mich mehr schlecht als recht von einer Klassenstufe zu der nächsten – und das auch noch zur Überraschung meiner Lehrer. Er war auf Wirtschaftsblättern abgebildet. Als jüngster Geschäftsmann des Jahrhunderts proklamiert. Ich als Klassenclown. In ihm sah man Potenzial, die Unternehmenslandschaft zu verändern. In mir sah man Potenzial, in der Pause das Klassenzimmer abzufackeln.   Mein Handy zeigte Punkt achtzehn Uhr, als ich den Weg hinauf Richtung Villa schritt, Yugi neben mir. Teure Autos parkten in der Auffahrt. Ein Mann mit wichtigtuerischer Mimik stieg aus seinem, während einige Meter weiter eine blonde Frau mit einem kleinen, komischen Hut sich ihr Kostüm zurechtrückte. Mein Blick wanderte meine Beine entlang. Jeans, Turnschuhe. Ich passte nicht hierher. Warum war ich überhaupt gekommen? Yugi legte mir seine Hand auf die Schulter. »Mach dich nicht verrückt, Joey. Du bist schon richtig hier«, behauptete er mit einem Lächeln. Waren meine Zweifel so deutlich auf meine Stirn geschrieben? »Ja, nee. Ist klar. Ich frage mich nur, warum«, spöttelte ich leise. Er deutete Richtung Villa, was mich seinem Fingerzeig mit Blicken folgen ließ. »Weil Kaiba denkt, dass du richtig hier bist, Joey.« »Quatsch. Mokuba hat –« Er betrachtete mich mit einem Blick, der mir verriet, dass ich etwas nicht begriffen hatte. »Glaubst du auch nur einen Moment, dass Kaiba nicht hinter der Einladung stehen würde? Glaubst du, er hätte dich nicht irgendwie davon abbringen können, hier zu erscheinen?« Kaiba war Stratege. Er ließ sich die Fäden nicht aus den Fingern ziehen. Warum sollte er es diesmal zulassen? Ich seufzte.   Kaibas Angestellte begrüßten uns, nahmen unsere Jacken entgegen, als wären wir viel wichtiger als sie selbst, geleiteten uns nach hinten, (mir war das Verhalten der Bediensteten unangenehm), wo sich an das Esszimmer eine Terrasse anschloss, die den Blick auf einen Teich eröffnete und einen Garten, dem anzusehen war, dass Gärtner extra dafür angestellt waren. Der Rasen war Millimeter genau geschnitten, die Blumen umsäumten die grüne Fläche. Zu den Seiten schlossen sich Steingärten an. Das Wasser plätscherte in einem Brunnen.   »Deine Pünktlichkeit hast du sicherlich nur Muto zu verdanken, also werde ich dir deswegen kein Lob aussprechen, Köter«, raunte mir Kaiba entgegen, während er aufstand und mir, die Form wahrend, eine Verbeugung andeutete. Er wiederholte die Prozedur Yugi zugewandt und bedeutete uns, sich zu setzen. »Auch, wenn ich keine Ahnung habe, warum du hier bist«, spöttelte er, während ich mich auf einen der Holzgartenmöbel fallen ließ, was mich fast wieder hätte aufspringen lassen – hätte Yugi mich nicht am Arm gepackt. »Hallo? Geht's noch? Du hast mich eingeladen!«, erinnerte ich Kaiba eingeschnappt. »Mokuba hat dich eingeladen. Und du hattest abgesagt, um im letzten Moment deine Anwesenheit zu prophezeien. Ich hasse Prophezeiungen, Wheeler. Vor allem im letzten Augenblick. Was war los? Hat deine Freundin abgesagt?«, höhnte er. Ich knurrte, hielt mich aber zurück. Yugi zuliebe und weil ich sah, dass Mokuba gerade weiteren Besuchern nach draußen zu uns folgte. »Es gab nur zwei Möglichkeiten. Mokuba zu enttäuschen und nicht zu kommen oder zu kommen und dich ertragen zu müssen«, zischte ich Kaiba entgegen. »Also hast du das kleinere Übel gewählt? Bist du dir sicher?«, fragte er zurück. »Jetzt, wo ich mich dran erinner, was Zusammenarbeit mit dir heißt –«, begann ich, ließ den Satz jedoch unvollendet, als er mir plötzlich viel zu nah kam und in mein Ohr raunte:»Benimm dich, Hündchen. Und amüsier mich.« »Dich? Sollte ich nicht mich amüsieren?« Ich wollte noch etwas erwidern, ihm sein Grinsen aus den Mundwinkeln kloppen, aber da war er auch schon an mir vorbeigezogen und ließ mich einfach stehen, wie einen Depp. Ich klappte meinen Kiefer zu und runzelte die Stirn.   Vor meinen Augen transmutierte Kaiba von arroganter-Geldsack-Schüler in arroganter-Geldsack-Geschäftsmann. Die Unterschiede lagen in den Details. Kaiba nahm die Hand der blonden Frau entgegen (sie war offensichtlich Europäerin oder Amerikanerin), sie ließen Worte fallen wie willkommen, Wetter und Flüge und Termine. Mokuba trat unauffällig dazu und flüsterte uns Infos über die Anwesenden zu, als versuchte er uns so zu wappnen, aber ich konnte ihm kaum folgen, war zu abgelenkt von ihrer Erscheinung. Ihre Nägel waren bunt und ihre Klamotten schrill. Viel zu viele Kettchen hingen an ihren Handgelenken. Sie trug eine Wolke Parfum mit sich, bei der ich mich davor hüten musste, nicht die Nase zu kräuseln. Ich schätzte sie nicht viel älter als fünfzig. Mokuba stellte uns die blonde Frau mit dem komischen, kleinen Hut als Marketingexpertin vor, die für die Werbung des Events verantwortlich war. »Und was für ein süßes Kerlchen bist du?«, fragte sie plötzlich, während sie mir zuzwinkerte und meine Augen weiteten sich, als ich bemerkte, dass sie mich angesprochen hatte – und keinen Zweijährigen, wie ihr Ton vermuten ließ – und geduldig eine Antwort erwartete. »Ähm – ich – also – Joey – Joey Wheeler«, erwiderte ich langsam und nahm Kaibas Blick wahr, der irritierenderweise amüsiert schien. »Und Sie sind –?« Sie schaute mich einen Augenblick verwirrt an, als wäre sie die Frage nicht gewohnt. »Nenn mich Sarah, Schätzchen.« Also Amerikanerin. Ich nickte ihr zu und sie nahm sich Yugi zu Brust – beinahe wortwörtlich. Sein verlegener Blick ließ mich grinsen. An ihrer Seite stand ein Mann, der mit seinen schwarzen Haaren und dunklen Augen, im Vergleich zu ihr unauffällig war. Er wechselte gerade ein paar Worte mit Kaiba und wirkte in seiner Körperhaltung steif, als würde ihn ein Faden aufrecht zwingen. Sein Anzug war dunkel, er trug eine Krawatte. An seinem Gelenk saß eine Uhr, die wahrscheinlich nicht nur teuer aussah – aber damit kannte ich mich nicht aus. »Das ist Herr Tanaka. Er ist ein Leiter der Produktion und für die Organisation der Turniere mitverantwortlich«, stellte Kaiba ihn uns vor und neben mir deutete Yugi eine Verbeugung an, drückte mir nach einem Moment eine Hand auf meinen Rücken, damit ich auch reagierte und mich verbeugte, wie es sich gehörte.   Die Gespräche zogen sich. Nach der anfänglichen Neugier, wie so ein Treffen wohl laufen würde, musste ich erkennen, dass es schlicht langweilig war. Sicher. Sarah hatte einen skurrilen Sinn für Humor, der mich immer wieder aus der Monotonie riss. Aber ansonsten ging es um öde Fakten und Organisationskram, der mich nicht interessierte. Welche Bühne wohin in die City sollte, um möglichst vielen Zuschauern Platz zu bieten, die Feuersicherheitsbestimmungen, wie viel Sicherheitskräfte wo stehen müssten. Welche Hotels den Turnierteilnehmern empfohlen werden könnten, welche Aktionen an welchem Tag geplant waren. Ich wusste schließlich, was Mokuba gemeint hatte, als er von einem blöden Geschäftsessen mit langweiligen Geschäftsleuten gesprochen hatte. Herr Tanaka war ein wandelndes Klischee von Geschäftsmann. Kaiba verlor sich in Fachsimpelei mit ihm – und wäre der nicht so jung und genial gewesen, wie er nun einmal war, wäre er nicht weniger ein solches Klischee gewesen. Sarah fragte Yugi über sein Privatleben aus, was den regelrecht vor Verlegenheit brennen ließ, während ich untypisch still Steak und Würstchen in mich reinschaufelte. Wenigstens würde ich nicht hungrig nach Hause gehen.   »Weißt du, sie hat Seto viel in seiner Anfangszeit im Unternehmen geholfen«, informierte mich Mokuba so, dass nur ich es hörte, lehnte sich zu mir, während er in seinem Salat herumstocherte. »Wer?«, fragte ich nach. »Sarah. Sie hat Seto die ersten Monate wirklich total unterstützt. Ich meine. Das tut sie immer noch, aber damals war er auch darauf angewiesen. Er war ganz neu im Geschäft und jung«, an der Stelle schaute ich ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, »ja, ist er immer noch, ich meinte nur, da war er halt echt, echt jung. Ich mein. Er war grade mal vierzehn, als er die Führung der KC übernahm. Und wurde von vielen am Anfang nicht ernst genommen. Sarah hat in von Anfang an ernst genommen. Und auch, wenn sie so einen ersten Eindruck macht. Sie hat es wirklich drauf. Sie sieht irgendwie hinter die Fassade von Menschen und schaut, was – naja – für Potenzial in ihnen steckt. Zumindest hat das Seto mal zu mir gemeint. Sie hat sozusagen nicht nach seinem jungen Gesicht gesehen, sondern dem, was er aus der KC machen wollte und wie und offensichtlich hat sie an sein Können geglaubt. Sie war die erste, die Seto eingestellt hat. Seitdem leitet sie das ganze Marketingzeug.« »Was hat sie vorher gemacht?«, wollte ich wissen. Mokuba griff nach der Barbecue-Sauce und ertränkte seine Würstchen damit. »Sie hat für Industrial Illusions gearbeitet«, flüsterte er. Mein Blick wanderte von Mokubas Teller zu der blonden Frau, die Yugi gerade zum Erröten brachte. Ich stellte mir vor, was sie in Seto Kaiba gesehen haben musste. Einem vierzehnjährigen Schüler, der sich eine Firma unter die Nägel gerissen hatte, während andere Kinder mit Lego Technik spielten oder Playstation zockten. Ich versuchte es zumindest. Aber ich sah vor meinem geistigen Auge nur diesen Geschäftsmann, der sich gerade rechts von mir mit Herrn Tanaka beschäftigte. Dann zuckte das Bild eines brünetten Jungen an mir vorbei. Eines schmächtigen Junge mit großen, blauen Augen, die er grimmig zusammengezogen hatte, an der Seite eines grob aussehenden Geschäftsmann stehend, der gefühlskalt einen Blick in die Kamera warf.   »Stimmt es, dass du ein außerordentlicher Künstler bist, Schätzchen?«, riss mich eine Stimme zurück an diesen Tisch auf Kaibas Terrasse, der über und über mit Salaten und Grillfeinheiten gedeckt war, und ich blinzelte, als bräuchte ich einen Moment, um mich zu orientieren. Sarah schaute mich über ihre aneinandergelegten Finger hinweg an. »Also – ähm – ich zeichne gerne und so – ähm – ja, also –« Ich hatte noch nie von mir als außerordentlichen Künstler gedacht. Geschweige denn mein Vater. Ich war der Junge, kauf mir mal nochn Bier. Oder der Hornhochse, was hast du wieder verbrochen. Manchmal war ich der Hohlkopf, der nichts zustande brachte oder die Memme, die mal ihre Backen zusammenkneifen sollte. »Eines ist – denke ich – deutlich geworden. Die Kunst der Rhetorik beherrscht er nicht«, höhnte Kaiba und ich warf ihm einen finsteren Blick über den Tisch hinweg zu. »Für deine blöden Kommentare braucht man kein Rhetoriker zu sein, Geldsack«, behauptete ich genervt und bemerkte dann Sarahs aufmerksame Augen, wie sie ihre Pupillen zwischen Kaiba und mir hin- und herwandern ließ. »Man muss sich seinen Schwächen nur bewusst sein, nicht Seto?«, fragte sie und schien doch keine Antwort zu erwarten, ihn eher an etwas erinnern zu wollen, schaute gar nicht ihn an, sondern mich. »Ich habe ein paar deiner Bilder gesehen. Die Sache mit der Vergänglichkeit zum Beispiel.« Ich verschluckte mich beinahe an meiner Spucke. Sie hatte ein paar meiner Bilder gesehen? Wo? Wieso? »Aber da waren auch andere Werke von dir, die mich ansprachen, mein Junge. Es waren viele dabei, die etwas mit Drachen zu tun hatten und DuelMonsters, aber auch einige von Personen, denselben Personen. Deine Familie, Freude? Es ist interessant, wie du Popart und Realismus in Einklang bringst. Beziehungsweise wie du sie gegeneinander antreten lässt.« Werke von mir? Was war Popart? Und was meinte sie mit Realismus? Ich nickte langsam, hoffte, dass man mir meine Ahnungslosigkeit nicht ansah. »Welche Materialien benutzt du?« Sie betrachtete mich voller Interesse. Ich rutschte auf meinem Sitz hin und her, als könnte ich ihrem Blick so entkommen. »Ähm – so ganz normalen Kram. Alles, was ich auftreiben kann. Manchmal spray ich, manchmal zeichne ich oder male. Wenn ich Yugis Kamera bekomme, fotografier ich ab und zu. Und manchmal mix ich alles so ein bisschen.« Ich kratzte mich verlegen an meinem Hinterkopf. »Warum betätigst du dich kreativ, Schätzchen?« Sie lehnte ihr Glas an ihre Lippen, nahm ein paar Schlucke, ließ mich aber nicht aus den Augen. Das war eine gute Frage. Warum machte ich das eigentlich? Ich schwieg einen Moment. Es war für mich nicht einfach, Gefühle in Worte zu fassen. (Vielleicht war das einer der Gründe.) »Keine Ahnung«, meinte ich und versuchte ihrem Blick zu entkommen, der sich durch meine Worte zu fressen schien und meine Gefühle ergründen wollte. Sie neigte ihren Kopf, lächelte – es kam mir vor, als würde sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf mich konzentrieren, als würde jede Silbe, die meinen Mund verließ, von ihren Gedanken aufgesogen und sorgsam verwahrt. Sie gab mir das Gefühl, wichtig zu sein. Und die Worte verließen meine Lippen, ehe ich sie abgewogen hatte. »Ich – ähm – weil ich – die Bilder und so – sind einfach hier«, ich tippte an meine Stirn, »und wenn ich es – das, was in meinem Kopf ist – aufs Papier oder die Wand oder so – bringe, dann – wird mein Kopf leichter – irgendwie – meine Unsicherheit und meine Trauer und meine Schwäche und alles –« Ich verstummte, hatte diese Gedanken noch nie laut ausgesprochen. Obwohl es eine Antwort auf ihre Frage sein sollte, klang es eher wie eine Rückfrage. »– verschwinden«, murmelte ich, senkte meinen Blick, fühlte die Blicke der anderen auf meiner Haut und fühlte, wie unangenehm mir die Aufmerksamkeit war. Nicht aus Schüchternheit – das war Yugis Grund – nein, einfach, weil ich die Belustigung und den Hohn darüber nicht mitbekommen wollte. Es wurde schon oft in meinem Leben über mich gelacht – irgendwann tat es nicht mehr weh, irgendwann hatte ich angefangen, die Leute, die das wagten, einzuschüchtern, zu schlagen und irgendwann nicht nur die. Aber das Geständnis berührte etwas in mir, das ich keinem hatte zeigen wollen. Ein Mann zeigte keine Schwäche, ein Mann zeigte keine Trauer oder Unsicherheit. Ein Mann – »Herr Kaiba, wir müssen uns noch bezüglich der Werbekampagne verständigen. Die Plakate müssen rechtzeitig in den Druck und –« »Die Designs, die Sie mir gesendet haben, sind nicht überzeugend«, unterbrach Kaiba ihn verstimmt. »Langweilig, trocken. Wie von alten Männern in Geschäftsanzügen erstellt, die noch nie auf einer solchen Veranstaltung waren.« »Das liegt daran«, warf Sarah ein, »dass sie von alten Männern in Geschäftsanzügen sind.« Mokuba unterdrückte ein Lachen, konnte aber das verräterische Schnaufen nicht verbergen. Ich trank schnell einen Schluck, um mein Grinsen zu verstecken, aber Sarah zwinkerte mir zu. »Was wir brauchen, sind junge Leute, die das Event leben! Menschen, die das Erlebnis visualisieren. Nehmen wir unseren Joey hier.« Im ersten Moment hörte ich ihre nächsten Worte nur wie aus weiter Ferne, dann drängten mich die Blicke der Anwesenden zurück in die Gegenwart und ich fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, versuchte zu erklären, was ich mir nicht erklären konnte. »Ich? Ich – kann nicht – das – was –« »Unsinn«, unterbrach sie mich und wandte sich dann wieder Kaiba und Herrn Tanaka zu, nur um zu wiederholen:»Joey visualisiert seit Jahren solche Motive, die wir jetzt aktuell benötigen. DuelMonsters und Freunde.« Ich warf Mokuba einen verblüfften Blick zu. Er zuckte die Schultern, so als hätte er auch keine Idee, was Sarah vorhatte. »Er ist der beste Freund des amtierenden Landesmeisters – also wenn Joey nicht der passende Kandidat für ein frisches Design für die Werbekampagne ist –« Mein Blick huschte zu Yugi, der mich mit großen Augen betrachtete und dann spürte ich einen Blick, der mich ins Visier nahm, als wöge er mich ab. Kaibas Augen funkelten – wie Wasser auf Eis. Und für einen Moment glaubte ich, dass durch die Maske des Geschäftsmannes der Schüler blitzte, der mit mir an einem Projekt für den Kunstunterricht gearbeitet hatte. Aber dann war der Augenblick vorbei und als sich ihm Herr Tanaka zuwandte, wusste ich, dass jeder in Kaiba das Potenzial sah, die Unternehmenslandschaft zu verändern und in mir nur – »Ich stimme dem zu. Sarah du unterstützt und weist ihn ein. Wheeler bekommt den Auftrag.«   Mein Hirn versagte mir den Dienst. Ich öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Yugi starrte mich an, dann breitete sich ein Lächeln auf seinen Lippen aus. Mokuba strahlte. Sarah zog mich an sich und erzählte mir davon, wie toll alles werden würde. Herr Tanaka schaute aus, als hätte Kaiba einem Affen einen Vertrag zum Unterschreiben vorgesetzt und ich hätte ihm zugestimmt – aber in unserem Falle statt Affe Hund vorgeschlagen. Statt eines rationalen Gedankens, dachte ich daran, dass Kaiba mich eher als Hund bezeichnen würde. Aber mein Blick verhakte sich in Kaibas und ich fragte mich zum ersten Mal, was er in mir sah. Mehr als den talentlosen Versager, den infantilen Klassenclown. Er war ein verdammt schlechter Praktikant. Ein überragender Geschäftsmann. Ich war – doch nur ich.   Kapitel 23: ... ist ein Erfolgsmensch -------------------------------------   __________________________________________ Erfolg erzeugt Erfolg, wie Geld das Geld. Nicolas Chamfort (1741 - 1794) __________________________________________         Seto Kaiba war kein netter Mensch. Zumindest nicht zu neunzig Prozent seiner Mitmenschen. Die einzige Ausnahme, von der ich wusste, war sein kleiner Bruder. Er beurteilte Menschen nicht nach inneren Werten, sondern nach ihren Nutzen, betrachtete Schwächen nicht als menschliche Makel, sondern als K.O.-Kriterien, um andere fertig zu machen. Kaiba war ein Arsch. Aber er war erfolgreich.   Am Montag rauschte ich mit ungekämmtem Haar und zerknitterten Shorts in den Laden – ich hatte meinen Wecker überhört und traf eine gute halbe Stunde zu spät ein. Noch war es vor dem Laden ruhig. Erst, wenn die Schüler nach dem Unterricht durch das Ladenfenster gafften und hofften, einen Blick auf den Seto Kaiba zu erhaschen, wurde es ziemlich eng. »Joey«, begrüßte mich Yugis Großvater mit einem Lächeln, »da bist du ja!« Es lag kein Vorwurf in seinen Worten. Kaiba kritzelte etwas auf einen Zettel, der in einem Klemmbrett steckte. Schon allein in seinem Blick lag Herablassung, als er mich ansah. »Wir gehen den Bestand durch und katalogisieren weiter. Seto hier meinte, dass wir die Finanzen verbessern, wenn wir –« Ich schaltete auf Durchzug. Der Seto Kaiba meinte – war ja klar. Doch ich nickte und machte mich an die Arbeit. Von Vormittag bis Nachmittag rauchten unsere Köpfe über alten Verträgen, Rechnungen, Einnahmen und Ausgaben – beziehungsweise mein Kopf rauchte. Kaiba und Herr Muto schienen keinerlei Probleme zu haben und diskutierten über die Klausel und jenen Vertragspartner. Meine Laue fiel in den Keller. Draußen strahlte die Sonne, in meinem Kopf wütete das Gewitter. Nicht einmal machte Kaiba den Eindruck sich an letzten Samstag zu erinnern. Ich schnitt eine Grimasse. Warum auch immer mir das wichtig gewesen wäre. Kaiba und Herr Muto verbarrikadierten sich in dem Büro des letzteren, was ja eher eine Rumpelkammer war, und ich hütete die Theke. Gegen Nachmittag sammelten sich die Fans von Kaiba vor dem Laden, um einen Blick zu riskieren, die Mutigeren betraten den Laden und fragten nach Autogrammen. Ich setzte sie vor die Tür – meistens reichten Worte, manchmal nicht. Gegen fünf trudelte Mokuba ein und schaute durch die geöffnete Tür, jede seiner Bewegungen von neugierigen Blicken verfolgt. Roland schirmte ihn größtenteils ab. »Hey, Joey!«, rief er durch den Verkaufsraum und ich sah auf. »Na, alles klar?«, fragte ich und legte die Zeitschrift zur Seite. Er nickte und lächelte mich an. In diesen Momenten beschlichen mich immer Zweifel, ob Kaiba und Mokuba wirklich verwandt waren. »Kaiba ist noch hinten mit Herrn Muto. Die machen irgendwas mit den Verträgen und was weiß ich.« Meine Worte begleitete ein Schulterzucken. »Apropos – hast du deinen Vertrag schon unterschrieben?«, hakte Mokuba nach und ich schüttelte den Kopf. »Was – wieso?«, wollte er verwirrt wissen, runzelte die Stirn und vergrub seine Hände in den Hosentaschen seiner kurzen Shorts. »Kaiba hat mir nicht einmal nen Vertrag gegeben«, murrte ich und plötzlich jagte ein Gedanke durch meinen Kopf. Vielleicht wollte er mir gar keinen geben? Vielleicht hatte er eingesehen, dass Herr Tanaka Recht hatte und wollte den Samstag lieber vergessen. »Ich glaub sowieso, dass es eine blöde Idee wäre. Ich war samstags ja eh total falsch, falscher Ort, falscher Anlass. Ich pass da nicht rein. Ich hab mit so was nicht zu tun und –«, murmelte ich, doch Mokubas Protest folgte sofort und übertönte meine Worte. »Eben! Du passt da nicht rein, Joey! Eigentlich hat Seto mir gesagt, dass mal wieder so ein langweiliges Geschäftsessen ansteht und er hat gemeint, dass man eben nichts machen könnte, um interessante Gesprächsteilnehmer einzuladen, wenn es ums Geschäftliche ging. Und ich hab ihn gefragt, warum und er meinte, dass Geschäfte nicht interessant sein müssen, sondern dass es wichtig ist, gute Geschäfte abzuschließen.« Ich schnaufte. Das hörte sich nach Kaiba an. »Und dann hab ich gesagt, dass Yugi dazu beitragen könnte, weil Sarah ihn einplanen könnte für das Marketing und so und dann hat er gemeint, dass wir da auch gleich den Köter einladen könnten.« Ich warf ihm einen düsteren Blick zu. »Entschuldige, Joey. Das war nur ein Zitat.« »Schon klar«, brummte ich. Dass es das nicht besser machte, behielt ich für mich und ich fragte mich, wann Mokuba zum Punkt kommen würde. »Und dann hab ich gesagt: Genau! Dann lad ich die beiden ein!« »Und dann? Was hat er gesagt?«, hakte ich widerwillig nach. »Ja, das war ja das Komische. Er hat nichts gesagt. Er hat die Einladungen bei seiner Sekretärin in Auftrag gegeben.« »Ich hab aber gar keine bekommen«, gab ich zu bedenken und verschränkte meine Arme vor der Brust. »Mein Bruder hat dich sogar persönlich eingeladen!«, widersprach Mokuba und ich öffnete langsam den Mund, nur um ihn wieder zu schließen. Wenn man es so betrachtete – »Das ändert nichts an der Sache mit dem Vertrag«, behauptete ich. Ich hörte Herrn Muto die Tür zu seinem Büro öffnen und die beiden sprechen, während sie zu uns in den Verkaufsraum traten, und verstummte. Kaibas Blick fiel auf seinen Bruder und mich. »Mokuba, ich habe dir doch gesagt, du sollst hier nicht deine Zeit nach der Schule vergeuden. Du hast Hausaufgaben zu machen, nicht?« »Jupp, aber die sind keine große Sache, sind echt simpel«, erwiderte Mokuba lächelnd und ich zog meine Augenbrauen hoch. Wie konnte man nur so von Hausaufgaben sprechen? Mein Blick huschte von ihm zu Kaiba, der an uns vorbei schritt, Aktenkoffer in der Hand, Augen auf die Tür gerichtet. Mokuba folgte ihm und hob die Hand zum Abschied. »Achja, Wheeler. Morgen um 16 Uhr. In meinem Büro. Und sei pünktlich«, ordnete Kaiba an, ohne sich umzudrehen. Mokuba hingegen bedachte mich mit einem vielsagenden Blick und grinste.   »Das hat er gesagt und dann ist er einfach gegangen, der Geldsack. Als könnte er mich bestellen, wann er wollte«, erzählte ich Yugi mit ausschweifenden Gesten, doch der lächelte nur und erinnerte mich damit irgendwie an Mokuba. Es brachte mich zum Rasen. »Er will das mit dem Auftrag bestimmt mit dir besprechen. Du solltest stolz auf dich sein, Joey. Nicht jeder bekommt einen Termin bei Kaiba.« »Vielleicht wollen die meisten einfach keinen bei dem Großkotz«, murmelte ich. Wir saßen unter dem Baum im Garten und schlürften ein Eis. Schäfchenwolken am Himmel, die Vögel in den Ästen über uns. Die untergehende Sonne, die den Horizont orangerot färbte. Es fühlte sich fast an wie Sommerferien – nur mit dem Gedanken, dass die Abschlussprüfungen näher rückten. »Da fällt mir ein –«, begann ich, »wie sieht es Samstag bei dir aus?« »Spieleabend?«, fragte Yugi, als wüsste er die Antwort schon, doch ich schüttelte den Kopf. »Ich dachte, wir gucken mal langsam wegen den Prüfungen – ich muss die echt packen und – was siehst du mich so an?« »Nichts, nur –« »Jaaah?«, drängte ich, als er einfach mitten im Satz abbrach und nur den Kopf schüttelte. »Normalerweise fängst du viel zu spät mit den Vorbereitungen an und dann auch nur, wenn ich dich daran erinnere.« »Tjaaaa«, hüstelte ich, doch schluckte die nächsten Worte, da mir Yugi eine Hand auf die Schulter legte und mich ernst anschaute. Ich erwartete eine große Enthüllung, während er die Pause dramatisch in die Länge zog und dann verkündete:»Kaiba wäre stolz auf dich.« Mein Kiefer klappte nach unten und Yugi brach in Lachen aus, während ich lautstark widersprach, behauptete, dass es mir egal war und Kaiba mich mal könnte. Sein Lachen wurde nur heftiger und er hielt sich den Bauch. Mit vorgeschobenen Lippen verschränkte ich meine Arme vor der Brust.   Genau so stand ich am nächsten Morgen im Türrahmen zum Lager, weil Kaiba mich etliche Male in diesem unerträglichen Ton gerufen hatte. Also zuerst hatte ich es natürlich ignoriert. Töle, Köter, Flohschleuder. Erst bei Wheeler hatte ich mich gemütlichst auf den Weg gemacht. Als ich ihn über Herrn Mutos Schreibtisch gebeugt im Chaos untergehen sah, musste ich mein Lachen schlucken. Überall lagen Zettel und Dokumente und dazwischen Spielfiguren und -karten. An den Wänden hingen Bilder von Yugi und auf manchen waren auch ich und Tristan. Bei dem Anblick von letzterem zog ein Pieksen durch meinen Magen. Ich schaute schnell wieder zurück zu Kaiba, der offensichtlich versuchte, Ordnung in das Chaos zu bringen und die Finanzen in einen Laptop übertrug. »Der Herr hat gerufen«, flötete ich. »Nach welchem Aspekt ordnest du die Kaufbelege?« Er sah nicht einmal auf. »Wie? Aspekt?« »Nach Kundenname, Datum, Produkt?« »Ähm –« Mein Amüsement schwand. Ich verabscheute es, wenn ich mich wie ein Idiot vor ihm fühlte. »Wie möchtest du sie wiederfinden, wenn du alles auf einen –«, er betrachtete missachtend die Schublade, in die ich die Belege abgeheftet hatte, »– Haufen wirfst?« Ich schwieg. »Das hier ist nicht deine Wäsche, Wheeler. Wenn du dein Zeug nicht findest, ist mir das gleichgültig. Hier geht es um Verträge und Garantien. Wenn du –« »Ich weiß das, Geldsack, ist nicht das erste Mal, dass ich das mach.« »Nein, ich glaube, du begreifst es eben nicht. Es geht hier um Existenzen. Wenn sich solche Fehler in den Laden schleichen, dann ist nicht die Frage, ob, sondern wann Herr Muto sein Geschäft schließen muss.« Ich atmete tief durch, während er sich auf Herrn Mutos Schreibtischstuhl nieder ließ und seine Finger aneinander lehnte. »Willst du das?«, fragte er, ich fühlte mich wie ein sechsjähriges Kind, das zu viel Süßigkeiten gegessen hatte und endlich traf mich sein Blick. Aber mit solcher Wucht, dass ich vergaß, die Beleidigung, die auf meiner Zunge klebte, an seine Stirn zu werfen. »Natürlich nicht!«, zeterte ich. »Seit wann interessiert dich Herrn Mutos Geschäft?« Er lehnte sich ein wenig mit seinem Oberkörper vor und fixierte mich, ließ mich förmlich schrumpfen. Er schaffte es, in einer stickigen Kammer, mitten im Chaos, auszusehen als thronte er über allem anderen, allen anderen. »Spätestens seitdem er ein Vertragspartner der KC ist.« Kaibas Worte hallten in meinem Kopf, doch ich verstand nur langsam. »Er ist – was?« »So gesehen bin ich ein Geschäftspartner deines Vorgesetzten«, stellte er laut Überlegungen an. Meine Augen verengten sich. Kaiba würde seinem Unternehmen niemals Schaden zufügen. Seine Handlungen kamen der Kaiba Corp. immer zugute. Er stützte seine Entscheidungen auf seinen Verstand, Erfahrung und dieses gewisse Extra, das man nicht erklären konnte. »Warum, Kaiba? Warum würdest du Verträge mit diesem Laden machen, der sich kaum halten kann?« Er war niemand, der jemanden aus reiner Nächstenliebe unterstützte. Es passte nicht zu Kaiba. So wenig er mit Kunden konnte, so sehr wusste er, wie er ein Unternehmen erfolgreich führte. Er wägte ab, ob er mir antworten sollte, ich sah es in seiner Mimik – vielleicht bildete ich es mir aber auch nur ein. Ich erwartete schon keine Antwort mehr, als er sich zurücklehnte, die Beine überschlug und irgendwo hinter mich an die Wand sah, als betrachtete er gar nicht diesen Raum und er formulierte seine Erwiderung vorsichtig, als hätte er erst eben darüber nachgedacht. »Manchmal muss man hinter die Fassade sehen. Manchmal muss man dem Potenzial eine Chance geben, damit man es nutzen kann.« Potenzial und Nutzen. Das hörte sich schon eher nach Kaiba an. »Solange ich nicht –« »Wenn du diesen Vertrag heute Nachmittag unterschreibst, dann arbeitest du für mich«, unterbrach er mich, als wollte er mich daran erinnern, bevor ich etwas sagen konnte, was ich womöglich bereuen würde. »Ich wollte sagen: nicht rumschleimen muss.« Für einen Moment betrachtete er mich wie ein fremdes Gemälde, dann zuckte sein Mundwinkel. »Das wäre das erste Mal, Wheeler«, erwiderte er leise, so, dass ich fast glaubte, es mir nur eingebildet zu haben und schlug mir dann die nächsten Anordnungen um die Ohren. »Ordne die Belege nach Datum, geh die aktuellen Kaufverträge durch und aktualisiere die Kundenkarteikarten. Jetzt. Sofort.« Ich murrte, setzte mich aber in Bewegung. Es ging hier nicht um meinen Stolz oder Kaibas Arroganz. Es ging um diesen Laden. Und wenn das hieß, dass ich mit Kaiba zusammenarbeiten musste – »Der Erfolg dieses Ladens hängt zu großen Teilen von dir ab. Also mach dich endlich an die Arbeit, Hündchen.« Ich sog die Luft durch meine Nase, um die Beleidigung hinweg zu blasen, warf ihm aber einen düsteren Blick zu, verschwand aus dem Büro und zog die Tür hinter mir zu. Seto Kaiba war bekannterweise unglaublich reich, intelligent und gutaussehend. Ich verdrehte die Augen. Und ein arroganter Arsch. Ein arroganter Arsch, der erfolgreich war. Wenn er Verträge schloss, dann nicht aus Mitleid oder weil er jemandem helfen wollte. Nein, er machte das, weil er an den Erfolg glaubte. Die Erkenntnis traf mich mit solcher Wucht, dass ich für einen Augenblick lang die Augen schließen musste, denn nach der Logik – Seto Kaiba glaubte an meinen Erfolg. Kapitel 24: ... ist einflussreich --------------------------------- __________________________________________   Wagt euch empor, die ich so gerne riefe, Ihr einflußreiche, starke Knechtebrut! Verbreitet mich und zieht vor mir den Hut Und sagt mir schmeichelnd superste Lative.   Joachim Ringelnatz (1883 - 1934) __________________________________________           Seto Kaibas Einfluss reichte von der Jugendkultur über die Medien in die Wirtschaft – und umgekehrt. Was er anfasste, machte er zu Gold. Was er verwarf, landete in der Scheiße. Kaiba wusste, wie er Menschen nutzen musste, um Geschäfte abzuschließen. Obwohl er zwischenmenschlich manchmal schwer von Begriff war, wusste er, welche Knöpfe er drücken musste, um sich Personen zu eigen zu machen. Kaiba war ein manipulativer Arsch. Einer, der wusste, was er tun musste, um andere ins Unglück zu stürzen. Sich selbst eingeschlossen.   Am Nachmittag packte Kaiba irgendwelche Akten in seinen Koffer, während ich in Herrn Mutos Büro Verträge einscannte. Seit wann überhaupt da ein Scanner war – entweder ich hatte ihn in dem Chaos ständig übersehen oder – und das war wahrscheinlicher – das war wieder so eine Sache, die Herr Muto mit einem Seto hat gemeint erklären würde. Es war kurz vor halb vier, als Kaiba seinen Laptop in den Koffer steckte und seinen Mantel vom Kleiderbügel zog. Ich beobachtete ihn, während ich mit einer Frage rang. Zur Kaiba Corp. konnte man von hier mit dem Bus fahren. Das dauerte dann ungefähr zwanzig Minuten. Dann musste man noch ungefähr fünf Minuten laufen und bis mir seine Sekretärin abnehmen würde, dass ich wirklich einen Termin bei dem Seto Kaiba hatte – war meine Unpünktlichkeit vorprogrammiert. Er schob sich gerade durch die Tür, als ich ihm hinterher hechtete. Während er sich von Herrn Muto im Verkaufsraum verabschiedete, rief ich:»Hey. Nimmst du mich mit?« Er hob seine Augenbrauen, dann nickte er so knapp, dass ich zögerte. »Soll ich dich an die Leine nehmen, oder folgst du mir auch ohne?«, spöttelte er, was mich meine Augen verdrehen ließ, aber ich setzte mich in Bewegung.   Eine Viertelstunde später bereute ich meine Frage. Als wir die Hauptzentrale der Kaiba Corporation betraten, grüßte die Dame an der Anmeldung Kaiba. In ihrer Stimme schwang übertrieben viel Respekt, was mich beinahe dazu verführte, meine Augen zu verdrehen. Kaiba nickte ihr zu, schritt Richtung Lift, als hätte er wichtige Termine – vielleicht hatte er die – und drückte auf den Knopf vom Fahrstuhl. Er tat so, als bemerkte er die Blicke nicht, als stießen sie nicht durch seinen Mantel in seinen Rücken. Er konnte es unmöglich nicht mitbekommen. Sie verfolgten uns auf Tritt und Schritt. Unruhig trat ich von einem Fuß auf den anderen, während er mit festem Stand neben mir die Ruhe selbst verkörperte. Eine eisige Ruhe. In der dritte Etage schossen eine Frau mit Tablet und ein Mann mit Headset zu uns in den Fahrstuhl. Beziehungsweise – sie hängten sich an Kaibas Seite und drängten mich in den Hintergrund. »Das Protokoll der letzten Konferenz –«, begann sie, doch er führte ohne Wimpernzucken weiter:»– ist bereits in die Akte eingeheftet. Herr Miller fragt an, ob –« »– das Angebot für ein weiteres Jahr verlängert wird. Und –«, übernahm sie und er stimmte in den letzten Teil mit ein: »– der Kaffee wartet auf dem Tisch.« »– Ihr Kaffee steht auf dem Tisch.«   Mein Blick wanderte von dem einen zum anderen. Ich verengte meine Augen, meine Stirn gerunzelt: Vielleicht waren die beiden Roboter, die Kaiba gebaut hatte, um so wenig mit Menschen agieren zu müssen, wie möglich. Zuzutrauen wäre es ihm. »Wie zu erwarten«, unterbrach Kaiba seine Angestellten, die wieder abwechselnd ihre Sätze beendeten und sich gegenseitig ins Wort fielen. Ich bewunderte ihn dafür, ihrem Gespräch folgen zu können. Die Fahrstuhltür öffnete sich erneut. »Alle Akten bis 18 Uhr auf meinen Schreibtisch«, wies er sie an. Die beiden nickten und verschwanden so, wie sie zu uns gestoßen waren: ohne Floskeln und ohne ein nennenswertes Zeichen, dass ich existierte.   Der Lift fuhr weiter, hob uns höher und höher, bis er sich mit einer Stimme öffnete, die verkündete, angekommen zu sein. Kaibas Mantel wirbelte hinter seinen Schritten auf, ich hechtete ihm hinterher und warf ihm einen verwunderten Blick zu, als wir nicht die Tür nahmen, die direkt in sein Büro führte – und durch die ich schon einige Male gepoltert war – sondern eine nebenan. Wir betraten eine Art Vorzimmer, wo Kaibas Sekretärin telefonierte. Die beiden nickten sich zu, während die Frau ihm eine Akte entgegenhielt. Noch während ich überlegte, ob ich auch nicken sollte, wandte mir die Frau den Rücken zu und nahm mir die Entscheidung ab. Während zwei Seiten des Raumes mit Aktenschränken voll gestellt war, konnte man durch das Panoramafenster Domino-City überblicken. Die vierte Wand reservierte den Platz für eine Tür, die in Kaibas Büro führte. Er nahm die Akte entgegen und wandte sich gen Tür, bedeutete mir, ihm zu folgen und schloss sie auf. Natürlich nicht mit einem Schlüssel, sondern mit einem Code – seinem Fingerabdruck und einer Kombination, die ich wahrscheinlich sogar dann falsch eingeben würde, wenn er sie mir aufgeschrieben hätte.   Ich wusste, wie Kaibas Büro aussah – auch, wenn ich es diesmal aus einem anderem Winkel her betrat. Trotzdem büßte es nie seine Wirkung ein. Die Panoramafenster, durch die einem Domino zu Füßen lagen, die Hochhäuser, die sich in den Himmel schoben, die Sonne, die das Ganze in ein Licht wog, das einen dazu brachte, einfach nur zu betrachten.   »– dein Gehirn wieder aufnahmefähig ist.« Mein Blick schellte zu Kaiba herum. »Hä? Was hast du gesagt?« Kaiba beugte sich gerade über seinen Schreibtisch, während er die Akte öffnete und warf mir darüber hinweg einen spöttischen Blick zu. »Anscheinend bist du – deinen geistigen Möglichkeiten entsprechend – wieder mental aufnahmefähig.« »Geldsack«, knurrte ich, »deine Beleidigung kannst du dir in deinen –« »Siehst du, dass du es als Beleidigung erkennst, ist schon einmal ein Fortschritt, auf den du stolz sein kannst, Hündchen«, behauptete er trocken. »Ich bin auf eine ganze Menge stolz«, erwiderte ich und reckte mein Kinn. »Tatsächlich?«, fragte er, doch sprach weiter, ehe ich etwas hätte entgegnen können. »Warum starrst du so aus dem Fenster? Es ist nicht das erste Mal, das du hier bist.« Ich zuckte die Schultern. »Ich glaube, die Aussicht ist genial. Das ist jedes Mal richtig – cool.« Er trat hinter mich, schaute hinaus, wie ich es tat. Es war still. Die Klimaanlage surrte kaum hörbar, das Fax spuckte ein Dokument aus, aber ansonsten gab es in diesem Moment nur Ruhe. »Und es ist das erste Mal, dass du mich hier freiwillig empfängst«, stichelte ich, drehte meinen Kopf zu ihm und bemerkte erst da, wie nah er mir stand. Ich hielt inne und schaute ihm von unten her in die Augen. Ich gab nicht gerne zu, dass er größer war als ich. Seine Augen waren echt blau – klar, jeder wusste das, aber aus diesem Winkel – es war wie der Sommerhimmel. Ich hob meine Augenbrauen bei dem Gedanken. Wie lächerlich. Oder wie die Schlümpfe, dachte ich grinsend. »Ich denke, es wir mit jedem Mal, das man hinaussieht weniger – genial. Ich bemerke es kaum mehr.« »Klar, weil du auch nur deine Bildschirme anstarrst«, frotzelte ich, »für so was muss man sich halt mal Zeit nehmen.« Er betrachtete mich kurz, ohne etwas zu sagen und hielt mir statt einer Antwort eine Menge Papier entgegen. Wie ein Schild, der unsere Nähe einschränkte. Ich atmete aus und spürte erst dann, dass ich die Luft überhaupt angehalten hatte.   »Hier. Du musst beide Exemplare unterschreiben.« »Okay«, meinte ich nur und forderte einen Stift. »Aber nicht jetzt«, erwiderte er. Ich hielt verwirrt inne, runzelte die Stirn, worauf er meine Frage beantwortete, bevor ich sie stellte. »Man liest sich Verträge erst durch, Wheeler.« Wahrscheinlich hatte er Recht. Immerhin war er derjenige, der sich damit auskannte und selbst ich wusste, dass es ziemlich dämlich war, etwas zu unterschreiben, ohne es zu lesen, aber – »Du würdest mich nicht verarschen«, meinte ich, »nicht wirklich, meine ich.« Er verschränkte die Arme vor seiner Brust, sein Blick verdunkelte sich und er sah aus, als wäre er so was von bereit, mich vom Gegenteil zu überzeugen, aber meine Mundwinkel zogen sich nach oben, meinen Lippe bogen sich zu einem Grinsen. »Wieso nicht?«, wollte er misstrauisch wissen. Es war eine gute Frage. Kaiba hatte mich, seitdem ich ihn zum ersten Mal persönlich gesehen hatte, mit einer Zuverlässigkeit in den Boden gestampft, dass es schon an Körperverletzung grenzte – also an verbaler. Gab es so etwas? Aber betrachtete man es mit einer gewissen Unvoreingenommenheit, dann – »Weil du das nie gemacht hast.« Und dann begann ich den Papierkram halt durchzulesen.   Seto Kaiba besaß die Macht, Gegenspieler fertig zu machen: finanziell, psychisch, und emotional. Wenn er es darauf angelegt hätte, hätte er meine Situation zum Vorteil nutzen können, die Szene mit meinem Vater, meine Herkunft, meine finanzielle Situation, meine Noten, all das, womit ich fertig werden musste und worauf er nur heruntersehen konnte. Alles, was von ihm kam, waren spitze Bemerkungen, die nur an der Oberfläche kratzten – auch, wenn Kaiba gerne einen anderen Eindruck vermittelte.   »Nimm die Verträge mit, lies sie und denk darüber nach«, wies er mich an, ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder und begann zu tippen, zog das Dokument aus dem Faxgerät daneben und las es, runzelte die Stirn und wandte sich wieder seinen Bildschirmen zu. Als ich mich nicht bewegte, schaute er auf. »Du kannst gehen, Wheeler.« Für Kaibas Verhältnisse war das eine freundschaftliche Verabschiedung, also tat ich, wie geheißen.   Zuhause schaute mein Vater fern. Er bemerkte nicht, dass ich die Wohnung betrat oder die Küche oder mein Zimmer. Ich begrüßte ihn erst gar nicht. Es machte keinen Unterschied. Stattdessen ließ ich mich in mein Bett fallen, die Papiere in der Hand und las den Vertrag durch. Seto Kaiba – im Folgenden der Auftraggeber genannt – und Joseph Wheeler – im Folgenden Arbeitnehmer genannt – Mein Herz machte einen Purzelbaum, während Lava durch meine Adern walzte. Das Gute war: Wenn ich den Wisch unterzeichnete, arbeitete ich für Kaiba. Das Schlechte war: Wenn ich den Wisch unterzeichnete, arbeitete ich für Kaiba.   Am nächsten Tag schlitterte ich in den Laden, wo mich Herr Muto mit einem Lächeln begrüßte. Der Morgen war schon so warm, dass man nur erahnen konnte, welche Hitze den Tag über noch auf uns zurollen würde. »Joey! Da bist du! Sehr schön! Seto hier hat vorgeschlagen, dass wir ein paar neue Spiele im Laden verkaufen und dafür einige traditionellere auf wenige Exemplare reduzieren.« Ich nickte langsam. Also reduzierten wir, räumten das Lager um, katalogisierten weiter, welche Spiele sich schlecht verkauften und welche wir ersetzen würden. Auch im Verkaufsraum verrückten wir Tresen und Boxen und Ablagen. Mein Blick blieb bei einer der Vitrinen hängen. »Am besten wir werfen einfach alle gebrauchten Spiele raus und nehmen nur die neueren. Die Schachspiele da – stehen schon seitdem ich hier arbeite. Keiner guckt die an. Keiner von den Kids will Schach spielen.« Er folgte meinem Blick und wog den Wert der Schachspiele ab. Es waren schöne Exemplare, fein geschnitzte Figuren, die jemand dem Laden vermacht hatte, vielleicht, weil der Spieler nicht mehr spielen wollte – oder konnte. Und obwohl sie gebraucht waren, zeugten sie von der sorgsamen Behandlung ihres ehemaligen Besitzers. »Früher habe ich mit Mokuba viel Schach gespielt«, gab Kaiba preis, während wir sie aus dem Glasschrank holten. Ich schwieg, weil ich nicht wusste, warum er mir das sagte und dann fiel mir keine klügere Frage ein als: »Warum Schach?« »Es war kein beliebtes Spiel bei den Kindern«, spöttelte er. »Hä?« »Im Waisenhaus«, fügte er dunkel hinzu, »wahrscheinlich hat sich seitdem nicht viel geändert.« »Mh –« Als er mit den Spielen zur Kasse schritt, beobachtete ich ihn verdutzt. »Muss ich die Ware selbst abkassieren oder schaffst du das noch trotz deiner allgemein bekannten Unfähigkeit?« Seine Beleidigung war ziemlich lahm, aber ich sagte nichts deswegen, sondern kassierte die fünf Schachspiele wortlos ab. Ich traute mich nicht, zu fragen, was er mit so vielen vorhatte.   Bevor der Mittag uns mit seiner Hitze an den Rande eines Hitzeschlages brachte, nötigte uns Herr Muto zu einer Mittagspause. »Ich mache nie Mittagspause«, entgegnete Kaiba herablassend, was Herrn Muto nur ein Lächeln auf die Lippen zauberte. »Das ist das Wunderbare, wenn man jung ist, weißt du. Man erlebt viele Dinge zum ersten Mal im Leben.« Und schob Kaiba nach draußen in den Garten. Wie er da so stand, sah er reichlich belämmert aus, dann steckte Herr Muto nochmals den Kopf durch die Hintertür und warf ihm ein Wassereis zu, was Kaiba instinktiv fing. Er starrte das Eis an, als hätte man ihm gerade ein Alienhaustier in de Hände gedrückt. »Und ich?«, fragte ich gespielt empört, worauf Herr Muto lachte und mir auch eines entgegen warf. Ich ergriff es und hielt es dann triumphierend in die Luft. Herr Muto schüttelte amüsiert den Kopf und zog sich ins Haus zurück. Kaibas Blick heftete sich auf sein Wassereis und schaute aus, als steckte er in einer Art Paralelluniversum fest. »Was hast du'n bisher in der Mittagspause immer gemacht?«, wollte ich wissen. »Gearbeitet.« »Wie hast du's denn geschafft, der großväterlichen Fürsorge von Herrn Muto zu entkommen?« »Roland hat mich abgeholt und ich habe im Wagen gearbeitet.« Das hörte sich nach Kaiba an: ließ sich durch die Stadt chauffieren, um im Auto zu arbeiten – in der Mittagspause. Ob es für so ein Verhalten einen psychologischen Fachausdruck gab? Das war doch krank, oder? Ich zuckte mit den Schultern und zeigte auf den Baum am anderen Ende der Rasenfläche. »Ich sitz eigentlich immer da. Yugi und ich, mein ich. Also im Sommer. Im Winter bleiben wir drinnen und trinken ne heiße Schokolade oder so. Aber im Sommer –« Ich grinste und wedelte mit meinem Wassereis, drehte mich dann um und schlenderte mit dem Eis im Mund über den Rasen, ließ mich am Füße des Baums nieder. Yugi war heute spät dran, aber er würde bestimmt noch kommen. An den Baumstamm gelehnt betrachtete ich Kaiba, der noch immer dort drüben stand – mit dem Eis in der Hand, als wüsste er nichts damit anzufangen. Wie ein Schuljunge, den man an die Tafel gerufen hatte und der gestehen musste, keine Ahnung zu haben. Ich wusste, wie das war – aber Kaiba – »Willst du noch die nächste dreiviertel Stunde dort stehen bleiben?«, rief ich und erwartete ein herablassendes Ja, Köter oder ein Das geht dich nichts an, Wheeler oder überhaupt keine Antwort. Stattdessen überraschte er mich. Er straffte seine Schultern und schritt über den Rasen. Seto Kaiba saß neben mir auf einer Wiese; ein bisschen steif, ein bisschen unpassend angezogen, ein bisschen unbeholfen, als hätte er schon eine Ewigkeit nicht mehr im Schneidersitz gesessen. Seine gebügelte Stoffhose, sein weißes Hemd, seine Krawatte, wie er das Eis hielt, seine polierten Lederschuhe – alles sprach dagegen, aber er saß auf der Wiese – so wie ich. »Gib mal her.« Natürlich wartete ich nicht darauf, dass er es mir gab – ich schnappte das Wassereis aus seiner Hand und riss es mit meinen Zähnen auf. Er betrachtete mich mit einem entgeisterten Ausdruck, als ich es ihm zurückgab. »Was?«, wollte ich wissen. »Ist ja widerlich«, behauptete er. »Wie machst du das denn sonst, hä?« »Ich esse so etwas normalerweise nicht.« Natürlich. »Aber sollte ich jemals wieder in die Verlegenheit kommen«, fuhr er fort, »dann öffne ich es mit einer Schere.« Ich schnaufte amüsiert, legte meine Arme hinter meinen Nacken zusammen und schloss kurz die Augen. »Ich kann es nicht glauben, dass du deine Pause durcharbeitest«, murmelte ich, »das hier ist einfach zu genial.« »Nicht jeder kann sich diese Faulheit leisten.« »Ich hab gedacht, du kannst dir alles leisten?«, stichelte ich und öffnete ein Auge ein Spalt weit. Kaiba schnaubte. Ein Auto rauschte vorbei, aber das konnten wir nicht sehen, weil der Gartenzaun die Welt da draußen ausschloss. Das hier war meine Oase – nicht einmal Kaiba konnte das stören, der unruhig umher schaute, als suchte er etwas. Weder Kaiba, noch irgendwelche Erwartungen. »Man gewöhnt sich daran.« Ich öffnete meine Augen komplett. »Hä?«, machte ich nur und er verdrehte seine. »An die Arbeit.« »Ja, aber – hättest du nicht mal Bock einfach – keine Ahnung – ne Woche abzuhauen und zu machen, was du willst?« »Manche würden behaupten, dass ich jederzeit tue, was ich möchte.« Bitterkeit quoll zwischen den Worten, als verabscheute er jene, die so etwas sagten. Ich wusste nicht, worauf er sich genau bezog. Es gab eine Menge, die einfach bei Kaiba keinen Sinn ergab, aber ich hatte trotzdem das Gefühl, ihn irgendwie zu kennen. »Nee, das glaub ich nicht«, behauptete ich leichthin. »Du musst dich auch an Verträge halten und gucken, was in der KC läuft. Ich glaub, das ist stressig. Kann mir nicht vorstellen, dass du da immer Lust drauf hast, aber ziehst es halt durch.« Er sah mich an. »Andere behaupten das Gegenteil.« »Das Gegenteil von was?« Er antwortete nicht. »Du hältst dich doch an Verträge, oder?« Ich zog meine Augen zusammen, lehnte mich vor und beobachtete, wie sich seine Stirn runzelte. »In der Regel«, erwiderte er vage. »Und du musst gucken –« Da fiel mir auf, dass ich eigentlich keine Ahnung hatte, was er genau in seiner Firma arbeiten musste, also machte ich eine wegwerfende Bewegung mit meiner Hand. »– was du auch immer in der KC gucken musst.« Damit brachte ich seinen Mundwinkel zum Zucken. Es war ein bisschen komisch hier mit Kaiba zu sitzen, wo ich sonst mit Yugi die abgefahrensten Gespräche führte. Aber eigentlich war es auch gar nicht seltsam. Kaiba lehnte sich ein bisschen zurück und stützte sich mit seinen Armen nach hinten ab, schaute in die Baumkrone, den Himmel, wieder den Garten entlang. Wo es vorhin noch so aussah, als suchte er etwas, glaubte ich zu erkennen, dass sein Blick ruhiger wurde. »Wohin würdest du gehen, Kaiba?« »Wohin?« »In den Urlaub. Ne Woche abhauen und da machen, was du willst. Wohin würdest du abhauen?« »Ich gehe nicht –« »Kaiba«, knurrte ich, »wohin würdest du gerne gehen?« »Was bringt dir die Information?«, fragte er misstrauisch und fixierte mich, als könnte ich so einer Antwort nicht entkommen, als versuchte er, meine Intentionen per Gedankenübertragung herauszufinden. Ich zog die Augenbrauen zusammen und kratzte mein Kinn. »Nix«, gab ich zu, »bleib locker. Ich will die Infos weder veröffentlichen, noch verkaufen.« Eigentlich sollte es ein blöder Scherz sein, aber Kaiba versteifte sich bei den Worten. »Es interessiert mich halt nur, Geldsack. Aber wenn du's nicht sagen willst –« Ich zuckte meine Schultern. Komischerweise entspannte er sich bei diesen Worten sichtlich. Es konnte kaum an der Beleidigung liegen, oder? Tatsächlich schwieg er erst einmal und ich begann vor mich her zu summen. Lag wieder da mit geschlossenen Augen und hörte, wie eine Brise über die Blätter strich, wie sie auch über meine Haut streichelte. Der Sommerwind trug seine Hitze in den Schatten, als mich Kaibas Stimme aus der Döserei riss. »Ich besitze Häuser unter anderem in Spanien, Italien und Deutschland. Apartments in London, New York, Paris und Frankfurt.« Ich hatte meinen Hals gedreht, um ihn besser zu sehen. Mein Mund stand offen. Er saß da mit dem halb geschmolzenen Wassereis in den Händen, hatte es wahrscheinlich nicht einmal probiert, und sprach von seinem Besitz, als handelte es sich um Puppenhäuser. »Verdammt. Alter, was machst du dann noch hier?«, frotzelte ich, doch er ging nicht darauf ein. »Aber da gibt es ein kleines Dorf in Frankreich. Mehr Kühe als Einwohner. Die Internetverbindung ist so langsam, dass es schneller ist, einen Brief abzuschicken, als eine Email.« Ich schaute ihn mit großen Augen an, erst dann begriff ich, dass er gerade eine Witz gemacht hatte und grinste verlegen, doch er schaute mich nicht an. »Wohin würdest du gehen?« »Hab kein Geld«, schnaufte ich und winkte ab. »Wheeler«, brummte er, »wohin würdest du gehen?« Als erstes wollte ich sagen weit weg. Egal wohin. Hauptsache nicht hier. Aber das stimmte so nicht. »Ich kenne jemanden, der besitzt Häuser in der ganzen Welt und – so wie's sich anhört – nutzt er die nicht einmal. Ich würde ihm vorschlagen, dass ich dort mal nach dem Rechten schaue. Was hast du gesagt? In Paris, London und New York?« Er schnaubte. »Du nach dem Rechten sehen? Das bezweifele ich. Du bringst doch das Chaos erst, Hündchen«, spöttelte er. »Du würdest es doch gar nicht bemerken«, entgegnete ich. »Aber das Personal dort.« »Du beschäftigst Personal in Häusern und allem, die du nicht mal nutzt?« »Man weiß nie, wann man es braucht«, erwiderte er ernst und ich brach in Lachen aus. Sein Blick verdüsterte sich. »Sorry, ich – das ist nur – man weiß nie, ob man mal – Häuser in Buxdehude braucht?« »Es ist besser, ein Haus zu viel zu haben, als eines zu wenig.« Ich atmete tief durch, wischte Lachtränen aus meinen Augenwinkeln und setzte mich auf. »Unsinn«, erwiderte ich, jetzt nicht weniger ernst als er. »Man braucht ein Zuhause. Manchmal zwei. Das können auch noch so viele Häuser nicht besser machen.« Er sagte nichts und ich kratzte mich am Kopf, schwelgte in Gedanken, wo ich überall sein und was ich alles erreichen könnte. In einem anderen Leben vielleicht. Oder auch nicht. Mir rutschte eine Passage ins Bewusstsein, die ich erst gestern gelesen hatte. »Ich hab den Vertrag durch«, begann ich leise, unsicher, in welcher Laune er nach meinem Urteil über seine Häuser-Philosophie war, doch er neigte seinen Kopf. Ein Zeichen, dass er mir aufmerksam zuhörte. Keine Beleidigung, kein finsterer Blick. »Aber da steht nirgends was davon – also – was heißt zehn Prozent des Nettoverdienstes pro verkaufte Teilnehmerkarte?« Wie viele Karten verkaufte die Kaiba Corp. in Domino-City? Bestimmt ein paar hundert. Immerhin durfte sich jeder anmelden, der wollte. Erst nach der ersten Runde gab es eine offizielle Beschränkung: nämlich alle Gewinner der bisherigen Duelle. Natürlich gab es gewisse Duellanten, die sich nicht an den ersten Runden beteiligen mussten. Yugi war so eine Ausnahme. Ich hingegen hätte mich – weil ich keine so supertolle Einladung von Kaiba bekommen hatte – von Anfang an durch das Turnier kämpfen müssen. Das Problem für mich war die inoffizielle Einschränkung: die Anmeldegebühr. »Jeder Teilnehmer des Turniers zahlt einen Beitrag, um starten zu dürfen. Nettoverdienst heißt, vom Preis der Teilnehmerkarte minus sieben Prozent Mehrwertsteuer. Davon zehn Prozent«, teilte mir Kaiba mit. »Das war mir klar«, knurrte ich. »Ich meine –« Ich fuchtelte mit meinen Händen in der Luft, als könnten sie mir helfen, Kaiba zu erklären, welche Information mir fehlte, aber er schien auch ohne Erläuterung zu begreifen. Ich zweifelte jedenfalls daran, dass ihm meine Hände dabei halfen. »Wir würden dein Design für diese Kampagne erst einmal nur im japanischen Raum verwenden. Das heißt, von jeder Karte, die im japanischen Raum verkauft wird, würdest du –« Meine Augen drohten aus meinem Kopf zu fallen. Ich verschluckte mich und hustete. »– was – also –«, krächzte ich, »von jeder Karte im japanischen Raum?« »Wheeler«, begann er mahnend, »es wäre ein Test, ob die Werbung überhaupt erfolgreich ist. Sicherlich könnte man es bei entsprechender Bilanz auf Asien ausweiten, dann auf den nord- und südamerikanischen sowie europäischen Raum, aber –« Mir wurde irgendwie schlecht. Das war unerwartet. Natürlich war die Kaiba Corporation ein führendes Unternehmen auf dem Markt, Kaiba war bekannt dafür, im großen Stile zu denken und die Turniere unter Spielern gleichermaßen beliebt und gefürchtet. Aber ich – Teil von so einer riesigen Sache? Wenn ich versagte, dann – »Wenn ich den Vertrag unterschreib«, murmelte ich, »und ich – krieg nix hin, dann –« »Dann müsste ich dich leider verklagen und in kleinen Häppchen im japanischen Raum verteilen«, erwiderte er trocken. Ich starrte ihn an, was ihn dazu brachte, mit der Hand über seine Augen zu fahren. »Hör zu, Wheeler, und zwar gut, denn ich sage das nur einmal.« Ich spitzte die Ohren und folgte seinen Worten, die so gar nicht zu diesem Garten passen wollten. »In den letzten Jahren ist die Teilnehmerzahl an den Turnieren deutlich zurückgegangen. Das bedeutet beträchtliche Einbußen. So große, dass du nicht einmal wüsstest, wie viele Nullen an die eins gehören, kapiert?« Ich nickte genervt. »Die Turniere stehen für alle offen, warum melden sich also immer weniger an?« Ich öffnete den Mund, aber er hob die Hand, also schluckte ich die Bemerkung, dass es vielleicht daran lag, dass sie die Einladungen an die richtigen Leute vergaßen. Yugi mal ausgenommen. »Schwindendes Interesse, sich am Konkurrenzkampf zu beteiligen. Die Menschen wollen nicht nur an einem Turnier teilnehmen, sie wollen unterhalten werden. Es gibt genug Druck und Stress in ihrem Alltag. Sie wollen entspannen und trotzdem etwas Spannendes erleben. Etwas, für ihr Geld bekommen. Wir wollen es in Japan testen. Bei der japanischen Meisterschaft. Wir planen ein Event um das Turnier herum. Die ganze Stadt als Bühne für das Turnier. Shows, Karaoke, Merchandise, Zeichen-Wettbewerbe, Cosplay-Auftritte«, er sprach das Wort aus, als handelte es sich um eine Krankheit. »Es geht um einen Imagewandel. Das Turnier soll nicht mehr nur Duellanten ansprechen, sondern den ganzen Freundeskreis, die ganze Familie.« Es hörte sich nach einer verdammt großen Sache an. »Yugi steht bei der Kampagne für das Turnier. Er soll weiterhin die Duellanten motivieren. Du hingegen stehst für das Ganze drumherum. Spaß, Freundschaft, Erlebnis«, aus seinem Mund klang es, als könnte er nicht glauben, dass andere das ernsthaft als wichtig erachteten, »und das musst du in ein Design packen.« Ich ließ die Luft durch meinen Mund entweichen. Das hörte sich an, als sollte ich versuchen ein ganzes Leben in ein Bild zu quetschen, auf ein Foto zu bringen, in eine Zeichnung zu übertragen. Unmöglich. »Hab ich deswegen keine Einladung bekommen?« Sein fragender Blick traf mich stechend. »Eine Einladung. Für die Turnierteilnahme.« Seine Lippen kräuselten sich. »Nein, die hast du nicht bekommen, weil du ein bemitleidenswerter Duellant bist.« Ich ballte meine Fäuste und wollte ihm gerade an den Kopf werfen, dass er sich seine Einladung eh in den Arsch hätte schieben können, als er mich verstummen ließ. »Aber ich denke, deine künstlerischen Fähigkeiten und die Erfahrung mit deinen Freunden prädestinieren dich für die Aufgabe.« Ich wusste, wenn Kaiba mich beleidigte – auch, wenn er Fremdwörter und Fachbegriffe verwendete. Es war nur seltsam, wenn er solche verwendete und mich nicht beschimpfte. Stattdessen schaute er mich an. »Prädestinieren heißt –« »Ach, halt die Klappe, Eisschrank«, erwiderte ich, doch da war keine Missbilligung in meinem Ton. Da war nur Leichtigkeit und die Ahnung, dass es vielleicht doch nicht unmöglich war. Er sagte nichts weiter. Ich kaute auf meiner Lippe, beobachtete ihn und überlegte, ob jetzt der richtige Zeitpunkt dafür war. Wahrscheinlich nicht. Aber – »Sag mal«, fragte ich leise, »isst du dein Eis noch?« Wortlos reichte er mir das Eis, das mehr buntes Wasser als gefroren war, aber ich grinste zufrieden. Es gab schlimmere Orte als hier. Es gab schlimmere Arbeitgeber als Kaiba. Auch, wenn er ein Arsch war.   Erst als Kaiba und ich wieder rein gingen, fiel mir auf, dass Yugi fehlte. Er kam mir drinnen entgegen, als er gerade zurück zum Krankenhaus marschieren wollte, und ich wies ihn entrüstet darauf hin, dass er mich in der Mittagspause einfach versetzt hatte. »Och«, begann er leichthin, »ich hatte den Eindruck, du hattest angenehme Gesellschaft.« Mein Blick fiel auf Kaiba, der gerade mit einer Kiste aus Herrn Mutos Büro schritt, schaute zurück zu Yugi, um ihn auf eine Art lächeln zu sehen, die mich meine Augen verengen ließ. »Ich weiß nicht, was du gerade denkst«, wandte ich ein, »aber hör auf damit.« Yugis Lächeln verbreiterte sich. »Wheeler.« Kaibas Ton ließ mich meine Augen verdrehen, aber ich wandte mich zu ihm, nahm ihm die Kiste aus der Hand und machte mich an die Arbeit.   Drei Stunden später stieg ich die Treppen zu der Wohnung hoch, die ich mit meinem Vater bewohnte. Er saß im Wohnzimmer, schaute irgendeine Sendung und bemerkte nichts um sich herum. Ich zog mich in mein Zimmer zurück, schnappte mir einen Stift und unterschrieb die Verträge. Damals konnte ich nur ahnen, welchen großen Einfluss Kaiba noch auf mein Leben haben würde. Aber ich wusste schon in diesem Moment, dass der Vertrag ein Schlüssel zu meinem Erfolg werden könnte. Ich ahnte nicht, dass mit dieser Unterschrift nicht nur Kaiba auf mein Leben so großen Einfluss nehmen würde, dass ich es nicht mehr erkennen sollte. Und dass ich mich von Gold in Scheiße verwandeln würde. Kapitel 25: … ist nicht ahnungslos ---------------------------------- __________________________________________   Ahnungslos Ganz unbewußt und völlig ahnungslos hast Du Dich in mein Leben geschlichen. Seitdem versuche ich krampfhaft, es Dir schonend beizubringen. © Claudia Malzahn (*1969)   __________________________________________           Seto Kaiba war Geschäftsmann, Erfolgsmensch und ein Genie. Für ihn zählte der Gewinn und nicht der Einsatz, also das Ziel und nicht der Weg. Zumindest dachte ich das eine ganze Zeit lang. Manchmal denke ich es noch immer. Egal was er sich vornahm, er wusste wie, war immer vorbereitet und hatte Ahnung – nicht unbedingt wie ich. Er arbeitete für das, was er erreichen wollte und erreichte das, was er wollte. Er verlangte viel, aber wenn man auf ihn setzte, dann versprach es einen großen Gewinn. Die Frage war, was es bedeutete, wenn Seto Kaiba derjenige war, der auf einen setzte. Und was es einen kostete.   Am Donnerstag bekamen wir eine Neulieferung von Waren. Kaiba ordnete an wie und wohin die geräumt werden sollten. Ich sollte es natürlich ausführen. Herr Muto beobachtete das Treiben, wischte sich ab und zu mit einem Tuch über die Stirn. Es war bereits vormittags drückend und Herrn Mutos Kreislauf nicht mehr der beste.   »Wheeler, das kommt dorthin und –« »Du könntest auch einfach mal selbst eine Box tragen!«, schlug ich ihm genervt vor. »Ich ertrage schon dich, das ist schwer genug«, behauptete er und ich knurrte, was er mit einem Kräuseln seiner Lippen quittierte. Doch entgegen seiner Worte packte er an und räumte Kisten aus dem Lastwagen. Ein paar Schaulustige sammelten sich an. Der Seto Kaiba verrichtete körperliche Arbeit – neben einem Typen, den die Welt nicht kannte. Noch nicht. Ich betrachtete ihn aus den Augenwinkeln. Sein Haar haftete in seinem Nacken, weil er schwitzte. Er krempelte die Arme seines Hemdes hoch, lockerte die Krawatte, wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Wheeler.« Kaibas Ton ließ mich ertappt zusammenzucken. »Was ist?« »Hör auf zu trödeln.« »Oder?«, provozierte ich ihn. »Oder ich sorge dafür, dass du in der Mittagspause kein Eis bekommst.« Ich lachte auf, denn Kaiba, der mir drohte, mein Eis wegzunehmen oder so, war doch wirklich zum Schießen. Aber als ich seinen Blick auffing verebbte mein Lachen. »Du meinst das ernst«, bemerkte ich entgeistert.   Der Mittag rollte mit einem Gewitter an, das sich gefühlt im Garten entlud. Regen stürzte hinab und verschleierte alles in einem Grau. Donner grollte über das Dach hinweg und Blitze zuckten durch die schwarzen Wolken. »Woho, Apokalypse«, behauptete ich und lutschte an meinem Eis, während ich hinaus sah. Wir saßen drinnen an einem kleinen Tisch neben der Verkaufstheke. Kaiba saß mit überschlagenen Beinen mir gegenüber und tippte auf seinem Laptop herum. »Wenn ich für dich arbeite«, begann ich und saugte an meinem Wassereis, »krieg ich dann auch Eis in der Mittagspause?« »Wenn du für mich arbeitest, dann hast du keine Mittagspause«, entgegnete Kaiba trocken. »Meinst du das ernst?«, wollte ich wissen, meine Augen verengt, mein Mund vorgeschoben, das Eis in der Rechten. Er warf mir einen Blick zu. »Ich bezweifele, dass ich dich von Eis fern halten könnte. Der Aufwand lohnt nicht. Solltest du aber irgendetwas versauen –« Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie zwei Männer im dunklen Anzug, meinen Körper in verschiedene Koffer verteilten und mich quer durch Japan verschickten. Ich winkte ab und kramte – mit dem Eis im Mund – nach meinem Rucksack, zog die Papiere hinaus und hielt sie über Kaibas Laptop hinweg ihm entgegen. »Da. Unterschrieben.« Er betrachtete mich kurz. Wassereis im Mund, Verträge in der Hand, ihm entgegen gestreckt, mein Haar Chaos, mein T-Shirt mit der Aufschrift Keep calm and ...und mein Grinsen so breit, dass meine Wangen doppelt so groß waren. Er nahm die Dokumente und steckte sie in seinen Aktenkoffer. »Um siebzehn Uhr findet eine Konferenz statt.« »Hä? Wie?« Ein Gefühl von Panik schwappte durch meine Adern. Konferenz. Hörte sich wichtig an. Er sah mich an, als müsste er sich konzentrieren, um mich nicht wegen meiner Ahnungslosigkeit zu erwürgen. Jedenfalls langte er sich an die Stirn, atmete aus und erklärte weiter. »Dort kannst du dich gleich vorstellen und wir werden das weitere Vorgehen besprechen. Sarah wird auch dort sein.« Mich vorstellen? Ich schaute an mir herunter, in meinem Kopf sah ich irgendwelche Anzugträger, die mich missachtend betrachteten, hinter gehobener Hand über mich sprachen und ich fühlte mich immer kleiner. »Okay«, behauptete ich. Aber es fühlte sich nicht so an. Gegen sechzehn Uhr verabschiedeten wir uns von Herrn Muto. Das Gewitter hatte sich verzogen, aber die Gehwege waren noch nass und die Luft frisch. Die Frau an der Anmeldung, die Blicke im Rücken, Mitarbeiter, die Kaiba zunickten und mich übersahen, Mitarbeiter, die Kaiba zunickten und mich neugierig anstarrten. Als wir im Lift nach oben fuhren, schritt ich nervös hin und her. »Kaiba, ich –«, begann ich und sah zu ihm auf, bemerkte erst da, dass er mich wohl beobachtet hatte und hielt inne. »Wenn du aufs Klo musst«, warf er ein und ich schnaubte. »So ein Quatsch, ich wollt sagen, dass ich – ich hab keine Ahnung, was ich denen sagen soll«, gab ich zu und betrachtete betreten meine ausgelatschten Turnschuhe. »Das ist unerheblich«, entgegnete er und mein Blick rutschte zu ihm hoch, meine Augen weiteten sich, meine Augenbrauen hochgezogen, weil ich nicht glauben konnte, was er da sagte, »denn die wissen in siebzig Prozent der Fälle auch nicht, was sie mir sagen sollen, wenn ich sie etwas frage. Und das hier sind schon die Kompetenten unter ihnen.« Ich grinste schwach, wusste nicht, ob er scherzte oder es ernst meinte. »Sarah wird den Großteil übernehmen, setz dich einfach dazu, versuch nicht allzu dämlich auszusehen und verhalte dich der Situation angemessen.« Mein Blick verdüsterte sich. »Wenn das deine Ermutigungsrede ist, dann ist sie ziemlich kacke.« »Hündchen, dir war hoffentlich klar, dass ich dich nicht anlügen würde.« Ich schnaubte. In diesem Moment öffnete sich der Lift und Kaiba stolzierte hinaus, ich stolperte ihm hinterher. Ich würde mich professionell verhalten. So wie man es erwartete. Keine Gossensprache, alle Silben schön sauber ausgesprochen – so wie Kaiba es tat. Ich würde freundlich und nett auftreten, souverän, als hätte ich das hier schon zig Mal gemacht – so wie Kaiba eben. Ich würde antworten, wenn man mich fragte und niemandem auf die Füße treten. Ich würde selbstbewusst und clever meine Fähigkeiten präsentieren – so wie Kaiba.   »Kopf hoch, Schultern nach hinten«, wies er mich an, dann drückte er die Tür auf und schritt in den Konferenzsaal. Augenblicklich richtete sich die Aufmerksamkeit auf ihn. Sein Auftritt ließ alle verstummen. Sein Charisma nahm den Saal ein, überstrahlte die anderen Anwesenden und riss eine Kluft zwischen ihm und mir auf, die mir schmerzhaft ins Bewusstsein rückte, wie mächtig er war – und wie unbedeutend ich. Mein Blick schweifte über die Runde: Herren in Anzügen, eine Frau – abgesehen von Sarah. Ich erkannte Herrn Tanaka, der mir kurz zunickte.   »Wir beginnen mit Phase eins der Turniervorbereitungen«, ordnete Kaiba an und nickte Sarah zu, während ich neben ihm stand und bestimmt so aussah, als wollte ich überall sein, nur nicht hier – ganz und gar nicht wie Kaiba. »Meine Herren, meine Dame«, übernahm Sarah, »ich darf Ihnen Herrn Joseph Wheeler vorstellen. Mit ihm werden wir die Werbekampagne starten.« Als alle Blicke zu mir wanderten, rutschte mir das Herz in die Hose. »Ähm – hi«, brachte ich hervor und Kaiba hob eine Augenbraue, während er sich am Kopf des Tisches niederließ. Sarahs Hände lagen plötzlich auf meinen Schultern und sie navigierte mich zu einem Platz rechts von Kaiba, brachte mich dazu, mich zu setzen, blieb aber selbst zwischen ihm und mir stehen. »Ich bitte Sie, Herr Kaiba«, warf eine Stimme ein und ein dicklicher Mann in grauem Anzug und roter Krawatte erhob sich, stützte seine Hände auf dem Tisch ab und betrachtete abwechselnd mich und Kaiba, öffnete den Mund und schloss ihn wieder, als wüsste er nicht, wie er seine Gedanken zusammenfassen könnte und dann brachte er es endlich auf den Punkt. »Der ist nicht älter als ein Schüler. Seit wann legt die Kaiba Corporation ihren Erfolg in die Hände unerfahrener Jungen?« Die anderen Männer begannen zu flüstern. Mein Blick blieb an der Frau haften. Dunkelbraunes Haar, rote Brille, nicht älter als siebenundzwanzig. Sie schwieg und beobachtete die Szene aufmerksam. »Ich bitte Sie, Herr Le. Herr Kaiba selbst ist noch ein Schüler, wenn Sie sich erinnern«, entgegnete Sarah mit einem spöttelnden Unterton. Kaiba schaltete sich nicht ein, aber es konnte einfach nicht clever sein, jemanden aufgrund seines jungen Alters vor ihm diffamieren zu wollen. Trotzdem machte er den Anschein der Ruhe selbst: die Beine übereinander geschlagen, die Finger locker aneinander gelehnt, sein Blick aus dem Panoramafenster gerichtet, als interessiere ihn diese Debatte nur am Rande. »Ich denke, wir sind uns einig, dass Herr Kaiba nicht einem durchschnittlichen Typus von Schüler entspricht«, wandte Herr Le ein, stemmte seine kurzen Arme in je eine Seite seines Körpers. An dieser Stelle hätte sogar ich genickt. Kaiba war alles andere als durchschnittlich. Er war überdurchschnittlich intelligent, erfolgreich und nervtötend. »Sie glauben doch nicht wirklich, Frau Jones, dass dieser Junge etwas Nützliches beitragen kann? Wir könnten eher froh sein, wenn er unsere Arbeit nicht behindert.« Ich biss mir auf die Lippe. So ein arroganter – ich würde freundlich und nett auftreten, erinnerte ich mich. »Herr Le, ich wäre sehr froh, wenn dieser talentierte junge Mann unsere Arbeit behinderte. Denn das hieße, dass unsere planlose Suche in eine erfolgreiche Richtung stieße.« »Ich bitte Sie, Frau Jones. Die Kaiba Corporation hat eine Menge talentierter Werbedesigner. Es ist eine Schande, dass –« Ich würde antworten, wenn man mich fragte und niemandem auf die Füße treten. Keine Gossensprache, keine vorlauten Reibereien. Ich würde selbstbewusst und clever meine Fähigkeiten präsentieren – so wie Kaiba. Ich würde still sein, wenn es sich gehörte. Kaiba blieb still. Wahrscheinlich gehörte es sich für mich dann erst recht. Mit knirschenden Zähnen folgte ich dem Schlagabtausch. Mein Blick wanderte zu Kaiba, der weiter aus dem Fenster schaute, als wartete er auf etwas. »Ja, es ist eine Schande, was an Vorschlägen aus Ihrer Abteilung kam, Herr Le.« Sarah schnaubte, rückte ihr Hütchen zurecht und Herr Le funkelte sie an. »Als Sie uns vor knapp einer Woche einen klugen Marketingzug, einen talentierten Künstler versprachen, der nah an der Zielgruppe ist«, Moment. Hier schnellte mein Blick von Sarah zu Kaiba. Sie hatte mich angekündigt. Er hatte also mit meiner Zusage gerechnet. Oder wen hatten sie als Ersatz in der Hinterhand? War ich so durchschaubar? Woher hatte er das gewusst? Oder hatte er nur hoch gepokert?, »dachte ich an jemanden wie Laure Prouvost oder Paulien Oltheten und nicht an jemanden wie – wie heißen Sie nochmals?« Herr Le betrachtete mich wie jemanden, von dem er wusste, dass er seine Zeit verschwendete. Ich kannte diesen Blick. Mein Vater hatte mich oft genug so angesehen. Nutzloser Bengel. Verlierer. Nichtskönner. Null. Ich ballte meine Hände. Das war's. Meine Vorsätze verwehten mit Herr Les Frage an mich. »Ich heiße Joey Wheeler und mir ist egal, an wen Sie dachten.« Mein Blick glühte. Herr Le schnaubte, öffnete seinen Mund, aber ich kam ihm zuvor. »Kaiba hat mir den Vertrag gegeben und egal wie er mich manchmal auch ankotzt«, jemand atmete scharf ein, »ich weiß er hat Ahnung hiervon. Wenn er sagt, ich bekomm das hin, dann bekomm ich das hin. Kapiert?« Mein Blick wanderte über die Gesichter. Mein Kinn gereckt, meine Faust auf dem Tisch. Ich bemerkte erst jetzt, dass ich stand und alle mich anstarrten. Hitze legte sich auf meine Wangen. Dann sah ich die junge Frau mit roter Brille lächeln. »Also würde ich – mal vorschlagen«, fuhr ich fort, »dass Sie – also dass wir hier mal – anfangen mit – planen und – was auch immer Sie hier sonst tun.« Ich setzte mich. Sarah strahlte mich an. Herr Le presste seine Lippe aufeinander. Die anderen schienen mir zuzustimmen, denn sie kramten in Unterlagen, jemand verlas die Punkte für die Sitzung und ich lehnte mich zurück, atmete tief durch und bemerkte, dass ich Luft in meinen Lungen gesammelt hatte. »Der Situation angemessen, Hündchen«, vernahm ich eine Stimme, als Kaiba sich ein wenig zu mir beugte, damit nur ich es hörte. Es war keine Ermahnung – im Gegenteil. Mit ein bisschen Willen, konnte man es als Lob verbuchen. Ein Grinsen schlich sich in meine Mundwinkel. Dann folgte eine Menge Rederei über Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte, aber das beunruhigte mich kaum, denn Kaiba, der Seto Kaiba hatte dafür gesorgt, dass ich hier saß und ich würde den Teufel tun, hier wieder zu verschwinden, ohne allen gezeigt zu haben, warum.   Nach der Konferenz wusste ich, dass ich nichts wusste. Das war einerseits keine neue Erkenntnis – und wahrscheinlich deswegen nur halb so ernüchternd – auf der anderen Seite aber verdammt ärgerlich, weil es Herrn Les Argumente nicht gerade schwächte. Einige verschwanden aus der Tür, aber der Großteil stand zusammen, unterhielt sich paarweise oder zu dritt, trank schlückchenweise Wasser und diskutierte. Ich stand langsam auf. Kaiba stand zwischen zwei Männern, einer hager, der andere klein und wurde offensichtlich belagert. Seine Mimik wandelte sich von gleichgültig zu ungeduldig, aber die beiden schienen es nicht zu bemerken. Sarah besprach etwas mit Herrn Tanaka. Ich wusste nicht, was ich hier tun sollte, fühlte mich irgendwie wie bestellt und nicht abgeholt, nahm mir ein Glas, schenkte Wasser ein und trank, einfach, um etwas zu tun zu haben. »Herr Wheeler.« Die Frau mit roter Brille stand mir plötzlich gegenüber und rückte die Gläser auf ihrer Nase zurecht. »Ja, ähm – Frau –« »Mireille-Fabienne Mathieu«, stellte sie sich vor und ich nahm ihre Hand. »Ich sehe der Arbeit mit Ihnen entgegen.« Im ersten Moment konnte ich es nicht einschätzen, ob sie spottete oder es ernst meinte, aber als sie leise lächelte, entspannte ich mich. »Ja, danke. Ich – also – was arbeiten Sie eigentlich?« Es hörte sich laut gesagt viel unfreundlicher, an als es in meinem Kopf geklungen hatte. »Ich wollte nur«, fuhr ich verlegen fort, aber sie winkte ab. »Ich bin Leiterin der Produktion.« »Wow, echt? Sie sehen so jung aus.« Sie schmunzelte. »Ich dachte, gerade Sie wüssten, dass das meistens unerheblich ist.« Ich glubschte sie an. Gerade ich – das würden wohl die meisten eher denken – hatte davon keine Ahnung. Konnte froh sein, wenn ich meinen Schulabschluss in normaler Geschwindigkeit mit einer mehr oder weniger passablen Note schaffte – geschweige denn so eine Karriere hinzulegen wie diese junge Frau vor mir, die implizierte, ich hätte eine Idee von so etwas. »Wo Sie doch offensichtlich eng mit Herrn Kaiba arbeiten, Herr Wheeler«, erklärte sie weiter. »Ja, also wir sind nur Klassenkameraden aber – ähm – nennen Sie mich doch einfach Joey. Das Andere – klingt komisch«, warf ich ein. »Dann nennen Sie mich bitte Fabienne«, entgegnete sie »Gerne«, ich verstummte kurz, trank einige Schlucke, obwohl ich keinen Durst hatte und bemerkte Kaibas Blick, als prüfte er, ob ich mich benahm – aber vielleicht kam es mir auch nur so vor. »Was macht man eigentlich als Produktionsleiterin?«, nahm ich den Faden wieder auf. Sie setzte gerade zur Antwort an, als sich zwei Hände auf meine Schulter legten. »Joey«, Sarahs Stimme brachte mich dazu, mich umzudrehen, »ich möchte euch nur ungern unterbrechen, aber wir sollten in mein Büro gehen und die nächsten Schritte planen. Frau Mathieu.« Sie nickten sich zu und Sarah ließ meine Schultern los, ging vor, schritt auf Kaiba zu, wechselte schon ein paar Worte mit ihm, während ich mein Glas auf einen Wagen stellte, wo sich schon ein paar benutzte Gläser sammelten. »Entschuldigen Sie, aber es steht wohl noch echt viel Arbeit an«, sagte ich und grinste ihr zu. Über ihre Lippen glitt ein Lächeln. »Es steht immer viel Arbeit an«, erwiderte sie, »und ich wünsche Ihnen viel Erfolg dabei, Joey.« Damit wandte sie sich um und ließ mich stehen. Sarah bedeutete mir, mich in Bewegung zu setzen und ich tat wie geheißen. Sie stand bei Kaiba, der irgendwelchen Anzugträgern Anweisungen gab und mich nicht beachtete.   »Ich wusste, dass du das hier hinbekommst, Schätzchen«, lenkte Sarah meine Aufmerksamkeit von Kaiba zurück zu ihr, »jetzt müssen wir die nächsten Schritte gehen und Herrn Le ordentlich blamieren. Seine Abteilung hat bei dieser Kampagne bisher ganz schön geschwächelt.« Ein Lächeln federte ihre harten Worte ab. »Am besten wir gehen in mein Büro und besprechen dort alles.« Ich nickte, doch mein Blick wanderte wieder zu Kaiba, der ihn erwiderte, was mich im ersten Moment inne halten ließ. Uns trennten drei Männer, zwei davon redeten auf Kaiba ein – der dritte war Herr Le, der schweigend dabei stand – und Sarah, die mich beanspruchte. Sie lehnte sich zu mir. »Die beiden neben Herrn Le bei Seto sind Herrn Les Schergen. Herr Miller ist der rechte, der mit der Fliege. Er ist Abteilungsleiter des Online-Marketings. Links steht Herr Suzuki. Er ist in der Redaktion der Online Zeitung der Kaiba Corporation und dabei Ressortleiter der Kultur.« Mein Kopf schwirrte. Leiter, Abteilungen, Namen, Aufgaben. Dass die Kaiba Corporation groß war, wusste ich schon davor, aber jetzt erahnte ich langsam die ganzen Ausmaße. Herr Miller schaute zerknirscht, strich sich gerade seinen blonden Pony aus der Stirn und rückte seine Fliege zurecht. Herr Suzuki öffnete den Mund, aber Kaiba schüttelte den Kopf, kräuselte seine Lippen. Ohoh, da hatte ihn jemand ganz schön angepisst. »Was ist mit Herrn Le? Ich meine: Was macht der?«, wollte ich wissen. »Er ist Hauptabteilungseiter des Marketings hier in der Zentrale.« »Ich nehme an, dass das ein wichtiger Job ist«, vermutete ich. »Dein Job ist nicht weniger wichtig«, behauptete Sarah mit einem Lächeln und ich kaute mir auf meiner Lippe. Ich wusste nicht, ob mich das beruhigen sollte. »Hast du sonst noch Fragen?«, fragte sie. Ich kratzte mich am Kinn, erwiderte ihren aufmerksamen Blick und zuckte die Achseln. »Also – wer sind Olthen und Proust?« Sie betrachtete mich einen Moment und brach dann in leises Lachen aus. »Lass uns in mein Büro gehen.« Sie gab mir einen sanften Schubser Richtung Tür des Konferenzsaals. Ich schob mich an Kaiba und den beiden anderen Männern vorbei, die keinerlei Notiz von mir nahmen – oder es vorgaben. Sarah verabschiedete sich mit einem »Meine Herren«, was die Blicke auf sie lenkte. Die Männer nickten ihr zu und sie öffnete bereits die Tür, als uns Herrn Les Stimme zurückschauen ließ. »Herr Wheeler. Dann bleibt uns wohl nur zu hoffen, dass Sie Ahnung hiervon haben, dass sich Ihre Arbeit erfolgreich gegen professionelle Werbedesigner durchsetzen kann und rechtzeitig fertig wird.« Sein Blick brannte sich in meinen und alles, was dort stand, widersprach seinen Worten. Ich zuckte meine Schultern und grinste schief. »Keine Sorge«, behauptete ich, »ist eine meiner Stärken.« Mein Grinsen verbreiterte sich bei Kaibas hochgezogene Augenbrauen und ich schlenderte aus dem Konferenzsaal, spürte die Blicke in meinem Rücken und atmete tief durch, als sich die Tür endlich hinter uns schloss.   Sarahs Büro war eine Etage weiter unten. An den Aktenschränken klebten Zettel, mitten im Raum stand ein White-Board, Skizzen lagen auf ihrem Schreibtisch, belagerten den Besucherstuhl und einen Großteil des Bodens, Modelle stapelten sich in den Schränken. »Dann mal los.« Sarah strahlte mich an und ich konnte nicht anders als es ehrlich zu erwidern. Es würde nicht einfach werden– es würde eine Menge Arbeit. Egal was ich mir vornahm, ich wusste nicht unbedingt wie, war nicht immer vorbereitet und hatte manchmal keine Ahnung – nicht unbedingt wie Kaiba. Aber ich hatte das Gefühl, hier am richtigen Fleck zu sein.   »Joey, Schätzchen. Du stehst auf einer Skizze für die neue Rare-Card von diesem Sammelkartenspiel.« »Oh, sorry«, murmelte ich und machte einen Schritt. Kapitel 26: … ist eingeladen ----------------------------   __________________________________________ Sie haben mich nicht nur nicht eingeladen, ich habe auch abgesagt. Joachim Ringelnatz (1883 - 1934) __________________________________________           Kaiba war nicht der Typ, bei jemandem einfach vorbeizukommen, einen gemütlichen Abend zu verbringen und mit Freunden abzuhängen. Eigentlich war er nicht einmal der Typ, Freunde zu haben. Er war erfolgreich, reich und berühmt. Aber nicht beliebt. Mit Kaiba holte man sich seine persönliche Nemesis ins Haus. Und wer war schon so bescheuert?   Am Abend saß ich auf meinem Bett, einen Bleistift in der Hand und betrachtete Skizzen, die ich irgendwann einmal in meine Schublade gestopft hatte. Zeichnungen von Magiern und Drachen und meinen Freunden. Sarah erwartete erste Entwürfe. Ein Logo, Maskottchen, irgendwas. Mein Blick blieb an Tristan hängen. Seine Beine waren nicht fertig gezeichnet. Mit einem Schnauben erhob ich mich, trottete zum Fenster und lehnte mich hinaus. Warum sprachen wir nicht miteinander? Ich hatte den Grund schon fast vergessen. Ah, wegen meinem Vater? Weil Tris mir vorgeworfen hatte, nichts zu können? Hatte er das? Ich seufzte. Wie sollte ich Werbung machen für ein Event, das man mit Freunden teilte, wenn ich nicht einmal mit meinem eigenen Kumpel sprach? Aber ich konnte nicht einfach zu ihm gehen. Oder? Was sollte ich sagen? Freundschaft war manchmal echt kompliziert.   Am nächsten Morgen stand ich schon an der Tür, meinen Rucksack über eine Schulter geworfen, als mein Vater mit einem Papier wedelte. »Was'sn das für'n Schund?« Auf dem Papierkopf prangte das Logo der Kaiba Corporation, was mich meine Augenbrauen zusammenziehen ließ. Woher hatte mein Vater den Vertrag zwischen Kaiba und mir? »Wer hat dich'n eingestellt? Kaiba Corporation? Hast du'n Zeugnis gefälscht oder –« Er musste in meinem Zimmer gewesen sein. Der verdammte Penner. »Geht dich'n Scheiß an«, raunzte ich und wollte ihm den Vertrag aus den Fingern ziehen, aber er brachte ihn aus meiner Reichweite, zerknitterte das Papier an den Rändern und entfachte meinen Zorn weiter. »Sprech nicht so mit mir, Hosenscheißer.« Ich ballte meine Hände. Gerade er musste so etwas sagen. »Was hast du in meinem Zimmer zu suchen?« »Ist meine Wohnung«, entgegnete er und ich schnaubte. »Brauchst gar nicht erst in meinem Zimmer nach Geld zu suchen«, zischte ich und schnappte mir den Vertrag. Diesmal war er zu langsam. »Ist mein Geld oder verdienste was? Wenn'de Geld verdienst, kannste für dich selbst sorgen, Bürschchen. Dann kannste gleich auszieh'n.« »Sobald ich das erste Geld auf'm Konto hab«, versprach ich grimmig und marschierte zur Tür hinaus.   Der Weg zum Laden zog sich. Autos hupten als ich einfach über die rote Ampel stiefelte, aber es juckte mich nicht. Ich hatte das Bedürfnis, gegen eine Hauswand zu schlagen, einen Mülleimer umzutreten und mich danach in mein Bett fallen zu lassen – beziehungsweise in irgendein Bett – Hauptsache nicht in der Nähe meines Vaters. Schon von draußen sah ich Kaiba im Laden sitzen. Die Wut in meinem Bauch verebbte. Es war krass, wie konzentriert er schaute, wenn er arbeitete, als existierten nur die Papiere, auf die er starrte. Für einen Moment wünschte ich mir, auch so abschalten zu können, den Rest aus meinen Gedanken auszuschließen und nur die Dinge vor mir zu sehen. Ich stieß die Tür zum Laden auf. »Erstaunlicherweise bist du fast pünktlich, Wheeler. Ist das mein guter Einfluss?«, frotzelte Kaiba und ich warf einen Blick auf die Papiere, von denen er nicht aufsah. Der Kassenbericht von letzter Woche. »Wenn dem so wäre, würde ich mir wünschen, dass auch deine Rechenkünste davon profitieren. Manchmal frage ich mich, unter welchen Umständen dich Herr Muto eingestellt hat. Du hast nicht nur einen Fehler gemacht bei –« Und da war er wieder, mein Zorn. »Lass mich in Ruhe«, brummte ich. Jetzt blickte er doch auf. »Wheeler, solche Fehler können ernsthaft –« »Interessiert mich nen Scheiß«, knallte ich ihm an den Kopf, fuhr herum und verschwand im Lager. Zornig wanderte ich zwischen den Regalen, verrückte Figuren und Boxen, nur um sie beim nächsten Mal, wenn ich vorbeikam, wieder in die ursprüngliche Position zu bringen. Mein Vater reichte mir für heute. Da brauchte ich nicht auch noch Kaibas Geschwätz. Das Lager war vollgestellt mit neuen Spielen. Die meisten trugen das KC-Logo. Der Vertrag poppte in meine Gedanken. So einer wie der, der hat's drauf. Solltest dir ne Scheibe von abschneiden, nutzloser Bengel! Warum sollte so einer wie der mit mir einen Vertrag abschließen? Es kam mir selbst so unlogisch vor. Wie hätte ich es anderen übelnehmen können, den Gedanken lächerlich zu finden? Mein Vater hatte nicht einmal wirklich Unrecht. Mit meinem Zeugnis hätte ich es nie geschafft. Hätte ich Kaiba nicht gekannt, ich hätte sein Büro niemals von innen gesehen. (Vielleicht nicht einmal das Gebäude der Kaiba Corporation.) Hätte ich es versucht, hätte man mich hochkant rausgeschmissen. Wahrscheinlich zurecht. Den Gedanken mussten einige in der Führungsetage hegen. Mussten das Ganze als schlechten Scherz betrachten. Vielleicht warteten sie darauf, dass Kaiba wieder zu Sinnen kam. »Es interessiert mich nicht, was in deinem Hirn vorgeht.« Erschrocken wandte ich mich zur Tür. Kaiba lehnte mit verschränkten Armen am Rahmen und beobachtete mich. Ich fragte mich, seit wann er schon da stand. »Aber wenn es sich negativ auf deine Arbeit auswirkt –« »Bereust du es jetzt schon?«, hielt ich ihm vor und er runzelte die Stirn, hob eine Augenbraue angesichts meines Tons. »Dir hierher gefolgt zu sein? Mit dir zu sprechen? Dich gelobt zu haben?«, fragte er barsch. »Quatsch – ich meinte – Moment. Gelobt? Wann hast du mich gelobt?« »Als du hereingekommen bist, Flohschleuder.« Ich überlegte, was ich verpasst haben musste. »Bezüglich deiner Pünktlichkeit«, spezifizierte er und fasste sich an die Schläfen. Klares Zeichen, dass er genervt war. »Das war für dich ein Lob?« Ich lachte grimmig auf. »Nur weil sich alle nach einem Lob von mir sehnen, muss ich dem nicht inflationär nachkommen.« Ein herablassendes Grinsen zog sich quer über seine Lippen, was mich so was zum Rasen brachte. Seine selbstgefällige Art ging mir so aufn Arsch. »Ich sehne mich ganz bestimmt nicht nach einem Lob – und erst recht nicht von dir, Geldsack.« Ich wandte mich wieder den Regalen zu, aber diesmal setzte ich sinnvolle Arbeit fort und räumte die Neuanlieferung ein. »Nach wessen Lob sehnst du dich dann?«, wollte Kaiba wissen und ich seufzte. »Nach keinem«, hielt ich fest. »Nach dem deiner Freunde?«, spöttelte er. Ich zuckte die Schultern. Sollte er doch raten. Er hatte keine Ahnung, dass mir Lob oder kein Lob total egal war. Die Meinung der anderen hinterließ bei mir höchstens ein Schulterzucken. Okay. Yugis Meinung war mir wichtig. Aber er stand auf meiner Seite. Niemals hätte er etwas ohne Grund verurteilt und seine Zuneigung war mir Lob genug – weit mehr als genug. Seine Freundschaft bedeutete mehr als jedes Schulterklopfen. »Oder nach dem deines Vaters?« Ich erstarrte, hielt die Spielfigur in meiner Hand, die kurz vor dem Regal schwebte. Als ich mich umwandte, um Kaiba anzukeifen, dass ihn das einen Scheiß anginge, stand keiner mehr in der Tür.   In der Mittagspause lag ich unter dem Apfelbaum und starrte in die Zweige. Es war heiß, aber im Schatten wehte eine Brise, die das Ganze erträglicher machte. Zumindest das Wetter. In meinem Kopf sah es anders aus. Wie Mücken schwirrten die Worte meines Vaters zwischen meinen Gedanken. Genervt seufzte ich, legte meinen Arm über das Gesicht und atmete tief ein. Mit einem Klatsch landete etwas auf meinem Bauch. Erschrocken fuhr ich hoch. »Mit freundlichen Grüßen von Herrn Muto«, sprach Kaiba und sah auf mich herab. Wie er da stand mit einem eigenen Wassereis in den Händen und den hochgekrempelten Hemdärmeln. Mein Blick wanderte zwischen ihm und dem Wassereis auf meinem Bauch hin und her. »Mhm«, brummte ich, lehnte mich wieder an den Baumstamm und wollte gerade die Verpackung des Eises mit den Zähnen aufreißen, als Kaiba mir eine Schere an die Beine warf. »Was zur – du hättest mich verletzen können!« »Ich bitte dich. Das ist eine Kinderbastelschere.« »Ja, und?« »Und ich habe mit dem Griff voran geworfen in einem Bogen, der dich nach meiner Berechnung unmöglich verletzen könnte.« Er ließ sich neben mir nieder. »Ja, toll. Und wenn deine Berechnung daneben gelegen hätte.« Er sah mich lange an und ich verdrehte die Augen. »Schon klar, schon klar.« Ich schnappte mir die Schere und öffnete mein Wassereis, nicht ohne zu brummen, wie unnötig das war. »Außerdem. Wenn ich dich verletzen wollte, würde ich nicht das Medium Schere dafür benutzen.« »Wie beruhigend«, erwiderte ich ironisch. Während er seinen Aktenkoffer neben sich stellte, die Beine überschlagen und mit den Armen nach hinten abgestützt, wanderten meine Gedanken. Sarah musste Kaiba schon richtig lange kennen. Länger als ich. Bestimmt war er schon als Kind so ein unerträglicher Besserwisser gewesen, aber einer, der sich gegen gestandene Männer durchzusetzen wusste – anders als ich.   »Was wollten eigentlich die Schergen von Herrn Le von dir?« »Schergen?« Nach einem Moment klärte sich seine Mimik. »Was hat Sarah dir erzählt?«, fragte er nüchtern nach. Ich zuckte die Schultern, schob mir das Eis zwischen die Lippen und nuschelte. »Herr Miller, der mit der Fliege, Abteilungsleiter des Online-Marketings. Herr Suzuki, Redaktion der Online Zeitung und Ressortleiter der Kultur.« »Und das hast du dir dank deines extraordinären Gedächtnisses behalten«, spöttelte er ironisch. »So ungefähr«, erwiderte ich. Musste ja nicht betonen, dass ich mir das ganze Zeugs hatte aufschreiben müssen, weil Sarah meinte, es wäre wichtig zu wissen, wer wer in der Führungsetage war. »Jopp, und Fabienne, Produktionsleiterin. Was produziert sie eigentlich?« Kaiba hob seine Augenbrauen, als ich ihren Vornamen benutzte. »Frau Mathieu, leitet die Produktion der DuelDisks, der DuelMonster-Karten und verschiedener anderer Spiele.« »Krass. Wie alt ist sie eigentlich? Sie sieht verdammt jung aus – dafür mein ich, also – dafür dass sie das so leitet.« Kaibas Lippen kräuselten sich und er hob sein Kinn, als spräche er zu einem Kind, bei dem man wusste, dass es nichts raffte. Mein Blick verdunkelte sich, als ich begriff, dass in diesem Fall ich das Kind war. »Sie ist fünfzehn Jahre älter als ich, als ich in die Führungsebene der Firma einstieg«, dozierte Kaiba und ich verdrehte die Augen und sog an meinem Eis.   »Wenn so viele Menschen für dich arbeiten. Was machst du eigentlich?«, frotzelte ich. »In die Schule gehen«, behauptete er trocken und drückte ein Stück Wassereis hoch, um es in den Mund zu schieben. Kaiba nicht beim Arbeiten, sondern beim Eisessen zu beobachten, hatte etwas Unheimliches. Etwas Bizarres. »Bald hast du's ja eh geschafft«, murmelte ich, zwirbelte das Gras unter meinen Händen und strich es wieder glatt. »Was willst du eigentlich nach der Schule machen?« »Wheeler«, begann er langsam, »ich bin CEO einer international renommierten Firma.« »Ja, und?« Seine Augenlider zog er bei den Worten zusammen. Es gab wohl nicht viele Menschen, die darauf gleichgültig mit den Schultern zuckten. »Deine Ahnungslosigkeit eröffnet einmal mehr, was für ein imposanter Volltrottel du bist, Hündchen.« »Na, du musst doch Pläne haben«, behauptete ich. Er schwieg. Was für Pläne konnte ein Teenager haben, der reich, erfolgreich und berühmt war? Spontan wäre mir nichts eingefallen. Aber Kaiba war anders als ich. Er dachte viel weiter und größer und bestimmt hatte er irgendeinen genialen Plan. »Welchen genialen Plan hast du?«, fragte er statt einer Antwort und ich schaute ihn mit großen Augen an. Hatte ich laut gedacht? Sein Ton jedenfalls sagte, dass er nicht davon ausging, dass ich überhaupt einen hätte. Ich schob meinen Mund nach vorne, legte meine Hand ans Kinn und überlegte einen Moment. »In den erstbesten Bus setzen und einfach rausfahren. Egal, wohin. Weit weg und dann würde ich irgendwo arbeiten und Leute kennen lernen und ich würde Geschichten hören und erleben und ich würde hart arbeiten, um was aus mir zu machen.« »Warum Konjunktiv zwei?«, wollte er wissen. »Hä?« »Du meintest: würde. Warum glaubst du, dass du es nicht tun wirst?« »Dummes Zeug. Klar mach ich das.« Ich lehnte mich zurück, strich mir eine Strähne aus der Stirn und starrte in den Himmel. Kaiba schwieg, betrachtete mich, als versuchte er etwas abzuschätzen – mein Gewicht? Meine Ernsthaftigkeit? Ich spürte seinen Blick. »Nein, wirst du nicht«, sagte er dann, lehnte sich auch zurück und schaute mich voller Ruhe an. »Woher willst du das wissen?«, schnauzte ich. »Ich hau ab, sobald ich kann.« »Nein. Du wirst dir das sagen, aber du wirst es nicht tun«, stellte Kaiba nüchtern fest. Ich musste an die Worte meines Vaters denken. Wenn'de Geld verdienst, kannste für dich selbst sorgen, Bürschchen. Dann kannste gleich auszieh'n. »Mir ist egal, was du denkst. Mir ist egal, was andere denken.« Verzog mein Gesicht. »Deine Mimik verrät zwei Dinge. Erstens: Du bist ein Idiot.« Ich öffnete grimmig den Mund, doch er hob die Hand und sprach ungerührt weiter. »Und zweitens: dass du lügst.« Ich würde so gerne alles hinter mir lassen. Aber ich wusste, dass man das nicht konnte. Nicht wirklich. »Du hast Angst.« Ich starrte ihn eine Sekunde wortlos an, riss den Mund auf, nur um ihn wieder zu schließen. Dann schnaubte ich. »Ich hab keine Angst«, fauchte ich, »ich hab keine Angst, endlich aus dem Loch zu –« »Nicht Angst davor, wegzugehen. Angst davor, nicht anzukommen«, erwiderte er ruhig und erhob sich gemächlich, ließ mich hier sitzen und ich sah ihm mit offenem Mund nach.   »Ja, er ist – ich meine, das ist doch echt – also«, stammelte ich und fuhr mir durchs Haar. »Kaiba ist so ein verblödeter Arsch. Ehrlich.« Mit einem Schnauben ließ ich mich zurück aufs Bett fallen und stierte die Decke in Yugis Zimmer an. »Angst davor, nicht anzukommen. Was soll das überhaupt heißen, hä? So ein Schwachsinn«, schimpfte ich weiter. »Mhm«, erwiderte Yugi und machte sein nachdenkliches Gesicht. Ich betrachtete ihn mit einem Grummeln im Bauch. Er saß auf der Bettkante, sein Deck in der Hand, schaute sich immer mal wieder eine Karte länger an und zog dann die nächste hervor. »Was?«, wollte ich wissen. »Für was das da?« Ich machte eine Geste zu seinem Gesicht. »Naja, ich habe mich nur gefragt, wie er darauf kommt.« Yugi legte seine Karten zur Seite und sah mich forschend an. Ich fühlte mich plötzlich seltsam verletzlich – als könnte er durch mich hindurch sehen, durch alles, was die Welt sah und erkennen, wie es in mir ausschaute. »Hast du Angst vor der Zukunft, Joey?« »Was? Nein! Mein Gott, was haben alle heute mit Angst und dem ganzen Kram?« Ich legte einen Arm über meine Augen und murrte. Yugi seufzte und zog meinen Arm weg. »Du wolltest eigentlich von der Konferenz und so erzählen«, erinnerte er mich und stieß mich in die Seite, was mich brummen ließ. »Ja, stimmt.« Also erzählte ich ihm von Sarah und Fabienne und Herrn Le und Kaiba. »Hört sich so an, als wäre es richtig gut gelaufen. Also so insgesamt.« Yugi strahlte mich an und wischte damit für einige Minuten all meine Zweifel weg. »Kaiba ist trotzdem ein Arsch«, beharrte ich trotzig und verschränkte meine Arme vor der Brust. »Er hat dir einen Vertrag für so eine große Sache gegeben, dir den Rücken gestärkt bei der Konferenz und dich anscheinend in beste Hände übergeben«, fasste Yugi für mich zusammen und ich sah das Lächeln an seinen Lippen zupfen. Ich schob meinen Mund vor. Wenn er es so ausdrücken musste – »Einer, der manchmal nicht ganz so – arschig ist«, gab ich widerwillig zu. »Naja, morgen ist eh schon der letzte Praktikumstag«, gab er zu bedenken, »dann hast du hier wieder Ruhe vor ihm, nicht?« Etwas in meinem Bauch knüllte sich zusammen. Der letzte Tag. Vor lauter Kaiba Corporation, Vertrag und Konferenzen hatte ich das völlig vergessen. Zwei Wochen waren schon wieder vorbei. »Ja, dann ist wieder alles beim Alten. Oder so.« Ich setzte mich auf und spürte Yugis Blick auf meinem Hinterkopf. »Wir sollten grillen oder was machen irgendwie«, murmelte ich. »Also nach dem Praktikum.« »So zum Abschluss?« »Quatsch«, widersprach ich, »ist mir doch egal, wenn Kaiba nicht mehr hier auftaucht. Umso besser.« »Ich hab Kaiba mit keiner Silbe erwähnt.« Ich drehte meinen Kopf zu ihm. Mein Blick verdüsterte sich angesichts seines strahlenden Lächelns. »Aber wie wäre es wirklich mit einem Abschluss-Grillen? Großvater wäre sicher begeistert. Du, Kaiba, er, Tristan, ich – Mokuba würde bestimmt auch gerne kommen.« Hätte eine lustige Runde werden können. Wäre Kaiba nicht Kaiba und die Sache mit Tristan nicht so kompliziert. Aber Yugis Optimismus ließ mich langsam nicken. Was konnte schon groß passieren? Kaiba würde eh ablehnen und Tristan – naja. Irgendwie würde es sich einrenken. »Unter einer Bedingung«, schränkte ich ein und bedachte Yugi mit einem ernsten Blick, er erwiderte ihn, seine großen Augen treudoof ergeben,»du bleibst vom Grill weg.« Wenigstens hatte er den Anstand, zu erröten. »Okay, wer fragt Kaiba?«, wollte ich gedehnt wissen und wusste doch schon sofort die Antwort. Yugi grinste.   Am Abend schlenderte ich durch mein Viertel. Es war Teil meiner Kindheit, Teil meiner Perspektive. Ich hatte doch bisher alles irgendwie von hier aus erlebt. Ich trottete an dem Wohnblock vorbei, wo Tristan lebte, zögerte und schritt weiter. Die Wände verschmiert, mit Parolen und Wörtern, Tags und Bildern. Manche waren von mir. Die meisten blätterten ab oder waren übersprayed. Das Wohnhaus, indem ich groß geworden war, war grau – früher war es einmal weiß gestrichen, aber daran konnte ich mich nicht erinnern. Vielleicht war es auch vor meiner Zeit gewesen. Wenn ich durch diese Straßen ging, wusste ich, dass es immer ein Teil von mir sein würde – selbst, wenn ich irgendwann meine Sachen packen und abhauen könnte. Dieses Viertel war in mir drin. Als ich die Wohnung betrat, bemerkte ich mit Erleichterung, dass mein Vater nirgends zu finden war.   Am nächsten Morgen stand ich schon an der Tür, mein Rucksack über eine Schulter geworfen, wollte gerade los gehen Richtung Laden, als mich ein lautes Scheppern inne halten ließ. Ein Rumms. Und dann Stille. Ich zögerte. Am einfachsten wäre, es zu ignorieren. Wäre ich zehn Minuten früher gegangen, dann hätte ich es ja auch nicht gehört, also warum – ich könnte einfach – mit einem genervten Seufzen wandte ich mich um und trottete zum Schlafzimmer meines Vaters. Er lag auf dem Boden, jammerte leise vor sich her und bemerkte mich erst, als ich ihn ansprach. »Musst du nicht arbeiten?« »Ich bin krank«, behauptete er, hielt sich den Kopf und zog sich schwerfällig auf die Beine. »Du bist nicht krank, du hast'n Kater.« Damit war auch geklärt, wo er gestern Abend abgeblieben war. »Nein, ich bin krank«, beharrte er. Mein Blick schweifte in dem Zimmer umher und blieb dann wieder auf dem Mann liegen, der sich in sein Bett schleppte. Vielleicht hatte er gar nicht mal so Unrecht. Normal war das hier eh nicht. »Was hast du gestern gemacht?« »Ich muss mich vor dir net rechtfertigen, Bengel. Zieh Leine«, schnauzte er und ich zuckte die Schultern, kein bisschen beeindruckt von seiner Rage. »Du solltest damit aufhören«, murmelte ich und fragte mich gleichzeitig, warum ich es überhaupt noch sagte. »Verschwinde«, zischte er, »hau doch ab. So wie deine Mutter!« Für einen Moment stockte mein Atem, schaute ihn an, als hätte er mir vorgeschlagen, in meine Augen Essig zu kippen. Ungefähr so fühlte ich mich. Doch dann schnaubte ich bloß. »Du bist dir doch nur selbst peinlich.« »Hör auf! Hau ab!«, schrie er plötzlich los. »Du bekommst doch eh nichts hin! Und hör auf, mich so anzuglotzen! Wie deine Mutter, die dreckige Hure! Du bist wie sie! Eine Schande! Eine verdammte –« Ich zog die Tür hinter mir zu. Wäre ich nur zehn Minuten früher gegangen.   Der Weg zum Laden zog sich. Ich wusste, ich sollte nicht darüber nachdenken – aber ich tat es. Seine Worte stachen in meine Gedanken, schwirrten wie Wespen um mich herum. Ich konnte sie kaum ignorieren. Nachher würde er sich wieder entschuldigen, mich mit seinen Augen um Verzeihung bitten und behaupten, dass er meine Mutter noch immer liebte. Ich wusste nicht, was schlimmer war: Wenn er ausrastete oder wenn er zusammenbrach. Alles, was ich spürte, war meine Kraftlosigkeit. Als könnte mir niemand diese Last von den Schultern nehmen, von der ich nicht einmal wusste, woher sie kam. Hilflosigkeit. Ein Rennen im Kreis. Machtlos zuzusehen, wie sich mein Vater zugrunde richtete.   Die Glocke läutete, als ich die Tür aufzog und mit einem breiten Grinsen den Laden betrat. »Du bist zu spät, Wheeler«, fuhr mich Kaiba an, der irgendetwas auf ein Tablet tippte, die Vitrinen abging und wieder tippte. Ohne mich eines Blickes zu würdigen. »Du mich auch«, grummelte ich. Er senkte das Tablet in seinen Händen etwas und fixierte mich plötzlich. »Dein Verhalten, Wheeler, ist eine Zumutung für jeden deiner Mitmenschen. Sicherlich ist dir außerdem nicht entgangen, dass du hiermit dein Statement gegenüber Herrn Le widerlegst.« Ich schmiss meinen Rucksack unter die Theke und ließ mich auf den Stuhl fallen. »Hä? Muss ich wissen, was du wieder laberst?«, fragte ich nach und verhüllte mit keiner Silbe, dass es mir total egal war, was er von sich gab. »Seit wann ist Pünktlichkeit eine deiner Stärken?«, höhnte er. Ich wusste im ersten Moment immer noch nicht, wovon er sprach. Aber dann machte es klick. »Oh. Ich hab da vorgestern nicht meine Pünktlichkeit gemeint. Ich meinte, meine Superkraft, mich gegen Ärsche zu behaupten, Geldsack.« »Eine erbärmliche Superkraft«, spöttelte Kaiba und tippte weiter. »Nicht, wenn man sie braucht«, murmelte ich. Kaiba schnaubte. Es war einen Moment still. Ich dachte schon, er hätte mein Gemurmel nicht gehört – oder würde es zumindest ignorieren. Aber da lag ich falsch. »Suhlst du dich im Selbstmitleid? Was ist passiert, Köter? Hat dein Vater –« Als wäre das ein geheimes Kennwort, fuhr ich herum, stierte ihn an und unterdrückte meine Wut mit mäßigem Erfolg. »Halt dein Maul«, zischte ich. »Oh, der getroffene Hund bellt.« Ich ballte meine Fäuste. »Willst du mich jetzt schlagen, Wheeler? Schlägt dich dein Va-« Ich packte ihn am Kragen, zog ihn ganz nah und funkelte ihn an. »Halt. Dein. Maul«, stieß ich atemlos hervor. »Ich wurde nie von meinem Vater geschlagen, kapiert? Bist du jetzt enttäuscht? Zerbricht dein Weltbild dran? Nein, mein Vater macht genug Stress, aber geschlagen hat er mich nie. Zufrieden?« »Mehr als ich behaupten kann. Dann kannst du dich doch glücklich schätzen.« Der Hohn in seinem Ton saugte die Luft aus meinen Lungen. Irgendetwas an seinen Worten drängte mich einen Schritt zurück. Ich ließ ihn erschrocken los. Du bist nicht der Einzige mit einer schwierigen Familie, Joey. Tristans Worte hallten in meinem Kopf. Sicher. Es gab eine Menge zerrütteter Familien. Väter und Mütter waren auch nur Menschen und manche von ihnen ziemlich kaputte. Aber Kaiba? Aus einer schwierigen Familie? Niemals. Ich beobachtete, wie Kaiba seine Schulten straffte, seinen Kragen richtete und mich dann fixierte. »Du hast zwei Möglichkeiten, Wheeler. Entweder du heulst weiter herum, weil das Leben nicht fair ist und stehst in zehn Jahren noch immer an derselben Stelle oder du reißt sich zusammen. Kommst pünktlich zur Arbeit, machst deine Sachen gut und zuverlässig und nutzt das, was du hast.« Sein Blick wanderte über mich und ich reckte das Kinn. »Egal wie wenig es auch ist«, spöttelte er und drehte sich dann um. Die Lust auf Gegrilltes war mir vergangen.   Am Nachmittag schlängelte sich Mokuba zwischen Schülern vor dem Laden hindurch und grinste mich triumphierend an. »Ich wusste es«, behauptete er und ich hob meine Brauen, senkte das Magazin in meinen Händen und schritt um die Theke herum, während ich ihn fragte, was er zu wissen glaubte. »Dass du es allen zeigen wirst. Ich hab von Sarah die Story über Herrn Le gehört. Ich mochte ihn noch nie. Wäre zu gern dabei gewesen, als du ihm mal deine Meinung gesagt hast.« Ich zuckte die Achseln, musste aber grinsen. Trotz des mulmigen Gefühls seit meinem Zusammenstoß mit Kaiba, steckte mich seine Laune an. »Was machst du eigentlich hier? Dein Bruder –« »Ach, bin nicht wegen ihm da, sondern wegen dir. Hab die Geschichte gerade von Sarah erzählt bekommen. Sie meinte, die Story würde die Gerüchteküche der KC zum Kochen bringen.« Ich legte mein Magazin zur Seite und schaute mich im Laden um, nur ein paar Jungs schwärmten an einer Vitrine wegen ein paar Rare-Cards. »Was? Wieso das denn?«, fragte ich Mokuba. »Naja, ist ja nicht jeden Tag so, dass sich jemand mit ihm anlegt.« Mir wurde ein bisschen anders. »Anlegt? Das ist doch etwas krass ausgedrückt«, beschwichtigte ich, doch Mokuba war nicht zu bremsen. »Ich heiße Joey Wheeler und mir ist egal, an wen Sie dachten – hast du das gesagt, oder nicht?« »Ja, also –« »Stimmt es, dass du gesagt hast, dass dich mein Bruder manchmal ankotzt?« »Ähm –« Ich überlegte einen Moment. »Daran kann ich mich nicht mehr –« »Ja, das sagte er.« Kaibas Stimme ließ uns herumfahren. Mokuba brach in Gekicher aus und ich stand da und grinste verlegen. Kaiba bedachte mich mit einem Blick, der jeden anderen um einige Zentimeter geschrumpft hätte. Das Blau seiner Augen dunkel wie der Himmel vor einem Gewitter. »Und – wenn er sagt, ich bekomm das hin, dann bekomm ich das hin? Joey, hast du das echt gesagt?« »Ähm –« Kaibas Blick brannte sich in meinen. »Ja«, antwortete er für mich, »das hat er.« »Vor allen? Ich meine – einfach so während der Konferenz?« Mokubas Grinsen verbreiterte seine Wangen so, dass es schmerzen musste. Ich nickte langsam. »Genial«, behauptete er. Das Blau von Kaibas Augen hellte auf und ich verstand nicht, warum. Ein Kribbeln erwärmte meinen Bauch von innen, als die Türklingel unsere Aufmerksamkeit Richtung Eingang zog, wo Yugi uns mit einem Winken begrüßte. »Geschafft?«, fragte ich, als er sich zu uns gesellte und er nickte. »Geschafft. Hast du ihn schon gefragt?« Damit hatte er natürlich Kaibas Misstrauen geweckt. Ich druckste herum, fuhr mir durchs Haar und verlagerte mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Also – eigentlich – ich wollte heute Morgen, aber – dann – also –« Yugi seufzte, Mokuba beobachtete die Szene und Kaiba verschränkte die Arme vor der Brust. Obwohl weder der eine, noch der andere nachfragten, stand in ihren Gesichtern geschrieben, dass es sie interessierte, was heute Morgen gewesen war – ich hatte aber keinerlei Interesse, das jetzt auszurollen. »Aber wie auch immer. Also. Ich mach's kurz«, beschloss ich genervt und Yugi nickte mir ermutigend zu. »Kaiba, wenn du Lust hast, was mir natürlich egal wäre, ob oder nicht, dann könntest du, wenn du deine Firma für ein paar Stunden alleine lassen könntest – was du bestimmt nicht kannst, also hat es sich eh schon erledigt –« Kaibas Augenbrauen begannen zu zucken. »Wenn das also möglich wäre, dann könntest du – und natürlich auch Mokuba – wenn er auch Lust hat und so – er muss ja nicht einmal auf deine Firma aufpassen – dann –« Kaibas Stirn lag in Furchen. »Könntet ihr beide – und das wollte ich schon heute Morgen ansprechen, aber du bist ja so ein arroganter Bastard, dass –« »Wheeler, wenn du mich nicht umgehend in Kenntnis setzt, was dein Gekläffe bedeuten soll, dann werde ich dir ein Halsband anlegen und dich am nächsten Laternenmast aussetzen, damit ich es nicht mehr anhören muss.« Ich glubschte ihn einen Augenblick lang an, dann verdunkelte sich mein Blick. »Du arroganter Eisschrank, ich bin kein Hund, du bescheuerter –« »Deine Assoziationen sprechen dafür«, behauptete er. »Meine Assoziationen sprechen überhaupt nicht dafür.« »Du weißt nicht einmal, was eine Assoziation ist.« »Weiß ich sehr wohl, du großkotziger Kotzbrocken!« »Was wollte er denn fragen?«, hörte ich, wie sich Mokuba an Yugi wandte, ließ uns aber nicht aus den Augen. Mit einem Schnauben antwortete ich: »Euch zu 'nem Grillabend einladen. Als Abschluss. Also so halt.« »Oh, echt? Wie schön! Das ist echt ne tolle Idee, stimmt's, Seto?«, rief Mokuba. Wenn er Lust hätte, was mir natürlich egal wäre, ob oder nicht, dann hätte er, wenn er seine Firma für ein paar Stunden hätte alleine lassen können – was er bestimmt nicht konnte und/oder würde, also hatte es sich eh schon erledigt – dann hätte ich der Höflichkeit halber gefragt und gut wär's. So viel zum Plan. Yugi wäre zufrieden. Mokuba wäre trotzdem eingeladen. Kaiba könnte machen, was er wollte und ich –   »Wann sollen wir da sein?«   Mokuba starrte seinen Bruder an. Yugi starrte mich an. Ich starrte Kaiba an, öffnete meinen Mund und schloss ihn wieder. Zuerst hielt ich es für Spott, einen schlechten Scherz, aber Kaibas Blick sagte etwas Anderes. Als ich nichts antwortete, sprang Yugi ein: »Gegen achtzehn Uhr.« Kaiba hob sein Kinn, packte seinen Aktenkoffer, bedeutete Mokuba ihm zu folgen und entgegnete: »Ich hoffe, dass ich meine Zeit nicht verschwenden werde.« Damit ließ er uns stehen. Ich sah ihm nach, brodelte und atmete tief ein, doch bevor ich hätte anfangen können, regte sich Mokuba. »Ich glaube, was er sagen wollte«, begann er leise, »war vielen Dank für die Einladung.« Mokuba lächelte schief und mein Ärger verpuffte. Yugi legte seine Hand auf die Schulter des Jungen und behauptete, dass wir das doch wüssten. Dass Kaiba mit seinen Freunden manchmal nicht umzugehen wüsste. Dass das kein Problem wäre. Dass er sich freute, wenn die beiden kommen würden. »Stimmt's, Joey?«, wandte er sich an mich. Ich nickte langsam. Mokubas Lächeln entschädigte für Kaibas Arroganz. Als ihn sein Bruder ungeduldig rief, hob er die Hand und folgte seinem Bruder, der draußen bereits wartete.   »Yugi.« Er schaute mich von unten an und ich murrte die nächsten Worte, als hätte er mir ganz schön etwas eingebrockt. »Seit wann sind wir mit dem arroganten Geldsack befreundet? So ein Quatsch! Wir sind nicht mit ihm befreundet, Kumpel! Wir sind zufällig in derselben Stadt, zufällig in derselben Klasse! Wir sind doch nicht – also wirklich! Befreundet! So ein –« Yugi lächelte nur.   Kaiba war nicht der Typ, bei jemandem einfach vorbeizukommen, einen gemütlichen Abend zu verbringen und mit Freunden abzuhängen. Eigentlich war er nicht einmal der Typ, Freunde zu haben. Er war erfolgreich, reich und berühmt. Aber nicht beliebt. Mit Kaiba holte man sich seine persönliche Nemesis ins Haus. Ich war echt bescheuert. Aber wer rechnete auch mit einer Zusage? Oder mit Kaibas Freundschaft?   Kapitel 27: … ist ein Spielverderber ------------------------------------ __________________________________________   Spielverderber kennen die Regeln am exaktesten. © Martin Gerhard Reisenberg   __________________________________________           Seto Kaiba entwickelte die spannendsten Spiele und war erfolgreichster Unternehmer im Bereich der Unterhaltungsbranche. Von außen betrachtet musste man einfach davon ausgehen, dass er verstand, wie man Spaß hatte – wenigstens wie man einen schönen Abend mit Spielen verbrachte. So einen Abend mit Freunden zum Beispiel. Aber dafür war Seto Kaiba vielleicht zu alt. Nicht wegen seines biologischen Alters – das mit sechzehn ja wahrlich nicht besonders fortgeschritten war – sondern wegen dem, was sich in seinem Kopf abspielte. Spiele waren für ihn Arbeit, sie waren für ihn Kapitalanlagen, Projekte und Produkte. Vielleicht war er deswegen so ein Spielverderber.   »Ich bin dann mal weg«, rief ich über meine Schulter ins Wohnzimmer, wo mein Vater vor dem Fernseher saß, eine Dose in der Hand. Ich konnte nicht mal sagen, ob er mich wahrgenommen hatte, als er aufstand und mich fragte, wohin ich wollte. »Raus. Was interessiert's dich?« »Wohin?«, wiederholte er und kam mir näher. Ich starrte die Dose an, die er in seiner Hand schwang. »Zu Yugi.« Er machte einen weiteren Schritt, dann nickte er, wandte sich um und ließ sich zurück auf die Couch fallen. Ich schnappte mir meine Tasche und verschwand aus der Wohnung.   Kurz nach fünf trudelte ich bei Yugi ein, schlenderte durch die Tür in den Laden und hörte ihn und Herrn Muto im Garten hinten werkeln. Beide hantierten mit Bierbänken herum, den Tisch hatten sie schon im Schatten des Apfelbaums aufgestellt und ein paar Lampions aufgehängt. »Hey, Joey! Du bist aber früh!« Yugi wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Die Schwüle ließ auch mein T-Shirt am Rücken kleben. »Ich dachte, ich kann n bisschen helfen, Kumpel.« Ich grinste ihn an. Musste ja nicht betonen, dass hier zu helfen wie Urlaub war. Kein Vergleich zu dem Stress mit meinem Vater zu Hause. Meine Gedanken strudelten zu der Szene vorhin. Irgendwie hatte sich mein Vater doch seltsam verhalten, oder? Also seltsamer als sonst. Ich hob und senkte die Schultern. Yugi lächelte, aber in seinen Gesichtszügen zuckte so etwas wie Sorge – oder bildete ich mir das nur ein? Wir stellten den Grill auf, zogen eine weiße Tischdecke über den Tisch, den wir mit ein paar Kerzen dekorierten und backten das Brot im Ofen auf. Yugi stellte Salate auf einen kleinen Nebentisch sowie Geschirr.   Wir beschauten unser Werk. Ich lehnte gegen den Tisch, während Yugi auf der Bank saß. Hinter den Häusern stand die Sonne und tauchte alles in ein warmes Licht. Herr Muto saß abseits und blätterte durch eines dieser Magazine, die Kaiba ihm überlassen hatte. Der Brunnen gluckerte und ich beobachtete gerade die Fische im Teich, als Yugi sagte, was er zu sagen hatte. »Joey, weißt du. Ich denke, es wäre gut, wenn du in einer ruhigen Minute mit Tris reden würdest. Er vermisst dich und es ist einfach nicht richtig, wie es momentan zwischen euch ist.« Ich spannte mich instinktiv an, straffte meine Schultern und reckte mein Kinn. »Was sollen wir schon reden? Ne Entschuldigung schuldet er mir, ja.« »Ihr könntet euch gleichzeitig beieinander entschuldigen«, schlug Yugi vor, was mich die Augen verdrehen ließ. Manchmal wunderte es mich nicht, warum Kaiba uns als Kindergarten bezeichnete. »Sag mir nur einen gescheiten Grund, warum ihr nicht miteinander reden solltet und ich akzeptiere es sofort.« Vielleicht hatte es den mal gegeben, aber inzwischen hatte ich ihn vergessen. Vielleicht war er auch nie wirklich relevant gewesen. Wahrscheinlich war es einfach nur so, wie Yugi sagte: nicht richtig, wie es momentan war. Er legte seine Hand auf meinen Arm, was mich dazu brachte, ihn anzusehen. In dem Moment wusste ich, dass ich verloren hatte. Gegen Yugi verlor ich immer. »Na, schön«, seufzte ich, »na, schön.«   Manchmal war das Leben verdammt schwer. Solche Tage und Wochen, in denen man nicht mehr wusste, wie's weitergehen sollte, wo man an sich zweifelte – und das vielleicht sogar zurecht.   Gegen sechs Uhr klopfte jemand an der Hintertür zum Garten. Yugi öffnete sie und Tristan schlenderte in den Garten, klopfte Yugi auf die Schulter, während sie Seite an Seite zu uns schritten. Tristan stand vor mir und wir schwiegen. Verlegen scharrte ich mit meinem Turnschuh über den Rasen, Tristan schaute über meine Schulter, fuhr sich durch das Haar. »Es –« »Also –« Wir sahen uns an und lachten los. Unsere Freundschaft hatte noch nie auf Worten basiert. Stattdessen klopfte er mir auf die Schulter, ich drückte ihn an mich. »Sorry, Alter«, raunte ich, während er mit einem Tschuldige antwortete. Manchmal war das Leben verdammt schwer. Solche Tage und Wochen, in denen man nicht mehr wusste, wie's weitergehen sollte, wo man an sich zweifelte – und das vielleicht sogar zurecht. Und dann gab es diese Momente, wo alles wieder in Ordnung schien. Es war dumm gewesen, meine Zweifel an Tristan auszulassen. Vielleicht hatte er sogar in manchen Punkten Recht gehabt, aber darum machte ich mir in dem Moment keine großen Gedanken. Denn gerade erblickte ich, wie Yugi mit Mokuba, der eine riesige Salatschüssel vor seiner Brust trug, zu uns trottete. Kaiba folgte ihnen. Kaiba mit einer Kuchenplatte voller Muffins. Meine Lippen bogen sich ohne mein Zutun zu einem fetten Grinsen. »Hey, Mokuba!«, grüßte ich und er grinste mir zu, als würde ihn meines anstecken. »Hey, Kaiba. Hast du die selbst gebacken?« Seine Miene verdunkelte sich. »Hier«, erwiderte er nur und schmiss mir seinen Mantel entgegen. »Wenn du ihn schmutzig machst, dann bezahlst du die Reinigung.« »Hey, ich bin nicht dein –« Yugis Kopfschütteln brachte mich dazu, meinen Satz so in der Luft hängen zu lassen und mit einem Seufzen in den Laden zu trotten, um Kaibas blöden Mantel aufzuhängen. Als ich zurückkam, saßen Mokuba, Tristan, Yugi und dessen Großvater am Tisch. Kaiba stand neben dem Buffet bei seinen Muffins, als befürchtete er, jemand könnte sie stehlen. Ich schlenderte am Tisch vorbei, wo sie sich fiebernd unterhielten und lehnte mich an die andere Seite des Buffets, wo Kaiba stand. Es war mir nie in den Sinn gekommen, mich zu fragen, ob Seto Kaiba Freunde besuchte, mit ihnen grillte und einen schönen Abend verbrachte. Vielleicht, weil ich mich nie gefragt hatte, ob er Freunde hatte. Solche, die in seinem Alter waren und keine Geschäftspartner. Aber genau diese Frage durchzuckte mein Gehirn, als ich sah, wie Kaiba da in Yugis Garten stand, an dem Buffet und irgendwie verloren wirkte, obwohl seine Mimik Bände sprach. Es war klar, dass er kein Gespräch suchte. Und es war klar, dass mich das noch nie davon abgehalten hatte. »Hast du Hunger?«, fragte ich, woraufhin er mir einen Blick aus schmalen Augen zuwarf. »Weil du dich so an den Tisch hier klammerst«, fuhr ich fort, als hätte er die Frage gestellt, die dazu passte. »Ich klammer mich an nichts.« »Ja, schon klar«, erwiderte ich und stieß mich vom Tisch ab. »Aber essen musst du auch, oder? Oder reichen dir Lust und Liebe?« Mein Frotzeln verdunkelte seinen Blick. »Hey, hat jemand Hunger? Ich würd dann mal anfangen!«, rief ich über meine Schulter. Zustimmende Rufe, Tris warf mir ein foppendes Endlich, Mann an den Kopf und Mokuba nickte eifrig. Ich konnte Kaibas Blick förmlich durch meinen Hinterkopf brennen spüren, während ich mich dran machte, die Kohle zum Glühen zu bringen. »Seto«, Mokubas Stimme tauchte hinter mir auf, »Yugi hat grade erzählt, dass Industrial Illusions –« Bei dem Stichwort schritt Kaiba schneller mit zurück an den Tisch, als ich hätte Würstchen sagen können. »– auch ein Turnier planen«, hörte ich Mokuba weitersprechen, während sie zusammen Richtung Gruppe zogen. Tris verband sein Smartphone mit den Boxen und öffnete eine Musikliste, die bestimmt den Namen Alles, was sonst auf keine meiner Listen passt trug. Vor mir auf dem Grill brutzelte das Fleisch, hinter mir brach Yugis Großvater in Lachen aus – sein Lachen bescherte mir immer eine Wärme – um mich herum waberten die Töne einer Gitarre und ein Lied auf Spanisch (oder Italienisch?), das ich nicht verstand, aber mich an Sommer erinnerte und Urlaub. Manchmal war das Leben einfach super. Nicht nur. Aber auch.   »Mokuba meinte, bevor wir herkamen, ich solle mich konstruktiv einbringen.« Kaibas Stimme ließ mich herumfahren. Sein Ton schwankte zwischen Spott und Resignation. »Hä?«, machte ich nur, voll aus meinen Gedanken gerissen, als er mir ein Glas in die Hände drückte. »Äh, danke.« »Ich würde mich jetzt um den Grill kümmern«, sagte er. Es war mir nie in den Sinn gekommen, mich zu fragen, ob Seto Kaibas herrischer Tonfall daher rührte, weil er nicht wusste, wie man mit Freunden sprach. »Ah – ähm – das mach ich. Kein Ding.« »Ich bin durchaus in der Lage, diese Würstchen zum richtigen Zeitpunkt umzudrehen, Wheeler.« »Ja, trotzdem. Passt schon.« »Gib her«, befahl er und zog mir die Grillgabel aus der Hand – zumindest fast. »Was? Nein. Lass es.« Ich hatte mich auch nie gefragt, ob Seto Kaiba mit mir eines Tages um eine Grillgabel streiten würde. »Streitet ihr euch um die Wurst?« Mokuba betrachtete unserer beider Hände, die sich jeweils um die Gabel gelegt hatten und mein Blick schnellte von dem einen Kaiba zum anderen. »Wir streiten nicht«, behauptete ich, »wir führen eine Diskussion über Kompetenzbereiche.« Kaiba betrachtete mich mit hochgezogenen Augenbrauen. »Seit wann hast du einen Kompetenzbereich?« »Spätestens seit ich den Vertrag unterschrieben hab, frag Sarah.« Ich grinste ihn an, Mokuba kicherte und Kaibas Mundwinkel zuckte – was er im Nachhinein bestreiten würde. »Isses mal bald fertig?« Tristan tauchte hinter mir auf, legte seinen Arm um meinen Hals, erwürgte mich teils und umarmte mich halb. Kaiba verzog sich, als wären ihm zwei von unserer Sorte zu viel. Mokuba folgte ihm, als fühlte er sich für ihn verantwortlich. »Alter, es is fertig, wenn's fertig ist!«, murrte ich. Tristan spannte mich in ein Geplänkel ein, aber ich beobachtete Kaiba – nicht, weil er interessanter gewesen wäre – sondern weil er so zwischen meinen Freunden herausstach, dass ich ihn gar nicht nicht hätte beobachten können. »Die Kaiba Corp ist riesig, ne. Hab mich am Anfang dauernd verlaufen«, fing er einen Faden auf, den ich verpasst haben musste. Oder woher kam das Thema? Tristans Blick folgte meinem und ich schaute zurück zu den Würstchen auf dem Grill. »Ja«, murmelte ich, »ist ne völlig eigene Welt irgendwie.« Eine Welt, in die wir nicht gehörten. Erging es Kaiba so auf diesem Grillabend?   Seto Kaiba war bekannterweise unglaublich reich, intelligent, gutaussehend. Und ein arroganter Arsch. Aber manchmal war er auch einfach nur ein Außenseiter. Er wirkte mit seiner Gestik und Sprache so fehl am Platz – zwischen uns, die sich kannten und mochten. Er gehörte hier nicht rein. Und sicherlich wusste er das selbst am besten. Aber wohin gehörte er? Dann wenn er nicht der Geschäftsmann oder Schüler war. Was war Seto Kaiba außerhalb der Rollen, in denen ihn jeder kannte?   Nach dem Essen quatschten wir. Tristan lachte, als ich ihm von Herrn Le erzählte. Kaiba musterte uns mit gerunzelter Stirn. Yugi, Herr Muto und Mokuba hatten die Köpfe zusammen gesteckt, als Tristan mit dem Vorschlag kam, etwas zu spielen. Es war so etwas wie Tradition. Es gab einfach keinen Abend, an dem wir zusammen saßen, an dem wir nicht etwas gespielt hätten. War auch irgendwie einleuchtend, wenn man die Runde betrachtete: Yugi, der Spielekönig, sein Großvater, der einen Spielladen besaß, ich, der alles zockte, was ging, und Tristan, der so tickte wie ich. Und dann kamen heute Abend noch Kaiba und Mokuba hinzu. Zwei Gründe, die eher für ein Spiel sprachen, als dagegen. Mokuba, Yugi und dessen Großvater stimmten voller Freude zu. Ich nickte. »An was hast du gedacht?«, hakte Kaiba nach und er wirkte tatsächlich interessiert. Das war ein seltenes Phänomen, denn sonst klangen seine Nachfragen verdächtig so, als müsste er lästige Insekten verscheuchen.    »Uuund – die Zeit läuft!« Tristan drehte die Sanduhr um. Die Regeln des Spiels waren simpel. Ein Wort sollte man seinem Team erklären, die es erraten mussten. Ich stotterte, fuhr mir durchs Haar. »Nein, nicht die Karte weglegen, Köter. Wir werden keine weiteren Punkte deinetwegen abgezogen bekommen! Erklär. Die. Karte!« Ich brummte. »Ich weiß nicht genau, wie ich es erklären soll.« »Das ist nicht weiter überraschend.« Das Spiel wäre einfacher gewesen, hätte die Auszählung nicht Kaiba und mich in ein Team verfrachtet. »Ich denke, du hast – also –« »Die Zeit!«, raunte Tristan, der im anderen Team war mit Schadenfreude und ich verpasste ihm einen giftigen Blick. »Also – es ist, wenn man – gut ist und viel – also kann.« »Fähigkeit«, bot Yugis Großvater an. »Erfolg!«, warf Kaiba zeitgleich ein. »Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll, Mann!«, murmelte ich und starrte auf die Begriffe auf der Karte, die ich nicht benutzen durfte, um den Begriff zu erklären. »Tu es einfach!«, ordnete Kaiba an und ich musterte ihn, dann machte es Klick bei mir. »Kaiba hat es!«, rief ich begeistert. »Ziemlich viel davon!« »Größenwahn«, hörte ich Tristan von der Seite murmeln. »Eine Firma?« Herrn Mutos Vorschlag klang wie eine Frage. »Geld«, warf Kaiba ein. »Nein, es – also ja, aber das meinte ich nicht«, erklärte ich, zunehmend verzweifelt. Die Körner in der Sanduhr rieselten durch die Enge, bis Tristan mit einem Klatschen verkündete, dass die Zeit um war. Mit einem Seufzen zeigte ich die Karte. Talent stand drauf. Es wurde ruhig am Tisch. Yugi und Tristan warfen sich Blicke zu. Mokuba fixierte mich, Herr Mutos Augenpaar wanderte zwischen Kaiba und mir hin und her, als wartete er auf eine Reaktion und Kaiba starrte die Karte an. »Was?«, verlangte ich zu wissen und ließ meinen Blick über die Runde ziehen. »Ihr tut so, als wäre das was Neues. Es ist doch klar, dass der Geldsack«, ich zeigte mit der Karte in der Hand auf Kaiba, »verdammt viel Talent hat. Ist doch keine Neuigkeit. Er ist'n Genie.« Ich zuckte die Achseln. »Aber er ist halt nicht so eines, das man bewundert, sondern so eins, bei dem man befürchten muss, dass es eines Tages die Weltherrschaft an sich reißt.« Mokuba brach als erster in Lachen aus.   Wir spielten noch zwei weitere Runden, die wir auch verloren. Kaiba behauptete trotz seiner Erklärungen der Begriffe – ich gerade deswegen. (»Das war nicht offensichtlich, Kaiba!« »Franz Mars berühmtes Gemälde ist Das blaue Reiter. Das Bild zeigt ein blaues Pferd. Der Begriff, der zu erraten war, war Pferd, Flohschleuder.« »Klar, total offensichtlich.« »Absolut.«) Kaiba warf mir Inkompetenz vor, ich ihm Lebensfremdheit. (»Was meinst du mit Ich dachte, Eminem ist ein Schauspieler?«) Ich erkannte, wer ich war. (»Bin ich reich, ein nervtötender Geldsack mit der wahnhaften Einbildung, ich wäre besser als jeder andere?« »Wheeler, du darfst nur eine Frage stellen.« »Okay, klar. Also – bin ich Kaiba?«) Und Kaiba, wer er war. (»Lasst mich raten. Bin ich eine inkompetente Flohschleuder, deren kognitives Limit an das einer Banane reicht, die von einem Affen verspeist wird, der mindestens einen dreifach so hohen IQ besitzt wie die Person, deren Namen auf dem Zettel an meiner Stirn steht?« »Kaiba, du darfst nur eine Frage stellen!« »Das war nur eine.«) Die Sommernacht war lau und die Lampions glühten zwischen den Ästen. Die spanische Musik war einem Sommerhit gewichen. Hinten quatschte Tristan mit Mokuba und Yugi. Kaiba stand am Buffet mit verschränkten Armen, aber seine Mimik wirkte nicht verkniffen oder gelangweilt, sondern fast entspannt. Als ich zum Buffet schlenderte, begriff ich, was Yugi mir vor ein paar Wochen versucht hatte zu erklären. Wenn man sich eine Stunde langweilte, dann schlichen die Minuten. Wenn man dieselbe Zeit mit Freunden verbrachte, dann rasten sie. Relativität.   Mein Blick fuhr auf zu Kaiba. Er nahm sich einen Muffin von der Platte – natürlich einen mit extra viel Schokolade – und aß ihn im Stehen. Ich aß drei in derselben Zeit. »Gar nicht mal so scheiße, oder?«, fragte ich, während ich hinter ihm am Buffet auftauchte und er warf mir einen Blick über die Schulter zu. »Ich mein den Abend und so.« »Mhm.« »Auch ne Cola?« Ich schenkte mir gerade sowieso ein. »Mhm.« Also ja, kein beschissener Abend und keine Cola. Ich wusste nicht, wie ich es machte, dass ich wusste, ob es ein Ja oder ein Nein war. Aber ich wusste es. Vielleicht waren es seine Augenbrauen und Mundwinkel, wie er sie verzog. »Was machst du eigentlich sonst an solchen Abenden?«, fragte ich und setzte das Glas an meine Lippen. Es hörte sich an wie Smalltalk, aber bei Kaiba gab es so etwas nicht. Alles hatte eine Bedeutung. Hinter uns erzählte Yugis Großvater die Geschichte, als er in Ägypten war. Yugi musste jedes Wort mitsprechen können und selbst Tristan kannte die Geschichte auswendig, aber mit Mokuba hatte der alte Mann einen neuen Zuhörer gewonnen. »Ich arbeite, Wheeler, immerhin habe ich eine Firma zu leiten.« »Machst du nie mal blau oder so? Oder machst Urlaub?« Niemand konnte nur arbeiten. Und bewies Kaiba nicht mit seinem Auftauchen hier, dass selbst er ein Privatleben hatte? »Doch natürlich. In der Schule mache ich Urlaub von der Firma und in der Firma Urlaub von der Schule. Ziemlich viel Urlaub – so gesehen.« Ich betrachtete ihn von der Seite. Trotz seines ernsten Tonfalls sah ich, wie seine Mundwinkel zuckten, ehe er sich räusperte und in den Muffin biss. Ich glaubte, dass das eben so etwas wie ein Scherz gewesen war – so eine Art scherzhafte Bemerkung zumindest. Kaibas Humor war subtil. »Hey, stellt die Muffins doch einfach hier aufn Tisch! Die sind echt gut«, lobte Tristan, als er sah, wie ich mir einen in den Mund stopfte. Yugi nickte. »Das Rezept ist ein altes aus der Familie«, erwiderte Mokuba, als enthüllte er ein Geheimnis, während Kaiba und ich uns zu ihnen setzten, die Platte mit den Muffins mittig auf den Tisch gestellt. Als ich mich auf die Bank setzte, berührte mein Bein seines. Ich zuckte zurück. »Welches Rezept?«, schmatzte ich. »Wahrscheinlich solltest du nicht gleichzeitig essen und sprechen, Hündchen. Nicht, dass das noch einen Kurzschluss gibt.« Ich verdrehte die Augen, aber zuckte die Schultern. »Solange ich von deinen Muffins essen kann, würde ich sogar aufs Sprechen verzichten«, behauptete ich schmatzend. Mokuba schnaufte amüsiert. Kaibas Mimik war blank. Und der Abend lief weiter, Stunde um Stunde. Yugis Großvater zog sich mit dem Kommentar, uns junge Leute nicht weiter stören zu wollen, zurück. Was wir natürlich negierten. Doch Herr Muto lächelte nur und verabschiedete sich. Seine alten Knochen bräuchten Ruhe. Wir wünschten ihm eine gute Nacht – selbst Kaiba. Herr Muto lächelte ihm zu. Das Praktikum hatte seine Spuren hinterlassen, dachte ich. Nicht nur technisch und nicht nur in dem Sinne, wie es die Schule plante. Tristan schenkte sich gerade Colabier nach, als er mit einem Grinsen zu mir schaute und mich aus meinen Gedanken schreckte. »Wahrheit oder Pflicht?« »Was? Jetzt?« Yugi seufzte. Tristan schlug dieses Spiel immer an einem Punkt vor und Yugi war oft genug das Opfer seiner intimen Fragen geworden. Was mich überraschte war, dass Mokuba derjenige war, der zustimmte. Kaiba schaute gelangweilt, erhob sich, als wollte er sich dem Ganzen entziehen, als ihn sein kleiner Bruder ansprach. »Wahrheit oder Pflicht, Seto?« Er erstarrte. Ich konnte es förmlich sehen, wie Unglaube Ärger wich. Tristan und Yugi tauschten einen Blick. »Mach dich nicht lächerlich, Mokuba.« »Okay, wenn du keine Lust hast, mit mir zu spielen«, erwiderte er mit großen Augen und schleppender Stimme, »dann akzeptiere ich das natürlich.« In diesem Moment fragte ich mich, ob Seto Kaiba wirklich der von den beiden war, der die Entscheidungen fällte. »Schön«, ätzte er. »Bitte. Wahrheit.« Er ließ sich zurück auf die Bank fallen mit einem Gesichtsausdruck, der einem sieben Jahre Pech vorhersagte. Mokuba strahlte. Aber in meinem Bewusstsein kreiste nur, dass Kaibas Bein mein Bein berührte. Er zog es zurück, doch mein Körper schien das nicht zu registrieren, denn es war, als berührte er mich noch immer. »Warum hast du – nein, lass es mich genauer fragen – mit welcher Intention, die über das reine Projekt hinausgeht, hast du Joey den Vertrag angeboten?«, fragte Mokuba. Stille überzog unsere Runde. Jeder Blick richtete sich auf die beiden Brüder. Niemand regte sich, so als hegten wir die Befürchtung Kaibas Unmut bei einer falschen Bewegung auf uns zu ziehen. »Was ist das für eine – wie kommst du darauf, Mokuba?« »Ja, also – wirklich. Das ist doch – Unsinn. Oder?« Kaibas Blick klebte bei meiner Aussage in meinem. Mir wurde heiß. Wahrscheinlich erröteten meine Wangen, aber zwischen Kerzenschein und Lampions konnte das bestimmt niemand sehen. »Es gibt keine Intention, die über das Projekt hinausgeht. Wheeler ist talentiert, er ist im Zielalter. Das war's.« Es klang abschließend. Natürlich war's das. Ich konnte mir nur nicht das schwabbelige Gefühl in meinem Magen erklären. Er gab offen zu, dass ich nicht nutzlos war. »Du musst eine Frage stellen.« Tristans Aufforderung unterbrach Kaibas und meinen Blickkontakt. »Ähm, aber das kann auch ich übernehmen«, ruderte Tris bei Kaibas Mimik zurück. »Also Yugi, wie heißt das Mädchen, das mit dir seit ein paar Wochen chattet? Die aus dem Krankenhaus.« Mein Blick sprang zu Yugi, der anfing zu stottern, dass das Spiel so nicht funktionierte, dass das keine Wochen wären und dass sie nicht regelmäßig chatten würden und dass – interessant war, dass er nicht bestritt, dass es ein Mädchen gab. »Den Namen«, verlangte Tristan grinsend. »Th –«, murmelte Yugi verlegen. »Wie bitte?«, hakte Tris nach. »Thea«, erwiderte Yugi, »sie hat auch ein Praktikum im Krankenhaus gemacht. Sie ist auf unserer Schule.« »Und du sagst mir kein Wort?«, fragte ich brüskiert. »Ist doch nichts«, behauptete Yugi. Seine Mimik und Gestik standen seinen Worten entgegen. Ich schlug ihm vorwurfsvoll gegen den Hinterkopf, den er mit schuldbewusster Mimik rieb. Wir spielten weiter. Kaiba mit verschränkten Armen, Mokuba mit einem Grinsen. Yugi mit einem Blick, als wünschte er sich, besser lügen zu können. »Joey. Du bist. Wahrheit oder Pflicht?« Tristans Pflichtaufgaben waren meistens demütigend, also entschied ich mich für die andere Art der Peinlichkeit. »Wahrheit.« Tristans Grinsen sagte mir, dass meine Entscheidung falsch gewesen war – zumindest für mich. »Hast du mit dieser Maya rumgemacht gehabt? Nach der Feier damals von der Schule.« »Das ist ja schon ewig her!«, spielte ich das Ganze herunter. »Also ja?« Mein Blick schweifte über die Gesichter. Yugi schaute mich mit großen Augen an. Mokuba beobachtete mich, als sähe er mich zum ersten Mal und Kaiba zog seine Augenbrauen hoch. »Gut, wenn du's nicht sagst, dann also Pflicht. Am Montag gehst du in Badeoutfit in die Schule.« Ich klopfte gerne Sprüche, aber ich platzte mit so etwas nicht gleich heraus. Vor allem nicht vor einem Zwölfjährigen und Seto Kaiba. Richtig weit gegangen waren meine Bekanntschaften auch nie. Aber musste ich das vor Kaiba – und überhaupt – breit treten? »Bist du verrückt? Dafür krieg ich ne gute Woche Nachsitzen!« »Dann sag!« »Okay – Mann. Also – nö. Ist nichts gelaufen. Und jetzt –« »Nichts nichts?«, hakte Tristan nach. Er wusste nie, wann es genug war. »Nichts nichts«, bekräftigte ich genervt. Ich war dran. Yugi konnte ich auch noch unter vier Augen ausquetschen. Tris würde noch was zu hören bekommen. Mein Blick blieb an Kaiba hängen, der neben mir saß, als gehörte er weder zu diesem Zeitpunkt noch zu diesem Ort – geschweige denn zu den Leuten, die am Tisch saßen. »Warum hast du die Schachspiele gekauft? Was machst du mit denen?«, fragte ich ihn. Er langte sich mit seinem Zeigefinger zwischen seine Augen und massierte seine Nasenwurzel. »Das sind zwei Fragen. Und du hast mich nicht gefragt, ob Wahrheit oder –« »Dann die erstere.« Kaiba schwieg, öffnete den Mund. »Du musst die Wahrheit sagen«, erinnerte ihn Mokuba, Kaiba schloss seinen Mund wieder, schnaubte nur, erhob sich und verlangte nach seinem Mantel. »Hey, mach doch mal langsam. Ist doch kein –«, beschwichtigte ich. »Mokuba, wir gehen.« »Was? Nein, ich will nicht.« »Spielverderber«, murmelte Tristan. Gerade als Kaiba mit einem Blick, der von verbalem Mord sprach, antworten wollte, hämmerte jemand an das Hintertor. Wir sahen uns überrascht an. Kaiba schloss seinen Mund, als jemand schrie. Es klang wie ein Heulen, als hätte jemand einen anderen zusammengetreten. »Joey!«, rief eine Stimme, die zwischen Wut und Verzweiflung sprang. Meine Mimik zerbröckelte, als ich erkannte, wer es sein musste. »Was macht dein Vater hier?«, flüsterte Tristan mir zu und ich konnte nicht antworten.   Manchmal war das Leben verdammt schwer. Solche Tage und Wochen, in denen man nicht mehr wusste, wie's weitergehen sollte, wo man an sich zweifelte – und das vielleicht sogar zurecht. Dann gab es Tage, an denen man daran glaubte, dass alles schon irgendwie laufen würde. Und dann kam der Tag, an dem einen die Realität einholte.     Kapitel 28: ... ist allein -------------------------- __________________________________________   Zu zweit – doppelt allein. © peter e. schumacher   __________________________________________           Seto Kaiba brauchte niemanden. Er schaffte alles ohne fremde Hilfe, führte eine Firma, erzog seinen Bruder, zog die Schule mit Bestnoten durch. Von außen betrachtet war er ein Genie, das seinen Weg alleine beschritt. Von außen war immer so eine Sache.   Mein Vater stand vor mir auf dem Boden, nachdem Yugi das Tor aufgezogen hatte, hing halb auf seinen Knien, hatte sich vollgekotzt und stank. Innerlich verbrannte ich. Scham walzte durch meine Adern, Wut ließ mich ihn grob hochziehen. »Das ist – was –«, fauchte ich, stockte, atmete durch, beruhigte mich aber nicht. »Ich hab se ang'ruf'n«, lallte er. Ich vermied Kaiba oder Mokuba anzusehen. Dass Yugi und Tristan ihn so sahen war übel genug, aber – »Komm, wir gehen am besten mal rein«, versuchte Tris mir zu helfen. Mein Vater schwankte. »Ich hol mal – n Handtuch – oder so«, bot Yugi an. So wie mein Vater aussah, half nur eine Dusche. Und viel Duschgel. »Oder das«, stimmte Yugi meinem Gemurmel zu, »wir können ihn unter die Dusche stellen.« »Ich ruf n Taxi«, meinte ich, »der soll seinen Rausch zu Hause ausschlafen und dann schauen, was er macht.« »Wenn euch so ein Taxi mitnimmt«, gab Tristan zu bedenken. Meine Wut schwappte von meinem Vater auf ihn über. »Was soll ich machen? Ihn hier liegen lassen?«, fauchte ich. Tristan hob seine Hände. »Beruhig dich, Kumpel.« Mein Vater murmelte mir etwas ins Ohr, das sicher niemand verstanden hätte. Ich verstand nur, dass er mich wieder einmal zum Gespött machte. »Bleib stehen!«, giftete ich ihn an und lehnte ihn gegen das Tor, zog mein Handy raus und wollte ein Taxi rufen, als mich Kaibas Stimme innehalten ließ. »Wir können euch nach Hause bringen.« Ich hob meinen Blick, schaute aber an ihm vorbei. Ich wollte den Ausdruck in seinem Gesicht nicht sehen. Mokuba fasste meinen Arm. »Genau, ist doch kein Problem«, stimmte er zu. Das Lächeln, das sonst immer in seiner Stimme mitschwang war verschwunden. Da klang keine Freude mehr, wie vor ein paar Augenblicken noch. Da war Nüchternheit. Viel zu erwachsen für einen Zwölfjährigen. »Ich –«, begann ich, schüttelte den Kopf. »Danke, aber nein. Er –« Mein Blick wanderte über das Hemd meines Vaters, das halb aus seiner Hose hing, Dreck und Kotze war über den Stoff gesprenkelt. Ich verzog mein Gesicht. »Ich kann ein frisches Hemd von meinem Großvater holen«, bot Yugi an, »dürfte deinem Vater sogar etwas zu groß sein.« Nicht, dass es mein Vater mitbekommen würde, dachte ich und krallte meine Finger um mein Handy, steckte es langsam wieder zurück. Mokuba hielt noch immer meinen anderen Ärmel. »Gut«, seufzte ich. »Also schön.« Dabei war nichts an dieser Situation gut oder schön. Yugis Großvater half uns, das Hemd meines Vaters zu wechseln. Ich entschuldigte mich so oft für die Umstände, dass Herr Muto irgendwann meinen Arm packte, mich an sich drückte und sagte, dass alles wieder gut werden würde. Ich wollte ihm gerne glauben. Kaiba rief Roland an, der nur eine Viertelstunde später vor dem Tor wartete. Mein Vater hing um meine Schulter, murmelte etwas davon, dass sie ihn verlassen hatte und nie wieder kommen würde. Yugi legte seine Hand auf meinen Arm, mit dem ich meinen Vater festhielt. Sein Blick sagte, dass es so nicht weitergehen könnte. Aber er verriet nicht, was ich machen sollte. Tristan klopfte mir auf meine Schulter. »Bist du sicher, Kumpel?«, fragte er. »Vielleicht wäre ne Nacht in der Ausnüchterungszelle ne Option.« »Ich schaff das schon«, beharrte ich. Das musste ich alleine hinbekommen.   Als ich auf der Rückbank zwischen Kaiba und meinem Vater saß, versuchte ich aus dem Fenster zu schauen und so zu tun, als wäre ich gar nicht wirklich hier. Es klappte nicht. Mein Vater murmelte, schrie, heulte, flehte und ich trug die Maske, dass es mir egal war. »Halt endlich deine Klappe«, zischte ich. Er weinte in sich hinein. Aber es ging an meine Substanz. Mokuba saß auf dem Beifahrersitz, schaute ab und zu in den Spiegel. Einmal fing ich seinen Blick auf. Mitgefühl stand darin. Er nickte mir zu, lächelte ein zaghaftes Lächeln. Meines missglückte komplett. Kaiba schwieg. Vielleicht, weil selbst sein zynischster Kommentar nicht zynisch genug hätte sein können. Vielleicht, weil er nicht wusste, was er sagen sollte. Roland hielt und ich hievte meinen Vater aus dem Wagen. Er zeterte, schlug um sich, also ließ ich ihn los. Er strauchelte, griff nach meinem Shirt, aber griff daneben und stürzte auf den Gehweg. Er fluchte.   »Ich – danke«, murmelte ich in den Wagen, als ich da in der geöffneten Tür stand, meinen Vater hörte und Kaibas Gegenwart entfliehen wollte. Aber er hatte mehr verdient als diese Worte. Ich wusste nur, dass ich es ihm nicht würde zurückzahlen können. Ich stand in seiner Schuld. Schon wieder. Noch tiefer. Kaiba nickte. »Wenn was ist«, begann Mokuba mit einem Blick auf meinen Vater, »dann ruf an, Joey.« Ich bejahte, obwohl ich es nicht vorhatte, nicht einmal, wenn mehr als was war, dann drückte ich die Tür zu und sie fuhren los.   Wir polterten zur Wohnung hinauf. Jemand klopfte gegen die Wand. Im Schlafzimmer drückte ich meinen Vater aufs Bett. Er saß da, in sich gesunken, mit einem Hemd, das ihm viel zu weit war und starrte vor sich auf den Boden. Ich stellte ihm einen Eimer hin. Er saß einfach da und murmelte vor sich hin. Mit einem Seufzen lehnte ich die Schlafzimmertür nur an. Ich versuchte zu schlafen, hatte aber immer wieder den Drang, nach meinem Vater sehen zu müssen. Er war ein Arsch. Ein dummer Idiot. Aber er war mein Vater. Ich öffnete wieder die Tür, dieses Mal lag er nicht im Bett, sondern hing über dem Eimer. Als er sich die Kotze vom Mund wegwischte, blickte er auf und sah mich in der Tür stehen. »Se hat mich weg'n dir verlass'n«, murmelte er. »Was?«, fragte ich, weil ich zuerst dachte, ich hätte mich verhört. Ich machte ein paar Schritte in das Zimmer. »Du bist ihr zu viel g'word'n! Immer Ärger mit dir«, brabbelte er. Ich antwortete nicht. »Is deine Schuld!« Er erhob sich, wankte, aber sein Blick fand meinen. Meine Mutter hatte uns verlassen. Über die Jahre hatten die Gründe variiert. Es war nicht das erste Mal, dass es angeblich meine Schuld war. Aber es traf mich trotzdem. »Vater, leg dich hin, nicht dass –« Vielleicht sah ich es nicht kommen, weil ich es nicht erwartete. Aber der Schmerz brannte auf meinem Gesicht. Er schnaufte, als wäre er gerannt. Die Hand noch immer erhoben. Meine hielt ich mir vor die Wange. »Du kl'ner Bastard«, flüsterte er, betrachtete seine Hand, dann lauter und lauter und dann brüllte er. Immer dieselben Wörter. Bastard. Versager. Lusche. Idiot. Als hätte er eine Kraft erweckt, die in ihm geschlummert hatte, stürzte er auf mich zu, schlug mir ins Gesicht, gegen die Schulter, rammte mir seine Faust in den Bauch. Ich keuchte, bedeckte meinen Körper mit meinen Armen, hielt meine Hand vors Gesicht, sah nur noch Blut und hörte ein Knacken, spürte den Schmerz, der durch mein Handgelenk raste, sah Farben an meinen Augen vorüberziehen und meinen Vater, der schrie und tobte. Aber vor mir sah ich einen gebrochenen Mann und mir fehlte die Kraft, mich zu wehren. Vielleicht der Wille. Vielleicht hatte er Recht. Vielleicht war meine Mutter meinetwegen gegangen. Vielleicht war es meine Schuld. Vielleicht hatte ich es verdient. Vielleicht aber auch nicht. Der Schmerz vernebelte meine Gedanken, ließ mich stöhnen, zusammensinken. Vor meinen Augen schwebte Yugis Gesicht, wie er mich anlächelte. Tristan, klopfte mir auf die Schulter. Mokuba strahlte. Kaiba bot mir den Vertrag an. Mein Vater tobte. Ich stützte mich ab, wich seinem nächsten Schlag aus und stolperte aus dem Zimmer. Das Türschloss knackte, als ich die Tür zuwarf. Der Boden unter mir war schwabbelig. Die Decke über mir kreiste. Die Wände dehnten sich aus. Ich schloss die Augen, doch es wurde schlimmer. Mit einem Krächzen erbrach ich mich, stöhnte als sich zu dem Schwindel Schmerzen durch meinen Kopf fraßen. Doch ich kämpfte mich weiter durch den Gang, hangelte mich das Treppenhaus hinab. In meiner Hosentasche drückte das Handy gegen meinen Schenkel. Ich griff danach, schaffte nach zwei, drei Versuchen, eine Nummer zu tippen. Es wählte und wählte. Die Mailbox antwortete. Ich drückte die Wahlwiederholung. Es wählte erneut. Auch bei Tristan ging nur die Mailbox ran. Wie viel Uhr war es eigentlich? Das Display zeigte sieben Uhr. Tristan musste zu Hause sein, also wankte ich aus dem Wohnblock, überquerte eine Straße, strauchelte, fing mich aber oder trottete weiter, bis ich vor einem Wohnblock hielt, das aussah wie meiner – ungepflegt, der Putz bröckelte, wo früher Blumen gepflanzt waren, wucherte Unkraut. Ich klingelte Sturm, aber es öffnete keiner. Mein Kopf schmerzte. Mein Handgelenk brannte von innen. Ich hielt es schützend an meine Brust. Wahrscheinlich geprellt oder sogar gebrochen. Ein alter Mann wanderte an der Eingangstür vorbei, beobachtete mich misstrauisch. »Verpiss dich!«, rief jemand von oben aus dem Fenster. Tristans Stiefvater. »Ist Tris da?« »Kein Plan, nee. Verschwinde!« Ich fragte nicht weiter, stattdessen stiefelte ich zur Hauptstraße, wartete an der Haltestelle. Es war niemand unterwegs. Sonntags Viertel nach sieben. Ich schleppte mich in den nächsten Bus, stöhnte, biss mir auf die Lippen als ich mich hinsetzte und Schmerzen durch meinen Bauch stachen. Ich hielt meinen Arm vor die Brust. Die Buslinie führte direkt in die Stadt. Wohnblöcke wichen Hochhäusern. Geschäfte drängten sich aneinander, die geschlossen waren, weil Sonntag. Kein normaler Mensch arbeitete sonntags. Mein Kopf brummte. Ich wollte nicht ins Krankenhaus. Ich versuchte erneut Yugi anzurufen, aber niemand antwortete. Außerdem – ich wollte keine Fragen beantworten. Ich wollte nur schlafen. Mit einem Ächzen stieg ich aus und trottete die Straße entlang, bis ich auf einen Vorplatz gelangte, wo sich das Gebäude erhob und in den Himmel streckte. Natürlich war die Kaiba Corporation geschlossen. Aber so etwas hatte mich noch nie abgehalten. Ich wählte eine Nummer. Es tutete und als beim vierten Ton tatsächlich jemand abhob, schwor ich mir, ihr meine Dankbarkeit zu erweisen. »Joey? Schätzchen?« Sarahs Stimme klang in meinem Ohr, dann hörte ich nichts mehr.   Als nächstes hörte ich, wie jemand gegen eine Tür klopfte. Stimmen davor. Zuerst dachte ich, es wäre ein Traum, dann ein Alptraum. Ich hatte den Geschmack von Erbrochenem im Mund, verzog mein Gesicht, spürte dann die Schmerzen, die durch meinen Körper walzten, Brennen im Gesicht, ein Ziehen im Bauch. Ich rappelte mich hoch, orientierte mich. Irritiert erkannte ich Seto Kaibas Büro. Ich lag auf der Couch, die ein Teil einer Sitzgruppe war, von wo man besten Blick aus den Panoramafenstern hatte – und Richtung Schreibtisch, wo Kaiba saß. Er tippte nicht, was mich verwunderte. Kaiba tippte immer auf seinem Laptop. Er arbeitete immer, wenn ich ihn beobachtete. Aber dieses Mal saß er einfach nur da, starrte aus dem Fenster, als dachte er nach. Seine Mimik sah ich nicht. Ich fragte mich, ob er seine Augenbrauen zusammengezogen hatte – das hieß Ärger – oder ob sein Mundwinkel zuckte – das hieß, ich hatte ihn amüsiert. Auch, wenn er es natürlich nie zugab. Schon wieder Klopfen. Kaibas Stimme. Jemand zog die Tür auf. Yugi und Tristan antworteten. Ich zog mich hoch, setzte mich auf, befürchtete, mein Kopf würde von meinen Schultern fallen. Solche Schmerzen. »Was – was macht ihr alle hier?«, murmelte ich, verzog mein Gesicht, als sich alle zu mir drehten und Tristan antwortete, was meine Kopfschmerzen explodieren ließ. »Die Frage ist wohl eher, was du hier machst! Was ist passiert? Wie siehst du aus? Wir haben versucht, dich anzurufen! Ich hab bei Yugi übernachtet, als du –« »Ich würde vorschlagen, dass wir das auf dem Weg ins Krankenhaus besprechen.« Sarah blickte auf ihre Armbanduhr. »Was? Wieso?«, fragte ich. Ihr Blick sprach Bände. Irgendetwas zwischen Unglaube und Empörung. »Schätzchen. Hast du dich mal angesehen?« Ich wollte sagen, dass das nichts war, aber Kaibas Mimik hielt mich davon ab. »Das sind nur ein paar – ich muss nicht ins Krankenhaus. Ich brauch nur n bisschen Schlaf«, behauptete ich. Eine Kopfschmerztablette wäre gut, dachte ich. Und dann ins Bett. Kaiba schnaubte, er lehnte seine Finger aneinander und stierte mich an. »Du bist vor der Firma zusammengebrochen und hast Sarah angerufen«, sagte er, »um uns mitzuteilen, dass du ins Bett möchtest? Wheeler, was ist passiert?« Sein Blick bohrte sich in meinen. Ich schluckte. Alles war so unklar, wie hinter einem Schleier. Kaiba zückte sein Smartphone. »Was machst du?«, verlangte ich zu wissen. Panik befiel mich. »Ich rufe die Polizei«, teilte er mir mit. Ich stolperte auf ihn zu, schleppte mich durch den Raum, spürte, wie mir die Blicke folgten und ich griff nach seinem Arm, was ihn innehalten ließ. Er ließ mich nicht aus den Augen. Er stand da mit durchgedrückten Rücken und gehobenem Kinn und ich hing halb an seinem Arm. »Er hat es nicht absichtlich gemacht«, wisperte ich. Seine Brauen zogen sich zusammen. In seinem Gesicht erkannte ich, dass er seinen Verdacht bestätigt sah. Er griff nach meiner Schulter. Sein Gesicht war meinem ganz nah, ich wollte zurückrudern, aber er zwang mich, ihm in seine Augen zu sehen. »Er hat dich verprügelt, Wheeler.« Ich wimmerte. Vor Schmerzen oder wegen seiner Worte. Vielleicht und. »Kaiba«, fing ich an, doch er schüttelte den Kopf, ließ mich erst gar nicht weiter reden. »Sarah, würdest du bitte unseren Hausarzt anrufen? Ich setze mich mit der Polizei in Verbindung.« »Nein!« Alle Gesichter fuhren zu mir herum. »Nein«, wiederholte ich, versuchte meine Stimme ruhig klingen zu lassen. »Ich will nicht – du hast doch – er hat nur –« »Alles weitere entscheiden dann die Polizei und das Jugendamt«, schnitt Kaiba meine Worte ab und nickte Sarah zu, die musterte mich. In meinem Kopf pulsierte Schmerz, mein Gesicht brannte – ebenso wie der Zorn in meinem Magen. Ich spürte, wie alles meiner Kontrolle entglitt. Wer wusste, was aus mir werden würde. Ich würde versinken – ich war allein. Sie betrachteten die Oberfläche, aber wie kaputt mein Inneres war, sah niemand. Vielleicht hatte mein Vater Recht. Vielleicht war es meine Schuld. Vielleicht hätte ich mich mehr anstrengen müssen. Meine Mutter war gegangen und meinen Vater hatte ich dadurch zerstört. Was mussten meine Freunde von mir denken? Ich konnte nicht mehr atmen, obwohl ich die Luft einsog. Meine Freunde griffen nach meinen Armen, wollten mich zurück zum Sofa schleppen, redeten auf mich ein, bestimmt, um mich zu beruhigen, aber um mich herum begann sich das Zimmer zu drehen. »Lasst mich in Ruhe!«, schrie ich, keuchte und stieß Yugi weg, zog meinen Arm von Tristans Schulter, knallte auf meine Knie und wimmerte. Mein Brustkorb war zu eng. Das Gefühl zu ersticken quetschte meine Lungen zusammen. »Joey, es wird alles wieder –« »Du hast doch keine Ahnung!«, brüllte ich. »Joey, wir –« Tristan verstummte mit meinem Blick. Tränen flossen über meine Wangen. Mein Schluchzen, Keuchen, Atem hallte in der Stille wider. Mein Vater hatte Recht. Bastard. Versager. Lusche. Idiot. Ich schaffte nichts alleine.   Kaibas Mantel hing über meiner Schulter, ich krallte meine Finger in den Stoff, lag auf meinen Knien und Schienbeinen, meinen Bauch angezogen, meine Unterarme auf dem Boden. Der Mantel war warm und weich – komplett das Gegenteil, wie sich die Welt anfühlte. Jemand saß neben mir auf dem Boden, strich mir manchmal über den Rücken – ich fühlte es durch den Mantel hindurch. Mein Schluchzen verebbte. Mein Blick klarer. Die Schmerzen wichen Taubheit. Ich bemerkte, dass Kaiba neben mir auf dem Boden saß. Kaiba. Auf dem Boden. Neben mir. Etwas stimmte nicht. »Was –« »Du hattest eine Panikattacke.« Ich nickte langsam, als bräuchte ich einen Moment, um diese Ansage zu begreifen und nickte, obwohl ich es nicht begriff. »Wo sind Yugi und Tris?«, murmelte ich und schniefte. Es war zum Fremdschämen. Ich musste aussehen, wie ein Penner mit zu wenig Schlaf und einem fetten Drogenproblem – meine Augen brannten und waren bestimmt gerötet, meine Glieder schmerzten von der Haltung, mein Kopf implodierte stückweise. »Ich habe ihnen gesagt, ich rufe sie an, wenn du dich beruhigt hast. Sie stimmten mir zu, dass es wohl am besten so wäre. Sie waren selbst durch den Wind und übermüdet. Ich meinte, sie sollten nach Hause gehen und schlafen. Aber sie warten wahrscheinlich unten in der Lobby.« »Es tut mir leid«, murmelte ich, schämte mich für den Ausbruch, sah Kaibas Häme sich schon über mir ergießen, stattdessen zog er mich auf die Füße. Sein Mantel lag noch immer über meinen Schultern und hüllte mich ein. Ich stand ihm ganz nahe, sah, wie sich sein Brustkorb hob und senkte, konnte erkennen, wie sich sein Adamsapfel bewegte und seine Augen mein Gesicht absuchten. Ich schaute verlegen weg, fühlte mich schmutzig und ihm unterlegen. »Was dein Vater zu dir gesagt hat – er hat Unrecht, Joey.« Mein Kopf ruckte zu ihm hoch. Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Woher wusste er davon – woher wollte er das wissen? Hatte ich etwas zu ihm gesagt? Ich konnte mich nicht erinnern. Doch etwas in seinem Blick versicherte mir, dass er genau wusste, wovon er sprach. Ich senkte meinen Blick wieder, dann brach ich in leises Lachen aus. Vielleicht hatte ich endgültig meinen Verstand verloren. So jedenfalls sah er mich an. »War jetzt das erste Mal, dass du mich Joey genannt hast«, flüstere ich nur. Er neigte seinen Kopf. Seine Hände lagen an meinen Oberarmen, als fürchtete er, ich würde jederzeit wieder zusammenklappen. Kaibas Duft ummantelte mich, seine Wärme zog die Kälte und Unsicherheit aus meinen Gliedern. Der Schmerz pochte, aber da war noch ein anderes Gefühl. Je näher er kam, desto stärker wurde es. Wäre es nicht Kaiba, wäre es nicht ich, ich hätte schwören können, dass wir uns einander näherten.   Mokuba polterte durch die Tür und wir fuhren auseinander. Hinter ihm stand ein älterer Herr, den ich als Kaibas Hausarzt wiedererkannte. »Sie haben Joeys Vater gefunden!«, rief Mokuba und betrachtete uns dann neugierig. »Gut«, fasste Kaiba sich zuerst und leitete mich zum Sofa, drückte mich mit sanfter Gewalt hinunter, während er den Arzt heran ordnete und Mokuba anwies, mich nicht aus den Augen zu lassen. »Natürlich!«, erwiderte er. »Wobei ich nicht schwören kann, dass ich die Aufgabe so gut meistere wie du.« Mokuba hatte die Nerven seinen großen Bruder anzugrinsen. Kaibas Blick verdunkelte sich, doch er schwieg, brauste durch die Tür hinaus und ließ mich zurück.   Kaibas Arzt untersuchte mich, brummte immer mal wieder eine Frage, tastete ab und machte Bilder von meinen Verletzungen, legte dann Verbände an. Ich fühlte mich wie ein Tier im Käfig, begafft und entblößt. Mokuba redete mir gut zu und ich quetschte ihn über meinen Vater aus – versuchte es zumindest, aber er wiegelte es ab. »Es geht ihm gut«, behauptete Mokuba, doch sein Ton war zu fröhlich. »Sie sollten schlafen«, ordnete der Arzt an und mit Mokubas offenherzigem Blick fügte ich mich dem – aber widerwillig. Doch zu müde, um mir wirklich einen Disput leisten zu können. Die Schmerzmittel machten mich noch schläfriger. Mein Kopf fühlte sich schummrig an. Jedes Mal, wenn ich glaubte zu schlafe, schreckte ich hoch. Sah meinen Vater vor mir, hörte, wie er brüllte. Bastard. Versager. Lusche. Idiot. Doch jedes Mal, wenn ich erwachte, saß jemand bei mir. Yugi und Tristan, Herr Muto, Sarah, Mokuba, sogar Kaiba. Auf die Frage, was er hier machte, erwiderte er, dass das hier sein Büro wäre und er eine Firma leitete. Ich hätte gelacht, wäre ich nicht wieder weggedöst. »Wir sollten ihn in ein richtiges Bett bringen.« »Er sollte auf keinen Fall nach Hause zu sich müssen – allein.« »Er könnte bei mir schlafen. Großvater hat absolut nichts dagegen.« »Er könnte doch auch bei uns übernachten, oder Seto?« Zuerst dachte ich, die Stimmen wären Teil meines Traums, doch als die Konturen um mich herum aufklarten, erkannte ich, dass sich die Leute noch im Raum befanden, während ich wach war. Mein Kopf brummte und mein Handgelenk schmerzte. Erst wunderte ich mich darüber, dass ich dort einen Verband trug. Dann erinnerte ich mich. »Oh, Joey! Du bist ja wach! Willst du ein Wasser?« »Ich brauch ne Dusche«, nuschelte ich und brachte eins, zwei damit zum Lachen. Wahrscheinlich weil es der Wahrheit entsprach. »Wir haben gerade –« »Ich weiß«, murmelte ich und setzte mich langsam auf. Ich kam mir vor wie bei einer Krisenbesprechung. Wahrscheinlich weil es eine war. »Ich würde gerne nach Hause«, begann ich schleppend und Tristan widersprach sofort, ich hob die Hand, so dass er verstummte, »ich weiß aber, dass das wohl grade nicht sehr clever wär.« »Das ist noch untertrieben«, murmelte Tristan. »Wo ist eigentlich mein Vater?«, wollte ich wissen, ohne seinem Kommentar weiter Beachtung zu schenken. Meine Freunde warfen sich Blicke zu. »Er ist im Krankenhaus.« »Was? Wieso? Was hat er –« »Ich denke, wir sollten eines nach dem anderen klären, Kumpel«, unterbrach Tristan. Ich atmete tief durch. Er hatte Recht. Eine Sache nach der anderen. Auf meinem Brustkorb hockte schon wieder so ein Gewicht, also lehnte ich mich zurück, starrte die Decke an und nahm dann Yugi in den Blickfang. »Kann ich ein paar Tage bei dir unterkommen? Auf der Isomatte. Kein Ding, oder? Für ein paar Tage halt. Wird dann kurze Zeit etwas enger, aber –«, sagte ich. Yugi schüttelte den Kopf. »Absolut kein Problem«, bekräftigte er. Mokuba nickte langsam. »Oder du könntest mit zu uns kommen und in einem der Gästezimmer schlafen. Wir haben Platz genug.« Noch während Mokubas Worten trafen sich Kaibas und mein Blick. Als drückte jemand bei mir einen Schalter, fluteten meinen Kopf die Erinnerungen an seine Nähe, an seinen Duft, an den Mantel über meinen Schultern. Es schüttelte mich. »Außerdem wäre es doch praktisch. Seto könnte dich mit zur Schule nehmen und auch in die Firma.« Ich hörte Mokubas Argumente, die nicht nur logisch klangen, sondern es auch waren, aber der Gedanke daran, Kaiba wieder nahe zu kommen – der Gedanke daran, wie er mich erlebt hatte, schnürte mir die Kehle zu. »Ja, ähm. Danke, aber –« Ich wollte gerade Yugis Angebot annehmen, als genau der meinte, dass das doch eine gute Möglichkeit wäre. »Eine dauerhafte Lösung muss doch eh noch gefunden werden.« Tristan nickte, Mokuba nickte, Yugi nickte – alle schienen sich einig, nur Kaiba und ich schwiegen. Erst nach ein paar Schweigeminuten fiel mir etwas auf. »Was meinst du mit eine dauerhafte Lösung, Yugi? Ich geh wieder zurück nach Hause, wenn sich die Sache etwas – beruhigt hat.« Schon wieder tauschten sie Blicke. »Am besten, wir organisieren dir mal frische Klamotten und eine Dusche. Dann schauen wir weiter«, schaltete sich Tristan ein. Natürlich bemerkte ich, dass sie der Antwort auswichen, aber eine Dusche klang zu verlockend. Meine Kleidung hing an meinem Körper und ich hatte das Gefühl, nicht nur meiner Haut, sondern auch meinen Gedanken würde eine Dusche gut tun, also stimmte ich zu. »Wie wäre es, wenn ihr heute alle bei uns übernachtet?«, fragte Mokuba. »Dann ist heute Nacht niemand – allein.« Zustimmendes Gemurmel. »Dann geh ich kurz zu mir und –«, begann ich, doch wurde unterbrochen. »Unsinn, das wäre ein Umweg, ich leih dir was und –« »Tris, wenn du nach Hause gehst, dann können wir auch gleich bei mir vorbei sehen«, entgegnete ich genervt. Immerhin wohnte ich nur zwei Straßen weiter. Tristan kratzte sich am Hinterkopf. »Ja, Mann, ich meinte ja, dass Kaiba dir bestimmt etwas –« Das Letzte, was ich jetzt wollte, war in Kaibas Klamotten herumlaufen. »Was ist los?«, wollte ich zu wissen. »Was ist passiert?« Mein Blick wanderte über die Gesichter. Kaiba schaute so, als hätte er den anderen gesagt, dass ich eine Antwort verlangen würde. Sie schwiegen. Tristan fuhr sich durchs Haar, Yugi wrang sich die Hände, Mokuba senkte den Blick. Kaiba legte ein Bein über das andere, verschränkte die Arme vor der Brust und war der einzige, der meinen Blick erwiderte.   »In der Wohnung ist ein Feuer ausgebrochen«, sagte er. Mein Kiefer senkte sich. In meinem Kopf verschlang ein schwarzes Loch jeden Gedanken. »Ein Feuer?«, krächzte ich nach einigen Minuten der Stille. »Was soll das heißen? Ein Feuer?« Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Das durfte alles nicht wahr sein. Wie konnte ein einziges Wochenende nur so katastrophal verlaufen? In meinem Kopf hämmerten die Fragen gegen die Schläfen. Wo eben noch Leere gähnte, verstopften jetzt Gedanken meinen Verstand. Ich musste an die Worte meines Vaters denken. Hau doch ab. So wie deine Mutter. Hatte er sie geschlagen? Nein. Er hatte doch auch mich nie geschlagen. War das ein Argument? War sie vor ihm geflohen, so wie ich? »Ich glaube, wir brauchen alle ein bisschen Schlaf.« Tristan erhob sich als erster. Yugi nickte und folgte ihm, dann schaute er mich an, als ich mich nicht rührte. »Kommst du mit, Joey?« Mein Blick verharrte auf meinen Händen, dann ertappte ich mich dabei, wie ich Kaiba anschaute. »Ja, ich – ja.« Ich trat zu Yugi. Kaibas Blick folgte uns. Er verließ sein Büro hinter uns und schloss die Tür, während Tristan seine Hand auf meine Schulter legte, Yugi neben mir stand, als wäre er bereit, mich jederzeit aufzufangen. Aber das war nicht einmal nötig. Meine Knie fühlten sich wabbelig an, aber meine Gedanken waren unnatürlich klar. Vielleicht das Adrenalin, die Übermüdung, all die Informationen, die durch meinen Kopf rasten und doch so entfernt schienen, als würde ich sie nur wie Fremde betrachten.   Roland fuhr Yugi, Mokuba und mich zur Kaibaschen Villa. Mit Tristan fuhr er weiter, sicherlich zu ihm ein paar Sachen holen. Kaiba blieb in der KC – ein paar Dinge klären.   »Hier, das Zimmer.« Mokuba führte uns in einen Raum im ersten OG mit einem Doppelbett mit grüner Bettwäsche, weißen Wänden und dunklem Parkett, ein bodenlanges Fenster öffnete den Blick runter in den Garten. »Das Bad ist gleich hier.« Er öffnete eine Tür. Yugi und ich warfen uns einen Blick zu. »Kriegst du das hin?«, fragte er. »Was?« Als ich begriff, was er meinte, lief ich rot an. »Ja, Mann!« Mokuba besorgte mir Handtücher, Duschgel und Shampoo. Mit einem gemurmelten »Danke« schlurfte ich ins Bad, schloss die Tür und atmete tief durch. Das Bad war riesig. Dusche, Badewanne, zwei Waschbecken. Kerzen standen am Rand, eine Pflanze ragte sich bis zur Decke. Durch das Fenster strahlte die Sonne. Ich legte die Handtücher auf die Ablage und trat in die Dusche. Jetzt war kein Zeitpunkt für ein Bad. Ich wollte den ganzen Dreck so schnell wie möglich loswerden. Das Wasser benetzte meine Haut und brannte an den Stellen, wo sich eine Kruste gebildet hatte. Ich bemerkte, dass meine Lippe aufgeplatzt gewesen sein musste, am Kopf spürte ich ein paar Beulen, als ich das Shampoo einrieb. Mein Kopf brummte, aber ich sah alles klar und mir war nicht mehr übel. Ich kniff meine Augen zusammen, als der Gedanke mich überschwemmte, dass die Wohnung wahrscheinlich unbewohnbar war. Feuer. Der Gedanke daran jagte mir das Gefühl, keine Kontrolle zu haben durch die Adern. Da war wieder der Druck auf meiner Brust. Ich schloss das Wasser, öffnete die Duschtür und atmete tief durch.   »Hey, Kumpel.« Tristan klopfte an die Badezimmertür. »Ich hab n paar Klamotten für dich. Yugi meinte, es wäre zu zynisch, aber –« Ich hängte mir ein Handtuch um die Hüfte, öffnete die Tür ein Spalt breit und betrachtete Tristan, der mich verlegen angrinste. »Alles andere war – naja – sagen wir – so gut wie in der Wäsche.« Er hielt mir das T-Shirt mit dem Aufdruck Death Note vor die Nase. Ein Lachen kletterte durch meinen Bauch hoch in meine Lungen und brach aus mir heraus. Tristan fiel mit ein und ich krallte mir das Shirt mit einem Kopfschütteln.   »Wow, und schon siehst du nicht mehr aus wie ein Penner!«, begrüßte mich Tristan mit einem Grinsen, während ich durch die Tür ins Zimmer trat. Das feuchte Haar im Nacken, den Verband um mein Handgelenk möglichst trocken gehalten. Das T-Shirt und eine Hose von Tris an. Yugi verpasste ihm einen Hieb in die Seite, aber ich grinste zurück. Tristan hatte immerhin Recht. »Jetzt n bisschen schlafen und –« Ich gähnte, doch Mokuba öffnete in dem Moment die Tür und fragte: »Hat jemand Hunger?«   Kaiba wartete ihm Esszimmer, wo der Tisch bereits gedeckt worden war. Seine Haushälterin hatte Lasagne gemacht und tischte auf. Tristans Augen wurden riesig und meine Mundwinkel zuckten. Er langte zu und erzählte mir irgendwas von einer Serie im Fernsehen, Yugi und Mokuba tauschten sich über DuelMonsters aus. Ich stocherte in meinem Essen. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Kaiba mich beobachtete, aber jedes Mal, wenn ich aufsah, lag seine Aufmerksamkeit auf Mokuba oder Yugi. »Alles in Ordnung?«, fragte letzterer und natürlich wäre die ehrliche Antwort darauf eine negative gewesen. Doch ich schätzte die Sorge meiner Freunde und zuckte die Achseln. Yugi legte seine Hand auf meinen Arm, doch ich zog ihn weg. »Ist schon okay«, murmelte ich, »ich bin nur müde.« Nach dem Essen zogen wir uns in das Gästezimmer zurück. Das Doppelbett war riesig und ließ genug Platz für Tris, Yugi und mich. »Wollt ihr nicht noch ein Zimmer?«, hakte Mokuba schon wieder nach, doch Tris verneinte. »Unsinn, das ist wie bei einer DVD-Games-Nacht!« Mokubas Augen begannen zu funkeln und er lag Kaiba in den Ohren, dass er auch im Gästezimmer übernachten wollte, doch Kaiba blieb hart. »Du musst morgen in die Schule!«, war sein Totschlagargument. Obwohl Mokuba schmollte, gehorchte er und wünschte uns eine gute Nacht. »Ein anderes Mal«, munterte ihn Yugi auf und schaffte damit ein Lächeln auf die Lippen des Jungen. Ich bezweifelte aber, dass Kaiba uns jemals wieder bei sich aufnehmen würde. Warum sollte er auch? Schon dieses Mal kam mir vor wie die Folge eines Risses in der Realität. Vielleicht hatte auch einfach eine Panikattacke in Kaibas Büro ähnliche Auswirkungen. Eine DVD-Games-Nacht bei Kaiba. Das war so wie ein Schülerstreich von Lehrern. Kaiba wünschte uns eine gute Nacht (»Solltet ihr Mokubas oder meinen Schlaf stören, werfe ich euch raus«) und zog sich zurück.   Während Tristan im Bad war, stand ich am geöffneten Fenster und schaute hinaus. Ich dachte an mein Zimmer, das so viel kleiner und schäbiger war – aber trotzdem mein Zuhause. Und an meinen Vater. Der Gedanke an ihn wühlte Zorn auf, doch auch Hilfslosigkeit. Ob er sich ebenso fühlte? »Joey.« Yugi trat hinter mich, legte seine Hand auf meinen Rücken und schwieg. Es reichte schon, dass er da war.   Ich lag in der Mitte. Tristan hatte die Decke weggestrampelt, Yugi an mich herangekuschelt. Es war unerträglich warm. Ich starrte an die Decke, doch meine Augen brannten vor Müdigkeit. Irgendwann fielen sie zu. In der Dunkelheit sah ich ihn. Er lächelte – fast. Da hing ein Zucken in seinem Mundwinkel. Er griff nach seinem Aktenkoffer, setzte sich neben mich unter den Baum und aß ein Eis. Er brachte mich zum Lachen. Yugi teilte Karten aus. Tristan fragte mich, warum ich nicht auszog. Jemand schrie mich an. Ein Schlag. Eine Frau packte Sachen zusammen. Feuer. Es roch nach Qualm. Ich musste weg, doch jemand hielt mein Handgelenk. Es knackte. Mit einem Gefühl zu ersticken, fuhr ich hoch und saß im Bett. Mein Atem rasselte. Tristan schnarchte. Yugi drehte sich um. Ich verharrte, hoffe, ihn nicht aufzuwecken. Mein Herz raste. Draußen schien die Sonne. Es musste schon Morgen sein. Mit einem Blick auf die Uhr sah ich, dass es sechs Uhr war. Zittrig fuhr ich mir durchs Gesicht, dann kletterte ich über die Bettkante zu meinen Füßen und schlich aus dem Zimmer. Die Küche war im EG, also tapste ich die Treppe hinunter, bog um die Ecke, schlurfte durch den Gang und – schaute verdutzt. Ich stand vor einer Tür, die aber eindeutig nicht zur Küche gehörte. In dem Raum standen Putzutensilien. »Verdammte Scheiße«, fluchte ich und drehte mich um. »Iste nich scheiße«, mahnte mich eine Frau mit krausem, dunklem Haar und einem Lächeln, das ihr Gesicht einnahm. Ich zuckte vor Schreck zusammen. »Iste Putzzeug!«, erklärte sie. »Machte Scheißedreck weg!« Ihr Lachen steckte mich an und ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Entschuldigen Sie. Ich suche die Küche.« »Iste kein Problem! Iste am Ende von Gang! Waren Sie auf richtigen Weg – nur falsche Richtun.« Sie nickte mir zu und machte sich auf, begann leise zu pfeifen. Ich sah ihr überrumpelt hinterher. Als ich die Küche betrat, saß Kaiba an der Theke. Vor sich einen dampfenden Kaffee, in der Hand eine Zeitung, auf dem Tisch sein Smartphone, das immer mal wieder summte. »Morgen«, nuschelte ich. Er schwieg. »Oh! Wollen Sie auch einen Kaffee?« Hinter mir erschien Kaibas Haushälterin und wendete ein Omelette. »Oder eine kalte Milch?« Ich hatte Hunger und Durst, aber dass mir jemand morgens einen Kaffee machen wollte, war schräg. »Oder Tee?« Anscheinend nahm sie mein Schweigen für ein Nein. »Ich – ähm – ich nehm ne Milch.« Sie schenkte mir ein Glas ein und lächelte mich an. »Was möchten Sie essen? Omelette? Brötchen? Brot? Wir haben Käse, Wurst oder lieber etwas Süßes? Es gibt Marmelade, Honig, Nuss-Nougat-Aufstrich. Und natürlich frisches Obst. Möchten Sie ein Stück Melone?« Statt meine Antwort abzuwarten, tischte sie alles nach und nach auf. »Herr Kaiba hat Sie bereits angekündigt. Er erwartete nur, dass sie später aufwachen. Entschuldigen Sie also, dass der Tisch noch nicht gedeckt ist. Herr Kaiba bevorzugt ein simples und zügiges Frühstück. Er nahm an, Sie bräuchten etwas Üppigeres.« Mein Blick wanderte von der jungen Frau zu Kaiba, der schweigend Zeitung las und so tat, als wäre er nicht anwesend. »Ja, ähm. Danke«, murmelte ich und wollte gerade ein vorbereitetes Tablett von der Küche ins Esszimmer räumen, als sie mich alarmiert fragte, was ich da tue. »Ich – ich wollte nur helfen«, stammelte ich und ihre Mimik wandelte sich von ungläubig zu strahlend. »Aber bitte«, wiegelte sie ab, »Sie sind hier Gast!«   Tristan hatte kein schlechtes Gewissen sich durch alle Sachen durchzufuttern, Yugi aß, aber deutlich zögerlicher. Mokuba gefiel es offensichtlich, mit so vielen am Tisch zu sitzen und erzählte von seiner Klasse und einer Gruppenarbeit. Irgendein Projekt für Kunst. »Und wir machen zu dritt eine Hobbithöhle. Joey! Du kennst die sogar! Erinnerst du dich an die Silvester-Feier? Der blonde Junge und das Mädchen mit den roten Haaren. Leon und Amy.« Ich erinnerte mich vage. »Stimmt.« Ich biss in ein Brötchen, obwohl ich Hunger hatte, spürte ich keinen Appetit. »Joey, willst du uns bei dem Projekt helfen?«, fragte er, während er sich ein Omelette in den Mund schob. Kaiba senkte seine Zeitung. »Eine wunderbare Idee. Und danach könnten wir alle schwänzen und uns den Tag mit Spielen um die Ohren schlagen«, schlug er sarkastisch vor. Mokuba und ich tauschten einen Blick. Kaiba verdrehte die Augen und ordnete an, dass Mokuba seine Schulaufgaben und Projekte selbstständig organisieren müsste. Hilfe gäbe es nur im angemessenen Rahmen. Ich gehörte offenbar nicht da hinein. »Mir darf er nicht helfen. Aber dir vor ein paar Monaten schon?«, murmelte er beleidigt und ich konnte nicht anders als zu glucksen. Kaiba verpasste mir einen düsteren Blick. »Wir haben gemeinsam an dem Projekt gearbeitet, Mokuba. Das war völlig der Aufgabenstellung entsprechend und kein unlauteres Mittel.« »Unlauter vielleicht nicht«, murmelte Tristan und biss in ein Stück Melone, »aber ziemlich abgefahren.« Kaiba schnaubte und verschwand wieder hinter seiner Zeitung. Mokuba schaute mich an, mein Blick wanderte in Kaibas Richtung, damit ich sicher gehen konnte, dass er nichts mitbekam, dann nickte ich Mokuba zu und zeigte ihm meinen Daumen. Voller Freude grinste er und aß sein Omelette weiter. Yugi schüttelte amüsiert den Kopf.   Nach dem Frühstück, machte ich mich für die Schule fertig, schlüpfte in eine Uniform von Tris. »Hey, willst du wirklich schon wieder in die Schule?« Tristan steckte den Kopf ins Gästezimmer und schaute mich nachdenklich an, wie ich in einer seiner Schuluniformen stand und versuchte, mein Haar zu bändigen – natürlich vergeblich. »Mhm.« »Ich mein, nach dem Wochenende –« »Schule ist das einzige, was n bissel normal ist grade in meinem Leben. Ich brauch n bissel Normalität«, versuchte ich es ihm zu erklären. Er zuckte die Achseln. »Aber wenn es dir irgendwie schlecht geht oder so, dann sag sofort –« Ich nickte und registrierte, als Tris seinen Rucksack über die Schulter warf, während wir die Treppe hinabschlenderten, dass ich nicht einmal einen Block hatte oder ein Schulbuch. »Das klären wir später mit der Schulleitung«, sagte Kaiba auf meine Bemerkung, stand schon da an der Eingangstür, tippte in seinem Smartphone herum und wartete darauf, dass wir alle eintrudelten – beziehungsweise, dass ich und Tristan dazustießen. Die Anderen standen bereits da. Mokuba packte eine kleine, braungraue Tüte in seinen Ranzen, Yugi hielt so eine in der Hand, trug seine Schultasche über der einen Schulter. Tris musste sie ihm gestern mitgebracht haben. Ich wollte gerade fragen, was das für Tüten waren, als die Haushälterin einen Schritt in den Gang machte und mir auch so eine kleine, braungraue Tüte entgegen hielt, dann drückte sie Tris eine in die Hand. »Guten Appetit! Für später!«, wünschte sie und verschwand wieder in die Küche. Erst als wir in der Limousine saßen wurde mir klar, dass mir zum ersten Mal im Leben jemand ein Frühstück für die Schule mitgegeben hatte.   Roland hielt vor der Schuleinfahrt. Während wir ausstiegen, wechselten Kaiba und er ein paar Worte, die ich nur mitbekam, weil es verdammt mühselig war, aus der Limousine auszusteigen. Luxusprobleme. »Heute Nachmittag findet die Konferenz von 16 bis 17.30 Uhr statt«, erinnerte er ihn, »um 18 Uhr findet ein Elternabend in Mokubas Schule statt. Es geht zusätzlich um die Organisation des Sommerfests der Schule. Am späten Abend erwartet Herr Yung einen Anruf. In einer Woche haben Sie eine Klassenarbeit in Japanisch, weswegen ich Sie heute erinnern sollte.« Kaiba nickte, wünschte Roland einen guten Tag und schloss die Tür. Tristan lachte über einen Kommentar von Mokuba, Yugi lächelte. Ich schaute dem Wagen hinterher, so wie einige andere um uns herum auch. Während sie jedoch die Limo anstarrten, die sich entfernte, weil es einfach eine Limo war, hing ich ganz anderen Gedanken nach. Kaiba stand nur einen Arm breit von mir entfernt. In der Rechten trug er seinen Aktenkoffer, in seiner Linken hielt er das Smartphone, auf das er blickte, während er an mir vorbei schritt. »Wie schaffst du das alles allein?«, brach aus mir hervor, obwohl ich es nur hatte denken wollen. Er hielt inne. Mokuba ging mit Tristan und Yugi vor, sie erzählten über irgendwas, ich hörte es nicht ganz, schnappte aber Wörter wie Turnier, Karten und Spiel auf. Mokuba kicherte. Tristan legte seinen Arm um die Schulter des Jungen. Kaiba stand neben mir und beobachtete die Szene. Ich hingegen beobachtete ihn. Er senkte das Phone in der Hand, ließ seinen Blick von Mokuba zu mir wandern und ging weiter. Ich setzte mich zeitverzögert in Bewegung und schlenderte an seiner Seite über den Hof.   »Ich bin nicht allein«, antwortete er, als ich schon keine Antwort mehr erwartet hatte, »und ich war es nie. Was ist mit dir?« Er sah mich nicht an, stattdessen erhaschte ich einen Blick auf Tristan, Yugi und Mokuba, die sich inzwischen umgedreht hatten und schauten, wo wir blieben. Auf meine Lippen schlich sich ein schiefes Grinsen.   Seto Kaiba schaffte nicht alles ohne fremde Hilfe. Warum sollte ich besser sein als er? Ja, er führte eine Firma, erzog seinen Bruder, zog die Schule mit Bestnoten durch. Von außen betrachtet war er ein Genie, das seinen Weg alleine beschritt. Von außen war immer so eine Sache. Denn es gab sie, die eine handvoll Menschen, die nicht nur seine Oberfläche betrachteten. Genauso wie es Menschen gab, die nicht nur meine Außenfläche sahen.   Kapitel 29: ... ist ein Mensch ------------------------------ __________________________________________   Der Mensch ist kein Mensch ohne seinen Schatten. Unbekannt   __________________________________________           Seto Kaiba weinte niemals. Es war einfach unvorstellbar. Er lachte auch nicht. Er war immer distanziert und kalkulierte die Situation. Er zeigte keine Emotionen und ließ sich von keinen beeinflussen. Manchmal fragte ich mich, ob er überhaupt ein Mensch war.   Nach der Schule saßen Tristan, Mokuba und ich auf Yugis Bettkante. Yugi auf seinem Schreibtischstuhl. Kaiba lehnte gegen den Türrahmen. Er hatte sich bei der Feuerwehr erkundigt, inwiefern die Aufräummaßnahmen voran geschritten waren. Ich war mir unsicher, ob ich die Ausmaße genau kennen wollte – oder überhaupt. »Was ist mit der Wohnung?«, fragte Tris für mich. Am liebsten hätte ich mir die Ohren zu gehalten und es gleichzeitig gewusst. Es war verzwickt. »Das Schlafzimmer ist völlig ausgebrannt. Der Rest der Wohnung verqualmt und nicht bewohnbar. Die Brandursache ist scheinbar eine Zigarette, die einen Mülleimer entfachte und –« Ich erhob mich, schnappte mir einen Rucksack, den Yugi mir überlassen hatte, und alle hielten inne. Yugi sprach als erstes aus, was die Anderen – fast alle – mit ihren Blicken fragten. »Ich geh zur Wohnung«, sagte ich und stand schon an der Zimmertür, an der Kaiba lehnte. Er hatte seine Arme vor der Brust verschränkt und betrachtete mich von unten bis oben. »Sie werden dich dort nicht hineinlassen«, erwiderte er nüchtern, was mich Galle schmecken ließ. »Ich möchte das Ganze möglichst schnell hinter mir haben«, fuhr er fort, »also besprechen wir jetzt unser Vorgehen und danach kannst du gehen, wohin du willst. Setz dich.« »Seit wann –« Doch Tristan wagte es, mich einfach zurück aufs Bett zu ziehen und mit seinen Händen auf die Matratze hinunter zu drücken. Auf seinen Mimik hin verstummte ich, presste die Lippen aufeinander, weil sonst niemand etwas gegen Kaibas Ansage einwendete. »Was kommt jetzt?«, wollte Yugi wissen. Ich schaute auf und sah, dass er Kaibas Blick erwiderte. »Das Jugendamt wird Wheelers Sorgeberechtigte verständigen.« Der Gedanke an meinen Vater vernebelte mein Gehirn. Der Druck auf meine Brust wuchs, als hätte mir jemand einen Felsen in den Magen gerammt. »Aber sein Vater –«, begann Tristan. Ich fragte mich, warum ich immer der Gearschte sein musste. Warum war mein Vater so ein Arsch? Warum musste unsere Wohnung anfangen zu brennen? Warum alles an einem Wochenende? So etwas gab es doch nur in beschissenen Soaps. Ich ballte meine Hände. »Ja. Sie werden auch –« Ich wusste, was kommen würde. In diesem Moment sprang ich auf, hechtete an Kaiba vorbei und polterte die Treppen hinunter. Ich brauchte Luft. Mit einem Ruck riss ich die Ladentür auf und rannte die Straße entlang. Ein Mann rief mir etwas nach, den ich fast umgenietet hätte. Aber es war mir egal. Immer weiter. Hoffte, den Druck in meinem Magen davonzukommen. Schnappte nach Luft. Meine Lungen brannten, aber ich rannte weiter und weiter und weiter. Irgendwann stand ich im Park, keuchte, stützte mich auf meine Oberschenkel und sog die Luft ein. Meine Füße brannten, das Seitenstechen erschwerte das Atem, ließ mich nur kurze Stöße machen, doch der Schmerz von außen war eine Wohltat gegen den Schmerz von innen. Die Worte wiederholten sich in meinem Kopf, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich sie wirklich gehört hatte. Sie brachen über mich ein und zwangen mich auf meine Knie. – seine Mutter benachrichtigen.   Die Leute im Park machten einen Bogen um mich. Sie sahen mich und und hielten einen Abstand, wahrscheinlich fürchteten sie um ihre Sicherheit. Ich war der Typ Mensch, den andere so einschätzten. Bei Kaiba hätten sie vielleicht einen Krankenwagen gerufen, bei Yugi wären alle angerannt gekommen. Mich ignorierte man lieber, über mich sprach man hinter vorgehaltener Hand, mich ließ man lieber auf der Bank sitzen, sich die Kotze vom Mund wischen und beschleunigte seine Schritte.   Ich starrte auf meine Hände, betrachtete meine Schuhe – ohne sie wahrzunehmen. Alles schien so entfernt. War das bei normalen Familien auch so? Gab es da solche Tage? Wochenenden? Jahre? Ich erhob mich wie es alte Männer taten und setzte mich in Bewegung. Keine Ahnung wohin und wie, aber ich setzte einen Fuß vor den anderen. Mit jedem Schritt stach in meine Gedanken, was passiert war, es piekste, wie Stroh im Schuh. Nervig, aber nicht so schmerzend, dass man nicht mehr konnte. Ich schob es von mir und lief weiter.   In der Innenstadt von Domino-City erhoben die Hochhäuser ihre Etagen wie Hälse in den Himmel. Werbung flackerte über die Bildschirme an den Wänden, spiegelte sich in den Glasfronten und Autoscheiben. Meine Gedanken zogen wie die Buchstaben und Bilder umher. War das bei normalen Familien auch so? Gab es da solche Väter? Söhne? Mütter? Meine Schritte bogen in die Straße. Wenn man weiterging, dann wichen die Wolkenkratzer Wohnanlagen mit Vorgärten und Bäumen, die rund zugeschnitten waren. Rosen, die von Mietern gegossen wurden und Hunde, die mit Kindern im Garten spielten. Ich ging weiter. Verließ man diese Straßen, kamen Wohnblöcke. Ohne Vorgärten, in denen Blumen blühten und Kinder spielten. Da gab es zersplittertes Glas und Leergut zwischen Kindern, die rauchten und Müttern, die Kinder waren. Ich verließ diese Straßen. Und kam doch immer wieder hier an. Wie lange lief ich schon? Eine Stunde? Zwei? Mein Blick fiel auf den Wohnblock. Grau und schmutzig und so vertraut mit jedem Fleck und Riss, dass man sie gar nicht mehr sah. Aber umso deutlicher, wenn neue dazukamen. An den Fenstern hatte sich Ruß nach oben gefressen. Der Eingang war abgesperrt mit rot-weißem Band und davor lag Asche und Müll. Ich schaute mich um. Waren das unsere Sachen? War die Asche das, was uns mal wichtig gewesen war? Bilder und Dokumente? Betten und Kleidung? Ich stieg drüber und duckte mich unter dem Band hindurch, stieg die Treppe hinauf und öffnete die Tür zur Wohnung. Natürlich entsprach der Blick von außen nicht dem von innen. Von außen betrachtet waren es Asche und zerstörte Möbel. Ich stieg drüber und stieß die Tür zu meinem Zimmer auf. Von außen betrachtet waren es Asche und zerstörte Möbel. Die Tapete schälte sich von dem Gemäuer, wie Haut von einer Wunde, das Bett bedeckt von Ruß und Resten. Der Boden lag unter einer Schicht von abgebrannter Kleidung, Tapete und braun-schwarzem Dreck. Von innen war es – Ich griff nach einem Fetzen Papier. Eine Zeichnung von meiner Familie. Man konnte es nicht mehr erkennen, aber wir hatten darauf glücklich ausgesehen. Ich sank auf meine Knie.   Wie lange ich hier hockte? Jemand fragte mich, aber ich erinnerte mich nicht. »Das ist lebensgefährlich, Mann.« Tristan flüsterte und ich nickte. Wahrscheinlich hatte er Recht. Danach schwiegen wir. Er saß neben mir, einen Arm über meine Schulter gelegt und zog mich an sich. Die Zeichnung umklammerte ich noch immer, obwohl ich sie gar nicht mehr sah. »Er hatte damals aufgehört zu rauchen. Für meine Mutter, sie hatte immer gesagt – angeblich, es sei ungesund«, murmelte ich, schlug dann mit der Faust gegen die Wand. »Verdammter Penner«, fluchte ich dann so laut, dass Tristan zusammenzuckte. »Joey«, sagte er nach einem Moment der Stille, doch dann kam nichts weiter. Ich konnte mir vorstellen, was er hatte sagen wollen, genauso wie ich mir vorstellen konnte, warum er es nicht aussprach. Meine Augen brannten. Die Wohnung war schon immer der letzte Dreckhaufen gewesen. Wahrscheinlich sah sie gerade so gut aus, wie schon lange nicht mehr. Obwohl es völlig unangemessen war, gluckste Tris bei dem Kommentar. »Es war eh Zeit für neue Farbe. Ich find, das Braunschwarz macht das alles irgendwie – gemütlicher.« Stille. Dann lachte ich und er fiel mit ein. In meinem Bauch das Gefühl, wie wenn wir damals vor dem Kioskinhaber Yamato weggerannt waren, Süßigkeiten in den Händen, die wir gar nicht bezahlen konnten. Jedes Mal hatte er gedroht, dieses Mal wirklich die Polizei zu rufen. Er hatte es nie gemacht. Stattdessen hatte er uns Feger und Müllschippe in die Hände gedrückt, wenn wir bei ihm ankamen, eine Entschuldigung nuschelnd, und uns für die Süßigkeiten arbeiten lassen. Mein Lachen verebbte. Mein Magen stülpte sich nach außen. Ich erbrach mich, hing auf meiner Seite, Tristan stützte mich. Das Keuchen und meine Atemstöße erfüllten den Raum statt des Lachens. »Ich weine nicht«, schniefte ich, »und ich weine nicht wegen der scheiß Wohnung. Mir geht es gut.« Tristan hielt meine Schulter und drückte sie. »Ich weiß, Kumpel, ich weiß.«   Von außen waren es verbrannte Zeichnungen, Bilder, Möbel, Wände. Von innen waren es Erinnerungen und die Frage, wohin man jetzt gehen sollte.   »Lass uns – gehen, Kumpel. Morgen haben wir wieder Schule.« Ich wurde von Tristan auf die Füße gezogen und er schritt voran, während ich mich umwandte und einen Blick zurückwarf. Natürlich war es von außen leichter zu verurteilen als zu begreifen. Egal, wo man wohnte. Dann folgte ich Tristan.   Am späten Abend lag ich neben Yugi im Bett. Es war so breit, dass wir uns nicht berührten, aber klein genug, um sich bewusst zu sein, dass man nicht alleine war. Wir verloren kein Wort über meine Flucht, über Kaibas Worte oder darüber, wie ich mit Tristan wieder hier angekommen war – Ruß im Gesicht, verdreckte Jeans und wahrscheinlich rote Augen. Kaiba und Mokuba waren schon verschwunden, aber Yugi richtete mir aus, dass sie uns die Tage zum Abendessen eingeladen hätten – also wahrscheinlich eher Mokuba als Kaiba. »Ich verstehe eine Sache nicht«, murmelte ich der Decke entgegen, weil ich fürchtete, dass mein Kopf platzte, sollte ich den Gedanken nicht aussprechen. »Warum hat das Jugendamt nicht schon viel früher –« Yugis Blick glitt mit meinem an die Decke, wo Schemen tanzten, die vom Fenster hinein kletterten. »Kaiba hat das in die Hand genommen. Er meinte nur, dass er das zunächst einmal klären würde.« »Mhm.« Ich drehte mich zur Seite und schloss die Augen. In der Dunkelheit sah ich ihn. Mit verschränkten Armen an der Tür lehnte er und beobachtete mich. Hinter dem Schreibtisch saß er und tippte mit seinen Fingern auf dem Holz und beobachtete mich. Unter dem Baum hockte er und öffnete die Eispackung und beobachtete mich. Aber er beobachtete nicht nur, er tauchte ein in meine Gedanken und flüsterte. Er fragte mich, warum meine Mutter abgehauen war. Warum ich immer alles kaputt machte. Warum ich. Ich stand unter dem Baum. Die Sonne blinzelte durch die Äste. Der Teich gluckerte. Ich streckte mich und wandte mich langsam um, als ich bei dem Anblick erstarrte. Es brannte. Mein Magen verkrampfte, als ich zum Laden rannte. Dicker Qualm drückte sich durch die Tür. Ich riss sie auf, hörte Yugis Schreie, da war Mokuba und Tristan, die mich riefen. Mein Vater wankte zu mir und streckte seine Hände aus und schlug zu. Ich rappelte mich auf und sah, wie sie die Koffer packte. Ich schaute sie an, wie sie mitten im Feuer ein paar Kleidungssachen hineinlegte, dann sprang ihr Blick auf mich. Sie sagte nichts. Sie streckte ihre Hand nach mir aus. Ich schloss meine Augen in Erwartung ihrer Berührung. Doch da war nichts. Ich öffnete sie wieder. Und stand alleine in meinem Zimmer. Es war leer – nur eine Zeichnung lag auf dem Boden. Ich hob sie auf. Wir sahen glücklich darauf aus. Es fing Feuer. Als hätte meine Berührung das Feuer entfacht. Ich versuchte es zu löschen, doch es gab nichts. Hilflos schaute ich umher. Es brannte und es schmerzte in meinen Fingern, doch ich konnte es nicht fallen lassen, bis nur noch Asche von dem Bild übrig war. Jemand beobachtete mich. Ich spürte einen Blick auf mir. Eine Stimme flüsterte in meinem Kopf, in dem Zimmer, um mich herum. Die Stimme fragte mich, warum meine Mutter abgehauen war. Warum ich immer alles kaputt machte. Warum konnte ich nichts richtig machen. Ich sank auf die Knie. »– noch zu spät in die Schule. Joey, wach auf!« Ich fuhr hoch. »Es tut mir – es tut mir leid. Es – ich – es tut mir leid«, stammelte ich und fuhr mir über die Augen. Das Zimmer um mich herum war nicht verbrannt, meine Finger schmerzten nicht, die Stimme war verstummt. Stattdessen schaute mich Yugi mit großen Augen an.   »Ja, mir geht es gut, verdammt«, wiederholte ich, als mich Tristan schon wieder fragte. Wir saßen in Mathematik und ich schrieb die Buchstaben- und Zahlenfolge ab, die unser Lehrer an die Tafel kritzelte. »Ich wollte nur –« Es war mir egal, was Tris nur wollte. Es nervte. Yugis Blicke, Tristans Sorge zwischen seinen Worten, der Lehrer, der mich beobachtete, Kaiba, der mich ignorierte. Es nervte. »Yugi hat mir gesagt, dass –«, Ich schnaubte und schaltete von Tristan neben mir nach vorne. Der Lehrer erzählte etwas von Vektoren. Wie – verdammt – war das nochmal mit Vektoren? »Kumpel, Joey, bitte. Es – es ist einfach nicht normal, wie du dich verhältst«, zischelte Tristan. »Tris, bitte. Ich hab halt scheiße geschlafen und hab echt keinen Nerv –« »Wir wollen doch nur helfen, du musst damit nicht allein –« »Hört auf, mir helfen zu wollen! Verdammt! Mir geht’s gut! Keine Hilfe nötig!« Tristan öffnete den Mund, doch ich meldete mich, was ihn ihn wieder zuklappen ließ. Der Lehrer vorne erstarrte und starrte mich an. »Ja, Herr Wheeler?« Einer, der die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatte. Dachte er wirklich, ich könnte eine Antwort geben? »Ich müsste mal auf die Toilette.« Kichern in der Klasse, das ich ignorierte, als ich aufstand und aus dem Klassensaal verschwand.   Auf dem Klo stützte ich mich mit beiden Händen am Waschbecken ab und starrte in den Spiegel. An die Wand hatte jemand Yukiko = Hure gekritzelt. Daneben stand etwas wie We was here. Jemand hatte das was durch ein were ersetzt. Es war seltsam, wie viele Schüler hier wohl hatten stehen müssen. Wie viele Ausdrücke und Gefühle der Spiegel wohl hatte sehen müssen. Was für ein bescheuerter Gedanke. Die Rolle Papier zum Abtrocknen war wie immer leer. Der eine Wasserhahn funktionierte nicht. Ich stand einfach hier und starrte mein Spiegelbild an. Ich war kein Durchschnittstyp. Die meisten erkannten sofort, dass ich verdammt viel Ärger machen konnte. Dass meine vorlaute Art und meine unüberlegten Aktionen oft genug die falschen Leute provozierten. Nur wenige sahen, dass mir das egal war – wenn ich dafür meinen Freunden helfen konnte. Von außen war ich einer, der Ärger machte. Von innen – Ich beugte mich über das Waschbecken, spritzte mir Wasser ins Gesicht, das mir wie Tränen über die Wangen lief. Meine Augen waren gerötet. Mein Vater behauptete manchmal, ich sähe aus, wie sie. Hätte ihre Augen. Dabei hatten wir nicht einmal dieselbe Augenfarbe. Meine Mutter hatte brünettes Haar – zumindest auf den wenigen Bildern, die ich kannte. Ich hatte die blonden Haare meines Vaters. Ich schniefte. War ich wie er? Nicht nur von außen – würde ich eines Tages aufwachen und erkennen, dass ich so ein Idiot war, so ein Versager wie mein Vater? Einer, der vor lauter Beschränktheit zuschlug? Jemand legte eine Hand auf meine Schulter. Ich erschrak und fuhr herum. »Mir geht es gut«, behauptete ich, »ich wollte nur –« Ich hob meine Hände und erwiderte Yugis Blick, ließ sie wieder sinken. Ich wusste nicht, was ich wollte. Wir schwiegen. Mein Blick wanderte von ihm zu der Wand. Ich wich dem Spiegelbild aus. Es erinnerte mich an meinen Vater. Yugi stand einfach neben mir. Ich wollte ihm sagen, dass er zurückgehen sollte – immerhin verpasste er Unterricht. Dass er sich keine Sorgen machen brauchte. Dass es mir gut ginge. Ehrlich. Aber gerade als ich meinen Mund öffnete, kam er mir zuvor. »Joey«, sagte er, »wenn es dir wirklich gut geht – warum weinst du dann?« Ich wusste nicht, warum. Also schwieg ich. »Weißt du, dein Vater –«, begann er, doch ich hob die Hand, wollte es nicht hören und er verstummte. »Mein Vater ist mir egal«, spuckte ich ihm vor die Füße. In meinem Bauch verbrannte mein Magen. Yugi widersprach mir nicht, aber er stimmte auch nicht zu. »Lass uns zur Schulkrankenschwester gehen. Du solltest nach Hause gehen«, flüsterte er und ich starrte ihn an. Dann brach ich in Gelächter aus. In hohles, hohes Gelächter. In jedem Ton die Gewissheit, dass es mich nicht amüsierte. Balancierend zwischen Unglaube und Hilflosigkeit. Dann verbarg ich mein Gesicht in meinen Händen. Tränen liefen mir das Kinn hinab. In meinem Bauch verschlang ein Loch alles Feuer und Kälte breitete sich aus, ließ mich erzittern und schüttelte meine Arme und Beine. »Ich hab doch – ich – hab kein – Zuhause mehr.«   Mein Schluchzen verebbten, aber Yugis Hand blieb auf meinem Rücken. Wir saßen mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Mein Blick hing an dem Gekritzel Yukiko = Hure. Wer wusste schon, was sie gemacht hatte, um so ein Urteil zu verdienen. Vielleicht verurteilt, weil andere sie nur von außen beurteilten. Vielleicht war sie noch mehr verletzt worden als der, der es an die Wand geschrieben hatte. Daneben stand Kaiba ist ein arroganter Arsch. Mein Blick blieb an seinem Namen hängen. Kaiba war ein arroganter Arsch. Von außen betrachtet – »Joey«, murmelte Yugi, »weißt du. Ich denke, es wäre wichtig für dich, deinen Vater im Krankenhaus zu besuchen. Du hast kein einziges Mal gefragt, ob wir ins Krankenhaus gehen könnten. Du könntest natürlich auch alleine gehen, aber –« »Ich will ihn nicht sehen.« Mein Ton verriet keine Unsicherheit. Ich erhob mich, zog Yugi auf seine Beine und stapfte Richtung Tür. Bald würde es klingeln und etliche Schüler in der Pause auf die Toilette gehen. Ich brauchte niemanden, der mich anstarrte oder Fragen stellte. »Aber Joey. Bestimmt würde es dir –« »Yugi«, erwiderte ich scharf, »ich. Will. Ihn. Nicht. Sehen.« Damit stieß ich die Tür auf. In der nächsten Stunde hatten wir Japanisch.   Ich spürte seinen Blick, aber jedes Mal, wenn ich über die Schulter sah, starrte er nur in seinen Laptop. »Joey«, brummte Tristan, »ist –« »Mir geht’s gut«, beharrte ich, warf meinen Blick wieder nach vorne und schrieb weiter ab, was an der Tafel stand. Wir lasen in einer Lektüre weiter, deren Titel ich mir nicht merken konnte. »Bis zum nächsten Mal«, begann der Lehrer vorne und Erleichterung spülte durch meine Adern. Fast geschafft. Es klingelte endlich und ich packte meine Sachen ein. Sachen, die eigentlich gar nicht meine waren. Yugi beobachtete mich. Tristan beobachtete mich. Es war, als warteten sie darauf, dass ich ausrastete. Vielleicht mit Sachen warf, schrie oder in Heulen ausbrach. Ich schnaubte. Ich war immer noch ich. Oder? Schüler quasselten, stoben an uns vorbei, machten sich auf, um nach Hause zu gehen. Nach Hause. Etwas in mir verkrampfte sich. Yugi erzählte etwas, Tristan antwortete, doch ich schwieg, spürte, wie er an mir vorbei schritt. Sein Mantel bauschte sich hinter ihm auf, als er sich umdrehte und mich etwas fragte. Völlig unerwartet. Ich betrachtete ihn, als hätte er Chinesisch geredet, weil ich ihn nur beobachtet hatte, bemerkte, wie Worte über seine Lippen zogen, aber diese Worte nicht in meinem Verstand ankamen.. »Hä?«, fragte ich. »Die Werbekampagne«, sagte er genervt, stand da mit verschränkten Armen und tippte mit zwei Fingern an seinen Oberarm. Alles an ihm schrie danach, dass er keine Zeit dafür hatte hier zu stehen – für mich. Ich schwieg, packte weiter ein. »Hab grade echt and're Probleme«, brummte ich. »Du bekommst nichts hin, was man dir aufträgt, Köter.« Ich hielt inne. Yugis Blick schwenkte von mir zu Kaiba. Tristan schaute zwischen uns hin und her, öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Kaiba war ein arroganter Arsch. »Aber du kannst natürlich alles«, höhnte ich, warf den Rucksack über eine Schulter und wollte Kaiba einfach stehen lassen. Er war ein Arsch. Nur weil er es manchmal echt gut kaschierte, änderte das nichts an dem Fakt. Sein Blick stach in meinen, als ich auf seiner Höhe stand. »Alles wäre eine hyperbolische Generalisierung«, erwiderte er, »alles würde ich entsprechend nicht behaupten. Aber alles auf meinen Fachgebieten. Und vor allem Aufträge, die man mir auferlegt.« »Und deine Fachgebiete, außer andere anzupissen und zu tyrannisieren, sind?« Er öffnete schon den Mund, als ich ihm drüberfuhr. »Nee. Spar's dir. Ist mir nämlich scheißegal.« Damit zog ich an ihm vorbei und ließ ihn stehen – wollte ihn stehen lassen. Aber Seto Kaiba ließ sich nicht stehen lassen. »In zwei Tagen ist eine Konferenz. Bis dahin wirst du drei Vorschläge bezüglich eines Werbedesigns für die Veranstaltung des Turniers und die Angebote drumherum haben, Wheeler.« Das war keine Anweisung, das war ein Befehl. »Und wenn nicht«, spöttelte ich, »wirst du mir dann Spielverbot oder Hausarrest geben?« »Glaub mir, Hündchen.« Sein Duft stieg in meine Nase, als er sich zu mir beugte. Bilder schossen in meinen Kopf. Ich klammerte mich an ihn, er war mir nah, sein Mantel über meinen Schultern. Genau dieser Mantel. Ich schüttelte sachte meinen Kopf. Versuchte es loszuwerden. Aber die Gedanken klebten fest. Seine Augen hielten mich gefangen. Er näherte sich noch weiter. »Es gibt kein Wenn nicht, Wheeler«, flüsterte er. »Wir haben einen Vertrag, wenn du dich trotz deiner beschränkten Kapazitäten erinnerst. Dein Teil besteht darin, Entwürfe zu liefern und dafür wirst du bezahlt werden – deine sozialen Probleme interessieren dabei nicht.« Ich presste meine Lippen zusammen. Bei ihm hörte es sich an, als ob ich mich mit pubertärem Liebeskummer herumschlagen würde – oder mit Drogen. Yugi regte sich neben mir, aber ich war nicht zu bremsen. »Dein Problem ist doch nur, dass du keine Ahnung hast von sozialen Problemen.« »Und diese Annahme gründet auf –« Da war es. Das Feuer in meinem Bauch. Kaiba entfachte es immer wieder. Das Brennen, das mich alles Andere vergessen ließ. All den Schmerz und die Gedanken. Da waren nur seine Worte und meine. »Du bist reich und du hast keine Freunde«, fasste ich unverblümt zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust, so wie er es sonst tat. »Hab ich nicht?«, hakte er nach und fixierte meine Augen. Ich wusste nicht, was er mit dieser Frage bezweckte. Es verwirrte mich. »Nenn mir nur einen. Und nein, Geschäftspartner gelten nicht. Mir würde an deiner Stelle nicht einer einfallen«, spöttelte ich. »Ich verstehe«, erwiderte er, straffte seine Schultern und zog an mir vorbei. Sein Mantel. Seine Nähe. Seine Stimme, die mir zuflüsterte, dass es okay war, dass es vorbeigehen würde. Dass es nichts gäbe, dass die Sturheit des Köters brechen könnte. Dass ich wieder aufstehen und ihn nerven würde. »Noch zwei Tage, Wheeler! Hör auf im Selbstmitleid zu baden und nimm es endlich wieder in die Hand. Du spielst doch sonst auch – egal wie schlecht und billig deine Karten sind.« Ich sah ihm mit offenem Mund nach. Das Feuer verpuffte, als hätte ihm jemand allen Sauerstoff entzogen. Er ließ mich stehen. Sein Mantel. Seine Nähe. Seine Stimme. Von mir gerissen. Die Erinnerungen schwebten in meinem Kopf. Die Tür knallte. Und damit war der Moment gebrochen. »Was war denn das jetzt verdammt?«, wollte ich irritiert von Yugi wissen, doch der betrachtete mich mit einem Seufzen. Ich fasste an meinen Kopf. »Manchmal bist du echt schwer von Begriff, Joey.« Ich schaute ihn mit großen Augen an. Vorhin war ich noch derjenige gewesen, den er bedingungslos getröstet hatte und jetzt bekam ich den Überleg-mal-was-du-gerade-angestellt-hast-Blick ab. Kopfschmerzen zogen durch meine Stirn und Schläfen. »Ich glaube«, warf Tristan ein, »dass Kaiba denkt, dass du nicht denkst – warte, es geht noch weiter – Joey, wohin willst du?« »Woher sollte ich wissen, dass Kaiba plötzlich so ein – ein verdammter Mensch ist!«, rief ich über meine Schulter und dann rannte ich los. Kaiba war so ein Arsch. Und ich so ein Idiot. Jemand sollte das auch an die Wand kritzeln.   Seto Kaiba weinte niemals. Es war einfach unvorstellbar. Er lachte auch nicht. Er war immer distanziert und kalkulierte die Situation. Er zeigte keine Emotionen und ließ sich von keinen beeinflussen. Von außen. Von außen war immer so eine Sache. Kaiba war auch nur ein Mensch und er hatte mich nicht auf dem Boden liegen lassen. Kapitel 30: ... ist ein Kämpfer -------------------------------     __________________________________________   Im Krieg sucht der siegreiche Stratege den Kampf nur, wenn der Sieg ihm schon sicher ist. Wohingegen der Kämpfer nur die ersten Schlachtgewinne sucht, und dann erst den Sieg. Aus China   __________________________________________           Seto Kaiba lag mit vielen seiner Meinungen falsch. Er erwartete zu viel von sich und meistens auch von seinen Mitmenschen (wenn er sie nicht ignorierte). Wenn er eine Ansicht vertrat, dann zog er die Konsequenzen mit durch. Er beugte sich nicht der Mehrheit, wenn er anders dachte und er zog sich nicht zurück, wenn er glaubte, kämpfen zu müssen. Er schreckte nicht davor zurück, Menschen fertig zu machen, sie bloß zu stellen und zu erniedrigen. Aber er verfolgte die Prämisse, wenn er auf sein Tun zurückschaute, nicht aufzugeben, nur weil ihn Hindernisse zurückwarfen. Und vor allem strebte er danach, nichts zu bereuen.   »Kaiba!« Er stieg gerade in das Auto, dessen Tür Roland aufhielt. »Kaiba! Verdammt!« Ich rannte, rief und verfluchte seine Ignoranz. Meine Füße beschleunigten die Schritte. Meine Wut wuchs im Bauch. Dieser Penner. Ich hatte Probleme. Ich durfte down sein. Es war mein gutes Recht! »Ich bade nicht im Selbstmitleid, du verdammter Geldsack!« Er schloss die Tür. Ich kam am Wagen an und klopfte gegen die Scheibe. Zorn schoss in meine Finger. »Kaiba, verdammt nochmal!« Das Auto fuhr an und er ließ mich stehen. Schon wieder. Ich verfluchte ihn und seine bescheuerte Art, seine Besserwisserei und seine Arroganz. Und seine Worte. Das Flüstern, das in meinem Kopf steckte und mich daran erinnerte, wie sanft seine Stimme klang, wenn sie nicht vom Spott durchzogen wurde. Der Duft seines Mantels und sein Blick. Meine Hände krallten sich in meine Haare, ich riss mein Gesicht nach oben und verfluchte seine Stimme, seinen Mantel und seinen Blick. Das Auto fuhr rechts ran und hielt. Ich starrte den Wagen an, wartete auf – etwas, was ich nicht vorhersagen konnte. Kaiba stieß die Tür auf und ich machte ein paar Schritte daraufhin zu, zögerte, hielt inne und schlenderte weiter, bis ich neben ihm stand. Er saß ihm Auto. Die Beine übereinander geschlagen, der Laptop auf dem Schoß. »Du hast einige Arbeit vor dir, Wheeler«, sagte er, schaute nicht vom Laptop auf und ich schnaubte. »Was machst du hier?« Ich lehnte an der geöffneten Tür, »Ich beantworte Emails.« Ich verdrehte meine Augen. »Ich meine, was machst du hier?« Er schaute auf, massierte mit seinen Fingern die Nasenwurzel und betrachtete mich genervt. »Steig endlich ein.«   Wir saßen im Auto. Wohnblöcke zogen am Fenster vorbei, gepflegte Gärten verschwanden gegen Parkplätze, dann Hochhäuser. Ich saß mit verkreuzten Armen hinten im Auto – neben Kaiba, der ungerührt auf dem Laptop herumtippte. Natürlich war er ein Arsch und mein Zorn konnte nur er so auf sich ziehen, wie er es eben tat. Er konnte mit ein paar Worten meine Sturheit entfachen und mich mit einem Blick vom Boden hochziehen. Seine Kommentare trafen ins Schwarze und er traf wunde Punkte, aber nicht so, dass die Wunden aufplatzten. Nicht, dass er es nicht gekonnt hätte, wenn gewollt. Wäre es nicht Kaiba und wäre es nicht ich – man könnte es fast als – »Hör zu, Kaiba, wegen vorhin – ich –« Er ließ mich den Satz nicht einmal beenden. »Wheeler, es ist mir völlig gleichgültig, was gerade in deinem Hundehirn vor sich geht. Mir geht es ums Geschäft. Deine Freunde wollen dich vor den Ausmaßen schützen. Das ist sicherlich ein«, er überlegte hier, »ehrenhafter Gedanke.« Es gab keinen Zweifel, dass er das bezweifelte. »Aber wer die Ausmaße nicht kennt, der kann sie nicht verarbeiten. Deine Erlebnisse können sich destruktiv oder produktiv verarbeiten, Wheeler. Natürlich weißt du nicht, was destruktiv oder produktiv bedeutet. Also lass es mich kurz machen.« Ich öffnete den Mund, doch er fuhr fort, bedeute mir, meinen Mund zu halten. Kaibas Smartphone vibrierte, doch er ignorierte es. »Destruktiv wäre es, wenn du wie ein lebensmüder Streuner in dein abgesperrtes und unbewohnbares Zimmer rennst und dort verschüttet wirst, weil dein Hundehirn zu spät die Gefahr registriert. Produktiv wäre es, wenn du deine Emotionen und Gedanken in deine Arbeit investierst.« Ich kaute auf meiner Lippe, knubbelte an meinen Jeanstaschen herum. War das, wie Kaiba mit Emotionen und Gedanken umging? Er investierte es in seine Arbeit? Während ich aufs Klo rannte? »Glaubst du, du kannst das, Flohschleuder?« Ich rutschte in dem Autositz hin und her, warf Blicke hinaus, wo der Verkehr der Innenstadt unsere Geschwindigkeit drosselte. Jemand hupte. Die Ampel sprang auf rot. Fußgänger zogen an uns vorbei, ich beobachtete sie durch die getönte Scheibe. Ich antwortete nicht. Ich wusste es nicht. Ich hing fest zwischen Kaibas Worten und meinen Gedanken. »Ich hatte gestern eine Unterhaltung mit deinem Freund«, erzählte er, überging, dass ich ihm die Antwort schuldig blieb. Wir fuhren weiter. Kaibas Smartphone vibrierte, aber er ging wieder nicht dran. »Mit wem? Tristan?« »Ich vergaß deine schiere Anzahl an Freunden. Ich meinte den anderen«, spottete er. Die Vorstellung, wie Kaiba und Yugi miteinander eine Unterhaltung führten, war fast so bizarr wie der Gedanke daran, dass Kaiba in Lachen ausbrach – oder in Tränen. »Er meinte, du bräuchtest Zeit.« Vielleicht brauchte ich das. Der Gedanke daran, was an diesem Wochenende passiert war – der Gedanke an mein Zimmer – mir wurde übel. »Zeit ist das, was wir nicht haben, Wheeler. Es ist das, was du nicht hast. Zeit heilt keine Wunden, es macht es nur schwerer, die Wunde zu finden.« Mein Blick hüpfte zu ihm und ich schaute ihn an. Schwieg. Warum schwerer? Das machte doch keinen Sinn. Oder? Er schnaubte, atmete tief ein, schaute auf das Smartphone, das erneut vibrierte, und legte es wieder weg. »Es ist destruktiv, vor seinem Vater davon zu rennen«, fasste er zusammen und ich erstarrte, riss den Mund auf, bekam aber keinen Ton heraus. Woher nahm er den Gedanken? Woher glaubte er zu wissen, dass ich vor etwas davonrannte? Woher hatte er de Eindruck, ich würde vor meinem Vater – »Woher willst du das wissen?«, brummte ich. »Du kennt weder meinen Vater, noch laufe ich davon. Du hast doch keine –« »Ich weiß das ganz genau, Wheeler.« Sein Blick fing mich ein. Da war kein Spott. »Und wenn du dich ihm nicht stellst, wirst du es eines Tages bereuen.« Die Frage lag mir auf der Zunge. Wahrscheinlich stand sie in meiner Mimik, in meinen Augen, doch er sagte nichts weiter. Und ich schluckte die Frage hinunter. Stattdessen wich ich seinem Blick aus und schaute wieder nach draußen.   Der Eingang der Kaiba Corporation verströmte die Atmosphäre von Betriebsamkeit und Wichtigkeit – das bedeutete, dass Leute wie ich das Gefühl bekamen, unwichtig zu sein. Die Frau an der Anmeldung, die Blicke im Rücken, Mitarbeiter, die Kaiba zunickten und mich übersahen, Mitarbeiter, die Kaiba zunickten und mich neugierig anstarrten. Als wir im Lift nach oben fuhren, seufzte ich. »Ist das echt immer so?«, fragte ich und fuhr mir über die Augen. »Mh?« Kaiba schaute auf sein Smartphone, beantwortete aber nicht den Anruf. »Ich meine – die Blicke und so?« Er schaute auf, seine Augenbrauen gehoben. »Die Blicke gelten dir. Immerhin bist du das Hündchen, das sich zum falschen Herrchen verirrt hat.« Das Smartphone vibrierte schon wieder und diesmal nahm er ab und sprach auf irgendeiner Sprache, die ich nicht erkannte. Spanisch? Portugiesisch? Ich schaute aus dem Glaslift über die Köpfe der Menschen und lauschte dem melodischen Klang der Wörter, bis ich meine Augenbrauen zusammenzog. »Hey!«, traf mich eine Erkenntnis und ich wandte mich zu ihm um. »Du bist nicht mein Herrchen! Blöder Geldsack!« Kaiba hatte den Nerv, seine Mundwinkel zucken zu lassen. »Und ich auch kein Hündchen«, brummte ich, doch er sprach in dieser fremden Sprache, die mir nichts sagte, außer: Halt deinen Mund, Wheeler, ich spreche gerade über superwichtige Geschäftssachen mit einem superwichtigen Typ, der so wichtig ist, dass ich sogar diese superschöne Sprache spreche, die du nicht kannst. Also drückte ich mein Gesicht näher an die Scheibe des Lifts, um einen besseren Blick nach unten zu bekommen.   In Kaibas Büro hatte man einen der besten Ausblicke über Domino-City. Ein paar Hochhäuser verstellten den Blick über den Stadtpark und den Horizont. Aber die Stadt breitete sich vor mir aus mit all den Spielzeugfiguren und Spielzeugautos auf den Straßen – zumindest sah es so von hier aus. Das Einzige, was einem diesen Blick vermieste, war – »Setz dich endlich, Hündchen«, befahl Kaiba, ohne mir einen Blick zu gewähren, während er die Tür hinter sich schloss und sich selbst an den Schreibtisch setzte. Ich zuckte die Schultern und trottete zu ihm, weil ich keine Kraft für eine Streiterei hatte, keine Motivation. »Hier.« Er deutete auf den Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs. Es klang nicht wie ein Vorschlag, es klang wie eine Anordnung. Ich seufzte, als ich mich ihm gegenüber setzte. Kaiba lehnte sich in dem Stuhl zurück und schaute mich an, als erwartete er etwas von mir. »Schön«, sagte ich also und er schnaubte, als ich ihn immer noch planlos anschaute. Kaiba machte es einem wirklich nicht leicht. Seine Mimik verschlossen, seine Worte kryptisch – außer manchmal, da – »Wheeler, fang endlich an!« »Womit?« »Erinnerst du dich an unseren Vertrag? An unser Gespräch?« Ich nickte langsam. Natürlich erinnerte ich mich an – »Oh«, erwiderte ich gedehnt und endlich schlich sich etwas wie Zufriedenheit in seine Mimik, als ich begriff, worauf er hinauswollte. Er begann auf den Tastaturen herumzutippen, warf einen Blick auf die Bildschirme, dann zog er irgendwelche Akten hervor, die er vor sich auf dem Tisch ausbreitete. Doch ich schaute ihn nur an, dann meine Hände, dann wieder ihn, rutschte auf dem Stuhl hin und her. »Verdammt, Wheeler. Was ist jetzt noch?«, fragte er genervt. »Ich bräuchte Papier und Stifte«, nuschelte ich.   Ich lag mit einem Arm über dem Papier, in meinem Mund hing ein Bleistift, in meinen Gedanken zogen Szenen vorbei, in denen wir etwas gespielt hatten oder gechillt, gelacht, geredet. Wie oft hatte ich gegen Yugi bei einem Duell verloren? Und trotzdem hatte ich Spaß dran. Jedes Spiel war, als gäbe es keinen Verlierer. Weil das Spiel zählte und nicht die Lebenspunkte. Ich kritzelte weiter auf dem Papier. Dieser Tag ein Gewinn – egal, mit wie vielen Punkten, schrieb ich unter eine Skizze von dem Rotäugigen und dem Weißen Drachen. Weil das Spiel zählte. Weil meine Freunde zählten. Mein Blick wanderte. Ich drehte mich auf den Rücken und starrte an die Decke. Kaibas gleichtöniges Tippen versicherte mir, dass es keine Illusion war – ich lag tatsächlich auf dem Boden von Seto Kaibas Büro, Arme und Beine ausgestreckt und zeichnete, kritzelte, schrieb an einer Vorlage, die im besten Fall abertausende Kids und Jugendliche anlocken sollte. Wie viele von ihnen kämpften mit solchen verkackten Probleme, wie ich? Wie viele kamen aus Familien, die sich einen Scheiß um sie scherten? Was suchten sie auf dem Turnier und Festival? Mein Blick wanderte zu Kaiba, der in Akten kramte und Dokumente las. Was erwartete Kaiba von dem Ganzen? Geld? Prestige? Kunden? Bestimmt. Aber war das alles? Produktiv wäre es, wenn du deine Emotionen und Gedanken in deine Arbeit investierst. Welche Gefühle und Gedanken investierte Kaiba in seine Arbeit? Er stand gerade an einem Aktenschrank, zog die Türen auf und – da sah ich sie. Die Schachspiele, die Kaiba vor ein paar Wochen im Laden von Yugis Großvater gekauft hatte. »Yugi wollte es mir mal beibringen«, stolperte über meine Lippen und ich biss mir drauf, weil ich es eigentlich gar nicht hatte laut sagen wollen. Aber seit wann sagte ich nicht die Dinge, die mir durch den Kopf gingen? Kaiba schaute nicht auf, blätterte stattdessen in einem Ordner, doch er durchbrach die Stille erneut. »Was? Wie man Stöckchen apportiert?«, spöttelte er. »Ich apportiere nichts.« »Du weißt doch nicht, was es bedeutet«, warf er mir an den Kopf. »Doch«, behauptete ich grimmig. »Also – ich meinte das.« Ich deutete auf die Schachspiele in dem Schrank und Kaiba hob tatsächlich seinen Blick, folgte meinem Fingerzeig und starrte die Spiele an, als hätte er vergessen, dass sie dort standen. »Schach«, sagte ich. »Er wollte es mir zeigen. Aber – hey, du kannst es mir zeigen!« Kaibas Lippen quetschten sich zu einem Strich. »Warum sollte ich mit dir Schach spielen, Hündchen?« »Wenn du es nicht kannst, dann sag's halt«, provozierte ich und grinste, obwohl er eine Mimik trug, die wohl bedeutete, dass ich nahe am Abgrund balancierte. »Ich spiele kein Schach mehr«, fuhr er nüchtern fort, »und jetzt bring mir einen Kaffee.« Ich runzelte die Stirn, legte meinen Kopf schief und ignorierte seine Aufforderung natürlich. »Warum?« »Weil Kaffee die Effizienz steigert, Hündchen.« »Das andere Warum. Und bin nicht dein Praktikant, Kaiba. Ich bin dein Geschäftspartner.« Ich setzte mich auf und streckte mich. Der Boden war nicht wirklich bequem. »Eigentlich bist du mein Angestellter.« »Sozusagen dasselbe«, behauptete ich kühn und reckte das Kinn und er fuhr sich mit seiner Hand übers Gesicht. Vielleicht eine Geste der Verzweiflung und des Unglaubens. Aber sein Mundwinkel zuckte. Oder? »Andere würden ihren Schatten verkaufen, um mir Kaffee bringen zu dürfen«, erwiderte er ernst und ich schnaufte. »Das sind die, die einen so großen Schatten haben, dass sie gar nicht alles davon loswerden können. Angebot und Nachfrage und so.« »Ich bitte dich. Seit wann weißt du etwas über Angebot und Nachfrage. Hündchen?« »Das ist doch easy, Kaiba. Viel wichtiger – seit wann hast du ein Problem mit Schach?« Er runzelte seine Stirn. Seine Mimik verfinsterte sich wieder. Stoisch schloss er den Aktenschrank. Aber es hatte etwas von Ruhe vor dem Sturm. »Ich habe kein Problem damit, Wheeler. Ich spiele es nur nicht mehr.« »Seit wann?«, hakte ich nach. »Seit ein paar Jahren«, wiegelte er ab und rief seine Sekretärin an, bestellte Kaffee und – mit einem Blick auf mich – Saft. Mein Blick verdunkelte sich. Ich war doch kein Kind, verdammt! Doch dann rastete bei mir etwas ein. Bilder von Bildschirmen von vor vielen Jahren. Meine Nase, die ich mir an der Scheibe des Ladens platt drückte. Schnee und Süßigkeiten. Er musste von Gozaburo sprechen. Das Schachspiel des Jahrhunderts. Doch machte das Sinn? »Aber du hast doch gegen ihn gewonnen, nicht? Ich habe es damals im Fernsehen gesehen, dass du – als er euch adoptiert hat. Also ein bisschen hab ich gesehen. Dadurch hattest du doch die Chance, reich zu werden und –« Er starrte mich an, als hätte ich etwas in ihm getroffen, von dem er nicht erwartet hatte, dass es noch zu treffen war. »Ich habe an dem Tag auch viel verloren. Im Leben hat alles seinen Preis. Fang endlich wieder an, zu arbeiten, Hündchen!«, hängte er an und die Ungeduld spann sich über seine Worte. Mir war klar, dass es nichts damit zu tun hatte, dass ich gerade nicht an dem Entwurf arbeitete. »Wenn du kein Problem damit hast, warum spielst du es nicht mehr?« »Mokuba.« Ich verstand nicht. Beobachtete, wie er sich auf seinem Schreibtischstuhl niederließ und meine Aufmerksamkeit ignorierte. Jenes Spiel hatte ihm die Chance auf Reichtum und Macht eröffnet, wahrscheinlich hatte seinen Weg nichts so sehr beeinflusst wie der Sieg. Er hatte Mokuba und sich damit gerettet. Oder nicht? Schweigen stand zwischen uns, schob uns voneinander, rückte Kaibas Blick von meinem. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gedacht, dass er mir auswich.   »Stimmt es, dass du betrogen hattest?« Ich beobachtete ihn unbewegt und sah, wie er seine Augen verdrehte, doch dann fing er sich, schaute auf den Bildschirm, langte nach seiner Tasse und wollte daran nippen, verzog dann seinen Mund. Natürlich war sie noch immer leer. Was würde Seto Kaiba davon abbringen, ein Spiel, das er offensichtlich geliebt hatte, aufzugeben? Was hatte den kleinen brünetten Jungen mit den blauen Augen zu dem gemacht, der heute vor mir saß? Ich fixierte ihn und dann rauschte ein Gedanke durch meinen Kopf, den ich abschütteln wollte, aber nicht konnte, weil er so lächerlich und gleichzeitig so beängstigend war. Denn die Antwort barg die Macht, meine Weltsicht auseinander zu reißen. Warum ließ Seto Kaiba, der Seto Kaiba mich nicht einfach auf dem Boden liegen? Warum flüsterte er mir zu, dass dieses Gefühl vergehen würde? Das Gefühl, das dir jemand den Boden wegzog – immer und immer wieder.   »Hat er dich – geschlagen?«   Seto Kaiba lag mit vielen seiner Meinungen falsch. Er erwartete zu viel von sich und meistens auch von seinen Mitmenschen (wenn er sie nicht ignorierte). Wenn er eine Ansicht vertrat, dann zog er die Konsequenzen mit durch. Er beugte sich nicht der Mehrheit, wenn er anders dachte und er zog sich nicht zurück, wenn er glaubte, kämpfen zu müssen. Er schreckte nicht davor zurück, Menschen fertig zu machen, sie bloß zu stellen und zu erniedrigen. Aber er verfolgte die Prämisse, wenn er auf sein Tun zurückschaute, nicht aufzugeben, nur weil ihn Hindernisse zurückwarfen. Und vor allem strebte er danach, nichts zu bereuen. Aber manchmal hatte auch er aufgeben wollen. Manchmal bereute auch er.   Kaiba fuhr sich über seine Augen, senkte die Akte in seinen Händen und starrte in den Bildschirm. Seine nächsten Worte hätte ich fast nicht gehört, so leise sprach er sie. Kapitel 31: … ist kein Freund ----------------------------- __________________________________________   Noch sind wir zu zweit noch ist etwas Zeit paß auf mein Freund! Die Liebe ist zerbrechlich und nicht bestechlich paß auf mein Freund!   © Jörn Pfennig (*1944), deutscher Dichter und Lyriker Quelle: »Grundlos zärtlich«   __________________________________________           Seto Kaiba gab die Regeln vor und niemals nach. Seine Strategie war eine Mischung aus Einschüchterung und Erniedrigung mit einer Portion Kalkül. Wenn er etwas tat, dann nicht, um anderen zu gefallen, sondern um etwas zu erreichen. Er stand nicht auf der Seite eines Freundes. Er stand nur auf seiner eigenen. Deswegen und wegen hundert anderer Gründe hätte er niemals ein Freund sein können.   »Was – meinst du?«, stammelte ich. Erschütterung verband sich mit meinen Worten. Seto Kaiba kam nicht aus einer schwierigen Familie. Er war ein verwöhnter Bengel, der zu viele Ambitionen hatte. Seto Kaiba war reich, intelligent und gutaussehend. Er war ein arroganter Arsch. Ein Bastard, der einen mit Sarkasmus und Hohn fertig machte. Seto Kaiba war kein Jugendlicher, der sich so entwickelte hatte, weil er ein kaputtes Kind gewesen war. Er sah an mir vorbei. »Es gibt Schlimmeres als Schläge, Wheeler«, wiederholte er. Innerhalb einer Familie? Natürlich. Schlimmer ging immer, nicht? Aber Schläge zeugten schon von einer richtig kaputten Familie. Familie sollte doch Vertrauen und Zuneigung bedeuten. Schläge waren weder das eine noch das andere. Schlimmeres als Schläge? Da fiel mir nicht viel ein. Außer – Ich riss meine Augen auf. »Hat Gozaburo dich etwa –« Ich brachte die Worte nicht über meine Lippen, konnte ihn nur anstarren und spürte, wie mein Weltbild auseinanderbrach. Er fokussierte mich und er runzelte die Stirn, sein Blick suchte mein Gesicht ab, als versuchte er meine wirren Gedankengänge nachzuzeichnen. »Woran – nein, er hat sich nicht körperlich an mir vergangen.« Er langte sich mit seinen Fingern an die Schläfe und ich atmete tief aus, lehnte mich wieder zurück. Erleichtert, dass mein Weltbild nicht in tausend Scherben zerbrach. Nicht sofort zumindest. Mein Blick wanderte durch Kaibas Büro. Den Wänden und Schränken, seinem Schreibtisch und ihm. Es lag mir auf der Zunge, aber ich zögerte, doch meine Lippen bildeten die Worte und sie stolperten in das Zimmer, als hätte ich keine Gewalt darüber. »Was hat er dann gemacht?« Sturm. Tornado. Hurrikan. Ich sah vor mir, wie er mich mit Worten vom Boden hob und gegen die Wände schmetterte. Doch er schwieg, klammerte seine Finger um die leere Tasse und betrachtete sie statt mich. »Warum interessiert dich das?« Seine Worte klangen nüchtern, doch das waren sie nur von außen. Ich wusste nicht, was in ihnen steckte. »Freunde interessieren sich füreinander. Sie setzen sich füreinander ein«, behauptete ich fest und er lachte auf. Hohl und freudlos. Kälte krallte sich in seine Augen und stach in meine, wie Eiszapfen, die man mit bloßen Fingern umgriff. »Seit wann sind wir Freunde, Wheeler?« »Das frage ich mich auch«, murmelte ich, seufzte und fuhr mir über die Augen, rieb sie, als könnte ich so klarer sehen – nicht nur die Dinge, die man wirklich sehen konnte, sondern all das, was innen war auch. Wollte die Kälte in seinen Augen loswerden, wollte, dass er mich ansah, wie da, als wir zusammen Eis unter dem Apfelbaum gesessen hatten. Es kam mir so unheimlich lange her vor. »Du hast es vorhin doch so treffend erkannt. Ich habe keine Freunde. Ich brauche keine Freunde. Keinen einzigen«, höhnte er und es traf mich in meinen Magen. Etwas an seinem Ton ließ mich meinen Blick senken. Hatte ich das so gesagt? Hatte ich es so gemeint? Müsste er es nicht besser wissen? »Du und deine pathetische Weltsicht, Wheeler. Glaubst du wirklich, ich bin einer von deinen Kumpels«, das Wort klang wie eine Beleidigung, »nur weil wir gemeinsam an einem lächerlichen Kunstprojekt gearbeitet haben?« Er erhob sich, betrachtete mich von oben herab und kräuselte seine Lippen. »Nur weil ich deinen Vater nicht in seiner Kotze auf der Straße stehen lasse? Nur weil ich dich nicht in deiner Panikattacke verrecken lasse? Gehört das für dich zu einer Freundschaft?« Jedes seiner Worte strotzte vor Hohn und ich ballte meine Hände. Das war Kaiba. Arsch durch und durch. »Reicht es schon, wenn man dich nicht verbal oder physisch attackiert? Dann ist deine Definition von Freundschaft –« Das war Kaiba. Erniedrigung, Kalkül, wie eine Ohrfeige, ohne einmal die Hand zu heben. »– genauso eine Lachnummer wie du.« Er stand da, sein Kinn nach oben gestreckt, schaute zu mir hinab. Stand vor mir mit sprühenden Augen, überkreuzte die Arme und schmiss jedes Wort vor meine Füße. Ich rieb meine Stirn. In meinem Kopf pochte Wut. Mit in meine Hosentaschen gekrallten Finger erwiderte ich seinen Blick. Er machte mir keine Angst. Das hatte er doch nie. »Ist es das, was du in deine Arbeit steckst?«, zischte ich. »Deine verkackte Arroganz? Welche Gefühle und Gedanken steckst du in deine Arbeit?« »Wheeler«, scharrte er. »Hohn? Unsicherheit?« »Mach dich nicht lächerlich«, spottete er. »Selbstzweifel? Selbsthass?« Seine Kiefer mahlten. Er fuhr sich durch sein Haar und brachte seine Frisur durcheinander. »Was hat Gozaburo zu dir gesagt? Was hat er nach dem Schachspiel gesagt oder gemacht, dass du –« »Wheeler!«, knurrte er und presste seine Lippen aufeinander, so, dass er die Worte aus seinem Mund mit Pausen herausdrückte. »Mir hat jemand gesagt, dass es destruktiv wär, vor seinem Vater davonzurennen. Ich glaub, du bist scheiß destruktiv.« Ich näherte mich ihm, baute mich vor ihm auf. Schritt für Schritt. Mit jedem Wort. Beobachtete sein Augenzucken und wie jede Silbe seine Stirnfalten vertiefte. »Was meinst du? Wie lange rennst du noch vorm Schach weg?« Er verengte seine Augen, verzog seine Lippen zu einem herablassenden Grinsen und stellte sich mir gegenüber, schaute auf mich hinab. »Die Frage ist, was du meinst, Wheeler.« Ich stockte. Sein Blick brannte sich in meinen, als er sich zu mir beugte. Ich spürte seine Regung, spürte seinen Atem meine Wange entlang streifen, spürte wie er sich weiter vorlehnte und mit seiner Schulter meine berührte. »Wann, meinst du, schlägt dich dein Vater wieder?«, säuselte er in mein Ohr. Dann rückte er ab, ließ mich mit wackeligen Beinen stehen, wandte sich um und schritt zur Fensterfront. Mit dem Rücken zu mir schaute er über Domino-City, wie ein Herrscher über sein Land. Und ich stand hier – senkte meinen Blick, starrte meine Hände an, die ich zu Fäusten ballte. Die Erinnerung an die Schläge stürzte über mir zusammen. Doch nicht der Schmerz. Da war die Hilflosigkeit und der Gedanke: Vielleicht schlug er mich zurecht. Vielleicht war etwas dran an seinen Worten. Vielleicht. »Woher – was – wer sagt, dass er es wieder macht?«, brüllte ich. Zitterte. Meine Stimme überschlug. Vielleicht hatte er Recht. Vielleicht war meine Mutter meinetwegen gegangen. Vielleicht war es meine Schuld. Vielleicht hatte ich es verdient. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht aber doch. Er rauschte zu mir herum, in seinem Rücken das Panorama Dominos. Die frühe Abendsonne versenkte die Stadt in einem Orangerot. Er schien die ganze Stadt hinter sich zu haben.   »Weil du glaubst, dass er es zurecht gemacht hat«, schmetterte er mir entgegen. Stille. Ich hörte nur meinen schweren Atmen und meine Gedanken, die mir durch die Ohren sausten. Das Blut rauschte, pumpte zu wenig Sauerstoff in mein Herz, das in meiner Brust raste – in meiner viel zu engen Brust. »Du – das – was laberst du für einen Scheiß?«, schrie ich, keuchte, presste meine Hände auf meinen Brustkorb. »Glaubst du, dass er Unrecht hat mit dem, was er dir sagte?« Ich starrte Kaiba an, öffnete den Mund, runzelte die Stirn, während Wut meine Gedanken vernebelte. »Dass es falsch von ihm war, dich zu schlagen, Wheeler?« »Natürlich, du verkackter Geldsack! Natürlich war es falsch!«, tobte ich und es machte mich rasend, dass er so ruhig blieb. Statt zurückzuschreien, schritt er auf mich zu. Seine Gegenwart drängte mich einige Schritte nach hinten, sein Blick brannte. Ich ruderte zurück, bis ich die Wand in meinem Rücken spürte und er seine Rechte links neben mir an der Wand abstützte. Er kam mir so nahe, dass ich den Duft seiner Kleidung roch. Es war der Duft seines Mantels. Dasselbe Waschmittel, derselbe Weichspüler. Seine Wimpern senkten sich mit dem Blick, der er zu mir hinunterwarf. Ich kniff die Augen zusammen. »Was macht dann das Womöglich, das Kann-sein oder das Vielleicht in deinen Gedanken?«, wisperte er. Die Worte strichen über meine Wange – so wie sein Blick. »Woher willst du das wissen?«, krächzte ich. Ich fühlte das Vibrieren seines Brustkorbs, als er leise lachte. Doch seine Augen blieben kalt. »Du bist nicht der Erste«, flüsterte er. Ich versank in dem Blau. Eis. Kälte. Erinnerungen an Worte und Schläge. Gedanken, die einen weiter in die Tiefe rissen, den Boden unter einem zum Schwanken brachten. Dann stieß er sich von der Wand ab, drehte sich um. War eben noch sein Ton seidig, trotz der harten Worte, so klangen seine folgenden wie Steine, die er mir in den Weg schmiss. »Wir sind keine Freunde, Wheeler. Du brauchst mich, um aus deinem Loch zu kommen. Und ich nutze dein Talent für meine Geschäfte. Das ist eine Zweckgemeinschaft. So wie es von Anfang an eine war.« Ich öffnete gerade den Mund, als jemand anklopfte. Kaibas Sekretärin drückte die Tür auf und brachte Kaffee, Säfte und Kekse. In jedem anderen Moment wäre ich dankbar gewesen.   Was ist, wenn wir irgendwann wirklich so sind, wie andere glauben, dass wir sind, auch – wenn wir gar nicht so sind? Also im negativen Fall. Zum Beispiel. Wenn alle denken, dass man ein arroganter, eiskalter Geldsack ist? Wie werden aus Kindern Erwachsene? Wie werden aus neugierigen, liebevollen, fröhlichen Kinder distanzierte, kühle, arrogante Erwachsene? Schläge und Worte der Verachtung?   Die Sekretärin zog die Tür hinter sich zu. Kaiba ließ sich am Schreibtisch nieder, nahm einen Schluck Kaffee, saß da mit dem Schreibtischstuhl Richtung Fenster gedreht und schwieg. Ich starrte auf seinen Hinterkopf und überlegte, was man dem kleinen Jungen, den ich im Fernsehen gesehen hatte, erzählt haben musste, was er erlebt hatte, um so zu werden. »Schick mir bis übermorgen die ersten Entwürfe, Wheeler. Du kannst gehen.« »Mh«, sagte ich und atmete tief durch, betrachtete Kaibas Rücken und rührte mich keinen Zentimeter. »Dann gehe ich und schicke dir bis übermorgen die ersten Entwürfe«, stimmte ich zu. Meine Beine wollten mir nicht gehorchen. Kraftlosigkeit zerrte an meinen Muskeln. Es war, als wäre ich einmal die KC hoch und runter gerannt. Ich stolperte Richtung Schreibtisch, steckte meine Skizzen ein und blieb an der Tür stehen. Ich hatte keine Kraft, Kaiba zu sagen, was zu sagen wäre. Er reagierte nicht und ich ließ ihn da am Fenster sitzen. Ich verstand nur nicht, warum es sich nicht so anfühlte. Warum es sich so anfühlte, als ließe er mich stehen. Obwohl doch ich ging. Die Tür schnappte hinter mir zu.   Ich fegte durch den Gang, verfluchte Kaiba und seine Arroganz, Kaiba und seine Sturheit, Kaiba und seinen Hohn. Kaiba, der behauptete, mein Vater würde mich wieder schlagen. Verfluchte Kaiba, der behauptete, ich wäre nicht der Erste. Kaiba, in dessen Augen mehr stand als ich sehen wollte. Die Erinnerung an ein gebrochenes Kind.   Am Abend war es still um mich herum. Im Garte zirpten Grillen, ansonsten legte die Nacht einen Teppich aus Ruhe über die Gegend. Aber in mir wüteten Worte und Bilder und Blicke. »Joey, was ist los?« Yugi trat unter den Apfelbaum. Obwohl es schon so spät war, saß ich hier und starrte durch die Zweige in eine sternklare Nacht. Er gähnte und setzte sich zu mir. In meinem Kopf sprudelten die Antworten über. Doch von allen Dingen, die ich Yugi fragen, die ich ihm erzählen, ihm verständlich machen wollte, kam mir das Folgende über die Lippen. »Kaiba und ich sind eine Zweckgemeinschaft.« Ich spürte, wie er mich von der Seite anschaute. »Klar.« Yugi dehnte das Wort, damit klar war, dass nichts klar war. Er lehnte sich an mich und seufzte, als ich nichts weiter sagte. »Also – eine Zweckgemeinschaft? Habt ihr darüber gesprochen, als du heute Nachmittag bei ihm warst?« »Ja.« Auch. Und so viele Gedanken schossen durch meinen Kopf. »Joey, wir haben uns Sorgen gemacht. Du bist plötzlich einfach weggerannt« »Mhm.« Das schlechte Gewissen zog an meinen Nerven, doch das Gespräch mit Kaiba spannte sie so, dass ich glaubte, kein Wort mehr herauszubringen. Yugi wartete. Ich wusste es, weil in der Stille ungestellte Fragen schwebten. Nach meinem Abgang in der Schule und dem Wiederauftauchen in Yugis Zimmer hatten wir kaum Worte gewechselt. Ich wusste, dass er glaubte, ich bräuchte nur Zeit. Und ein offenes Ohr. »Lass uns ins Bett gehen. Manchmal tut einem Schlaf richtig gut«, schlug er vor und ich brummte, nickte, obwohl ich wusste, ich würde kaum Schlaf finden. »Achja, Mokuba hat uns morgen Abend zum Essen eingeladen.« Ich legte meinen Kopf in den Nacken, schloss die Augen und seufzte.   In der Schule hing ich halb auf dem Stuhl. Die Nacht war furchtbar gewesen. Zu warm, zu kurz, zu viele Gedanken. Die Lehrer erzählten irgendetwas – die Fächer unterschieden sich, das Gelaber in meinen Ohren nicht. Kaiba saß mir im Nacken. Ich sah seine Augen vor mir, spürte sie in meinem Rücken, obwohl er auf seinen Laptop starrte. Ich spürte das Vibrieren seines Brustkorbs, den Atem auf meiner Wange, das Flüstern in meinem Ohr. Seine Worte in meinem Kopf. Die Bilder in meiner Erinnerung. Er war überall. Ich fluchte leise und begegnete Tristans verwirrtem Blick. Kaiba tippte, ich beobachtete, wie seine Finger über die Tastatur flogen. Kaiba beantwortete die Frage des Lehrers mit gelangweilter Stimme, die genug Anstand barg, dass der Lehrer ihn für die Richtigkeit lobte. Kaiba stand nach dem Klingeln auf und zog an meinem Tisch vorüber. Obwohl er mir keinen einzigen Blick gewährte, verfolgte er mich.   Bis zum Abend zog es sich. Relativität. Der Weg von Yugis Zuhause bis zur Kaibaschen Villa zog sich. Relativität. Der Gang von der Einfahrt, deren Tor eine Automatik öffnete, bis zur Tür zog sich. Nicht wie Kaugummi, sondern wie ein Gummiband, das bei einer Unachtsamkeit zurückschnellen würde, um einen brennenden Schmerz auf der Haut zu hinterlassen. Tristan und Yugi gingen an je einer meiner Seiten, flankierten mich, als müssten sie mich abschirmen und mich beschützen – oder mich im Zaum halten. Yugi klopfte. Roland öffnete. Eine junge Frau nahm unsere Jacken entgegen und Mokuba fegte zu uns in den Gang, begrüßte uns mit einem Strahlen und einer Geschichte von einem neuen Spiel, das die KC zum Turnier erst herausbringen würde. Von der Küche wehte der Geruch von frisch gemachtem Essen hinüber und ließ meinen Magen auf dem Boden hängen. Ein Mann bot uns etwas zu trinken an. Tristan wisperte mir etwas wie Kaibas Hofstaat zu. Normalerweise wäre ich darauf eingegangen, doch bei dem Namen Kaiba verknoteten sich meine Innereien, also nickte ich nur, nahm im Esszimmer Platz – wie so oft, doch es fühlte sich anders an. Als hätte mir Kaiba etwas Schmutziges verraten. Als wartete ich darauf, dass das Gummiband zurückschnellte.   Wir saßen da und warteten auf Kaibas Auftauchen – ich wartete auf die Vorspeise. Kaiba kam zuerst an. Er blieb im Türrahmen stehen, während sein Blick einmal über die Runde wanderte. Seine Mimik zuckte nicht einmal, doch in seinen Augen klirrte Kälte. »Seto! Da bist du ja endlich! Das Essen kommt schon gleich! Wir –« Das Eis taute, als Mokuba sprach, doch als er selbst redete, stach sein Blick in meinen. »Hast du nicht gesagt, dass du Freunde zum Essen einladen möchtest, Mokuba?« Obwohl er seinen Bruder ansprach, hielt er mich mit seinen Augen gefangen, als spieße er mich mit jedem Wort auf. Die Augenpaare am Tisch richteten sich auf mich. »Aber –«, wandte Mokuba unsicher ein. »Guten Appetit, Mokuba, ich schaue später bei dir im Schlafzimmer vorbei, bevor du ins Bett gehst.« Damit kehrte er uns den Rücken und ließ die Tür hinter sich zufallen. Stille. Mokuba starrte die Tür an, dann zog sein Blick hinüber zu Yugi, der ihn wackelig anlächelte, zu mir und Tristan. »Okay«, stammelte der neben mir, »okay. Was war das?« Ich hob die Schultern und atmete aus. Wann hatte ich meinen Atem angehalten? In dem Zimmer herrschte angespannte Ruhe, ein paar Wortfetzen drangen an mein Gehirn, doch seit Kaibas Auftritt, hangelten wir uns von einem Thema zum anderen. Irgendwann tauchte ich in meine Gedanken ab. Kaiba war ein Arsch. »– und dann verarbeiten wir ihn zu grünen Keksen. Er wird’s nicht mal merken.« Als die Runde mich erwartungsvoll anschaute, schreckte ich aus meinen Gedanken und Mokuba kicherte. Ich setzte mich auf und langte nach meinen Nudeln, stocherte weiter in meinem Salat, kaute auf meinem Steak, grinste verlegen. »Ja?«, machte ich. »Redet ihr von –« »Worüber zerbrichst du dir den Kopf, Kumpel?«, wollte Tris wissen. »Geht’s dir –« Kumpel. Aus Kaibas Mund hatte es wie eine Beleidigung geklungen. »Kaiba«, murmelte ich. Tristans Augenbrauen schnellten nach oben. Mokubas Gabel schwebte vor dessen Mund. »Er ist – was «, beendete ich meinen Satz und zog an meinem Kinn. »Aber er – irgendwas – er meinte –« Ich ruderte mit meinen Armen, als würde es mehr als meine Worte erklären. Yugi und Tris tauschten einen Blick und ich seufzte, während Mokuba langsam seine Gabel in den Mund steckte. »Geht es um deine Arbeit für die KC?«, hakte Tristan nach und ich zuckte die Schultern. »Hast du ihn da verärgert?« »Warum sollte ich ihn verärgert habe?«, plusterte ich mich auf. Die Blicke sprachen Bände und ich lehnte mich eingeschnappt zurück. »Nein – ja – auch vielleicht.« Mein Blick lag auf Mokuba. Was konnte ich ihm offenbaren? Was wusste er? Wusste er überhaupt etwas darüber? »Er meinte, wir wären eine – Zweckgemeinschaft!«, brachte ich vorwurfsvoll hervor. Es ging mir nicht aus dem Kopf. Warum hatte er das gesagt? Warum durchdrang mich die Kälte seines Blickes bei jeder Erinnerung dran? Ich stützte mein Gesicht mit den Armen auf dem Tisch. »Der Vertrag – alles – es geht nur um meine Chance und – seine Chance«, murmelte ich. »Geht er eigentlich nicht ein verdammt hohes Risiko ein, dir so einen großen Auftrag zu geben?«, erkundigte sich Yugi. »Er kennt sich da doch aus. Wird schon wissen, was er tut.« Es klang höhnisch, doch das machte es nicht weniger wahr. Mokuba legte seinen Kopf schief, doch er schwieg. »Bedeutet es denn nicht, dass er dir viel zutraut?«, hakte Yugi nach. »Mh, rein geschäftlich. Ich bekomme die Chance, mich zu beweisen und er die Chance, sein Turnier zu promoten.« Es war nicht gelogen. »Und was bringt es Kaiba, dass er dich ärztlich versorgen ließ?«, fragte Tristan mit gerunzelter Stirn. »Weniger Ausfall durch Krankheit.« Aber es klang hohl in meinen Ohren. »Dass er für dich die Verantwortung vor dem Jugendamt wahrgenommen hat, damit du nicht vorübergehend in eine Pflegefamilie oder zu deiner Mutter musst?«, gab Yugi zu bedenken. »Damit ich gleich weiterarbeiten kann – hier und so.« Fad. »Und was hat es ihm gebracht, dir stundenlang gut zuzureden, als du deine Ausraster und die Panikattacke hattest?« Tristans Blick ließ mich auf meinem Platz hin und her rutschen. »Effizienter Arbeitsprozess, indem ich schnell wieder auf die Beine gekommen bin.« Lauwarm. Schweigen. »Er hätte dich fallen lassen können und den Auftrag jemand anderes geben«, gab Mokuba zu bedenken und beteuerte sogleich, »nicht, dass ich das gut finden würde!« Geschirrklappern, Tristan schenkte sich nach, Mokuba beobachtete, wie die Flüssigkeit das Glas füllte. Ich betrachtete Mokuba. »Joey, du bist – eine hohle Nuss.« Mein Gesicht zuckte zu Yugi. Eine derartige Beleidigung aus dessen Mund war das letzte Mal – ich konnte mich nicht einmal an eine erinnern. »Er lässt sich auf Diskussionen mit dir ein, lässt dich – lässt uns bei ihm übernachten, redet dir gut zu, während du –« Er hätte mich liegen lassen können.   Mein Blick fiel zurück auf Mokuba, der ihn erwiderte. Sein chaotisches Haar, seine Stirn, die in Falten lag, den Mund, wo sonst immer ein Lächeln lag – alles so anders als bei Kaiba. Seine Augen. Kaibas Augen. Ich raufte mir die Haare, brach in Lachen aus, in dem eine Menge Unglaube gackerte und fasste mir an meinen Kopf mit beiden Händen, dann schaute ich zu meinen beiden Freunden, die mich wortlos betrachteten – offensichtlich standen sie auf dem Schlauch. »Versteht ihr nicht?«, fuhr ich sie an. Yugi und Tristan wechselten einen Blick. »Er hat es mir fast gesagt. Er hätte es mir anvertraut und dann hat er mich angelogen. Der verdammte – er hat mir fast vertraut und er hat mich angelogen!« Kaiba war ein Arsch. Und ich ein Idiot. »Warte – Joey – wohin –?« Doch ich hatte keine Zeit, meine Gedanken rasten mir voran und ich folgte ihnen.   Meine Beine trugen mich durch die Gänge, die Treppe hinauf, links, dann weiter gerade aus, die Tür. Nein, zurück, statt links, rechts. Ich atmete tief durch, stand vor Kaibas Bürotür und verharrte dort, ohne zu klopfen, ohne hineinzustürmen, schritt hin und her, einige Schritte vor, dann zurück, als könnte ich mich nicht entscheiden, denn – ich konnte mich nicht entscheiden. Würde ich das Zimmer betreten, gäbe es kein Zurück mehr. Vielleicht war das, was Kaiba verloren hatte zu viel. Vielleicht war es besser, wenn er weiterhin der arrogante Arsch blieb. Von außen. Der talentierte, allmächtige, launische, undurchschaubare, egoistische Streber, den es leicht war zu beneiden, zu schmähen und zu bekriegen. Mit Betreten dieses Raumes – vielleicht würde ich in Kaibas Innerem versinken. Wie in Treibsand, wie in einem Moor. Vielleicht stand ich auch schon drin und hatte es bisher nur nicht bemerkt.   Gerade, als ich klopfen wollte – oder verschwinden, zog er die Tür auf und bohrte mich mit seinem Blick in den Boden. »Was willst du, Wheeler? Bei deinem unerträglichen Stampfen verringert sich die Effizienz meiner –« »Du hast gelogen«, beschuldigte ich ihn und er verstummte einen Moment, als wollte er sich sammeln und mich mit einem geballten Satz fertig machen, doch ich wartete nicht darauf. »Wären wir eine Zweckgemeinschaft, dann hättest du mich am Boden liegen lassen. Ich meine nicht das vor ein paar Tagen. Ich meine, die ganze Zeit! Wären wir – du hättest mir nicht deinen Mantel um die Schultern gelegt – du hättest mir nicht gesagt, dass es wieder okay werden würde. Dass ich wieder aufstehen und dich nerven würde. Verdammt!« Ich blitzte ihn an, ratterte meine Gedanken hinunter, so dass manche Worte zusammenklebten wie eines. »Du hast mich angelogen, Kaiba! Du hast gesagt –« Er verschränkte die Arme vor der Brust, als versuchte er sich von den Worten abzuschirmen. »Woher willst du das wissen, Wheeler?«, höhnte er. »Weil ich mich das auch immer wieder gefragt habe, Kaiba! Woher willst du wissen – ausgerechnet du! Woher weißt du, wie ich mich fühle? Du kannst das gar nicht wissen, du verschissener Geldsack!« Ich ballte meine Hände, stand vor ihm. Meine Wangen brannten, ich verlor das Gefühl des Bodens unter meinen Füßen. Es war als schwebte ich im Raum. »Außer, du hast es selbst erlebt«, wisperte ich. Der luftleere Raum presste meine Brust immer weiter zusammen. »Du bist so ein arroganter Scheißbastard! Glaubst alles zu wissen!«, brach aus mir hervor. »Tröstest mich, baust mich auf, steckst mir eine Chance nach der anderen in den Arsch, bist da, ohne ein Wort der Anerkennung zu wollen! Seit wann bist du so ein verkackter Held?« Mein Magen wollte sich nach außen stülpen, doch ich schaffte, mich nicht zu übergeben, stattdessen verzahnten sich meine Rippen und ich konnte kaum mehr atmen. Mein Herz stolperte. Jeden Moment würde es aufhören zu schlagen. Ich verlor die Kontrolle. Immer mehr. Mein Vater hatte mir sie zum ersten Mal völlig aus der Hand gerissen, mein Zuhause gab es nicht mehr, mein Vater lag im Krankenhaus. Würde ich ihn sehen, dann – »Warum hast du mich nicht liegen lassen? Nein! Lass mich in Ruhe! Komm nicht –« Einen Augenblick dachte ich wirklich, Kaiba würde auf den Menschenverstand hören und mich einfach die Wand hinabsinken lassen, mich dort liegen lassen, bis diese bunten Punkte vor meinen Fingern aufhörten zu tanzen. Er tat es nicht.   Seto Kaiba gab die Regeln vor und niemals nach. Seine Strategie war eine Mischung aus Einschüchterung und Erniedrigung mit einer Portion Kalkül. Wenn er etwas tat, dann nicht, um anderen zu gefallen, sondern um etwas zu erreichen. Er stand nicht auf der Seite eines Freundes. Er stand nur auf seiner eigenen. Zumindest wollte er, dass das alle glaubten.   Stattdessen hing im nächsten Moment ein Mantel um meine Schultern. Ich senkte meinen Kopf, zog meine Beine an meinen Körper und klammerte meine Arme drum, als könnten sie das Rumoren in meinem Magen beruhigen. Mein Atem stockte, mein Herz raste, aber da waren Worte und dieser Duft. Ich lehnte mich nach vorne und berührte ihn. Sein Mantel gab mir die Gewissheit, dass ich nicht erstickte, dass mein Herz weiterschlagen würde. Stück um Stück verwehten die bunten Pünktchen und mit dem Gefühl, dass die Welt nicht in Fetzen zerrissen wurde, kam auch die Erkenntnis zurück, dass ich nicht alleine war. »Joey«, flüsterte er und erhob sich, zog mich mit sich, bis wir standen. Mein Gesicht lag an seiner Brust. Meine Finger krallten sich in sein Hemd. »Warum lässt du mich nicht einfach liegen?«, wisperte ich. »Weil ich weiß, wie es ist.« Mit diesem Satz schnellte mein Blick nach oben, ich öffnete meinen Mund, aber schloss ihn wieder, denn Kaiba erwiderte den Blick. Darauf war ich nicht vorbereitet gewesen – vielleicht er genauso wenig, denn seine Augen verrieten, dass in seinem Inneren nichts gefror, sondern ein Feuer wütete. Wärme durchzog meinen Magen. Ich fragte nicht, warum er wusste, wie das war oder warum seine Augen mich nicht wie Eiszapfen in den Boden rammten, denn ich spürte nur noch, wie meine Finger fester in sein Hemd griffen, ihn zu mir zogen und das Feuer, das ich in seinen Augen sah, sich in meinem Bauch ausbreitete. Ich wollte fragen, ob er – doch stattdessen legte ich meine Lippen auf seine. Worte waren noch nie meine Stärke gewesen. Die Nähe, die Berührung kribbelte auf meinem Mund. Seine Hände umschlossen meine Oberarme, als befürchtete er, ich würde zusammenklappen. Meine Finger ließen sein Hemd nicht locker, hielten ihn so nah, dass seine Nase meine berührte und die Bewegungen seiner Lippen meine entlang fuhren. Statt Zufriedenheit ergriff eine Welle Verlangen mein Inneres. Ich drängte mich an ihn, drückte ihn nach hinten und zwang ihn zu einem Schritt zurück. Als erkannte er erst dann, was ich tat, hielt er dagegen, schob mich gegen die Wand, bis kein Finger mehr zwischen meinen Rücken und die Tapete passte und presste ein Bein zwischen meine. Ich japste. Das Keuchen – ich würde später behaupten, dass ich nicht gekeucht hatte – jagte meine Kehle hinauf. Sein Atem wurde hektischer, er sog die Luft ein und ich fühlte, wie er mit seiner Rechten meine Seite entlang fuhr, meinen Bauch abtastete und –   »Seto! Joey – was – oh!« Kaiba fuhr herum und ich wünschte, die Wand würde mich absorbieren. »Oh shit«, hauchte ich und presste die Augen zu, nur um sie wieder aufzureißen und erneut in Mokubas große Augen zu schauen. Tristan und Yugi schlenderten um die Ecke, blieben wie angewurzelt stehen, als sie uns entdeckten. Stille kroch den Flur entlang. Wir starrten einander an, regungslos, als wartete jeder darauf, dass der andere eine Reaktion zeigte. »Also eines ist klar«, wagte es Tris zu sticheln, »sie haben sich nicht gegenseitig umgebracht.« »Ich würde vorschlagen – nachdem – also – wir – gehen mal vor«, stammelte Yugi, packte Tristans Arm und Mokubas Schulter und zog beide mit sich. Ich schaute ihnen nach, bis sie um die Ecke verschwunden waren, dann blinzelte ich zu Kaiba, der schräg mit dem Rücken zu mir stand und wie eine Salzsäule wirkte.   »Nur eine Frage –« »Halt die Klappe, Wheeler.« »Ich meine nur –« Er schnaubte und setzte sich in Bewegung. »Kein Wort!«, befahl er. Ich folgte ihm und sprach es trotzdem aus. »Gehört das«, ich machte eine vage Bewegung zwischen uns hin und her; er mit geschwollenen Lippen und geröteten Wangen, sein Haar stand in ungezähmten Strähnen ab – ich vermutete mal, dass ich keinen groß anderen Eindruck machte, »schon zu unserer Freundschaft dazu? Oder ist das noch unsere Zweckgemeinschaft?« Ich hörte förmlich, wie er seine Augen verdrehte und sich die Nasenwurzel massierte.   Deswegen und wegen hundert anderer Gründe hätte er niemals nur ein Freund sein können.   Kapitel 32: ... ist wissend ---------------------------   __________________________________________   Gleich schwerem Traum zerfloß ihr dunkles Walten, Und auf vernarbte Wunden kann ich zeigen, Kaum wissend mehr, von wem ich sie erhalten. Ferdinand von Saar   __________________________________________           Seto Kaiba hatte von einer Menge eine Ahnung. Er war schlau. Mehr als das. Seine Ideen erstaunten gestandene Geschäftsmänner, seine Umsetzung war beispiellos in der Geschäftswelt. Was man darüber leicht vergaß war, dass er ein Mensch war. Er kannte nicht nur Zahlen und Fakten. Auch, wenn er gerne so tat. Er wusste um so viel mehr.   Ich löffelte das Eis zum Nachtisch und vermied Tristans Blick, weil ich spürte, wie er meine Nasenspitze versengte. Yugis Löffel schwebte immer mal wieder vor seinem Mund, als wollte er etwas sagen, seine Worte jedoch ständig verwarf und deswegen schwieg. Kaiba saß da und ignorierte Mokubas Blick. Den hielt das aber nicht auf. »Seto«,  forschte er nach, »magst du Joey?« Mein Blick schnellte nach oben. »Ich mein, magst du ihn sehr?«, hakte der Junge nach, als bemerke er die merkwürdige Stille nicht, die über unserer Runde lag. »Mokuba«, schnarrte Kaiba mit einem Ton, der verriet, dass das eine denkbar bescheuerte Frage war. Ich hingegen konnte Mokubas Verwirrung verstehen. Obwohl er eigentlich nicht verwirrt wirkte – im Gegenteil. Ich öffnete den Mund, aber sagte nichts. »Also ja«, behauptete Mokuba und grinste. Kaibas Auge zuckte. »Ich habe noch zu arbeiten. Ihr findet hinaus.« Er stieg auf und schritt zur Tür. Seine Aufmerksamkeit schien mich nicht einmal zu streifen, stattdessen stierte er gen Tür, durch die er verschwand. Yugi stieß mir in die Seite. »Hä?« Er fuhr sich über die Augen und murmelte etwas, das ich nicht verstand. »Geh zu ihm«, befahl er mir dann und meine Augen weiteten sich noch weiter. »Was? Bist du verrückt? Ich geh ihm doch nicht  –« »Und wie du das tun wirst.« Eine Strenge, die man Yugi nicht zutraute, durchkreuzte seine Worte. »Wieso sollte –« Er piekste mir in die Seite. Tristan beobachte unser Geplänkel, doch auf meine Geste hin, zuckte er nur die Schulter. »Weil ihr beide einfach so kompliziert seid«, behauptete Yugi und schob mich einfach halb vom Stuhl. »Und er hat nicht nein gesagt«, gab Mokuba zu bedenken und ich erstarrte. So viel dazu. Tristan zeigte seine Zustimmung durch simples Nicht-widersprechen und ich stand seufzend vor der Esszimmertür, schob sie auf und begab mich auf den Weg zu meiner Nemesis.   Ich wanderte den Flur entlang, die Treppe hoch. Mit meinen Händen in den Hosentaschen stapfte ich durch den Gang und hoffte einfach, dass Kaiba verschwunden und nicht auffindbar war. Aber ich war nicht der Typ, einfach abzuhauen. An den Wänden hingen Bilder von Künstlern, die ich nicht kannte – aber die Gemälde sahen echt genial aus. Mit Gängen, die ineinander übergingen, Treppen, die wie in einem Labyrinth gegen jede Logik übereinander führten. Daneben ein Pferd mit menschlichem Gesicht. Ein bisschen krank war es schon. Doch auch interessant. Es zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Irgendwie konnte ich mich nicht entscheiden, ob es schön oder eklig war. Aber ich erkannte mich darin wieder. Bilder, die eine verdrehte Wirklichkeit zeigten.   Ich wusste nicht, was seltsamer war: Der Augenblick, in dem ich registrierte, dass ich ohne mich zu verlaufen, vor Kaibas Büro stand (denn wo sollte er sonst hin sein?) oder der Moment, als ich mit einem Schlag realisierte, dass ich ihn geküsst hatte. Ich. Ihn. Geküsst. Dass sich manche Dinge änderten und man erst im Nachhinein erkannte, was das für Konsequenzen zog. Ich wusste, dass es nicht mehr wie vorher sein würde. Ich wusste nur nicht, wie sehr. Es war klar, dass so viel – Er zog die Tür einen Spalt breit auf. Als er mich entdeckte, schloss er kurz die Augen, als wünschte er, ich würde dadurch einfach verschwinden. Doch ich stand noch immer wie angewurzelt da, als er sie wieder öffnete. »Was willst du?«, murrte er. »Ich und – also – er – Yugi – meinte – was – hat – so – also ich wollte – Mokuba –«, stammelte ich. Kaiba griff sich an seinen Kopf, öffnete die Tür weiter und schritt den Gang an mir vorbei. Ließ mich stehen, ohne dass ich meine Gedanken, meine Worte hätte sortieren können. »Hey! Warte!«, rief ich und stürzte ihm hinterher. »Hat Mokuba Recht? Magst du mich?« Ich sah von hinten, wie er zögerte, doch dann schien er sich wieder zu fassen. Er wedelte mit seiner Hand, wie wenn man eine Fliege verscheuchte. »Ich habe keine Zeit für deine infantilen Anfälle. Ich habe eine Firma zu leiten.« Manche Dinge änderten sich nie. »Ich meine – wenn ja, wüsste ich nicht, warum.« Er hielt inne – so wie ich. Ohne, dass er sich umdrehte, stand er da und wartete auf das, was kommen würde. Ich fuhr mir durchs Haar. »Ich meine – ich behaupte, wir wären Freunde, dass Freunde sich füreinander einsetzen und in Wirklichkeit, setzt du dich ständig für mich ein und ich kack dir ans Bein. Wie pathetisch.« »Du weißt nicht einmal, was –« »Pathetisch heißt erbärmlich, arroganter Eisbeutel«, kam ich ihm zuvor und runzelte meine Stirn. Er hatte mir das Wort so oft an den Kopf geworfen. Natürlich kannte ich es. Der Spott seiner Worte traf mich nicht, weil ich wusste, dass sie nur etwas verdeckten, das er niemanden sehen lassen wollte. Oder redete ich mir das nur ein? Wollte ich nur, dass er mehr war, als jeder zu sehen glaubte? Weil ich glaubte, selbst auch mehr zu sein, als jeder sah? »Und ich weiß nicht, was – also wieso –« Ich atmete tief durch und erinnerte mich an Kaibas Worte. Ich habe an dem Tag auch viel verloren. Kaiba, der – viel verloren hatte. Womöglich etwas, das niemand außer ihm vermisste, weil niemand wusste, dass er es verloren hatte. Niemand außer ihm. Mit diesem Tag musste das Ende seiner Kindheit begonnen haben. Er hatte etwas verloren. Vielleicht war es das, was ich in ihm erkennen wollte. »Was ist schlimmer als Schläge? Was hat Gozaburo gemacht? Was hat er dir gesagt? Was wollte er mit Mokuba machen? Was hat Mokuba mit Schach zu tun?«, sprudelte aus meinem Mund. Kaiba drehte sich langsam um. Sein Kinn erhoben, sah er zu mir hinab, stand da im Gang zwischen Meisterwerken und geschlossenen Türen, nur wenige Meter von mir entfernt. »Inzwischen deinen Vater im Krankenhaus besucht?« Der Spott in seinen Worten traf mich, obwohl ich wusste, dass sie nur etwas verdeckten, das er mich nicht sehen lassen wollte. »Und du – inzwischen Schach gespielt?«, ätzte ich zurück. Sein Blick erhärtete. Der Spott wich Kälte. Als wären wir uns keinen Zentimeter näher gekommen. Als baute er mit jedem Wort einen Stein mehr auf die Mauer zwischen uns. Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Bevor du dich um meine Probleme kümmerst, solltest du dich um deine eigenen kümmern, Wheeler.« Damit drehte er sich um und ließ mich stehen, öffnete eine Tür – ich rief »Hey!«, überbrückte die Entfernung – und er schloss sie vor meiner Nase. Ich stemmte meine Hände in die Seiten, pustete eine Strähne aus der Stirn und versuchte, meinen Ärger mit jedem Atemzug aus meinem Bauch zu drücken. Ich klopfte. Er antwortete nicht. Ich hämmerte. Er antwortete nicht. Ich stieß die Tür auf. Er verengte seine Augen. Ich riss sie auf. »Sorry, ich wusste nicht –«, stammelte ich und schaute mich um, obwohl ich den Eindruck machen wollte, mich nicht umzuschauen. Ich stand in Seto Kaibas Schlafzimmer. Direkt mit Blick hinaus aus einer bodentiefen Fensterfront. Davor ein Balkon, die Türen geöffnet. Die Tapete leuchtete in einem Weiß und einer dunkelblauen Bordüre. Der Boden aus dunklem Parkett. Rechts in der Mitte stand ein weißes Doppelbett, dessen dunkelblaue Bettwäsche feinsäuberlich gefaltet war. Ich fragte mich, ob Kaibas Hausfrau dafür Sorge trug oder er selbst die Decke und das Kissen so akkurat zusammenlegte. Es war Bettwäsche für eine Person. Trotzdem gab es an beiden Seiten je einen Nachttisch. Beide vollgestellt mit Akten und Papieren. Kaiba fing meinen Blick auf und ich schluckte, obwohl sein Gesichtsausdruck blank war. »Mach es dir ruhig bequem«, schlug er vor und Sarkasmus tropfte von jeder Silbe. »Möchtest du dir etwas von mir leihen? Bequeme Hosen?« »Du hast bequeme Hosen? Ich hab mir eigentlich vorgestellt, dass du im Anzug ins Bett gehst – mit Mantel«, frotzelte ich. Er hob die Augenbrauen. »Also ich meine, wenn ich mir vorgestellt hätte – dann so. Aber ich habe mir natürlich nicht –« Er ignorierte mein Gestammel und langte nach einer Akte auf seinem Nachttisch, blätterte sie kurz durch und kam mir dann entgegen – oder einfach der Tür. »Oh«, flüsterte ich. Auf dem Nachttisch – halb unter der Akte begraben, die unter der gelegen hatte, die Kaiba gerade in der Hand hielt – lugte eine Zeichnung hervor. Kaiba folgte meinem Blick und atmete tief durch. »Wenn du deinem Hundehirn das Kommando geben könntest, mein Schlafzimmer zu verlassen, würdest du mir die Arbeit, den Sicherheitsdienst zu rufen und ein paar kognitiv limitierte Fragen deiner Freunde ersparen.« Ich blinzelte ihn an, machte ein paar Schritte rückwärts, drehte mich dann um und verließ den Raum mit einem Knoten im Magen. Die Zeichnung auf seinem Nachttisch zeigte ihn und seinen Bruder. Aber ich war es, der sie gemacht hatte. Und ich wusste, dass ihm das bewusst war. Genauso bewusst wie mir. »Was – wohin gehst du?« Kaiba zog an mir vorbei, hielt trotz meiner Frage nicht inne. »Ich habe es vorhin schon gesagt. Ich habe zu arbeiten.« Es gab eine Menge, die einfach bei Kaiba keinen Sinn ergab und ich hatte das Gefühl, seine Antwort auf alles war, zu arbeiten. »Sollten wir nicht – was – wir – vorhin –«, brachte ich nur heraus und fuhr mir aufgebracht durchs Haar. Das Gefühl, dass wir miteinander verbunden waren und uns gleichzeitig auf sichere Distanz schoben. Als hielten wir beide die entgegengesetzten Enden eines Besenstiels. Ich setzte ihm nach. »Wir sollten darüber – reden. Was das bedeutet und alles!« Yugi sprach über Probleme und er sagte oft zu mir, dass das half. »Ich wüsste nicht, was es da zu besprechen gäbe. Es war ein Moment einer Geschmacksverirrung. Ein Augenblick, in dem –« Yugi hatte Recht. Wir waren verdammt kompliziert. »Du hast es genossen!«, schmetterte ich an seinen Kopf und zeigte auf seine Brust. Mein Finger zitterte vor Zorn. Wie konnte er so tun, als wäre es nichts. Als wäre es nur passiert. »Ob du es glaubst oder nicht – ich bin auch nur ein Mensch, der –« »Sag nicht – wage es nicht, es einen Fehler zu nennen«, knurrte ich und blieb hinter ihm stehen. Endlich hielt er inne. Mit einem Schnauben auf den Lippen wandte er sich zu mir und fixierte mich. »Warum?« Ich schluckte. Konnte nicht zugeben, dass es sich nicht nach einem Fehler anfühlte. »Ich glaube, ich kann es«, sagte ich nur und er sah mich einen Augenblick lang an, als spräche ich eine andere Sprache, »ich meine – ich glaube, ich kann damit umgehen. Ich weiß es nicht, aber ich werde es versuchen. Ich – weiß, dass mein Vater Unrecht hat. Aber – ich weiß es nur.« Fuchtelte mit meinen Händen. »Und bei dem«, ich zögerte, mein Blick sprang zwischen ihm und mir hin und her, »– was auch immer – weiß ich es nicht nur.« Dass sich in dem Moment alles richtig angefühlt hatte – obwohl mein Leben auf so vielen Ebenen schief lief. Schweigen. Ich verlagerte mein Gewicht von einem Bein auf das andere. Sah ihn an, dann den Flur, die Wände, die Bilder, sah aber nur ihn. Er stand da, die Akte in der Hand. Sein Blick senkte sich auf das Papier. »Ich muss arbeiten. Roland fährt euch nach Hause«, sagte er. Sein Kinn erhoben, sah er zu mir hinab, stand da im Gang zwischen Meisterwerken und geschlossenen Türen, nur wenige Meter von mir entfernt. »Okay.« Ich quetschte das Wort durch meine Lippen. »Gut«, sagte er. Es klang nicht wirklich danach. Dann drehte er sich um – wieder Richtung seines Büros – und ich wandte mich in die andere, nur um nicht auf seinen Rücken zu starren. Er glaubte, das letzte Wort zu behalten. Aber das würde er nicht. Nicht diesmal.   »Wo ist Seto? Was hat er gesagt?« Mokuba fragte als erstes, was sie wohl alle drei wissen wollten. So oder so ähnlich. Ich stapfte ins Wohnzimmer, nachdem ich das Esszimmer leer vorgefunden hatte, und ließ mich neben Yugi und Mokuba auf das Sofa fallen. Wobei das eine unangemessene Bezeichnung für die Ledergarnitur der Sitzlandschaft war. Sie zockten eine Runde, unterbrachen das Spiel aber, als Mokuba mich nicht aus den Augen ließ, ich jedoch seinem Blick auswich. Und so starrte ich gen Snowboard-Fahrer auf den Bildschirm, die mitten in Sprüngen eingefroren waren. »Dass er noch arbeiten muss«, sagte ich, weil es nicht gelogen war. Ich wusste nicht, ob ich Mokubas Augen ertragen konnte. Es war als schnitt es mir ins Fleisch. Ich hatte das Gefühl, Kaiba etwas verraten zu haben, das ich besser für mich behalten hätte. Mit einem langen Blick zu mir ließ Tristan das Spiel weiterlaufen. Abwechselnd spielten wir gegeneinander, saßen nebeneinander, reichten Chips und Eiscreme umher. Es hätte der perfekte Abend sein können. Die letzte Runde. Tristan führte mit knappen hundert Punkten. Ich stopfte mir gerade Schokoladeneis in den Mund, als ich Mokubas prüfenden Blick bemerkte. »Was’n?«, nuschelte ich. Tristan steuerte auf die Zielgerade ein. Yugi knapp dahinter »Mh«, begann Mokuba zögerlich, »ich hab nur – nachgedacht.« Die letzten Sekunden, untermalt von einem mahnenden Ticken. »Worüber?« Tristans Snowboard-Fahrer machte einen Schlenker. Er raste. »Magst du meinen Bruder?«, flüsterte er. Und stürzte in den Abgrund. Ich legte meinen Kopf in den Nacken, stülpte meine Hände über meine Augen und stieß einen viel zu hohen Lacher aus. »Du hast es verkackt, Tris!«, frotzelte ich lautstark. Mokubas Blick folgte mir. Ich wusste, dass er wusste, dass ich seiner Frage auswich. Aber er ließ mich. Es hätte der perfekte Abend sein können. Aber es war so kompliziert.   Mokuba winkte uns, als wir hinten im Wagen saßen und Roland mit uns die Auffahrt verließ. Es war der Sportwagen mit Leder und den Erinnerungen an das Kunstprojekt. »Okay, Joey. Erzähl. Was geht zwischen dir und Kaiba ab?« Tristan wartete nicht einmal die Auffahrt ab. »Was soll schon sein?« Ich schaute aus dem Fenster. Sterne am Himmel oben, die Kluft in meinem Magen hier unten. »Was – was sein soll? Du hast Kaiba – ihr habt – was habt ihr eigentlich getan?« Yugis Augen rutschten von rechts nach links. Er saß zwischen uns und drehte jedes Mal den Kopf, wenn einer von uns sprach. Tris linste über Yugis Strähnen zu mir, während meine Aufmerksamkeit zwischen ihnen und meinen Gedanken wackelte. Was war da eigentlich zwischen uns geschehen? War es plötzlich gewesen? Oder hätte ich es vorhersehen müssen? »Ich weiß es nicht«, murmelte ich. Und warum konnte ich es nicht einmal benennen? »Er meinte, ich soll mich um meine Probleme kümmern«, schnaubte ich, als hätte er mich damit beleidigt. Ich sah, wie Tristan Yugis Blick auffing und nichts sagte.   Am nächsten Tag trottete ich nach der Schule in den Spieleladen. Obwohl es warm war, fehlte die brütende Hitze, die dem Sommer sonst zu eigen war. Die Sonne verdeckt hinter ein paar grauen Wolken, als wollten sie uns daran erinnern, dass wir keine Garantie auf gutes Wetter hatten. Die Tür knarzte, während ich sie hinter mir zuzog. Herr Muto begrüßte mich nicht wie sonst, sondern sprach mit jemandem in seinem Büro – der Rumpelkammer. Ich machte mir nichts draus, sondern wollte gerade in den Lagerraum gehen, als ich gefror, weil ich Kaibas Stimme erkannte. Sofort platzte die Blase um mich herum und sein Duft, seine Berührung, seine Nähe fielen wie ein Kartenhaus über mir zusammen. Ich wollte seine verdammte Krawatte packen und ihn aus dem Laden schleifen und nie wieder sehen – und nie wieder loslassen. Und ihn anbrüllen, was das sollte. Und – da war so ein seltsames Gefühl. Als hätte ich zu viel Eis gegessen und trotzdem Hunger. Herr Muto nickte, während er die Tür öffnete und durch das Zwischenzimmer vorging. »Joey! Du bist schon da! Seto hier hat uns das neue –« Aber es war mir egal, was er was-auch-immer. »Du warst nicht in der Schule«, warf ich ihm an den Kopf. »Wir sehen uns dann nächste Woche.« Mein Kiefer klappte nach unten, als er mich einfach ignorierte und Herrn Muto die Hand reichte, seinen Aktenkoffer in der anderen und an mir vorbeischritt, als gäbe es mich nicht. Ich blieb regungslos, blinzelte und schaute Herrn Muto an, der mir gegenüberstand. Als die Tür einrastete, fuhr ich herum und setzte Kaiba nach. »Hey! Hey, Kaiba!«, brüllte ich und rannte ein paar Schritte, bis ich seinen Arm zu fassen bekam. Und ließ ihn los, als hätte ich mich an ihm verbrüht. Kaibas Blick ätzte meine Haut weg – oder hätte es, wenn es möglich gewesen wäre – wie bei diesen Superhelden–Comics. Nur, dass Kaiba nicht der Superheld gewesen wäre. »Was geht mit dir, Kaiba? Was soll das? Ich dachte, wir wären –« »Ich habe keine Zeit für Kindereien, Wheeler. Übermorgen um 18 Uhr findet eine Konferenz statt. Bis dahin hast du dein Projekt angemessen vorbereitet. Sarah wartet auf deine Entwürfe.« Ich fühlte mich, wie mit Eiern beschmissen. »Bis übermorgen? Bist du verrückt?«, krächzte ich. »Ich habe es dir bereits vor zwei Wochen gesagt, dann vor einer und dann –« Er öffnete die Tür des Wagens und stieg hinten ein. »Erzähl doch keinen Scheiß! Du hast überhaupt nichts erzählt!« Sollte ich wirklich so neben mir gestanden haben und nichts mitbekommen haben? Oder erfand Kaiba gerade den Mittelteil zu einer Geschichte, deren Anfang es nie gegeben hatte? »Wenn dich die Arbeit überfordert, dann –« Er wollte die Wagentür zuziehen, aber ich drängte mich dazwischen. »Was dann? Feuerst du mich?« »Das würde implizieren, dass du deinen Vertragsteil eingehalten hättest. Nein, der Vertrag wäre einfach null und nichtig«, erklärte er und zog mir den Boden unter den Füßen weg. »Es wäre – als hätte es das Ganze nie gegeben?«, fragte ich, wich einen Schritt zurück. Sein Blick wanderte über mein Gesicht. »Genau«, behauptete er und schlug die Wagentür zu. Roland brauste davon und ich konnte nur dem Auto hinterherstarren. Als hätte es das Ganze nie gegeben. Ich ballte meine Finger, spuckte ein paar Beleidigungen auf den Gehweg, so dass Passanten einen Bogen um mich machten und stürzte dann zurück in den Laden.   Herr Muto fragte ein paar Mal, ob alles in Ordnung war. Die eigentliche Frage war eher, was nicht okay war, aber mir stand es nicht nach einem Gespräch, also zuckte ich die Schultern. Herr Muto legte seine Hand auf meine Schulter und sagte nur, dass es Berg auf gehen würde. Dass eine Lösung gefunden, dass mein Vater mir nicht mehr schaden würde. Ja, den gab es ja auch noch. Vielleicht hatte Kaiba Recht. Vielleicht hatte ich genug Probleme – auch ohne ihn.   Gegen Abend stiefelte Yugi durch die Tür. Die Klingel ließ mich hochsehen. Ich stand an der Kasse, zählte gerade die Einnahmen, als er mit einem Grinsen den Laden betrat. »Wo warst du?«, wollte ich wissen. »Ähm – ich war –« Sein Lächeln schwand. »Warum warst du weg?« »Ich –« »Seit wann lässt du mich so hängen?«, jammerte ich wehleidig. Ich bemerkte, dass ich etwas theatralisch wurde, aber es tat gut, sich ein bisschen in Selbstmitleid zu suhlen. Vor allem, wenn einem Seto Kaiba die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte und unsinniges Zeug laberte und einen immer wieder belehrte und – mein Hand robbte an den Geldscheinen, als wären sie daran schuld. »Also – okay. Was ist passiert?« Yugi stellte sich neben mich an die Kasse, stützte sich halb auf den Tresen, mit dem Rücken dran gelehnt. »Was soll passiert sein?« Ein Lächeln zupfte an seiner linken Mundseite. »Was hat Kaiba gemacht?«, fragte er und traf den Punkt, den nur Yugi mit so einer sanften Stimme treffen konnte. Als wäre es in Ordnung, dass er es wusste, obwohl er doch noch gar nicht wissen konnte, was es zu wissen gab. Oder? »Kaiba ist ein Arsch. Ehrlich!«, grollte ich und erzählte, was Kaiba mal wieder behauptet hatte. Yugi legte seinen Kopf zu Seite und schaute mich nachdenklich an. »Übermorgen? Mh. Hast du schon einen Plan?« »Natürlich!« Ich reckte mein Kinn und ballte meine Faust mit den Münzen in der Hand. »Kaiba zu zeigen, dass er sich seine null und nichtig-Sache mal schön in den Arsch schieben kann!« »Das ist wenigstens ein Anfang«, seufzte Yugi und stieß sich vom Tresen, machte ein paar Schritte und mich nervös damit. »Warum benimmt er sich so? Hä?«, murrte ich. »Er ist einfach so – so halt.« Ich wedelte mit meinen Händen und ein paar Scheinen, die ich noch hielt. Yugi wollte gerade etwas sagen, als ich genervt meinen Kopf mit meinen Armen auf dem Tresen ablegte. »Verdammt. Jetzt muss ich nochmal von vorne anfangen«, murmelte ich. »Auf. Ich helf dir«, sagte Yugi, legte eine Hand auf meine Schulter und begann die Kasseneinnahmen zu zählen.   In der Nacht flüsterte ich mit Yugi, was nun zu tun sei. So lange, bis sein Großvater uns schlafen schickte. Ich lag weiter wach, aber ich wusste: Yugi hatte Recht. Jetzt – in diesem Moment – konnte ich nichts tun. Ich müsste bis morgen warten. Und am besten noch ein paar Stunden schlafen. Um fünf Uhr morgens verwarf ich den guten Vorsatz und schlich mich mit Papier und Stift hinten in den Garten. Es dämmerte als ich unter dem Apfelbaum saß und vor mich hin zeichnete. Wenn ich dich verletzen wollte, würde ich nicht das Medium Schere dafür benutzen. Ich wusste das. Er hätte andere Möglichkeiten. Er hatte immer andere Möglichkeiten. Welchen genialen Plan hast du? Ich wollte es ihm zeigen. Egal wie. Du hast Angst. Nein. Meine Finger verkrampften sich um den Stift. Nein. Ich atmete tief ein. Nein. Kaibas Stimme suchte mich heim. Ich schlug die Seite des Blockes um und hörte, wie er seine Brauen heben und seine Lippen kräuseln würde. In seinen Augen läge Spott. Mokubas Augen glichen seinen. Nur der Spott fehlte. Vielleicht wären sie gleich, hätte Kaiba nicht gewonnen. Ich seufzte und strich ein Wort auf dem Papier, zerkritzelte die Skizze, weil es nicht passte, nicht reichte, nicht zeigte, was es sollte. Blätterte ein Blatt weiter. Es klang unsinnig. Tristan würde mir zustimmen. Yugi wäre nachdenklich. Dein Verhalten, Wheeler, ist eine Zumutung für jeden deiner Mitmenschen. Sicherlich ist dir außerdem nicht entgangen, dass du hiermit dein Statement gegenüber Herrn Le widerlegst. Wer würde Kaiba zustimmen? Wen stimmte er nachdenklich? Wer stimmte ihn nachdenklich? Mir fiel niemand ein außer Mokuba. Kaiba hatte sonst keine Freunde. Menschen, die er bezahlte, galten nicht. Das war wie mit facespace-Freunden. Kaiba mit einer Kuchenplatte voller Muffins. Das Bild sprang vor mein inneres Auge und ich gluckste, doch das tanzende Gefühl in meinem Magen verebbte. Du hast Angst. Nicht Angst davor, wegzugehen. Angst davor, nicht anzukommen. Ich rieb meine Augen. Vögel zwitscherten über mir in den Ästen. Ich lehnte mich zurück und ließ meinen Blick in den Himmel wandern. Es gibt Schlimmeres als Schläge, Wheeler. Mein Stift schwebte über dem Papier. An meinen Augen zog eine Wolke vorbei, die das Blau des Himmels trübte. Wann, meinst du, schlägt dich dein Vater wieder? Galle spülte meine Lunge hinauf. Man konnte nie wissen, was kommen würde. Vielleicht nie. Vielleicht am selben Tag, wenn wir uns wieder sahen. Vielleicht nie. Und wenn du dich ihm nicht stellst, wirst du es eines Tages bereuen. Vielleicht. Weil du glaubst, dass er es zurecht gemacht hat. Vielleicht. Ich bin nicht allein und ich war es nie. Was ist mit dir? Es war gegen sechs Uhr, als ich Yugi etwa auf einen Schmierzettel kritzelte und losging. Kaiba war nicht einfach. Seine Gedanken waren wie Kabel, die ineinander verknotet waren. Weil ich weiß, wie es ist. Seine Worte waren wie eine Anleitung auf einer Sprache mit fremden Schriftzeichen. Ich saß in einem Bus, übermüdet und mit Schlaf-T-Shirt auf dem stand I love cookies, einer Hose, die Tris mir geliehen hatte, und einem Skizzenblock, um den meine Finger verkrampften. Weil ich weiß, wie es ist. Ich starrte aus dem Fenster, stieg aus und stapfte meiner Nase nach. Weil ich weiß, wie es ist. Mauern umgaben die Häuser. Ich lief weiter. Der Morgen war mild, doch es würde bestimmt verdammt heiß werden. Weil ich weiß, wie es ist. Ich hielt vor dem Tor und starrte die Klingel an. Wie spät war es inzwischen? Mein Handy zeigte halb sieben. Doch ich regte mich nicht. Weil ich weiß, wie es ist. Mein Finger schwebte über der Klingel. Er würde mich fertig machen mit Worten und Blicken. Er würde mich anschreien oder anschweigen. Und ich wusste nicht, was besser war. Er würde meine Bemühungen in einem Augenblick zermahlen und der Lächerlichkeit preisgeben. Bevor du dich um meine Probleme kümmerst, solltest du dich um deine eigenen kümmern, Wheeler. Weil ich weiß, wie es ist. Doch das hatte mich noch nie davon abgehalten, mich Kaiba zu stellen. Der Klingelknopf drückte gegen meinen Zeigefinger, als ich ihn presste. Es passierte – nichts. Stille. Wahrscheinlich würde automatisch die Polizei verständigt, wenn jemand länger als zehn Minuten vor dem Tor stand – oder drei. Ich senkte die Schultern und schloss die Augen. Sie brannten vor Müdigkeit, welche die Lider nach unten zog. Ich betrachtete meine Skizze und seufzte. Was war nur mit mir durchgegangen? Um diese Uhrzeit – hier – ich! »Was willst du?«, knurrte eindeutig die Stimme Seto Kaibas durch die Lautsprechanlage. Ich hatte einen Satz gemacht und meine Hand auf den Brustkorb gelegt, atmete tief durch, doch die Ruhe wollte nicht zurückkehren. Die Videokameras über dem Tor fokussierten mich. Nicht Angst davor, wegzugehen. Angst davor, nicht anzukommen. »Ich hab gelogen«, murmelte ich. Es war still auf der anderen Seite. »Ich hab gesagt, du wärst reich«, ich stockte. Vielleicht hörte er nicht mehr zu. »Und dass du keine Freunde hättest. Aber«, ich schluckte, starrte auf meine Skizze, als stünden dort die nächsten Worte, doch ich brachte nichts heraus. Wer wusste schon, was Gozaburo mit Kaiba gemacht hatte? Wovor Kaiba seinen kleinen Bruder beschützen musste. Was ihn selbst kaputt gemacht hatte. Seto Kaiba war reich, intelligent, gutaussehend. Und ein arroganter Arsch. Was man darüber leicht vergaß war, dass er ein Mensch war. Er kannte nicht nur Zahlen und Fakten. Auch, wenn er gerne so tat.   Ich wusste nicht, wie ich es sagen sollte, also hielt ich meine Skizze in die Kameras. Sei der, der du sein willst, nicht der, den die anderen in dir sehen, stand über dem weißen Drachen, der sich um eine verdeckte DuelMonsters-Karte schlängelte. Du weißt nie, was als nächstes kommt. Jetzt ist die Zeit, es herauszufinden! Kapitel 33: ... ist kompliziert ------------------------------- __________________________________________   Das Leben ist einfach kompliziert. © Dr. Eskandar Abadi (*1959)   __________________________________________           Seto Kaiba war – das sagte Sarah – einfach vielschichtig. Mokuba bezeichnete es als einfach in seiner eigenen Welt lebend. Tristans Ansicht nach war er einfach eigen. Yugi meinte, dass er eben einfach nicht dem Durchschnitt entsprach. Keiner von ihnen hatte Unrecht. Aber sie vergaßen zwei Dinge. Erstens. Seto Kaiba war nicht einfach. Zweitens. Seto Kaiba war komplizierter.   »Und kein Konjunktiv Zwei, Wheeler. Ich bin reich«, entgegnete er süffisant über den Lautsprecher. In dem Moment, als ich meine Augen verdrehte, öffnete sich das Tor.   Kaiba saß mit einem Hemd am Schreibtisch, der den Blick zum Fenster führte, und füllte seinen Aktenkoffer mit Dokumenten, als ich eintrat. Den Skizzenblock vor meiner Brust haltend, als könnte er mich vor Kaiba abschirmen. »Ich habe schon daran gezweifelt, dass du weißt, wie man eine Klingel betätigt«, höhnte er. »Du hast mich beobachtet?«, hakte ich nach und blieb an der Tür stehen, verlagerte mein Gewicht von einem Bein auf das nächste. »Mach dich nicht lächerlich. Roland hat mich benachrichtigt.« »Lässt du ihn auch mal schlafen? Und du schläfst also wirklich mit Hemd und Krawatte?«, frotzelte ich, als er sich umdrehte, was ihm nicht einmal ein Wort entlockte. Ich machte ein paar Schritte auf ihn zu, überlegte, ob ich mich nicht einfach setzen sollte. Meine Beine verlangten ein Bett. Eigentlich verlangte alles an und in meinem Körper nach einem – nur mein Verstand wehrte sich. »Was machst du?«, wollte ich wissen und betrachtete, wie Kaiba weiter Akten in seinen Koffer legte. »Akten in meinen –« »Schon klar. Und warum machst du das?« Er erwiderte nichts, als wäre klar, warum er das machte. »Wirklich jetzt. Warum machst du das?« Mein Blick huschte aus dem Fenster. Die Skizze noch immer in meinen Fingern, presste sie an meinen Bauch, als könnte sie mich vor Kaibas Worten schützen. »Auf dem Weg zur Schule und zurück zur KC ist genug Zeit, um zu arbeiten.« Ich kam der Müdigkeit entgegen und ließ mich auf den Schreibtischstuhl fallen. Nur für einen Moment. Meine Augen brannten, aber ich weigerte mich, sie zu schließen. »Ich werde es nicht tolerieren, wenn du während der Konferenz einschläfst, Wheeler. Meine Firma ist nicht die Schule. Wenn du deine schulische Ausbildung auf die leichte –«   Als ich aufwachte fuhr ich hoch. Irgendwo zwischen leichte und Schulter war ich weggedöst. Der Mantel raschelte zu Boden. Mein Nacken knackte, als ich ihn bewegte und mein Blick den Raum absuchte. Aber ich war allein. Allein in Seto Kaibas Arbeitszimmer. Ich erhob mich, bückte mich, um Kaibas Mantel vom Boden aufzuheben, als jemand die Tür öffnete. Sarah trat mit einem Kaffee hinein. Als sie bemerkte, dass ich nicht mehr schlief, schlich ein Lächeln auf ihre Lippen. »Seto meinte, es würde dir gut tun zu schlafen.« Ich streckte mich. »Das hat er gesagt?« »Nicht mit diesen Worten. Er sagte etwas davon, dass man schlafende Hunde nicht wecken soll.« Sie grinste, während ich Geldsack grummelte und drückte mir die Tasse in die Hände. »Mach dich frisch, trink das und dann – wir haben viel zu tun.« »Eigentlich –« Mein Blick blieb an ihrer Uhr am Handgelenk zwischen all den Armreifen hängen. »Eigentlich müsste ich jetzt in der Schule sein«, wandte ich ein. Und ganz ehrlich. Was machte sie ohnehin hier? Was machte ich hier? »Oh, natürlich«, entwich ihr. »Seto hat dich für heute entschuldigen lassen. Er wird dir alle Informationen zukommen lassen.« Sie ließ sich auf dem Schreibtischstuhl nieder, wo ich noch vor wenigen Augenblicken gesessen hatte. Ich stand einfach nur da. Mitten in diesem Raum. Kaibas Mantel im Arm. Seto Kaiba hatte mich in der Schule entschuldigen lassen. Hatte mich hier schlafen lassen. In seinem Zimmer. In seinem Zuhause. Ich atmete erst einmal tief ein. »Seto hat mich heute Morgen angerufen«, erzählte sie. »Er meinte nur, es wäre an der Zeit, die Werbekampagne voranzutreiben. Dass du einen entscheidenden Schritt vorangekommen wärst.« Und atmete tief aus. Sie deutete auf meine Skizze auf dem Schreibtisch und ich folgte ihrem Fingerzeig. »Und, dass es an der Zeit wäre, herauszufinden, was als nächstes käme.« Ich sog Luft ein. Ihre Worte klangen nach mehr, aber ich wusste nicht, nach was, ich wusste aber, dass sie Recht hatte. Also zog ich den anderen Stuhl näher.   Den gesamten Vormittag diskutierten wir über Jugendliche, Spieleabende, Freunde, Firmen, Skizzen, Spiele und Werbung. »Natürlich, es ist immerhin eine Werbekampagne. Ein Werbespot. Das gehört dazu. Yugi Muto wird –« »Yugi?« »Und du. Ihr beide würdet sensationell vor der Kamera aussehen. Ihr verkörpert alles, was das Turnier transportieren soll. Freundschaft, Loyalität, Spaß, Vertrauen –« »Kaiba und Mokuba würden auch sensationell vor der Kamera aussehen«, behauptete ich, als der Gedanke an Kaibas Lächeln etwas in mir zum Schwingen brachte – etwas in meinem Bauch. Dieses Lächeln, das nur seinem kleinen Bruder galt. »Seto möchte Mokuba möglichst aus den Medien heraushalten«, erwiderte Sarah und bedachte mich mit einem Blick, den ich nicht wirklich zu deuten wusste. »Ja, das kann ich verstehen«, murmelte ich. Dieses Lächeln, das mich nötigte, verlegen wegzuschauen, weil es so intim war, dass alles andere unangemessen schien. Dieses Lächeln gehörte nicht in die Öffentlichkeit. »Seto geht mit Mokuba in einer ganz besonderen Weise um, nicht?« Sarah legte ihren Finger an ihr Kinn und betrachtete mich nachdenklich. Wie sie über Kaiba sprach, erinnerte mich daran, dass sie ihn schon eine kleine Ewigkeit kennen musste. »Es scheint, dass er niemandem sonst eine solche Nähe gewährt«, sagte sie weiter. Etwas in meinem Bauch erstarrte. Ich nickte langsam. Sie hatte wohl Recht. Niemandem galt Kaibas offene Zuneigung. Niemandem außer Mokuba. Dann schnaubte ich. »Man weiß nie, woran man bei ihm ist. Selbst nach jahrelanger Zusammenarbeit«, sprach sie weiter. Ich streckte mich, schaute aus dem Fenster, als könnte ich so Sarahs Blick entkommen. »Aber bei wem weiß man das schon?«, warf sie in den Raum. »Wir alle haben doch unsere Widersprüche. Manchmal muss man sich durch diese kämpfen, um die wahre Bedeutung zu erfassen.« »Ja«, murrte ich, »aber bei keinem anderen Menschen habe ich das Bedürfnis, danach weiter von ihm entfernt zu sein, als davor.« »Danach?«, echote Sarah. Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her. Mein Blick flog vom Fenster zu ihr, dann auf die Skizze, zurück zum Fenster. Irgendwo dazwischen ihre Augen, die mich nicht entkommen ließen. Ich hatte das Gefühl, zu viel gesagt zu haben. »Ich meine nur, dass er verdammt kompliziert ist und nie sagt, was er will.« Ich verschränkte meine Arme und wünschte, ich hätte meine Worte zurücknehmen können. Es war, als hätte ich mich vor jemandem nackt ausgezogen, der drohte, mich auszulachen. Doch statt einer amüsierten Bemerkung, beobachtete Sarah mich mit ihren Augen, strich eine Strähne ihres blonden Haares aus dem Gesicht und fragte etwas, das mich meinen Mund öffnen und schließen ließ, ohne eine genügende Antwort. »Was willst du denn?«   »Ich – ja, natürlich – also –« Mein Kiefer mahlte, nachdem ich bemerkte, dass nichts Sinnvolles kommen wollte. Verlegen senkte ich den Blick, traf auf meine Skizze, auf all die anderen Zeichnungen, die wir in den letzten Stunde produziert hatten, Post-its, die auf dem Schreibtisch klebten, Schmierzettel mit Ideen für Werbespots, Postern, Radiowerbung. »Warum gehst du davon aus, dass er weiß, was er will, aber du weißt nicht, was du willst?« Ich fuhr hoch, machte Schritt, nur um wieder stehen zu bleiben und weiterzuschreiten, fuchtelte mit meinen Händen, weil Worte nicht genug waren. Mein Brustkorb voller Gefühle, mein Kopf voller Gedanken. »Weil – also – er ist – verdammt nochmal Seto Kaiba!« Als mein Blick ihren einfing, schien sie nicht verärgert oder überrumpelt. Sie lachte nicht oder wischte diese Erkenntnis mit einer Handbewegung fort. Nein. Sarah nickte ernst. »Oh, ja. Und das sichert Milliarden, wenn es um Dollar geht. Aber er ist genauso ein Teenager wie du.« Das sog die Luft aus meinen Lungen. Und die Gedanken aus meinem Kopf. Wo eben noch so viele Argumente gewimmelt hatten, dass Kaibas Verhalten alles andere als okay war, sein Vorgehen alles andere als angemessen, herrschte plötzlich ein seltsames Verständnis. Es überrumpelte mich in seiner Einfachheit. »Du meinst – er weiß nicht, was er will?« Sarah lehnte ihren Oberkörper zu mir und legte eine Hand auf meinen Arm. Ihre Amrreifen klirrten. Ich starrte ihre perfekt manikürten Fingernägel an, doch spürte ihren Blick, als jedes ihrer Worte direkt in meine Lunge sickerte. »Er ist ein Teenager, Joey. Viele Menschen vergessen das. Er lässt es Menschen vergessen durch seinen Intellekt und sein Charisma. Sei du einer der wenigen Menschen, die es nicht vergessen.« Ich schluckte und nickte langsam, während Worte über meine Lippen rollten, die so nicht geplant waren. »Wir haben uns geküsst.« Stille. Ich kaute auf meiner Lippe, starrte die Skizzen an, als versuchte ich sie mir einzuprägen, dabei sah ich sie nicht einmal. Vor mir sah ich nur Kaiba. Seine Augen, kurz vor dem Kuss, seine Augen, danach. Irgendetwas hatte sich verändert, aber ich konnte es nicht greifen. »Ich weiß«, erwiderte sie sanft.   Mein Blick schoss zu ihr und ich stammelte irgendwelche Silben, die kein zusammenhängendes Wort ergaben. Sarah legte eine Skizze zur Seite und lächelte mich an. »Er hat mich danach angerufen.« »Was – ich mein – was hat er gesagt?« »Er meinte, er würde zu einem hormongesteuerten, emotionalen Menschen mit pathetischen Teenagerproblemen. Er klang beinahe zufrieden – für Seto.« Ihre Lippen hoben sich weiter und ich schnaubte amüsiert. Das klang ganz nach Kaiba.   »Warum – aber warum behandelt er mich dann wie einen –« Ich raufte mir die Haare. »Wie einen verdammten Praktikanten? Als wäre er mein – und ich – ich meine – wie seinen – ich dachte, wir wären so etwas wie Freunde. Warum können wir nicht einfach – darüber reden?« Es wollte einfach keinen Sinn ergeben. Doch sie lachte auf. Es war kein herablassendes Lachen, sondern eines, das zeigte, dass Unglaube und Amüsement eine seltsame Mischung waren. »Er weiß nicht, wie er mit dir umgehen soll. Er kann nicht darüber reden. Er weiß nicht, wie. Also was macht er? Er macht das, womit er sich auskennt. Er behandelt dich wie einen Angestellten.« Ich betrachtete sie mit einem Gefühl, dass Unglaube und Amüsement vereinte. »Und – was mach ich jetzt? Ich mein – ich und er?« Sie lehnte sich zu mir, lächelte und antwortete, als wäre es das Banalste der Welt. »Teenager sein.« Ich runzelte die Stirn.   Gegen Nachmittag stürmte Mokuba in das Zimmer und nötigte uns dazu, mit ihm zu essen. Während uns der Junge mit Belanglosigkeiten amüsierte, schlüpfte in meine Gedanken, wie unähnlich ähnlich Mokuba Kaiba war. Seine Worte waren andere, der Ausdruck seiner Augen war ein anderer, seine Sorglosigkeit war anders – und trotzdem. Er hätte niemals erfolgreich verneinen können, der Bruder von Seto Kaiba zu sein. Das machte die Sache mit Kaiba nicht einfacher. Aber Kaiba menschlicher.   Wir kehrten zurück in das Arbeitszimmer, bastelten an der Vorstellung unserer Ideen, erstellten eine virtuelle Präsentation und Sarah ließ mich alles hundert Mal durchgehen. Vielleicht waren es auch nur sieben Male.   Gegen Abend stand Kaiba im Zimmer, stellte den Aktenkoffer auf den Boden und verlangte Ergebnisse. Sarah begrüßte ihn mit einem Lächeln und der Frage, wie es heute seinen Hormonen ginge. Er verdrehte die Augen und ich beobachtete die beiden, wie ein Gast, der im falschen Zimmer gelandet war. »Morgen ist die Konferenz. Ihr tätet gut daran, niemanden zu blamieren.« Natürlich sagte er es nicht, aber es war offensichtlich, wen er alles meinte. Und dass er keinen in diesem Zimmer ausnahm. »Ich mache mir keine Sorgen darum«, erwiderte Sarah gut gelaunt. Das hätte ich nicht unterschrieben. Bei dem Gedanken an all die Blicke, die Männer mit Hemden und Krawatten, die Blicke und die Nicht-Blicke wurde mir ganz anders. »Wir haben alles soweit vorbereitet. Selbst die Präsentation ist fertig. Die Konferenz kann kommen«, sagte sie und zwinkerte mir zu. Ich konnte es nicht einmal ausstehen, Referate vor der Klasse zu halten. Wie sollte ich in einem Teich voller alter Männer bestehen, die geradezu erwarteten, dass ich versagte? Vielleicht hatten sie Recht. Vielleicht blamierte ich nicht nur mich und Sarah, sondern auch Kaiba. Vielleicht wäre es besser, wenn Sarah die Präsentation übernahm. Nicht, dass es das erste Mal war, dass ich ihr das gesagt hätte. Doch sie hatte nur gelächelt und behauptet, ich sollte nochmals von vorne anfangen. Manchmal müsste man einen Schritt zurückmachen, um zwei voran zu gehen.   »Gut, ich mache mich auf den Weg«, sagte Sarah. »Ich sollte wohl auch –«, begann ich langsam, doch Kaiba hielt mich zurück. Sarah stand auf und bedeutete Kaiba, dass sie selbst herausfand. Es wäre ja nicht das erste Mal. Sie lächelte mich an, als versuchte sie mir so eine Portion Selbstvertrauen in meine Glieder zu pumpen und schloss dann die Tür hinter sich.   »Was is’n?«, wollte ich wissen, dabei fielen mir sofort hundert Sachen ein. Eine ganz besonders. Kaiba öffnete in aller Ruhe seinen Aktenkoffer, zog einen Hefter mit ordentlich gelöcherten Arbeitsblättern und Papieren mit Vermerken in seiner Handschrift hervor und drückte ihn mir in die Hände. »Nicht, dass du es dir wirklich ansehen würdest«, behauptete er und stellte dann seinen Laptop auf den Schreibtisch. Ich betrachtete seine Unterrichtsnotizen. »Seit wann schreibst du mit?«, frotzelte ich. »Seit dem du dich auf eine Konferenz vorbereiten musst und deswegen Unterricht verpasst. Der Tag wird übrigens als berufspraktische Orientierung entschuldigt.« Ich hob meine Augenbrauen. Er fuhr sich durchs Haar und war noch mit irgendwelchen Akten beschäftigt, sah mich keine Sekunde lang an, zog dauernd Dokumente hervor, verglich Graphiken und beugte sich über Skizzen. »Mh, wie auch immer. Danke«, murmelte ich zu Kaibas Rücken. »Wolltest du sonst noch –« »Wir sehen uns dann morgen, Wheeler. Sei pünktlich. Gute Nacht.« Er hielt nicht einmal inne. Es klang weniger nach Gute Nacht als nach Verschwinde endlich. »Also dann – gute – Nacht.« Einen Moment lang dachte ich, er würde mich nochmals aufhalten. Aber er tat es nicht.   »Hast du wirklich erwartet, dass er plötzlich – naja – un-kaibahaft wird? So ein dauernd grinsender, leicht durchschaubarer Typ? Einer, der über seine Gefühle labert und über so ein Zeugs redet?«, fragte Tristan. Wir saßen mittags in der Mensa, während ich die ein oder andere Matheaufgabe von Yugi abschrieb und Tristans Lektüre über mich ergehen ließ, nachdem ich mich beschwert hatte, dass Kaiba so kompliziert war. »Nö«, gab ich zu. »Aber – ich weiß nicht. Ich mein, wir haben nicht einmal – wir haben kein Wort über – darüber verloren. Er ignoriert das voll.« »Worüber?« »Darüber!« »Achso, du meinst, dass ihr euch geküsst habt?« »Psssscht!«, brachte ich Tris zum Schweigen und schaute mich um, ob uns jemand belauschte, als wären wir auf einer Top-Secret-Mission. »Warum hast du es nicht einfach zur Sprache gebracht?«, wollte Yugi wissen und schlurfte an seiner Limo. Ich betrachtete ihn, als hätte er mir vorgeschlagen, in der Kaiba Corporation mit ihm eine Rumba zu tanzen, während wir nichts außer einem Bikinioberteil und einem Baströckchen trugen. »Weil er dann denken könnte, es wäre mir wichtig«, antwortete ich, »aber das ist es nicht. Ich wollte mit ihm darüber reden. Ich habe es ihm schon gesagt, dass wir wahrscheinlich darüber reden sollten, aber er wollte nicht darüber reden. Besser. Er hat es eine Geschmacksverirrung genannt. Wenn ich wieder davon anfange, könnte er denken, dass ich mit ihm drüber reden wollen würde. Und das soll er nicht.« »Er soll nicht darüber reden, aber du willst, dass du mit ihm darüber redest?«, hakte Tristan verwirrt nach. »Quatsch. Ich will nicht, dass er denkt, dass ich mit ihm darüber reden will, weil es mir wichtig wäre. Ich will nur mit ihm reden, damit ein paar Sachen klarer sind, ohne, dass ich davon anfange zu reden.« Yugi wechselte einen Blick mit ihm. »Und du beschwerst dich, dass er so kompliziert ist«, seufzte Tristan und fuhr sich durchs Haar.   Nach der Schule stand ich im Spieleladen und trat von einem Fuß auf den anderen. Meine Merkkarten in der Hand, als hätte ich sie nicht schon alle hundert Mal durchgekaut. Aber ich hatte das Gefühl, sobald ich sie weglegte, alles zu vergessen, also versteiften meine Finger um sie, als könnte ich die Punkte so in meinem Kopf behalten. Am Nachmittag schlängelte sich Sarah zwischen ein paar Schülern im Laden hindurch und grinste mich triumphierend an. »Auf in den Kampf, Schätzchen«, sagte sie und zeigte mir drei verschiedene Ausdrucke. Mit einem Blick auf die Papiere erkannte ich, dass es sich um meinen Entwurf handelte. »Das ist, was wir suchen. Mach dir keine Sorgen. Es wird wunderbar werden.« Sie klang, als wären wir auf dem Weg in den Freizeitpark, als freute sie sich auf die Konferenz. »Ja«, erwiderte ich kurzangebunden und konzentrierte mich. Ich befürchtete, ich würde mich sonst über ihre Schuhe erbrechen. Herr Muto wünschte mir viel Erfolg und lächelte mir zu, während ich glaubte, mich auf dem Weg zu meiner Hinrichtung zu befinden.   Vor dem Laden wartete ein schwarzes Auto, das viel zu teuer für meine abgetragenen Jeans war. »Wir haben noch knapp eine Stunde, Schätzchen. Keine Panik.« Ich antwortete nicht.   Die Kaiba Corporation erschien mir größer zu sein als jemals zuvor. Die Zentrale ragte hinauf in erschwindelnde Höhen und ich glaubte, dass das Gebäude um sich kreiste. »Komm schon, Joey! Nicht trödeln!«, flötete Sarah, als könnte sie es nicht erwarten. Ich folgte ihr. Drinnen begrüßten uns die Empfangsdame und ein paar Kollegen, die Sarah zunickten. Ihre neugierigen Blicke blieben an meinen Jeans und Schuhen hängen. Ich knibbelte an meinem T-Shirt-Saum. Menschen hetzten an mir vorbei. Ihre Absätze klackerten. Menschen riskierten einen Blick auf ihre verdammt teuren Uhren. Ihre Blicke rasten weiter. Menschen tippten auf ihren Phones und Tablets herum. Ihre Finger jagten über die Bildschirme, während sie durch die Gänge hasteten. Es war voll und warm und ich gehörte nicht hierhin. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte, hatte keine dringenden Geschäfte zu erledigen. Meine Schuhe glänzten nicht.   Sarah zwinkerte mir zu und erzählte etwas von Skizzen und wunderbar. Wir quetschten uns in einen Lift. Die Männer hoben ihre Augenbrauen, wenn sie mich sahen. Sarah drückte den Kopf. Eine automatische Stimme flötete, dass sich die Tür schloss. In den nächsten Stockwerken strömten die Männer aus dem Aufzug, einer stieß mich an und hastet ohne ein Wort weiter. Als hätte er keine Zeit dafür, als wäre ich es nicht wert. Ich verkniff mir das Idiot. Der Lift trug uns bis in eine der oberen Etagen, wo die Gänge unerwartet still waren. Ich erkannte erst wieder, wohin wir unterwegs waren, als wir vor Sarahs Büro standen.   »So – Schätzchen«, begann sie und zog mich durch die Tür. Mich begrüßte das organisierte Chaos, das ihr Büro beherrschte. Skizzen über dem Schreibtisch, an den Wänden, den Whiteboards, Post-Its an den Wänden, Poster und Flyer an den Whiteboards, Bilder an den Wänden, Zettel auf dem Schreibtisch – »Ahja, hier ist auch schon die Kleidung. Wunderbar – genau wie ich Roland beauftragt hatte.« Auf dem Couchtisch in der Ecke standen Kartons – längliche, große, kleine – zwischen Poster, Skizzen und Bildern. Armani, Joop, Versace stand darauf. »Probier sie an. Los, los!« Sarah klatschte in ihre Hände und lächelte mich mit ihrem breiten Lächeln an. »Ich komme in zehn Minuten wieder! Die Tür dort führt ins Bad. Da gibt es auch einen Spiegel.« Damit ließ sie mich und die Boxen alleine, die ich widerwillig öffnete. Ich sank das Sofa hinab und starrte die dreiteiligen Anzüge an, die Krawatten, die Schuhe, die Hemden. Sie sahen alle gleich aus. Für mich. Also schnappte ich mir irgendetwas und zog es an. Das Hemd kniff, die Hose spannte, die Schuhe. Die Schuhe waren das Schlimmste.   Exakt zehn Minuten später rauschte Sarah in das Zimmer, brachte den frischen Geruch von Kaffee hinein und blieb wie angewurzelt stehen. Worte wie Klasse und Stil schwebten im Raum. »Wunderbar!« Sie strich vorne über das Hemd. »Echt? Das kneift alles! Die Schuhe sind zu eng und –« »Im Vergleich zu deinen Turnschuhen? Joey, die sind so ausgelatscht, dass die jetzt wahrscheinlich zwei Größen weiter sind als ursprünglich. Und deine T-Shirts sind verwaschen. Mh. Statt des schwarzen Anzuges solltest du den in Anthrazit anprobieren. Passt besser zu deinem Teint, Schätzchen. Ach, und diese Krawatte hier.« Sie legte mir die weinrote Krawatte über den Arm und kniff mir in meine Wange. Ich verzog den Mund. »Ernsthaft? Ich sehe aus wie – wie – einer von denen!«, erklärte ich ihr verzweifelt und wedelte mit den Armen. Sie lächelte und nickte. »Genau, Schätzchen, ganz genau.« Ich seufzte und sie setzte sich an ihren Schreibtisch, überschlug die Beine und betrachtete mich mit der vor ihrem Mund schwebenden Kaffeetasse in ihren Händen. »Schön. Und welcher davon ist anthrazit?«, grummelte ich. Ich hätte schwören können, dass alle in derselbe Farbe gewesen waren. Sarah deutete mit einem Grinsen auf den von Armani und ich verschwand resigniert ins Bad.   Ich stieg in die Hose, zog die Krawatte um meinen Hals, erdrosselte mich halb damit und riskierte einen Blick in den Spiegel. Rote Flecken zierten meine Wangen, Haarsträhnen hingen mir in die Stirn und die Krawatte hing mir halb über der Brust. »Das ist doch bescheuert!«, rief ich verzweifelt durch die Tür. »Ich – das sieht beknackt aus. Ich seh aus wie ein Pinguin, der sich verirrt hat.« Sarah öffnete die Tür und betrachtete mich, nahm mir die Krawatte aus der Hand und band sie für mich. »Joey, du wirst das wunderbar hinkriegen. Und weißt du auch warum?« Ich schob meine Lippen nach vorne und deutete ein Kopfschütteln an. »Weil du es geschafft hast, dass Seto dir zuhört. Du hast das geschafft, wie schwer kann es also sein, die anderen da oben zu überzeugen?« Sie machte einen Schritt zurück und prüfte meinen Look. Ich fühlte mich seltsam verwundbar. Dann lächelte sie und deutete auf den Spiegel. »Und jetzt schau nochmal genauer«, flüsterte sie. Mein Blick folgte ihrem Fingerzeig und ich erkannte mich kaum wieder. Da stand kein Loser, kein Idiot, kein Bengel, sondern ein junger Mann, einer, der andere dazu brachte, zuzuhören.   Mit jedem Schritt bröckelte die Fassade. Als Sarah die Tür zum Konferenzraum öffnete, waren von meinem Selbstbewusstsein nur noch Brocken übrig. Augenblicklich richtete sich die Aufmerksamkeit auf mich. Mein Auftritt ließ alle verstummen. Mein Herz rutschte mir in die Hosen. Mein Atem beschleunigte sich. Hätte Sarah den Raum nicht nach mir betreten, wäre ich rückwärts hinaus gestolpert. Mein Blick schweifte über die Runde: Herren in Anzügen, Frau Mathieu. Ich erblickte Herrn Tanaka, der mir kurz zunickte. Auf dem Tisch standen Gläser und Wasserfläschchen. Die Szene wirkte seltsam vertraut und beängstigend. Kaiba saß am Kopf des Tisches in einem breiten Schreibtischsessel. Sein Charisma nahm den Saal ein, überstrahlte die anderen Anwesenden und riss eine Kluft zwischen ihm und mir auf, die mir schmerzhaft ins Bewusstsein rückte, wie wichtig er war – und wie unbedeutend ich. Nichts Neues. Doch es stach mir in die Brust – immer wieder. Ich schluckte und folgte Sarah. Rechts und links neben Kaiba waren noch Plätze frei, als traute sich niemand, ihm zu nahe zu kommen. Ich verstand wieso. Seine Nähe schien einen zu verschlingen. Die Krawatte war zu eng. Ich versuchte sie vergeblich zu lockern. Kaibas Blick brannte sich durch den Raum in meine Augen, während ich zu ihm schritt, meine Merkkarten zwischen den Fingern meiner Rechten. Und für eine Sekunde schien es, als gäbe es nur ihn und mich, weil all seine Aufmerksamkeit allein mir galt.   »Beginnen wir mit der Sitzung«, durchdrang seine Stimme den Saal, als wir neben ihm saßen. Sein Blick wanderte zurück auf die Ordner vor sich. Der Moment zerriss. Ein dicklicher Mann sprang auf, schaltete eine Bildschirmpräsentation an und dozierte über Zahlen und Graphen und Bilder, die glückliche Teenager zeigten mit Spielkarten in den Händen. Ich runzelte die Stirn und fragte mich, ob hier jemals jemand – abgesehen von Kaiba und mir – das Spiel überhaupt gespielt hatte.   »Dankeschön, Herr Young. Als nächstes. Herr Wheeler präsentiert heute die Werbekampagne das anstehende Turnier betreffend.« Kaibas Worte ließen mich auffahren, als hätte mir jemand einen Stromstoß gegeben. Sarah nickte mir zu und alle Blicke wanderten zu mir. Mein Herz trommelte in meinen viel zu engen Schuhen, mein Magen schob sich hoch in meinen Hals, als ich neben den Beamer trat und glaubte, mich über meine Merkkarten zu erbrechen.   »Ja, also –« Ich stand da, meine Hände schwitzten. Zielgruppe und Onlinemarketing stand auf der ersten Karte. »Die Kampagne – also die Werbekampagne soll junge Menschen ansprechen – ähm – also Jugendliche. Schwerpunkt zwischen 14 und 19 Jahren. Das heißt, dass –« Einer der Männer begann auf sein Phone zu schielen. Die anderen starrten aus dem Fenster, an die Wand, in ihre Gläser. Frau Mathieu lächelte mir leicht zu. Kaibas Mimik war blank. Die Powerpointpräsentation hinter mir unterstrich meine wichtigsten Schlagwörter. »Das heißt, dass das Onlinemarketing unsere wichtigste Werbemaßnahme sein wird.« Hinter mir leuchteten die wichtigsten Social Media Websites und Suchmaschinen auf. Skizzen stand auf der zweiten Karte. »Unsere Skizzen –« »Lächerlich«, hörte ich jemanden flüstern. Die Buchstaben tanzten vor meinen Augen, ich blinzelte und atmete tief ein. »Unsere Skizzen zielen darauf ab, die Jugendlichen dort abzuholen, wo sie gerade sind.« »Schwach«, murmelte jemand. Ich brauchte keine drei Versuche, um zu wissen, wer. Herr Les Gesicht höhnte mir entgegen. Das Blut rauschte in meinen Ohren, ich spürte Hitze auf meinen Wangen. Mireille-Fabienne Mathieus Gesicht tauchte vor meinen Augen auf. Sie nickte mir zu. »Wie Sie hier sehen können –« Ich drehte mich zur Projektionsfläche und deutete auf eine Vergrößerung der Skizze. Langeweile, Abwesenheit, Ignoranz spiegelte auf den Mienen der Anwesenden. Sarahs Lächeln schwächelte. Kaibas Mimik war teilnahmslos. Als langweilte er sich. Fühlten sich so unsere Lehrer, wenn sie in der Klasse vor uns standen? »– sollen die – also –« Ich versuchte, ruhig zu bleiben. Aber Panik durchströmte mich. Es funktionierte nicht. Sie verstanden nicht, was ich sagen wollte. Ich wusste selbst nicht mehr, was ich sagen wollte. Dabei hatte es so durchdacht und überzeugend geklungen, als Sarah es mit mir durchgegangen war. Es waren ihre Worte auf den Merkkarten. Wenn auch in meiner Schrift. »Ach, Scheiß drauf«, brummte ich. Jemand japste und sog empört Luft ein. Irritierte Blicke, blanke Gesichter, Frau Mathieu, die gespannt lauschte und dann Kaiba, der plötzlich nicht mehr teilnahmslos wirkte. Ich zog die Krawatte auf und hatte endlich das Gefühl, frei atmen zu können, stützte mich auf der Lehne meines Stuhles ab und deutete auf einen der Anzugsherren. »Herr – Sie da. Herr Young. Was hab‘n Sie sich gewünscht, als Sie so 15 war‘n?«, wollte ich wissen. »Also – ich – das ist schon einige Jahre her.« »Ja, offensichtlich«, erwiderte ich verschmitzt. Jemand erstickte ein Lachen. »Was hab‘n Sie sich gekauft als Sie 15 waren? Was hab‘n Sie zu Ihr‘m 16. Geburtstag geschenkt bekommen? Was hab‘n Sie zu Weihnacht‘n gekriegt?« Stille. Er überlegte, legte seinen Kopf schräg, dann schüttelte er den Kopf. »Ich erinnere mich nicht«, gab er zu. »Und Sie?«, fragte ich einen anderen in der Runde und noch einen. Sie gaben zu, sich nicht an konkrete Geschenke zu erinnern. »Was hat Ihre Familie zu Weihnachten gemacht? Woran erinnern Sie sich?«, fragte ich weiter und deutete auf Herrn Tanaka. »Ein großes Familienessen. Ich erinnere mich, dass wir stets Lamm aßen und die fünf Gänge sich zogen, weil wir erst danach bescherten.« Amüsiertes Lachen. »Und was hab‘n Sie danach ausgepackt?« Gespanntes Schweigen, doch dann verzog er seine Mundwinkel steif nach oben. »Daran erinnere ich mich nicht mehr.« Ich nickte ihm zu. »Sehen Sie. Es geht nicht drum, den Kids etwas zu verkauf‘n.« Ich drehte mich um, stieß mich vom Stuhl ab und zeigte auf die Skizzen auf der Projektionsfläche. »Um was sollte es denn hier sonst gehen?«, fragte Herr Le ungeduldig. Ich wandte mich zu ihm um und grinste. »Es geht darum, sie glücklich zu machen.« Nicht nur Herr Le, auch etliche andere starrten mich an, als wäre ich völlig von der Rolle, doch ich zuckte die Schultern, als wäre es offensichtlich. Mireille-Fabienne Mathieu lächelte mir zu. Ich erwiderte es. Herr Miller lehnte sich zu Herrn Le und flüsterte ihm etwas zu, was diesen seine Stirn runzeln ließ. »Das, was alle Teenager woll‘n ist einen Platz, wo sie hingehör‘n, wo sie endlich mal anerkannt werden, wo sie nen Tag lang nicht ihr‘n Kopf über die verdammten Erwartungen oder Jobs, Abschlüsse und Erwachsenwerden zerbrechen müss‘n.« Hinter mir zeigte die Powerpointpräsentation meine Skizze. Sei der, der du sein willst, nicht der, den die anderen in dir sehen, stand über dem weißen Drachen, der sich um eine verdeckte DuelMonsters-Karte schlängelte. »Diese Skizzen versprech‘n genau das. Keine Geschenke, an die man sich später sowieso nicht mehr erinnert, sondern eine Zeit, eine gute Zeit, die im Gedächtnis bleibt – mit Familie und Freunden und so.« Ich deutete auf die Sätze darunter. »Aber es geht um mehr.« Du weißt nie, was als nächstes kommt. Jetzt ist die Zeit, es herauszufinden! »Es geht auch darum, keine Angst vor der Zukunft zu haben.« Stille. Dann begann jemand zustimmend auf die Tischoberfläche zu klopfen. Ich spürte, wie ein Lächeln meine Mundwinkel nach oben zog, als die Anwesenden einstimmten. Herr Miller trat nach vorne und lenkte die Aufmerksamkeit nur schwer von mir auf sich. Ich ließ mich auf meinen Platz nieder und spürte, wie ein Gewicht von meinen Schultern rutschte. Frau Mathieu strahlte mich von gegenüber her an. Ich strahlte zurück. Kaiba warf mir einen Blick zu, sagte aber nichts, verengte nur die Augenlider, während er mich fixierte und dann seine Augen wieder nach vorne richtete, als hätte ich nichts geleistet. Enttäuschung überschwemmte meinen Magen.   Nach der Konferenz kam Sarah zu mir klopfte ungesehen auf meine Schulter und flüsterte ein »Wunderbar, wunderbar« in mein Ohr . Herr Miller rückte seine Fliege zurecht, ehe er auf mich zutrat und in ein Gespräch verwickelte. Herr Suzuki folgte. Zwei weitere Herren schlossen sich an und stellten mir Fragen über die Konzeption und konkrete Medien. Ob man einen Animespot entwickeln würde, ob man meine Aussage besser im Radio hören oder im Fernsehen sehen sollte – vorzugsweise mit Yugi Muto. Ob auch traditionelle Medien wie Zeitungen und Zeitschriften eingebunden würden. Und welche. Sarah kam zu meiner Rettung und entschuldigte uns. Hinter uns diskutierten sie weiter. »Die Schuhe killn mich«, raunte ich ihr zu. »Und dabei trägst du nicht einmal Highheels«, erwiderte sie mit einem Zwinkern. Meine Augen trafen auf Kaibas, der gerade Dokumente in seinen Aktenkoffer legte und mit Herrn Le sprach. Ich verdammte das prickelnde Gefühl in meinem Bauch – das bei dem man nicht wusste, ob es gut war oder schlecht. Sarah trat zu den beiden, sprach mit Herrn Le, ehe sie Kaiba in ein Gespräch verwickelte und sie beide Richtung Fenster schlenderten, um ein paar Worte zu wechseln, die sonst niemand mitbekommen musste. Frau Mathieu indessen wandte sich mir zu und gratulierte zu der gelungenen Präsentation. »Der Anzug steht Ihnen hervorragend. Da haben Sie die älteren Herren wohl nicht nur damit positiv überrascht.« »Danke, Frau Mathieu«, murmelte ich verlegen, »ich hatte ehrlich gedacht, ich würde es verkacken. Sah ja am Anfang auch so aus.« So viel Ehrlichkeit hatte ich gar nicht in meine Worte legen wollen, vielleicht merkte sie das, jedenfalls lehnte sie sich ein bisschen vor, als verrate sie mir ein Geheimnis. »Sie sollten mich doch Fabienne nennen.« Ich erwiderte ihr Lächeln, während ihres einem nachdenklichen Blick wich. »Wissen Sie, Seto Kaiba hat seinen Ruf nicht umsonst.« »Den ein arroganter Geldsack zu sein?«, wollte ich scherzend wissen, auch wenn es weniger ein Scherz als die Wahrheit war. »Den der erfolgreichste Jungunternehmer des Jahrzehnts zu sein – manche behaupten, des Jahrhunderts«, korrigierte sie, »aber erfolgreich kann man in dieser Größenordnung nicht alleine sein. Es gehört ein Netzwerk dazu.« Ich verstand nicht, was sie mir damit mitteilen wollte, offenbar sah ich sie genau so an, denn sie spezifizierte. »Seto Kaiba scheint sie dazu zu zählen. Und Seto Kaiba tut nichts einfach so, Joey.« Sie schaute mich an. Ihre Augen waren groß und grün. Die Wimpern lang. In ihrem Blick stand Interesse und um ihre Lippen hing ein Lächeln. »Ja, er – ja«, erwiderte ich und schluckte.   »Wheeler, mitkommen!« Kaibas Stimme hinter mir brachte mich dazu, einen Satz zurück zu machen. Er schritt voran und blickte nicht einmal zurück zu mir, während er aus dem Konferenzsaal verschwand. Ich zuckte die Schultern und schenkte Fabienne ein verlegenes Grinsen und Sarah einen fragenden Blick, doch sie zog die Augenbrauen hoch, als könnte sie nichts dafür. Dann folgte ich dem erfolgreichsten Jungunternehmer des Jahrzehnts – manche behaupten, des Jahrhunderts.   Ich zog die Tür zu seinem Büro hinter mir zu und es herrschte Stille. Am liebsten hätte ich die Schuhe sofort ausgezogen, aber ich rührte mich nicht, weil ich auf Kaibas was-auch-immer wartete. Ich glaubte ja doch, ein Lob verdient zu haben, aber bei Kaiba hätte mich auch ein Anschiss nicht überrascht. Er stand am Fenster. Domino unter und vor uns. Die Sonne bestrahlte die Dächer und bemalte die Gebäude mit einem Orangerot. Kaibas Rücken vom Schatten dunkel gezeichnet. Dann drehte er sich um und betrachtete mich mit seinem Mund, der höhnisch verzogen war. »Der Anzug sieht lächerlich aus, Wheeler.« »Sarah wollt’s so. Ist eigentlich ganz okay.« Ich zuckte die Schultern und zog die Krawatte von meinem Hals. »Nur die nervt.« Er ignorierte meinen Kommentar. »Und hast du dir für die Schuhe die Zehen abgeschnitten oder warum läufst du, wie ein Köter mit –« »Ja, die Schuhe nerven auch«, unterbrach ich sein Gespöttel. Sein Kiefer mahlte, als staute sich Wut in ihm, aber ich verstand nicht wieso. Er fuhr sich zornig durchs Haar. »Hör mal. Ich weiß, es lief am Anfang recht scheiße. Und dann ist alles ganz anders als geplant gelaufen, aber ich konnte nicht anders als –« »Ich hoffe, dir ist trotz deiner Inkompetenz klar, dass so ein Verhalten unprofessionell ist. Während einer Präsentation mit Mitarbeitern zu – flirten«, brach aus Kaiba hervor und er stand vor mir sein Haar ein Chaos, in seinen Augen brannte etwas und sein Tonfall war Gift. Er sprach das letzte Wort wie eine Beleidigung. Meine Augen glichen Tunneln und meine Kinnlade sackte auf den Boden. Zumindest fühlte es sich so an. »Was zur – hast du’n Dachschaden? Was willst du eigentlich, Kaiba?«, wollte ich ungehalten wissen. »Was willst du, Wheeler?«, grollte er. Kapitel 34: … ist ein Lügner ---------------------------- __________________________________________   Die Wahrheit über Lügen ist die, daß Lügen meistens als Wahrheit dargestellt werden. © Willy Meurer (*1934)   __________________________________________           Seto Kaiba wusste, wie er die Wahrheit so auslegte, dass er damit leben konnte. Wahrheit war sowieso nichts Objektives. Wahrheit lag im Auge des Betrachters. Er verdrängte das, was er nicht sehen wollte und betonte das, was ihm passte. Er war ein Lügner. Aber sind wir das nicht alle?   »Was willst du, Wheeler?«, wiederholte er und baute sich vor mir auf. »Oder hat Frau Mathieu deinen Verstand –« Ich wollte seine verdammte Krawatte packen und ihn erdrosseln. Und ihn fragen, was das sollte. Warum alles so kompliziert war. Warum er mich festhielt, wenn alles um mich herum zusammenbrach. Warum er so nah stand und so weit entfernt war. »– so wenig du auch dein eigen nennen kannst – völlig in eine graue Masse verwandelt?« Warum er mich nicht liegen ließ, wenn ich am Boden war. Warum er mich wegstieß, wenn ich nach ihm griff. »Es müsste selbst für deine pathetisch kümmerliche Einsicht, ersichtlich sein, dass –« Warum er mich so ansah. Mit Zorn in den Augen. Kälte und Häme. »– ein derartig präpubertäres Verhalten in einer Konferenz –« Kaibas Zorn brannte nicht mit flammender Hitze, er verbrannte einen durch Kälte und hinterließ das Gefühl von Minderwertigkeit. Distanz. »Tu das nicht«, knurrte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Warum er so widersprüchlich war. »Was?«, fuhr er mich an, fuhr sich durchs Haar, als könnte er nicht fassen, dass ich es wagte zu sprechen. Ich wollte ihn wegstoßen und zu mir ziehen oder ihn nie wieder sehen – und nie wieder loslassen. »Du behandelst mich wieder wie einen Angestellten, Geldsack«, polterte ich. »Du bist ein Angestellter!«, spie er mir vor die Füße. »Benimm dich wie einer!« Ich wollte ihn schütteln und mich an ihn lehnen. Ihn wegstoßen und zu mir ziehen. Weit weg und ganz nah. Er stand nur eine Armlänge von mir entfernt, die Arme verkreuzt, und schaute auf mich herab. »Warum?«, presste ich zwischen meinen Zähnen hervor. »Warum? Und warum willst du wissen, was ich will, Kaiba? Warum ist dir das nicht einfach scheiß egal?« Er senkte seinen Kopf, unterbrach aber keinen Moment unseren Blickkontakt, und neigte seinen Oberkörper nach vorne. Ich widerstand dem Bedürfnis, einen Schritt zurückzuweichen. Und dem, diesen Schritt zu machen und ihn zu berühren. Ihm die Strähne aus der Stirn zu streichen, seine Schultern zu umklammern und seine – »Es ist mir egal«, sagte er und betonte jedes einzelne Wort. Ich wollte lachen und brüllen. Und ihn fragen, was das sollte. Warum er auf mich einschlug. Nicht mit Fäusten, sondern mit Worten. Doch alles, was ich tat, war ihn anzustarren. Stille. Er stand da mit Hemd und Krawatte. Seine Haare durcheinander, wo er mit den Fingern durchgefahren war. Seine Augenlider verengt. Die Lippen aufeinander gepresst. Er beobachtete mich, als erwartete er etwas. Das Herz pumpte in meinen Ohren und die Luft drückte von innen gegen meine Lunge, weswegen ich erst kaum ein Wort herausbrachte. »Du bist ein Arsch. Ehrlich«, brach dann hervor. »Warum kannst du nicht zugeben, dass es – warum bist du so – du bist so ein Arsch!« Ich wusste nicht, was er erwartete. Ich wusste nicht, was er wollte. Ich wusste nicht einmal, was ich wollte. In meinem Kopf schwirrten Fragen. Dazwischen irgendetwas, das ich nicht einordnen konnte. Kaiba wandte mir den Rücken zu und stand da vor der Fensterfront, schaute hinab auf Domino, als konnte ihm keiner das Wasser reichen. Vielleicht stimmte das sogar. Stille. Seto Kaiba war bekannterweise unglaublich reich, intelligent und gutaussehend. Und ich – »Ich sollte jetzt gehen.« Er erwiderte nichts darauf, weil es überflüssig schien.   »Joey? Hey, Schätzchen!« Ich trat gerade in den Lift, als mich Sarah aufhielt und sich die Tür des Fahrstuhls wieder schließen wollte. Sie trat in die Tür, was die Automatik wieder zurückfahren ließ. Statt ihres Lächelns trug Sarah Sorge in den Augen, doch das war etwas, was ich jetzt am wenigsten gebrauchen konnte. »Du siehst irgendwie mitgenommen aus. Alles okay?« »Ja, klar – ich mein –« Ich fasste mir an die Stirn und überlegte, was dieses Gefühl in mir am besten beschreiben könnte. Doch die Worte glitten mir aus den Gedanken und ich ließ es. »N bisschen Kopfweh, wahrscheinlich von der Aufregung. Aber –« »Es ist ja letztlich super gelaufen.« »Mh, ja, genau«, erwiderte ich lahm, weil ich gerade keinen Nerv für ein Gespräch á la Kaiba-ist-auch-nur-ein-normaler-Teenager. Dafür hatte er nämlich verdammt viele Angestellten und Kohle und Konferenzen hinter sich. Nicht, dass es mich interessieren würde. Ich wusste, was Sarah fragen wollte, aber ich nahm es ihr nicht ab und sie behielt es für sich. »Gut, dann – bis bald, Joey. Wir sehen uns nächste Woche.« Ich nickte ihr zu und verschwand hinter der Aufzugstür.   Am Abend starrte ich in das Mathebuch, aber keine Zahl und erst recht keiner dieser Buchstaben drangen zu mir durch. Was hatten Buchstaben überhaupt in Rechnungen zu suchen? »Ist doch alles scheiße«, brummte ich. Yugi lag im Bett, ein Manga knapp überm Gesicht, den er ein wenig senkte, um mich mit seinen großen Augen anzuschauen. »Ich dachte, deine Präsentation in der Kaiba Corp ist gut gelaufen?« »Ja«, entgegnete ich gedehnt, »das schon. Irgendwie.« »Dann ist schon mal nicht alles scheiße.« Er grinste mir zu und ich schob meinen Mund nach vorne, kratzte mit dem Kulihinterteil meine Schläfe. »Du bist blöd«, murmelte ich. »Kann ich dafür wenigstens die Hausaufgaben bei dir abschreiben?« Und brachte ihn damit zum Kichern. Er schob sich vom Bett, kramte in seiner Tasche und warf mir sein Heft zu. »Danke.« »Du weißt aber schon, dass bald Prüfungen sind.« Es war keine Frage und ich seufzte gequält, verschränkte die Arme hinterm Kopf. »Ich weiß. Nur für heute hab ich echt genug.« »Genug von Kaiba?«, zog er mich auf, schnappte sich wieder den Manga, aber ließ mich nicht aus den Augen. Ich zuckte die Schultern. »Wie kommst du nur darauf?«, erwiderte ich ironisch und schrieb eine weitere Aufgabe aus Yugis Heft ab. Doch statt eines frotzelnden Kommentars, antwortete er mit fester Stimme. »Weil du von ihm nie genug bekommst.« Ich erstarrte und blinzelte Yugi an. Der Ernst in seinen Augen berührte mich irgendwo im Inneren. Das Innere, das ich begrub, ehe es sprechen konnte. »Was – so ein Unsinn«, behauptete ich und lachte auf, dabei war mir gar nicht danach zumute. Doch Yugi stimmte nicht in mein Lachen ein. Mein Kichern ebbte ab und ich schüttelte amüsiert den Kopf. In meinem Mund der Geschmack von Bitternis. In der Nacht lag ich mit offenen Augen im Bett, starrte an die Decke und zählte die Schatten. Yugi hatte Unrecht.   In der Schule sprach Kaiba kein Wort mit mir. Unsere Kommunikation beschränkte sich auf einen herablassenden Blick, den er mir zuwarf, weil ich ihn fragte, ob er wüsste, wann Sarah nächste Woche im Büro wäre. Er ignorierte mich, sprach mit Yugi, während ich daneben stand, wie bestellt und nicht abgeholt. Hätte ich es nicht besser gewusst, wäre ich zu dem Fazit gelangt, dass er mich mied – oder bestrafte, wie ein Kind, das sich nicht benommen hatte.   »Er geht mir aus dem Weg!«, knurrte ich am zweiten Tag, an dem er mich ignorierte. »Whoä, Joey! Hör auf gleichzeitig zu essen und zu sprechen!«, maulte Tris, doch ich warf ihm nur einen düsteren Blick zu und stach mit meiner Gabel wieder in das Schnitzel. Wir saßen in der Mensa. Yugi und Tristan in irgendein Gespräch über Vorbereitung und Prüfungen vertieft. »Wer?«, wollte letzterer wissen, doch ehe jemand geantwortet hätte, fuhr er fort: »Ach, wer schon.« Er warf mir einen vielsagenden Blick zu, was mich die Augen verdrehen ließ. »Warum glaubst du das?«, hakte Yugi nach, doch ich schüttelte nur den Kopf. »Keine Ahnung.« Das beißende Gefühl im Magen ignorierte ich. Einen Tag später spottete ich darüber. »Ist doch voll kindisch, wie der sich verhält«, schnaufte ich in der Hofpause und reckte das Kinn. Mein Blick fiel auf seine Gestalt am anderen Ende des Geländes. Er saß auf einer Bank und tippte auf seinem Laptop herum. Musste seine tägliche Zufuhr an frischem Sauerstoff sein. »Echt. Nur weil er nicht weiß, was er will«, knurrte ich. Tristan seufzte. Der vierte Tag begann mit der Erkenntnis, dass Kaiba doch machen sollte, was er wollte. »Ich mein, was geht’s mich an, was er will?« »Joey, es ist fünf Uhr! Nachts!«, brummte Yugi und drehte sich auf die andere Seite, presste das Kissen auf sein Ohr. Am fünften Tag hatte ich mich an Kaibas ignorante Art gewöhnt. Man hätte glauben sollen, dass die Jahre davor genug gewesen wären, aber mancher Lernprozess erfolgte ja nicht linear. Zumindest behauptete das Yugi. »Es macht mir nichts aus«, flüsterte ich ihm während Japanisch zu. »Ich hab echt genug zu tun. Auch ohne den.« Am sechsten platzte mir die Geduld. »Weißt du was. Er soll mich einfach mal. Echt. Der kann mich mal!« Wir saßen in der Bibliothek und lernten für Klausuren. Mathe oder Physik. Irgendetwas mit Zahlen – und Buchstaben. Tristan lehnte sich zurück und legte seinen Zeigefinger und Daumen an die Stirn, als hätte er Kopfschmerzen. »Oh Mann, Joey! Merkst du’s nochmal?«, meckerte er und zog damit ein paar genervte Blicke der anderen in der Bücherei auf sich. »Was?«, brummte ich gedämpft. »Du redest von niemand anderem mehr! Bei dir dreht sich alles um Kaiba!« Das blies mir die Spucke weg. »So ein – was für ein absoluter Bullshit!« Ich schaute zu Yugi. Doch statt einer Zustimmung kassierte ich ein schwaches Lächeln. »Joey, du solltest einfach mal mit ihm reden. Er ist wegen des – du weißt schon – bestimmt genauso durcheinander wie du«, flüsterte er. Ich starrte von dem einen zum Anderen. »Ihr habt doch keine Ahnung! Ich bin nicht – ich bin doch nicht durcheinander!« Ich erhob mich, stützte meine Hände auf den Tisch vor mir und konnte nicht fassen, was meine tollen Freunde da von sich gaben. »Es ist mir egal«, sagte ich aufgebracht, »total egal, was er will oder nicht!« Und stampfte davon.   Seto Kaiba war mir egal. Und ich ihm auch. Selbst, als ich mit Sarah in der KC arbeitete, bekam ich Kaiba kein einziges Mal zu Gesicht. Stattdessen bekam ich eine Menge langer Blicke ab, aber keiner rührte das Thema mehr direkt an. Es war okay so.   Die nächste Woche schütteten Tristan und Yugi Übungsblätter, Vorbereitungslektüre und Wiederholungskram über mich. Wortwörtlich. An den meisten Tagen konnten wir weder Yugis Schreibtisch noch seine Kommode ausmachen, weil so viel Schulzeug verteilt war. Schön organisiert nach Tagen, an denen wir den Stoff durchnahmen und wiederholten. Wahrscheinlich war es diese Struktur, genau zu wissen, was einen erwartete, die Routine und das Faktenlernen, das die Zeit so verfliegen ließ. Die Prüfungen rückten näher, Kaiba weiter weg. Es war okay so. Auch, wenn ich mich dabei erwischte, wie ich ihm nachsah, als er – natürlich – noch vor Ende der Matheklausur abgab und nach draußen verschwand. Es war mir egal.   In der vorletzten Woche, nach Notenschluss, bekamen die Lehrer die seltsamsten Ideen. In Musik sollten wir CDs mitbringen – wer welche hatte. Dann diskutierten wir über verschiedene jugendliche Subkulturen, als wären das irgendwelche Insektenarten, die man auseinandernehmen musste. In Chemie mischten wir bunte Flüssigkeiten und hofften auf Explosionen. In Mathe gab unser Lehrer irgendwelche Witze von sich, die nur er verstand – und wahrscheinlich andere Mathematiker. Aber in Kunst hatte sich Herr Nagato besondere Höllenqualen ausgedacht. »In der letzten Woche des Schuljahres wenden wir uns einem Partnerprojekt zu.« Soweit war ich mit unserem Kunst-Lehrer noch einer Meinung. »Das Thema ist Zukunft. Bitte finden Sie sich zu zweit zusammen.« »Ich glaub, der will mich verarschen«, knurrte ich gedämpft. Yugi und Tristan rückten demonstrativ zusammen. »Vergesst es«, maulte ich und sprang auf und bemerkte erst dann den Blick unseres Kunstlehrers, während sich meine Mitschüler bereits unterhielten und brav zu zweit zusammen saßen. »Ah, Herr Wheeler. Herr Kaiba hat noch keinen Partner. Wenn Sie so freundlich wären?« Herr lächelte mich an und wandte sich dann irgendwelchen Blättern auf dem Lehrerpult zu. Mein Blick verdüsterte sich und schnellte zurück zu meinen sogenannten Freunden. »Ich weigere mich«, krächzte ich ihnen zu, »ich – das kann der doch nicht machen. Verdammt. Das könnt ihr nicht machen!« »Joey, Augen zu und durch.« Am liebsten hätte ich Tristan seinen Stift in den Rachen gestopft.   »Was willst du hier, Wheeler?« »Ich mach das kein zweites Mal durch«, knurrte ich, während ich neben ihm stand, er weiter auf den Bildschirm starrte, »akzeptier‘s einfach und halt die Klappe.« Und ließ mich neben ihm auf den Stuhl fallen. Es war wie ein Deja-vu. Wie in so einem schlechten Film. Natürlich mit mir in der Hauptrolle. So eine billige Produktion für die man nicht ins Kino ging. »Das könnte der Aufgabenstellung, uns über Motive zum Thema Zukunft auszutauschen entgegenstehen«, scharrte er süffisant. »Okay. Also tun wir einfach so, als wäre nichts passiert. Als hätte sich nichts in den letzten Monaten geändert«, ätzte ich zurück. »Was soll sich geändert haben? Ich bin erfolgreich und du weißt nicht, was du willst. Du rennst wie bisher davon.« Stiche in meinen Magen. »Wer rennt davon?«, grollte ich. »Ich hab mich – also dich nicht ignoriert wie ein dummes Kind, das seinen Lolli nicht bekommen hat. Was willst du eigentlich, Kaiba?« Ihn fragen, was das sollte. Warum alles so kompliziert war. Warum er mich festhielt, wenn alles um mich herum zusammenzubrechen schien. Warum er so nah saß und so weit entfernt war. »Bevor du mich das fragst, solltest du dich das selbst fragen, Wheeler«, presste er zwischen seinen Zähnen hervor. »Du hast doch nur Angst, dass es dir eben nicht egal ist! Das alles«, behauptete ich. Stille. Sein Kiefer mahlte. Obwohl seine Augen den Bildschirm fixierten, schwebten seine Finger über der Tastatur. »Es ist mir egal«, erwiderte er abschätzig. Stille. Das Gefühl ätzte durch meinen Magen. Seine Herablassung und Ignoranz. Seine egozentrische Art und Arroganz. Ich wollte ihn fragen, warum durch meinen Kopf Fragen schwirrten, die sich alle um ihn drehten. Dazwischen irgendetwas, das ich nicht einordnen konnte. Stille. Ihn fragen, warum er so unglaublich reich, intelligent und scheiße gutaussehend war. Und ich – nur ich war. Stille. Ihn näher ziehen. Ihn berühren. Seine Schläfen entlang, die Wangen, die Lippen fühlen. Und ihn küssen. Ich riss meine Augen auf. Das war es. Das Gefühl dazwischen. Es wäre verdammt einfach. Wenn er nicht er und ich nicht ich gewesen wäre. Ich fuhr hoch und stürmte aus dem Klassensaal.   Wenn man auf der Schulterrasse stand, konnte man über den Schulhof hinaus die Dächer Dominos sehen. Die Hochhäuser standen in der Ferne und durchbohrten das Blau des Sommerhimmels. Eines davon war die Zentrale der Kaiba Corporation. Meine Arme hingen auf dem Geländer, mein Blick starr in die Ferne. Als sich etwas hinter mir bewegte, drehte ich mich langsam um. Yugi lächelte mir zu und legte seinen Kopf schief. »Ich frage nicht, ob alles okay ist, weil es das offensichtlich nicht ist«, erklärte er, als er neben mich trat und seine Arme wie ich auf dem Geländer ablegte. »Mh«, brummte ich. »Die Klasse glaubt, dass Kaiba etwas gesagt hat, das dich wütend gemacht hat. Irgendjemand meinte, er hätte dich beleidigt.« »Was glaubst du?«, wollte ich wissen. Er nahm sich einen Moment, ehe er antwortete. »Ich glaube«, sein Blick schweifte von den Dächern zu mir, »dass es nicht so einfach ist. Nicht mehr.« Ich schnaufte und fragte mich, wann es kompliziert geworden war. Oder ob es das schon immer gewesen war. »Er hat gesagt, dass es ihm egal wäre«, meinte ich leise und hob die Schultern. »Und was hast du gesagt?« Ich seufzte und atmete tief durch, als könnte das dieses beengende Gefühl in meiner Brust bekämpfen. »Meine Antwort war ein total cooler Abgang«, erwiderte ich ironisch.   »Da wären 98 Prozent anderer Meinung.« Kaibas Stimme ließ uns herumfahren. Yugis Blick wanderte von ihm zu mir und von mir zu ihm, doch er sagte nichts. »Da Wheeler mein Projektpartner ist, sollte ich schauen, welche Flöhe ihn gebissen haben.« Er verschränkte die Arme und lehnte sich zurück, was ihn größer machte als eh schon. Yugi schenkte mir einen Blick und lächelte leise. Ist es okay für dich? Wird schon. Ihr bekommt das hin. Ich würde nie herausbekommen, wie er es schaffte, in einen Blick so viele Botschaften unterzubringen. Ich nickte ihm zu und er drückte meinen Oberarm, dann machte er sich auf den Rückweg ins Klassenzimmer.   Kaiba sagte nichts. Hatte ich eben noch einen Schwall an hämischen Bemerkungen erwartet, schwand meine Erwartung, dass Kaiba überhaupt mal etwas sagen würde von Minute zu Minute. Worte hingen in der Luft, die keiner von uns aussprach. Ich seufzte. »Du hast gelogen«, murmelte ich schließlich. Er verengte die Augen, öffnete den Mund, doch ich schüttelte den Kopf. »So wie ich. Es ist mir nicht egal. Ich weiß nicht – ich weiß nicht genau, was ich will. Aber so ist es nicht – okay. Ich fühle mich kacke.« Ich lächelte gequält und warf ihm einen Blick zu. Er stand noch immer dort. Unbewegt. Die Schuluniform wirkte überraschend informell, wenn man ihn mal in Business-Anzügen gesehen hatte. »Gott, ist das alles bescheuert«, seufzte ich mehr zu mir als zu ihm. Versuchte zu sagen, was eben noch in meinem Kopf übergequollen war. »Ich – irgendwie – ich würde nicht sagen, dass ich es vermisse. Unsere Gespräche«, Kaiba hob die Augenbrauen, »ja, okay. Gezoffe trifft’s wohl eher. Und irgendwie – es ist nicht so, dass ich es – also – gut finde, wenn wir Zeit miteinander –« Ich schnaubte, weil ich langsam begriff, dass ich mir meine eigenen Worte nicht abkaufte. »Scheiß drauf«, knurrte ich und steckte die Hände in die Hosentaschen, dann begegnete mein Blick seinem und ich funkelte ihn an. »Ist mir egal, was du jetzt gleich sagst, klar? Aber bevor du mich von irgendwelchen Leuten von hinten aus dem Weg schaffen lässt, gib mir einen Vorsprung von zehn Minuten, okay?« Seine Mimik blieb blank. »Ich find’s scheiße, wenn du mich ignorierst, kapiert? Hör auf damit, verdammt! Und überhaupt – ich komm heute Abend zu dir zum Essen. 18 Uhr.« Stille. Ich erwartete etwas wie Hohn. Ein verbales Messer zwischen den Rippen, das er so oft drehen würde, bis ich blutend am Boden lag – nicht wortwörtlich. Aber innerlich. Er sah mich an – lange. Was mir vorkam, wie die Zeit, wenn Mathe gerade angefangen hatte. Dann kroch sie so, dass die Sekundenzeiger kaum vorwärts gingen. Und dann veränderte sich etwas in seinem Gesicht. Es war kein Lächeln, kein Funkeln, keine große Geste. Eigentlich sagte er nur ein Wort. Aber das ließ meinen Magen Purzelbäume schlagen und meine Mundwinkel nach oben schnellen.   »Okay.« Kapitel 35: … ist hier ----------------------   __________________________________________   Hic et nunc. (Hier und jetzt.) Unbekannt Quelle: Altrömische Weisheit   __________________________________________           Seto Kaiba lebte in seiner eigenen Welt  – einer voller Aktien, Meetings, Medienrummel, Angestellten und Sekretärinnen. Dazwischen versuchte er das ganz normale Teenagerleben auf ein Minimum zu begrenzen – Schule, Freunde, Feste, Gespräche über die Freundin des Kumpels des Cousins. Er war nie hier, sondern immer schon beim nächsten Schritt, der nächsten Kalkulation, dem nächsten Meeting. Er war immer weiter als alle anderen. Und manchmal verpasste er deswegen die wichtigsten Dinge in der Gegenwart.   »Joey, was machst du denn hier?« Mokubas Augen starrten mir entgegen, als er die Tür öffnete. »Roland meinte, du würdest vor dem Tor stehen und in einem Monolog erklären, dass und warum Seto ein – ähm – Arsch wäre.« Es konnte sein, dass solche Worte gefallen waren. Ich zuckte die Schultern und lehnte mich an den Türrahmen, weil Mokuba mich anschaute, als wüsste er nicht, was er mit mir anfangen sollte. Es war kurz nach sieben und die Sonne schien. Es war warm und nur der leichte Wind machte es angenehm, den Schatten zu verlassen – oder überhaupt jedes Zimmer, das mit Aircondition ausgestattet war. »Ich hab Kaiba gesagt, dass ich heute Abend zum Essen komme. Aber ihn kümmert’s wohl nicht. Ihn kümmert gar nix.« Ich klang zu verbittert, als dass ich noch hätte behaupten können, dass es mir egal war. Immerhin stand ich hier. Das war Beweis genug. Mokuba schaute betreten drein, als hätte ich ihn beschuldigt. »Er arbeitet noch. Du kennst ihn ja – ach, komm erst mal rein!« Als hätte er sich daran erinnert, wie man in so einer Situation handelte, öffnete er die Tür weiter und ich schlenderte in das Haus – den Palast, das Schloss, die Villa. Mokuba trottete ins Wohnzimmer. Tüten mit angebissenen Burgern, Milkshakes, Chickenwings, verschiedenen Dips, Cola, aufgerissene Popcorntüten, Schokoladeriegel standen auf dem Tisch und verteilten sich bis auf den Boden. Über den Fernseher mit einem Durchmesser von mehr als 75 Zoll flimmerte ein Anime. »Tut mir leid mit Seto. Aber voll cool, dass du da bist! Ich wollte mir gerade nochmal Pizza bestellen. Willst du auch? Wir sagen Seto einfach später wir hätten irgendetwas traditionell Italienisches gegessen. Mit einem Salat. Dann sagt er nichts weiter. Obwohl er es nicht glaubt. Ich bin mir sicher, dass er es besser weiß. Ich bin ein echt schlechter Lügner. Willst du auch Burger? Milkshake?« Er grinste mich an und ich schaute entgeistert. »Bist du alleine hier?« Mokuba griff nach dem Popcorn, ließ sich auf das Sofa fallen, das ganz und gar nicht zu dem Anblick von Fast-Food passen wollte und bot mir nebenbei die Tüte an, während sein Blick den Bildschirm fixierte. »Nö, eine der Hausfrauen putzt oben noch.« »Und die ist – normalerweise für dich da oder so?« Ich setzte mich neben ihn und nahm das Popcorn. »Nö, aber mein Kindermädchen«, er betonte das Wort, als wäre es eine absolute Frechheit anzunehmen, er bräuchte wirklich so jemanden, »hatte heute aber nur Schicht bis 18 Uhr und jetzt ist’s ja schon sieben und Seto arbeitet halt noch. Passiert. Ist eigentlich normal.« Er warf mir einen Blick zu. »Hey, guck nicht so! Ich bin schon zwölf. Ich brauch keine Babysitter mehr!« Ich lehnte mich zurück. Er hatte ja eigentlich Recht. Als ich – wahrscheinlich war ich eh nicht das Musterkind mit Musterkindheit. Ich war nicht vernachlässigt worden. Es war nur so, dass mein Vater arbeiten musste, meine Mutter – Ich begrub den Gedanken schnell. »Weißt du, wann er denn so kommt?« »Mh, freitags nicht vor samstags.« Ich zog die Augenbrauen zusammen. »Hä?« Er schob sich den Rest eines Burgers in den Mund und schmatzte. »Freitags kommt er erst so um eins oder zwei in der Nacht. Also ist schon Samstag. Streng genommen« »Was? Und das weißt du, weil –?« Mokubas Kauen erlahmte, dann schluckte er und rieb sich die Augen, weil er bestimmt schon stundenlang am Bildschirm hockte. »Ich warte manchmal, bis ich ihn höre, wie er nach Hause kommt.« Seine Stimme wurde immer leiser, während er weitersprach, ohne sich von der Serie zu lösen. »Dann kann ich besser schlafen.« Ich betrachtete Mokubas chaotische Frisur und seine Hand, die sich um die Fernbedienung klammerte. Wahrscheinlich vergaß man nicht nur bei Kaiba schnell, wie jung er eigentlich war. »Wir können ihn anrufen«, schlug ich vor. Kaiba sollte seinen Arsch hierher bewegen und seinen kleinen Bruder nicht die halbe Nacht warten lassen, bis der ruhig schlafen konnte. Und Mokuba sollte nicht abends alleine vor der Glotze hocken, sich den Bauch vollschlagen mit Sachen, die alles andere als gesund waren und – Er schüttelte den Kopf, schlürfte am Milkshake und lächelte mich leicht an. Aber ich war nicht gerade der, der über gesunde Küche belehren sollte – oder Serienverhalten – oder überhaupt. »Nein, lieber nicht. Dann macht er sich bloß um mich Sorgen.« Ich wollte Kaiba trotzdem am liebsten in den Arsch treten. »Ja, das –« Dann kam mir die Idee. »Ich muss aber mit ihm reden und ich hab nicht die ganze Nacht Zeit. Wir hatten eigentlich eine Verabredung heute Abend«, erklärte ich ihm und seine Augenbrauen schossen in die Höhe, was verdammte Ähnlichkeit zu seinem Bruder aufwies. »Ich meine ein Meeting – sozusagen. Wir waren verabredet, uns zu einem Gespräch – also hier. Er meinte okay.« Innerlich klatschte ich mir an die Stirn. »Schon klar, Joey«, erwiderte Mokuba und sein Grinsen war meinem Geschmack nach viel zu breit. »Du kannst es natürlich probieren. Hast du die Nummer? Ah, besser ich ruf an«, dachte er laut. Mokubas Grinsen wollte gar nicht mehr verschwinden. Ich glaubte, mein Hals wurde enger und enger. »Ähm – ja, weißt du«, meinte ich, »ich will natürlich nicht, dass er sich – unnötig Sorgen macht. Ich kann ja auch mal ein anderes Mal –« Mein Kiefer klappte auf, als Mokuba mit einem Grinsen in sein Telefon sprach. »Ja, Seto. Du müsstest mal nach Hause kommen. Nee, mit mir ist alles in Ordnung.« Mokuba zwinkerte mir zu, während er mit seinem Smartphone über die Tüten watete und mit einem hörbar angespannten Seto Kaiba telefonierte. »Aber ich glaube Joey geht es nicht so gut.« Entsetzt riss ich meine Augen auf. Das war doch – also – ich fuchtelte mit meinen Händen und bedeutete Mokuba die Klappe zu halten, schüttelte den Kopf und griff mir an die Stirn. »Er benimmt sich n bisschen komisch. Ja, wollte zu dir. Scheint wichtig. Ja, er atmet ein bisschen komisch. Ja, sieht blass aus. Okay, ich sag’s ihm. Bis gleich.« Damit legte er auf und grinste mich an, als wäre ihm ein genialer Durchbruch gelungen. »Ich soll dir sagen, dass das nur eine Panikattacke ist und du ruhig atmen sollst. Und du sollst nichts mit deinen Flöhen verseuchen.« Er ließ das Handy in seine Hosentasche rutschen. »Sorry, ich hab Setos Mantel grade nicht griffbereit. Würde es auch eine normale Decke tun oder brauchst du etwas von Seto, um die Panikattacke –« »Ich hab keine Flöhe! Und keine Panikattacke«, knurrte ich, »und das weißt du auch!« Mokuba nickte und zuckte die Schultern. »Klar, ich weiß das, du weißt das, aber Seto weiß es nicht.« Ich atmete tief durch und versuchte, Mokuba nicht den Hals umzudrehen. Eben war er noch ganz Dann macht er sich bloß um mich Sorgen, mit großen, traurigen Augen und unschuldigem Gesichtsausdruck und dann war er plötzlich total – so! »Warum?«, verlangte ich zu wissen. »Warum ist es jetzt auf einmal egal, ob sich Kaiba Sorgen macht?« »Mh«, nuschelte Mokuba und stopfte Papiertüten ineinander, legte leere Esskartons und Pappbecher übereinander. »Weil es hier nicht um mich geht, sondern um Seto.« Ich starrte ihn an. Inwiefern sollte es denn hier bitte um Seto gehen? Ging es nicht eher um mich? Oder doch Mokuba? »Jetzt musst du mir aber mal helfen, Joey. Okay? Seto kriegt’n Koller, wenn er das hier sieht.« Ich war mir sicher, dass er nicht nur deswegen ausrasten würde. Mit einem Seufzen bückte ich mich, um Popcorntüten und Schokoladeverpackungen einzusammeln.   Fast auf die Minute genau knarzte zwanzig Minuten später die Eingangstür. Stille. Schritte. Stille. »Wheeler, wenn du nicht halbtot hier auf meinem Teppich liegst, dann –« Kaibas Stimme glich einem aufkommenden Tornado, bei dem ich instinktiv den Kopf einzog. Nicht, dass es geholfen hätte. Mokuba neben mir war schon aufgesprungen und hüpfte seinem großen Bruder entgegen. Ich hingegen wünschte, ich könnte mich draußen in den Pool werfen und warten, bis der Sturm vorüberzog. »Seto«, begann Mokuba und es klang, als beschwöre er eine giftige Kobra, »Joey und du müssen mal reden, okay?« Oder ich könnte die Veranda hinaufklettern und in einem der Zimmer im ersten Stock verschwinden. Kaiba zwang Worte zwischen seinen Lippen hervor, die klangen wie das Zischen einer Schlange. Ob Mokuba sich im Klaren darüber wäre, welche Konsequenzen ein so leichtfertiger Gebrauch der Telefonnummer hätte, die nur für Notfälle zu verwenden war. Wie schnell wäre ich wohl die Treppe hoch und dann am Balkon hinab im Garten? »Das ist ein Notfall«, behauptete er, »wenn das nämlich noch ewig so weiter geht, werden alle um euch herum verrückt!« Und wie Mokuba auf diesen absolut schwachsinnigen Unsinn käme. »Weil du Joey öfters erwähnst als die KC.« Mein Blick raste zu Kaiba und ich zuckte zusammen, als ich seinem begegnete. Stille. Das war sie. Die Ruhe vor dem Sturm. »Ich bin dann mal oben.« Ich hörte Mokubas Schritte, doch meine Augen fixierten Kaiba. Wie das Kaninchen und die Schlange. Es war als wartete jeder von uns darauf, dass der andere sich zuerst wagte zu bewegen. »Ist noch etwas von der Pizza da?«, fragte er und ich glotzte ihn an. »Ähm –« »Dann bestell ich mir eben selbst etwas. Mit einem Salat.« Die Trockenheit seiner Worte hätte jeden anderen verdursten lassen. »Woher – du weißt, dass sich dein Bruder mit Fast-Food den Bauch vollgeschlagen hat? Warum tust du dann so, als ob du es nicht wüsstest? Ich meine nur, weil Mokuba meinte –« Er unterbrach mich, als wäre es ihm egal, was ich meinte, was sein Bruder meinte. »Mokuba ist überdurchschnittlich begabt in Sprachen, Literatur, Informatik und – völlig anders als ich – besitzt ein hohes Maß an Empathie. Er ist jedoch ein ausgesprochen schlechter Lügner.« Ich wollte sagen Auch anders als du, aber ich schluckte es runter. Er zückte sein Smartphone. »Was willst du, Hündchen?«, fragte er ungeduldig und tippte mit seinem Zeigefinger gegen den Oberarm. »Ähm – ich –« »Ich fürchte, ich habe kein Hundefutter da.« Er tippte eine Nummer ein, bestellte Pizza und Lasagne. Dabei sah er mich an, als wartete er auf Widerspruch, aber ich nickte bloß. Der Rest ging in einem Schwall italienischer Wörter unter. Wir warteten in einer Stille, die mich unruhig auf dem Sofa herumrutschen ließ. Vielleicht, weil ich nicht wusste, ob wir nur auf die Pizza warteten oder eigentlich auf etwas Anderes. »Warum bist du hier?« Vielleicht auf die Frage. Sein Ton war ernst, seine Augen zusammengezogen. Er setzte sich nicht. Er stand einfach mitten im Raum und betrachtete mich, wie einen Fleck, den er nicht aus dem Möbelstück herausbekommen wollte. »Ich hab gesagt, dass ich heute Abend zu dir komme«, sagte ich und versuchte meine Gedanken daran zu hindern, wie aufgescheuchte Mücken durch meinen Kopf zu schwirren. »Du hast mich öfters angelogen.« Es klang wie eine Anklage aus einem Gesicht, aus dem Desinteresse sprach. Nur die Worte wollten nicht dazu passen. »Du mich auch!«, ereiferte ich mich. »Du hast meine Ratschläge ignoriert.« »Und du hast gesagt, dass es dir egal ist!« Mein Herz pumpte in meinen Ohren und ich spürte, wie Röte meine Wangen eroberte. Zorn jagte durch meine Adern. »Du hast auch gesagt, dass du glaubst, damit umgehen zu können, doch du brichst ständig zusammen. Deine emotionale Bindung an mich, ist nur eine psychische Reaktion auf die traumatische –« »Ach, halt doch deine blöde Klappe, Geldsack«, fuhr ich ihm über den Mund und erhob mich. So ein Pseudo-Therapeutengeschwätz konnte ich mir echt nicht antun. »Ich hab genug Freunde, die mir durch die Kacke helfen. Das ist keine psychische Reaktion auf – was-auch-immer. Ich finde dich einfach nur nicht komplett scheiße, okay?« Er schnaubte, als wäre der Gedanke Hohn an sich. »Auch, wenn es schwerfällt, wenn du mich ignorierst und herumstößt und –« »Dabei dachte ich, das wäre das Verhalten, das du von Zuhause kennst und deswegen favorisierst«, höhnte er. Ich funkelte ihn an, meine Finger zu Fäusten. Ich wollte ihn anbrüllen, als ich meine Augen weitete, weil ich plötzlich etwas sah, was ich noch nie zuvor gesehen hatte. »Verhältst du dich deswegen so? Weil du es von zu Hause nicht anders kennst?« Er starrte mich an, brauchte tatsächlich einen Moment, um die Sprache wiederzufinden. »Mach dich nicht lächerlich, Wheeler«, grollte er, doch ich beobachtete ihn nur. Mein Zorn wie weggeblasen. »Warum bist du her gekommen?«, wollte ich wissen. Ich erwartete eine ironische Antwort wie Ich wohne hier, Köter oder eine à la Mokuba hat mich angerufen, aber er schwieg. Seine Lippen kniff er zusammen, als wollte er so verhindern, dass eine Silbe über seine Zunge kam. Stand da – in Hemd und Krawatte – den Aktenkoffer abgestellt und schien wie versteinert, bis sich seine Lippen bewegten. »Ich wollte nicht, dass Mokuba einer Situation hilflos allein gegenüberstehen muss, in der er nicht weiß, wie er agieren soll. Ich wollte mich versichern, dass es ihm gut geht.« Natürlich. Wie oft hatte Kaiba einer Situation hilflos allein gegenüberstehen müssen? Wie oft ich? Es war nichts, was Mokuba erleben sollte. Genau das wollte ich ihm sagen, als seine nächsten Worte alle Silben in meinem Mund sterben ließen.   »Und dir.«   Mein Kiefer sackte nach unten, ehe ich ihn fest auf meinen Oberkiefer presste. Stille. Wir warteten. Darauf, dass jemand diese merkwürdige Stille unterbrach. Ich wusste, wie man sich mit Kaiba stritt, wie ich es durch wochenlanges Ignorieren schaffte, was ich sagen musste, wenn er wütend war oder um ihn wütend zu machen, ich konnte seine Aufmerksamkeit in wenigen Augenblicken erobern und durfte ihn im Büro stören, ohne, dass er mich danach irgendwie nach China exportierte. Aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte, wenn wir schwiegen, weil keiner wusste, was er sagen sollte.   Ich sackte auf die Couch und schaute erschrocken auf, als die Klingel ertönte. »Das dürfte das Essen sein.« Kaibas Stimme klang gefasst, beinahe beiläufig, als hätte er eben über das Wetter gesprochen – oder gleichbleibend starke Aktien mit potenziellem Wachstum – und kam mit einer Pizza Salami und Lasagne zurück und statt im Esszimmer aßen wir um den Couchtisch. Es war seltsam, Kaiba vor dem Sofa auf dem Boden sitzen zu sehen, wie er eine Pizza aß – aus dem Karton. In Hemd und Krawatte. »Und jetzt?«, hörte ich mich irgendwann fragen, die Gabel in der Hand und die Schachtel Lasagne vor mir, die ich anschaute, als erwartete ich eine Antwort von ihr. »Ich habe keinen Plan.« Mein Gesicht ruckte nach oben und ich starrte ihn an und konnte mich nicht entscheiden, was unglaublicher war: Seto Kaiba, der behauptete, er wäre von der KC nach Hause gekommen, um sich zu versichern, dass es mir gut ginge oder Seto Kaiba, der behauptete, er hätte keinen Plan. »Was? Seit wann hast du keinen Plan?« Er lehnte sich mit dem Rücken an die Couchbank und lockerte die Krawatte, zog sie dann von seinem Hals und öffnete die ersten beiden Knöpfe seines Hemdes. »Du warst der erste, der mir die Frage gestellt hat, was ich nach der Schule machen möchte. Eine absolut lächerliche Frage im Übrigen. Ich brauche keinen Plan, weil alles bereits feststeht. Nach der Schule werde ich weiter CEO der Kaiba Corp sein, erfolgreich, reich und –« »Und ein Arsch«, warf ich ein, womit ich mir einen finsteren Blick einfing. »Sorry, Gewohnheit«, murmelte ich mit einem schiefen Grinsen. Er schnaubte, fuhr aber unberührt fort. »Es steht praktisch fest, dass mein Erfolg wachsen wird und weiter ansteigen wird. Irgendwann möchte Mokuba möglicherweise in die Firma einsteigen und ich werde dort arbeiten, bis ich mir eine Abfindung zukommen lasse und aussteige. Ich werde diese aber nicht lange nutzen können, denn ich werde wenige Jahre – vielleicht Monate – nach meinem Ausstieg sterben. An einem Herzinfarkt oder an Langeweile.« Wahrscheinlich hatte er sogar Recht. Und obwohl ich mir keinen Reim darauf machen konnte, was seine Antwort mit meiner Frage zu tun hatte, ging ich darauf ein. »Dann solltest du halt rechtzeitig aussteigen und dein Leben nochmal richtig genießen.« An seinen Lippen zog etwas, das einem Lächeln glich – ohne, dass es seine Augen erreichte. »Wir sollten oft Sachen pünktlich erledigen und schieben sie trotzdem ständig vor uns her. Vom Hier auf ein Später, das es womöglich nicht gibt.« Ich suchte in seinem Blick, was das für ein Unterton war, denn ich verstand erst nicht, was mir entging. Etwas, das ich vor mir her schob? Mir fiel nichts ein – doch dann durchzuckte mich ein Blitz. »Der geht mir am Arsch vorbei. Seine Gesundheit kümmert mich keinen Cent«, sagte ich und spürte diese Bitterkeit an meiner Zunge kleben. »Egal, wie sehr du ihn verabscheust, ihn ignorieren möchtest, ihm Unglück wünschst. Er bleibt Familie.« Kaiba klang nicht weniger bitter, was mich meine Augenbrauen zusammenziehen ließ. »Außerdem geht es nicht um ihn, sondern um dich.« Ich schaute ihn verwundert an, weil er so redete, als wüsste er, wovon. Und weil heute Abend schon zum zweiten Mal jemand behauptete, es ginge um jemanden, bei dem ich nicht verstand, warum es um denjenigen gehen würde. Aber vielleicht hatten sie ja Recht. Vielleicht war es Zeit, die Sachen anzupacken – bevor es zu spät war. »Wenn ich mich um meine Probleme kümmer, sagst du mir dann, welche Gefühle und Gedanken du in deine Arbeit steckst?« »Du hast die Konferenz nicht ganz so katastrophal überstanden, wie ich angenommen hatte«, erwiderte er und ich runzelte die Stirn, weil es mir so aus dem Zusammenhang gerissen vorkam. »Ist das so etwas wie ein subtiles Kompliment oder nur Ablenkung?« »Woher weißt du, was subtil ist, Hündchen?« »Kaiba. Bei dir ist alles subtil. Fast alles.« Ich grinste. »Wenn du das mit deinem Vater klärst, könnte ich mir unter spezifischen Bedingungen unter Umständen vorstellen, mit dir über bestimmte Rahmenbedingungen meiner Arbeit zu –« »Das ist ein Ja, stimmt’s?« Mein Grinsen war so breit, dass ich meine Wangen sehen konnte. Ich saß hier also mit Kaiba und wir sprachen miteinander, als wären wir zwei Teenager – der eine halt mit einem internationalen Unternehmen. Er schloss kurz die Augen und massierte seine Nasenwurzel, so wie er es tat, wenn er angepisst war. Aber als er seine Augen öffnete, sah ich, dass ich nicht am Limit balancierte – und setzte noch einen drauf. »Achja, wo wir da schon dabei sind: Muss ich jetzt jedes Mal so‘n verdammten Anzug anziehen?«, fragte ich und senkte meine Schultern. »Weißt du, wie teuer so ein Anzug ist?« Ich verzog meinen Mund. Als ob es mich kümmern würde. »Dachte ich mir. Mehr als dein Monatseinkommen. Mehr als sechs deiner Monatseinkommen.« »Ja, und?«, meinte ich gedehnt und schob meine Hände in die Hosentaschen und multiplizierte in meinem Kopf. Nach und nach dämmerte mir, wie scheiße teuer die Klamotten da gewesen waren. Das machte sie aber auch nicht bequemer. »Ich will wenigstens meine normalen Schuhe anziehen. Dann verkrafte ich den blöden Anzug.« »Verhandelst du gerade schon wieder mit mir, Wheeler?« »Wann tu ich das nicht«, murmelte ich und streckte mich. Mein Bauch war so voll, dass ich mich anders hinsetzte, um nicht zu platzen. Lasagne war einfach das Beste. Kaiba verdrehte die Augen, erhob sich, verschwand in der Küche und ich sah ihm verwundert nach. So leicht ließ Kaiba nichts auf sich sitzen. Doch die Frage, was er jetzt schon wieder machte, blieb mir im Hals stecken. Wenn er so ging, dann hatte er irgendwie etwas Anmutiges an sich. Er könnte auch in Jogginganzug elegant aussehen – das war der Unterschied zwischen uns. Klamotten beeinflussten Kaibas Charisma nicht – er beeinflusste seine Klamotten. Ohne ein Wort der Warnung schmiss er eine Packung, als er wieder im Wohnzimmer auftauchte, ich griff instinktiv danach, verpasste es aber und beugte mich nach vorne, um es vom Boden aufzuheben, während ich saß. Kaiba beobachtete mich, als ich aufsah und ihn verwirrt anschaute. »Wassereis? Seit wann –« »Mokuba«, behauptete er steif und ich beließ es dabei. Mein Grinsen sprach eh Bände. Okay, Eis war das Beste, korrigierte ich mich und wollte es aufbeißen, als Kaiba es mir aus der Hand riss, sich neben mich setzte und beide Eistütchen mit der Schere aufschnitt. Sein Bein berührte meines und alles, was ich wahrnahm, war diese Berührung. Das Eis aus meiner Gegenwart radiert. »Wenn ich dir zuschaue, bekomme ich Kopfschmerzen«, behauptete Kaiba, lehnte sich zu mir und drückte mir die Packung wieder in die Finger. Seine berührten meine und statt des Eises starrte ich die Hand an, ohne mich zu bewegen. Seinen Arm, seinen Hals, das Brustbein, das zwischen seinem geöffneten Hemd hervorlugte und sein Gesicht, das mich argwöhnisch musterte, als säße er vor einem Straßenköter, dessen Verhalten schwer vorherzusagen war. Ich lehnte mich ihm entgegen, das Eis in meiner Hand, zog ihn mit der anderen ein Stück näher. Ich sah, wie seine Mimik von irritiert zu überrumpelt zu blank wechselte, als könnte er nicht entscheiden, welches Gefühl die Oberhand über seine Gesichtszüge gewinnen sollte. Kurz vor seinem Gesicht, seine Nase einen Finger breit von meiner, sein Atem auf meinem, hielt ich inne. »Du wirst mich wieder wie einen Angestellten behandeln.« Es war weniger eine Aussage als eine Frage. »Vielleicht.« Ein Lächeln breitete sich auf meinem Mund aus. Es war kein Ja. Und mit diesem Gedanken, mit einem Vielleicht im Raum, mit dem nur Kaiba mich zum Lächeln bringen konnte, zog ich seine Lippen endgültig auf meine.   Seto Kaiba war nie hier, sondern schon beim nächsten Schritt, der nächsten Kalkulation, dem nächsten Meeting. Aber manchmal da konnte er nicht anders, als hier im Augenblick zu versinken.   Unser Atem durchbrach die Stille. Wir waren uns noch immer viel zu nah für Nicht-Freunde. Selbst für Freunde. Seine Strähnen hingen ihm im Gesicht und ich überlegte, wie viele Finger er mir brechen würde, würde ich es wagen, mit seinem Haar zu spielen. Es war so verführerisch. Seine Augen starrten auf den Fernseher, der ausgeschaltet war, und dann auf die Reste unseres Abendessens. Über dem Fernseher hing eine Uhr, aber es hätte mich nicht gewundert, wären die Zeiger einfach stehen geblieben – so fühlte es sich an. Als befänden wir uns in einer Blase. Sein Brustkorb hob und senkte sich und sein Atem strich mir die Wange entlang. Ich beobachtete ihn aus den Augenwinkeln, während ich versuchte, eine Position zu finden, in der ich unseren Körperkontakt nicht unterbrach – unsere Oberschenkel berührten sich noch immer und meine Schulter seinen Arm – und gleichzeitig das Blut in meinem Fuß nicht weiter abschnürte. Er wurde langsam taub – aber das war okay. Kaibas Blick wanderte vom Essen zu uns und ich rechnete mit Spott oder einer Beleidigung, doch er schwieg. Er schloss kurz die Augen, dann seufzte er. Ich wollte ihn gerade anfahren, was es da so zu seufzen gab – wobei mir gleichzeitig eine Menge Sachen einfielen – als ich bemerkte, wie Eis meine Finger hinab lief und ich verzog mein Gesicht. »Igitt, jetzt klebt meine ganze Hand«, murrte ich. »Wheeler, wage es ja nicht – verdammt, Wheeler! Jetzt hast du mein Hemd mit deinem verdammten –« »Oh, Gott, das hab ich jetzt alles nicht gehört«, kam Mokubas Stimme aus dem Flur, doch entgegen seiner Worte klang er amüsiert.   Kaiba stieg auf, als wäre auf dem Boden sitzen etwas eindeutig Zweideutiges, strich über sein Hemd, auf dem Flecken von Waldmeister prangten, und ließ mich auf dem Boden sitzend zurück. Ich gaffte zu ihm hoch und wusste nichts mit meinen klebrigen Fingern anzufangen. »Wheeler, steh auf! Wir sollten los. Wasch dir endlich deine verdammten Finger.« Meine Gedanken wirbelten umher und sie hatten alle eines gemeinsam: Seto Kaiba – und dass seine Worte überhaupt keinen Sinn machten. Aber seine Berührung auf – »Wheeler!«, knurrte Kaiba und Mokuba schnaufte belustigt. »Hä?« Mein Blick schnellte zu Mokuba, der am Türrahmen stand, in seinem Mund hing ein Wassereis, in den Händen ein Gameboy, und mich angrinste. »Wir fahren ins Krankenhaus«, wiederholte Kaiba. »Hä? Was?« Ich war da eigentlich anderer Meinung. Wann waren wir überhaupt von Kaibas Bein an meinem, seine Lippen auf meinen, sein Atmen auf zu – »Dein Vater liegt noch immer auf der Intensivstation.« Ich schnaubte. »Aber du magst doch keine Krankenhäuser«, gab ich zu bedenken. Ich wusste nicht, woher dieser Gedanken jetzt kam. Geradezu lächerlich. Aber Kaiba neigte seinen Kopf. »Stimmt«, gab er zu, dann stolzierte er aus dem Wohnzimmer und ließ mich mit einem kichernden Mokuba zurück. Meine Finger klebten noch immer.   Kapitel 36: … ist unpünktlich ----------------------------- __________________________________________   Die Liebe ist immer pünktlich da, die Erfahrung, sie zu schätzen, aber nicht. © Georgios Tsagkalidis   __________________________________________           Seto Kaiba schätzte Pünktlichkeit. Das war für ihn einerseits so eine Respektsache, andererseits lag es an seiner Ungeduld. Wer sich verspätete, nahm seine eigene Zeit wichtiger als die von Kaiba oder verschwendete Zeit, in der ein gutes Geschäft hätte abgeschlossen werden können. Seto Kaiba war niemals unpünktlich. Fast.   Die Nachtschwester auf der Intensivstation drückte ihren Rücken durch und senkte ihre Schultern, als sie vor uns stand, wie eine Raubkatze, die ihre Jungen beschützte, und dann ihre Brille zurecht rückte. »Die Besuchszeiten sind – oh, Herr Kaiba.« Sofort verbeugte sie sich und strich ihre weiße Uniform glatt, obwohl ich dort keinerlei Falten entdeckte. »Dann sind Sie der Sohn von Herrn Wheeler, nehme ich an.« Ihr Blick lag auf mir und ich zog die Schultern hoch. Sie betrachtete mich nur kurz, dann schnellten ihre Augen zurück zu Kaiba, der ihr keinen Moment Aufmerksamkeit zollte. Stattdessen tippte er auf seinem Smartphone herum. Also brummte ich zustimmend und fragte nach meinem Vater. »Wenn Sie mir bitte folgen würden.« Der Gang des Krankenhauses lag wie ausgestorben vor uns, nur die Nachtschwester und wir, als hätten wir uns wie in einem Horrorfilm verirrt. Es fehlte nur noch, dass sie sich eine Axt schnappte und als Psychopathin entpuppte. Mit jedem Schritt drückte etwas mehr auf meinen Magen und dann waren da diese unsichtbaren Gewichte, die jemand an meine Waden gehängt hatte. Wir blieben vor einem Zimmer stehen, dessen Tür ich nicht öffnen wollte. Mein Blick schoss zu Kaiba, doch es war die Krankenschwester, die mich ansprach. »Hören Sie«, begann sie und strich wieder über ihr faltenfreies Shirt. Dass sie mich siezte war irgendwie seltsam und passte doch perfekt in diese absurde Situation. Ich wollte mich übergeben. »Sagen Sie es mir einfach«, erwiderte ich und wusste, ich klang nicht halb so abgeklärt, wie ich wollte und wollte nicht halb so emotional wirken, wie ich es tat. Hier lag mein Vater. Der, der mich nie so akzeptiert hatte, wie ich war. Der, der mich bei jeder Gelegenheit kritisiert hatte. »Zuerst befürchteten wir, dass er versucht hatte – sich umzubringen.« Ich atmete tief ein. Der, der sich nie darum gekümmert hatte, wie ich im Winter angezogen war. »Aber das Gutachten ergibt, dass es Unachtsamkeit war. Er muss im Bett geraucht haben, die Kippe in den Papierkorb geworfen haben und dabei hat der sich entzündet.« Der, der mich beschimpft hatte.   »Er hat es nicht bemerkt, wahrscheinlich war er dafür zu betrunken und unterschätzte die Lage. Ein Nachbar hat die Feuerwehr verständigt.« Und der mich – gegen all meine Überzeugungen – geschlagen hatte. »Ihr Vater erlitt eine schwere Rauchvergiftung und Verbrennungen dritten Grades. Der Anblick kann schockierend wirken. Dass er überlebt hat, war –« Hier lag mein Vater. Die Krankenschwester fragte mich etwas. Zumindest glaubte ich das, denn sie sah mich so an und ich nickte, obwohl ich nicht wusste, was ich bejahte. Dann öffnete sie die Tür. Kaiba stand hinter mir – weit genug, um dezent zu verschwinden, nah genug, um – Ich griff nach seinem Ärmel und sah ihn nicht an. Er verschwand nicht. Er ließ sich von mir mitziehen und wir betraten den Raum.   Ein Mann lag in dem Bett. Sein Anblick brachte mich dazu, mich abzuwenden. Ich erkannte ihn nicht wieder. Er sah so schwach aus – mit all dem Verband im Gesicht und an den Armen. Der Rest seines Körpers lag unter einer Decke. Um ihn herum standen Geräte, deren Schläuche in den Armen des Mannes endeten und Graphen zeichneten irgendwelche Lebenssignale auf. Hinter mir wechselten Kaiba und die Krankenschwester Sätze, die in meinen Ohren völlig durch das Piepsen der Maschinen übertönt wurden. Er wirkte winzig in dem Bett, obwohl ich wusste, dass mich sein Schlag ausknocken konnte. Seine Hand war hier auf einmal klein und zerbrechlich. Ich wollte wütend sein. Ich wollte ihn hassen. Ich wollte ihn anbrüllen und ihm all die Schmerzen wünschen, die er mir zugefügt hatte – die physischen und die psychischen. Wortlos zog ich einen Stuhl näher an das Bett und saß da. Meine Augen starrten diesen Mann an. Jemand öffnete und schloss die Tür. Ich saß neben diesem Mann und dachte, ich müsste etwas fühlen. Hinter mir regte sich jemand und schien sich hinzusetzen. Ich überlegte, die Hand dieses Mannes zu berühren, weil man das doch so in Filmen sah. Ich tat es nicht. Ich saß einfach hier und wusste, dass es irgendwie nicht richtig war. Aber ich wusste nicht was. Vielleicht hätte ich mir denken müssen, dass es ihm recht geschah. Vielleicht hätte ich ihn verabscheuen müssen. Oder bemitleiden. Vielleicht hätte ich ihm verzeihen müssen. Glauben, dass alles wieder gut werden würde. Dass wir einen Neuanfang wagen könnten. Vielleicht hätte ich in Tränen ausbrechen müssen. Ich tat es nicht. Ich saß einfach hier. Und dann fragte ich, während ich diesen Mann im Bett nicht aus den Augen ließ, was nicht an ihn gerichtet war. »Du hast mal gemeint, dass du Krankenhäuser nicht magst – wieso?« Ich rechnete nicht mit einer Antwort. Ich hatte nur die Frage stellen müssen. Hinter mir schwieg Kaiba, den ich gegen jede Logik vor mir sah mit seinen verschränkten Armen und dem einen Bein über dem anderen. Und dem ernsten Blick, der nichts verriet, was er nicht verraten wollte. Und dann füllten seine Worte den Raum. »Meine Mutter ist in einem gestorben.« Ich nickte dem Mann im Bett zu und schwieg wieder. Vielleicht hätte ich Kaiba mein Beileid aussprechen müssen. Oder ihm sagen, dass es echt scheiße war. Vielleicht hätte ich Angst haben müssen, dass auch mein Vater in einem Krankenhaus starb. Vielleicht hätte ich –   »Ich hol mir einen Kaffee.« »Mh.« »Willst du auch einen, Hündchen?« »Mh.«   – etwas fühlen müssen. Weinen oder so. Aber ich saß einfach nur da. »Gewöhn dich nicht dran.« Kaibas Worte klangen nicht halb so scharf, wie sie es wohl sollten, als er mir einen Snickers in die Hände drückte und einen Pappbecher. »Das ist kein Kaffee«, sagte ich, nachdem der Duft von meiner Nase in mein Hirn vorgedrungen war. »Nein, das ist Kakao. Trink.« Ich tat es. Vielleicht weil es einfach war, einer direkten Anordnung zu folgen. Leichter als diesen vielen Vielleicht in meinem Kopf. »Hast du es bereut?«, fragte ich mit dem Becher zwischen meinen Fingern und dem Geschmack der Schokolade auf der Zunge, die so typisch nach Krankenhaus schmeckte – zu verdünnt. »Was bereut?« »Den Sieg gegen Gozaburo. Als du das Schachspiel gewonnen hast.« Ich hörte, wie er aufstand und ein paar Schritte machte. Wahrscheinlich stand er jetzt am Fenster, aber ich schaute mich nicht um. Seine Stimme genügte. »Das war noch nicht mein Sieg gegen ihn gewesen«, erwiderte er irgendwann. »Wann war der gewesen?« Er schwieg, dann spürte ich, wie er hinter mir stand. »Du solltest schlafen, Wheeler. Lass uns nach Hause gehen.« Er nahm mir den Becher aus der Hand mit der kalten Schokolade und obwohl mir überhaupt nicht nach Schlaf zumute war, ließen mich seine letzten Worte aufstehen und ihm folgen.   Was ist, wenn wir irgendwann wirklich so sind, wie andere glauben, dass wir sind, auch wenn wir es gar nicht so sind? Also im negativen Fall – zum Beispiel – wenn alle denken, dass man ein arroganter, eiskalter Geldsack ist? Und wann würde man einer werden?   Das Brummen des Autos beruhigte. Roland fuhr uns und wäre mein Hirn nicht vernebelt gewesen, hätte ich mich gefragt, ob er kein eigenes Leben hatte, keine eigenen Sorgen, vielleicht eine Freundin oder Frau oder einen Freund oder einen Mann und Kinder. Oder so. Ob er am Wochenende nicht normalerweise Hobbies nachging oder ob er sein Leben um Kaibas Leben herumplante. Ich nahm mir vor, ihn morgen danach zu fragen. Es war mir egal, indiskret zu sein. So etwas hatte mich noch nie gestört. Vielleicht würde ich Kaiba dann mal daran erinnern, dass Roland auch eine Freundin oder Frau oder einen Freund oder einen Mann und Kinder hatte. Wenn er welche hatte. Und dass er darauf Rücksicht nehmen müsste. »Wheeler, du schläfst hier jetzt nicht ein.« Ich nickte und schloss die Augen.   »Wheeler, wach auf. Wenn nicht, schläfst du im Auto. Sicherlich um einiges bequemer als eine Hundehütte.« Ich grummelte, blinzelte und spürte im nächsten Moment, wie mich jemand aus dem Sitz zog. Wie ein Zombie trottete ich Kaiba hinterher, starrte abwechselnd auf meine Schuhe und auf seinen Rücken. »Wenn du Mokuba aufweckst –« Ich bekam nicht mehr mit, was dann wäre, denn er öffnete gleichzeitig die Tür und meine Aufmerksamkeit zoomte auf das Gästebett. Ich ließ mich darauf nieder und starrte auf den Fußboden – keine Ahnung, wie lange. Kaiba warf mir einen Schlafanzug auf die Matratze, fragte, ob ich sonst noch etwas bräuchte. Als ich den Kopf schüttelte, befahl er mir, mich hinzulegen und zu schlafen.   In der Dunkelheit sah ich ihn. Er beugte sich zu mir strich mir eine Strähne aus dem Gesicht und flüsterte Worte, die ich nicht verstand. Flammen erhellten sein Gesicht und er fragte, warum mein Vater nicht gestorben war, wo es doch seinen Eltern im Krankenhaus widerfahren war. Ich sagte, dass ich es nicht wüsste. Yugi legte seine Hand auf meine Schulter und Tristan behauptete, dass es ihm mit Recht geschehe. Ich wusste nicht, ob sie Kaiba oder meinen Vater meinten, aber ich zweifelte. Vor mir erschien ein Bett, dem ich mich nicht nähern wollte, aber Tristan und Yugi lachten und zogen mich näher. Ich versuchte, mich loszureißen, aber ihre Finger krallten sich in meinen Arm und dann stießen sie mich Richtung Bett. Dort lag eine Person unter der Decke. Die Verbände verschleierten sein Gesicht. Die Stimme meines Vaters tönte in meinen Ohren, klagte mich an, ich müsste trauern, sonst würde er mir zeigen, was für ein nutzloser Bengel ich war. Ich sagte, dass ich es versuchen würde, aber ich fühlte nichts. Die Person regte sich unter der Decke, erhob sich, schob den Stoff zur Seite und zog eine Lage des Verbands nach der anderen runter. Seto Kaibas Haut hing in Fetzen von seinem Gesicht.   Mit einem Schrei erwachte ich und starrte in die Dunkelheit. Schweiß klebte meine Strähnen an den Nacken und das Schlafshirt, das mir zu groß war, an meinen Bauch. Ich rang nach Atmen, sog Luft ein, die nicht in meinen Lungen ankam, also setzte ich mich auf, doch es half nicht. Das Gefühl, gefangen zu sein, trieb mich aus dem Zimmer. Ich trottete den Gang entlang und wusste erst, wohin, als ich davor stand. Ich klopfte nicht. Ich drückte die Klinke hinunter und die Tür auf, stand einfach da und betrachtete das Doppelbett. Im Mondlicht sah ich die Umrisse seines Gesichts. Dann wandte er mir genau das zu. Vielleicht hätte ich verlegen sein müssen oder überrascht. Vielleicht hätte ich Hohn und Herablassung oder Zorn und eine Abfuhr erwarten müssen. Statt eines Wortes, schlug er die Bettdecke zurück und ich legte mich neben ihn ins Bett. In der Dunkelheit hörte ich seine Atemzüge, spürte die Körperwärme. Ich lag einfach da und starrte mit ihm an die Zimmerdecke. »Ich dachte lange, es war, als er endlich kapierte – als ich in seiner Mimik sah, dass er endlich begriff, dass seine Firma nicht mehr seine war. Aber ich gewinne jedes Mal, wenn ich nicht vor meinen Augen sehe, wie er mich ansah, wenn ich seinen Erwartungen nicht genügt hatte.« Ich überlegte, nach seiner Hand unter der Decke zu greifen, aber ich ließ es und schaute einfach weiterhin an die Decke.   Die Sonne schien und ich blinzelte irritiert, als ich auf dem Nachttisch nach der Uhrzeit schauen wollte, aber nur Akten und Dokumente entdeckte und mein Bein ein anderes berührte. Schlagartig wusste ich, wo ich war und schaute trotzdem neben mich, wo Seto Kaiba schlief. Er lag auf dem Bauch eine Hand hing aus dem Bett, die andere unter dem Kopfkissen vergraben, das er mir völlig weggezogen hatte. Die Decke bedeckte seine Beine bis zum Bauch. Mit meinen Füßen berührte ich seine Waden und mein Finger juckte es, die Strähne, die seitlich von seinem Kopf abstand, zu berühren. Meine Hand schwebte zu ihm, als er etwas knurrte und mein Arm zurückzuckte. Mein Herz raste.   »Nicht. Berühren«, stieß er hervor. Die Warnung zwischen jeder Silbe. »Du bist –« »Nicht reden«, murrte er. »Ich glaube –« »Klappe«, grummelte er. »Kann es –« Er schnaubte in sein Kissen. »Kann es sein, dass du ein Morgenmuffel bist?«, fragte ich und grinste seinen Hinterkopf an. Sein Haar stand dort von der Seite ab, sein Gesicht in das Kissen gedrückt, irgendwelche Laute dämpfend, die wohl Wörter waren. Ich verstand etwas wie Töle und Maulkorb. »Du bist zu früh«, fuhr er mich an. »Auch das ist Unpünktlichkeit, Wheeler. Du bist stets unpünktlich.« Ich atmete tief ein und lehnte mich gegen das Kopfteil des Bettes, von dort aus fiel mein Blick auf den Beistelltisch der Sitzgarnitur vor dem Kamin, wo ein Tablett mit einer Kanne stand, einer Flasche Organgensaft, zwei Tassen, zwei Gläsern und Keksen. »Darf ich was fragen?« »Erstens war das schon eine Frage und zweitens tust du das doch eh«, brummte er. »Macht die Haushälterin das Tablett fertig oder sind das kleine Feen, die in der Nacht –« Er fasste sich an den Kopf, drehte sich auf den Rücken und funkelte die Zimmerdecke an. »Halt einen Moment die Klappe. Danach läge es im Bereich der Möglichkeiten, dass sich vielleicht ein Augenblick ergibt, in dem ich eine deiner zahlreichen, überaus nervigen und grammatikalisch inkorrekten Fragen beantworte.« Mit einem Ruck setzte er sich auf und verschwand in einen angrenzenden Raum, wo ich das Bad vermutete.   Ich verschränkte meine Arme unter dem Kopf und betrachtete das Kopfkissen, wo noch immer eine Kuhle bewies, dass Kaibas Kopf dort gelegen hatte. Als er aus dem Raum nebenan trat, gab es keinen Beweis mehr dafür, dass sein Haar noch vor wenigen Augenblicken ausgesehen hatte, als hätten Vögel darin genistet. Er schenkte sich aus der Kanne ein, in der sich offenbar Kaffee befand und ignorierte meine Anwesenheit. »Trinkst du eigentlich jeden Morgen aus zwei Tassen und Gläsern?«, zog ich ihn auf, doch er kräuselte lediglich seine Lippen. »Nein. Meine Angestellten sind lediglich in der Lage, zu zählen. Eine Fähigkeit, die auch für dich ihren Nutzen hätte.« Mein Hirn verdaute diese Worte erst und dann spürte ich Hitze über meinen Wangen. Jemand war im Zimmer gewesen und hatte mich in Kaibas Bett – »Du solltest dich endlich aus dem Bett begeben oder du kommst zu spät zur Schule. Nicht, dass es etwas Aufsehenerweckendes wäre.« »Und du?«, fragte ich. Ich war hier schließlich nicht der einzige Schüler. Auch, wenn Kaiba gerne so tat, als ob. »Mit dem Auto dauert die Fahrt zwanzig Minuten, während deine Fahrt mit dem Bus –« »Willst du mich verarschen?«, warf ich ihm an den Kopf, doch statt eines Wortgefechts, zog mir Kaiba mit einem Zucken um den Mundwinkel die Bettdecke weg. »Du lässt mich nicht mit dem Bus fahren.« Es klang mehr nach einer Frage, als ich gewollt hatte. Er verdrehte die Augen. »Ich würde mich an deiner Stelle beeilen. Andernfalls ja, dann fährst du mit dem Bus.« Das traute ich ihm zu, also hüpfte ich aus dem Bett und wollte mich in das Zimmer nebenan begeben, als er mir den Weg versperrte. »Was?«, fragte ich gedehnt, doch er erwiderte kurzangebunden, dass das Gästebad direkt vom Gästezimmer aus begehbar wäre. Ich verdrehte die Augen.   Als ich den Schlafanzug im Bad auszog, bemerkte ich, dass er Kaiba gehören musste. Seine Initialen waren im Kragen eingestickt. Ich schlüpfte in die Klamotten von gestern und begab mich zurück zu Kaibas Schlafzimmer. Dort traf ich auf – niemanden. Verstimmt tauchte ich in der Küche auf, wo Mokuba frühstückte und Kaiba in der Zeitung blätterte.   »Hi, Joey!« Mokuba begrüßte mich, als würde ich jeden Morgen bei ihnen in der Küche auftauchen. Kaiba musste ihn vorgeimpft haben. Ich murmelte eine Begrüßung und vermied Blickkontakt. »Willst du auch Nutella?«, fragte Mokuba mit Fröhlichkeit in seiner Stimme. Ich ließ mich neben ihm auf einen Stuhl fallen und schmierte mir so viel Nutella aufs Brot, dass es Nutella mit Brot war und nicht umgekehrt. Kaiba quittierte das mit hochgezogenen Augenbrauen über die Zeitung hinweg. Ich kaute wortlos die Brotscheiben. Mokuba erzählte etwas von seinem Kumpel, der total gerne, aber ziemlich mies DuelMonsters spielte. Ich nickte und versuchte mich, auf Mokubas Worte zu konzentrieren statt auf die Tatsache, dass ich die Nacht in Kaibas Bett verbracht hatte und er mich jetzt ignorierte, als wäre das alles ganz normal – oder eben nichts. Es war nicht nichts. Aber was war es?   »Mokuba, mach dich fertig für die Schule«, wies Kaiba seinen Bruder irgendwann mitten in einem dessen Redeschwalle an. Mokuba schob seinen Mund vor, aber tat wie geheißen. Er rückte vom Stuhl und trottete die Treppe nach oben. Ich starrte meinen Teller an und dann die Zeitung, hinter der sich Kaiba von mir abschirmte. »Und jetzt?«, fragte ich einen Artikel über die aktuelle Bildungspolitik. »Tun wir wieder so, als wäre nichts? Ich will es nur gerne wissen, dass ich mich auch angemessen wie n Arsch benehme.« Ich schob meine Arme ineinander und funkelte die Zeitung an. »Tu nicht so, als wärst du wütend auf mich.« »Ich bin wütend auf dich!« Und schnaubte. »Warum?«, fragte er und blätterte eine Seite weiter. Mir blieb fast die Spucke weg. »Du ignorierst mich! Schon wieder!« »Ich rede mir dir, Wheeler. Das ist das komplette Gegenteil von Ignorieren. Wenn du es im Duden nachschlagen –« »Spar dir die blöden Kommentare«, knurrte ich und drückte die Zeitung nach unten, krallte meine Finger in das Papier und zerknüllte es. »Und hör auf damit!« Sein Blick bohrte sich in meinen. »Womit?«, knurrte er. »Mich zu ignorieren!« Am liebsten hätte ich mit meinem Fuß aufgestampft. »Was soll ich tun, Wheeler? Wie soll ich mich verhalten?« Ich wollte ihm an den Kopf knallen, er sollte aufhören, so ein Arsch zu sein, aber als ich ihm in die Augen sah, verpufften die Worte in meinem Mund. Die Frage war ernst gemeint. Er wusste nicht, was er tun sollte. Ich zog meinen Arm zurück, doch die Zeitung blieb zerknittert, wo ich das Papier hinuntergedrückt hatte. »Ich weiß es nicht«, gab ich zu und fixierte die Dellen in den Artikeln. Ich ließ mich zurück auf den Stuhl fallen und langte an meine Stirn. Wir schiegen und ich spürte Kaibas Blick auf mir. »Er stirbt vielleicht«, hauchte ich der Decke entgegen. »Und es ist mir egal.« Ich spuckte das letzte Wort geradezu aus, angeekelt, spöttisch. »Müsste ich deswegen nicht weinen? Oder traurig sein?« »Ich bin nicht die geeignetste Person, mit der du darüber reden –« Doch. Er war die einzige Person. »Als Gozaburo gestorben ist –« »Nein«, sagte er, bevor ich die Frage zu Ende stellte. Wir verfielen in verbittertes Schweigen. »Ich wäre dann soweit und –« Mokubas Stimme ließ uns beide aufsehen. Er stand an der Tür zur Küche und wusste offensichtlich nicht, ob er lieber draußen stehen bleiben oder wieder hineinkommen sollte. »Roland wartet schon am Tor«, sagte Mokuba und trat von einem Bein auf das andere, seine Schultasche geschultert und einem Blick, der von seinem Bruder zu mir wanderte – und zurück. »Roland fährt dich. Beeil dich, sonst kommst du zu spät.« Mokuba öffnete den Mund, doch dann schien er es sich anders zu überlegen, nickte und drückte sich in Kaibas Arme. Mokuba lächelte unbekümmert, drückte die Wange an die seines großen Bruders, der die Umarmung straff erwiderte, und presste sich danach an mich, seine Arme um meinen Rücken. Meine Augen weiteten sich, doch ich schloss meine Arme um ihn und murmelte eine Verabschiedung. »Okay. Also – bis später!«, erwiderte er. Ich starrte Kaiba an, während der seinem Bruder hinterherschaute und wartete, bis die Haustür einrastete, dann legte er die Zeitung zur Seite, faltete seine Finger vor sich auf dem Tisch und erwiderte meinen Blick. Doch ich hatte das Gefühl, er sah durch mich hindurch. »Hör zu, Wheeler. Ich sage es nur einmal. Du wirst nicht wieder bei deinem Vater einziehen. Deine Mutter wird informiert werden und dich unter ihre Obhut –« Seine Worte kamen bei mir an, aber das Gefühl, dass er es ernst meinte, ging irgendwo zwischen Ohr und Hirn verloren. »Das kannst du nicht –« »Es ist das Beste für –« Ich sprang auf und versuchte das hektische Gelächter, das sich meine Kehle hinauf quälte, hinunterzuwürgen. Stand in Kaibas Küche und lachte, dann schossen Tränen in meine Augen. Tränen der Wut. »Du hast keine Ahnung, was das Beste für mich ist! Hör auf so zu tun! Ich bin nicht dein kleiner Bruder, verdammt!«, spie ich ihm entgegen, hielt den Atmen und glaubte, ich müsste kotzen. Sein Mund presste sich zu einer Linie zusammen. »Ich dachte, du würdest mich irgendwie – verstehen!«, warf ich ihm vor und schritt aufgebracht durch das Zimmer. »Meine Situation und deine Situation sind nicht vergleichbar, Wheeler«, beharrte er und sein Ton war eisig. »Schon klar«, ätzte ich, »du bist toll und reich und wichtig.« Er erhob sich, die Hände auf die Tischplatte gestemmt und starrte sie an, als böte sie ihm Halt. Obwohl er leise sprach, hing so viel Wut in seiner Stimme, dass ich zusammenzuckte. »Gozaburo hat meine Ambitionen ausgenutzt und als ich mich irgendwann weigerte, mich emotional erpresst und psychisch unter Druck gesetzt.« Er fixierte mich jetzt, seine Zähne aufeinander gepresst, als kostete es ihn jede Kraft, nicht loszuschreien. »Hätte er mich geschlagen, wäre Mokuba wenigstens nicht in Gefahr gewesen. Gozaburo war in erster Linie eine Gefahr für meinen Bruder. Ich hatte nie Angst um mich selbst. Wäre es nur um mich gegangen – du trägst nur Verantwortung für dich und du hast noch immer deine Eltern!«   »Nein!«, brüllte ich. »Habe ich nicht! Kapierst du’s nicht? Mein Vater liegt im Koma und ich weiß nicht einmal mehr, wie meine Mutter aussieht! Sie ist für mich gestorben, als sie mich –« Er packte mich, zog mich heran und drückte mich gegen die Küchenplatte. »Meine Mutter starb bei der Geburt von Mokuba. Sie starb, Wheeler!« Etwas presste mir die Luft aus den Lungen und ich starrte ihn an. Sein Gesicht schwebte kalkweiß ein, zwei Hände breit entfernt vor meinem. Seine Lippen aufeinandergepresst und in den Augen wütete ein Sturm, der seine sonstige Teilnahmslosigkeit hinwegfegte. »Hätte mein Vater«, er spuckte das Wort voller Verachtung in mein Gesicht, »im Koma gelegen, wäre ich nur halb so erleichtert gewesen, als ich ihn eines Tages tot in seinem Zimmer fand. Mein Erzeuger hat Mokuba die Schuld am Tod unserer Mutter gegeben. Er hat Mokubas Geburt verflucht. Er konnte meine Zuneigung zu ihm nicht nachvollziehen und irgendwann tat er uns dankbarerweise den Gefallen und erhängte sich. Ich kam zu spät, um etwas dagegen zu machen.« Ich stierte in seine Augen und erkannte zum ersten Mal, dass sie leicht gerötet waren. Äderchen schlängelten in seinem Augapfel. Unter ihnen hingen schwärzliche Kreise. Da war keine – »Du hast nie um deinen Vater getrauert«, flüsterte ich erschüttert.   Seto Kaiba war niemals unpünktlich. Er schob nie etwas vor sich her, er erledigte Dinge punktgenau.    Mit einem Ruck riss er sich von mir los und rauschte aus der Küche. Meine Beine bestanden aus Gummi. Mit einem Ächzen rutschte ich an dem Küchenschrank hinab und vergrub mein Gesicht in den Armen. Kapitel 37: … ist ein Denker ---------------------------- __________________________________________ Kaffee ist die Milch der Denker und Schachspieler. Aus Arabien __________________________________________           Seto Kaiba dachte zu viel. Er dachte an alle möglichen Sachen, die passieren konnten, bevor sie passierten. Er kalkulierte und plante. Er war ein Schachspieler mit Angestellten, Medien und Presseleuten, Wirtschaftsexperten und Geschäftspartnern als Schachfiguren. Manchmal dachte er zu wenig.   Ich lehnte mit meiner Stirn auf meinem Arm, der auf meinen angezogenen Knien lag, und starrte die Fliesen an, fuhr die Fugen mit meinen Augen nach und hörte meinen Atem. Das Holz des Küchentresens drückte in meinen Rücken, der Boden war kalt und nichts außer dem Blut in meinen Ohren – »Oh«, sagte jemand, eine Frau und schaute überrascht zu mir hinunter. »Geht es Ihnen gut?« Sie machte Anstalten, mir auf helfen zu wollen. Aber es würde nicht wirklich helfen, also zog ich mich selbst hoch und fragte mich, wie viele Hausangestellte Kaiba beschäftigte, dass ich immer einer fremden Frau begegnete. Oder hatte ich diese schon gesehen? »Ja«, wisperte ich und räusperte mich, als ich ihren zweifelnden Blick sah. »Auf Wiedersehen. Und danke«, sagte ich mit fester Stimme, obwohl ich im Nachhinein nicht wusste, wofür ich mich bedankte. Ohne eine weitere Erklärung verschwand ich aus der Küche und trottete durch die Gänge und trat aus der Tür und zögerte – dann schloss ich die Eingangstür hinter mir.   Statt in die Schule zu gehen, stieg ich in den Bus und fuhr in die Straße, die zum Spielladen der Mutos führte, schlenderte durch die Tür, die Klingel ertönte und sah, wie Herr Muto hinterm Tresen stand und zwei kleine Jungs, die an den Händen ihrer Mutter hingen, zum Lachen brachte. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es gewesen wäre, hätte ich ihn damals schon gekannt. Er begrüßte mich mit einem Lächeln, aber es erreichte seine Augen nicht. Ich ignorierte das und stiefelte nach einer knappen Begrüßung und einem »Alles okay, keine Sorge« die Treppe nach oben in Yugis Zimmer. Dort ließ ich mich auf das Bett fallen und stierte die Matratze an, wo ich seit einigen Tagenso viele, dass ich den Überblick verloren hatte, stellte ich erschrocken fest, übernachtete. Letzte Nacht war Kaiba neben mir gelegen, schoss mir durch den Kopf. Sein Körper so nah, dass ich ihn berühren konnte, wenn ich mich nur ein wenig streckte. Hitze jagte durch meinen Bauch. Ich schob es auf den Zorn. Es war die letzte Woche vor den Sommerferien. Die letzten Tage, in denen unsere Klasse zusammen war wie seit der fünften. Danach würde eine völlig andere Zeit beginnen – die Oberstufenzeit. Zumindest für die meisten. Mein Magen drohte sich nach außen zu stülpen und ich legte meinen Arm über die Augen, während ich mich nach hinten ins Bett fallen ließ. Ich wusste nicht, ob die Oberstufe mir etwas bringen würde. Ob ich es mir überhaupt leisten konnte. Am besten wäre es, ich hätte gleich anfangen können zu arbeiten. Unabhängigkeit. Niemandem mehr Erklärungen zu schulden oder in der Mitte des Monats kein Geld mehr in der Tasche zu haben. Meinen ersten Schritt hatte ich mit dem Unterschreiben des Vertrages mit der KC getan. Mein Magen zog sich zusammen. Da lauerte der Gedanke an jemanden, an den ich nicht denken wollte. Und danach? Was sollte ich mit meinem Leben anfangen? Ein Studium war nichts für mich. Oder? Ich wollte Geld verdienen. Sofort. Aber nicht unter allen Bedingungen. Oder? Aber mit meinem Zeugnis nahm mich eh niemand.   »Und diese Karte ist strategisch sinnvoll, wenn –« Ich hörte seine Stimme, bevor er die Tür aufzog und mich anblinzelte, offensichtlich vergaß, wann die Karte strategisch sinnvoll war. Yugi starrte mich an, Spielkarten in seiner Hand und hinter ihm ein Mädchen. Seit wann brachte Yugi Mädchen mit? »Joey!« Er klang überrascht, dabei hätte ich der sein sollen, der so klang, dann runzelte er die Stirn. »Wo warst du  heute? Du bist seit gestern verschwunden gewesen! Wir haben dich zig Mal auf deinem Handy angerufen! Hätte Mokuba nicht –« »Ist ja gut. Sorry«, murmelte ich und stieg vom Bett auf, saß auf der Kante und schaute mich um, doch ich wollte mich nicht vor der Fremden voll zum Idioten machen, also verschob ich die Suche in schmutziger Wäsche. »Hatte mein Handy nicht mit, muss irgendwo in einer Hosentasche sein.« Verlegen kratzte ich meinen Hinterkopf, dann bemerkte Yugi endlich, dass meine Aufmerksamkeit nicht mehr ihm, sondern dem Mädchen hinter ihm galt. Ihr Haar war langweilig braun und glatt. Sie war schlank und trug eine Schuluniform. Sie musterte mich und ich glaubte, sie sortierte mich in irgendwelche Schubladen. »Joey – das ist Thea. Thea, das ist Joey.« Sie lächelte und streckte mir ihre Hand entgegen. Ihr Lächeln wirkte angestrengt, doch ich ergriff ihre Hand und schüttelte sie. »Oh, ich hab schon viel von dir gehört!«, behauptete sie, während sie mich anstrahlte, und mein Blick fuhr zurück zu Yugi, der unbehaglich meinem Blick auswich. »Ah – ja.« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. War es gut oder schlecht, wenn jemand etwas von einem wusste – vom besten Freund – während der irgendwie kein Wort über eben jene Person, die angeblich schon viel über einen gehört hatte, verloren hatte. Und wenn ja, für wen? Mein Kopf brummte. »Äh, ich mein – schön, dich kennenzulernen.« Ich versuchte ein ehrliches Lächeln. »So – warum warst du heute denn nicht in der Schule?«, forschte sie nach, setzte sich neben mich auf die Bettkante, als wäre sie schon etliche Male hier gewesen – was sie vielleicht war – und ich widerstand dem Drang, meine Augen zu verdrehen. Mein Lächeln fiel in sich zusammen. Was ging das sie an? »Hatte zu tun«, presste ich hervor und zuckte die Schultern. Kaiba hätte sie mit ein paar Sprüchen – vielleicht nur ein paar Worten – zusammengestaucht. Doch der Gedanke an ihn lähmte mich und als Yugi irgendetwas von »Wir haben uns Sorgen gemacht! Thea wollte schon die Polizei verständigen, Tristan hat –« da sprang ich geradezu vom Bett und entschuldigte mich. »Ich hab ganz vergessen, dass ich noch – einen Termin habe.« Yugi starrte mich an. Der Unglaube in seinen Augen schmälerte die Unschuld und das maßlose Vertrauen. Schuldgefühle zwickten mich in die Seite. Aber ich hatte jetzt keinen Nerv für Erklärungen und weitere Entschuldigungen – vor allem nicht vor dieser Thea. Ich würde kein Wort über meinen Vater verlieren. Das ging niemanden etwas an. »Nimm wenigstens dein Handy mit!«, drängte Yugi und klang wie die Mutter, die ich nie wirklich gehabt hatte, und klingelte mich an. Es war nicht in diesem Raum. Genervt rieb ich mir über meine Augenwinkel. »Egal«, fing ich an, »irgendwann wird es schon –« In dem Moment beantwortete jemand Yugis Anruf und wir alle drei stierten das Gerät an, als wäre es etwas Ungewöhnliches. War es wohl vielleicht, wenn es sich um das eigene Handy handelte und man nicht selbst derjenige war, der telefonierte. »Ja?«, sprach Yugi in das Telefon und wirkte einen Moment versteinert, dann streckte er mir sein Smartphone entgegen. »Für dich.« Ich zog die Augenbrauen hoch und zog sie gleich wieder zusammen, als ich die Stimme am anderen Ende erkannte. Mein Magen sprang in meinen Hals und zurück. »Morgen erscheinst du in der Schule, Wheeler. Andernfalls wird dein Handy –« Ich schnaubte und ignorierte, dass das Blut in meine Füße sackte, nur um ein Kribbeln in meinen Armen heraufzubeschwören. »Schon klar«, unterbrach ich ihn und zuckte mit den Schultern. Was er natürlich nicht sehen konnte. »Bis morgen dann«, brummte ich. Er erwiderte nichts und legte als erstes auf, obwohl ich es hatte sein wollen. Missgelaunt drückte ich Yugi sein Phone zurück in die Hand und murmelte, dass ich noch etwas zu erledigen hatte. Yugi nickte langsam. Ich dachte, er würde mich aufhalten, doch er tat es nicht, also trat ich mit einer knappen Verabschiedung aus seinem Zimmer und zog die Tür hinter mir zu. »Ich denke, er hat gelogen«, hörte ich Thea noch zu Yugi sagen.   Es war früher Abend und ich streifte durch die Parks, die andere um die Uhrzeit mieden. Weil sie nicht solchen Leuten begegnen wollten wie mir. Wie mir früher. Ich war nicht mehr der Schlägertyp von damals, ich war nur noch ein kleiner Rebell, der manchmal die Klappe zu weit aufriss. Und selbst von dem waren manchmal nur noch Brocken übrig. Ein Häufchen Elend. Ich war so vieles nicht mehr. Aber was war ich dann?   Statt Bäume, die umzäunt waren und blitzblanke Hausfassaden, schlenderte ich an Parkplätzen vorbei und Wohnblocks, die schon bessere Tage gesehen hatten. Ein paar Kids hingen noch draußen herum, obwohl es langsam dunkel wurde, und wahrscheinlich wirkten sie auch nur deswegen so zwielichtig. Oder hast du Angst vor denen? Kaibas Stimme klang in meinem Kopf. Ich kenn die. Das sind nur Kids aus der Nachbarschaft. In Wirklichkeit waren es gelangweilte Jugendliche, die ein Bier tranken und coole Sprüche klopften, junge Leute, an denen nichts bedrohlich war. Früher war ich einer von ihnen gewesen. Gerade deswegen. Als ich näher kam, begafften sie mich. »Hey, Joey!«, rief mir einer zu und winkte. »Was machste’n hier? Deine Bude ist doch abgefackelt!« Peter zog die Nase hoch und Yukiko nickte eifrig. Natürlich. Die hingen immer irgendwo hier herum. »Is‘ dein Alter noch‘m Krankenhaus?«, hakte sie nach und ich erstarrte. »Ich dacht‘, dich seh’n wa hier nie wieder!«, plapperte sie weiter und ihre Hand lag in der eines anderen Jungen. Jerry zog an einer Zigarette, musterte mich und schwieg. »Biste nicht bei dei‘m Freund?«, wollte Yukiko wissen und kicherte. Sie spielte mit einer Strähne ihres – dieses Mal – grünen Haares und betrachtete mich. »Ja, gell«, mischte sich Peter ein und rotzte vor sich auf die Parkbank. »Was willste hier noch?« Sie schauten mich an, als wäre ich ihnen eine Erklärung schuldig. Ich zuckte die Schultern. »Geht euch’n Scheiß an«, behauptete ich finster, aber mir fiel kein Grund ein – bis auf Tristan, den ich morgen eh in der Schule sehen würde. »Du bist jetzt keiner mehr von hier«, brummte Jerry und es klang, als könnte er nicht entscheiden, ob er das bewunderte oder missachtete. Yukiko schlang ihre Finger um die seinigen. Peter griff nach Jerrys Zigarette. Was hatte mich hierher getrieben? Heimweh? Melancholie? Und deswegen hältst du mich davon ab, Sinnvolleres zu tun, als meine Zeit hier zu vergeuden? »Ich hoff, ihr geht in die Schule«, warf ich ihnen an den Kopf und Yukiko kicherte. Jerry brummte etwas Unverständliches. »Ich denk, dich seh’n wir hier nich‘ so schnell wieder – hoff ich doch«, meinte Peter und zog die Rotze hoch. Es klang – anders als bei Jerry – irgendwie nach einem Kompliment. Ich wandte mich um, die eine Hand in der Hosentaschen, die andere zum Abschied erhoben. Dann trottete ich davon, ohne mich umzusehen.   Ich dachte an Tristan und mich, unsere Familien. An Yugi, wie wir ihn jahrelang gemobbt hatten und schließlich an unsere Freundschaft. An seinen Großvater, der mir die Chance gab, in einem Laden Geld zu verdienen, der mir mehr bedeutete als nur die Zahl, die am Ende des Monats auf dem Check stand. Der mich bei sich wohnen ließ und immer ein Lächeln für mich übrig hatte. Und ich musste an Kaiba denken. Daran, was er durchgemacht hatte. Ich dachte an ihn. Diesen Gedanken konnte ich vor mir zugeben, weil alles andere ziemlich bescheuert gewesen wäre. Zu denken, etwas nicht zu denken, obwohl man es eindeutig dachte. Das Gefühl von Ärger rauschte durch meine Adern. Er war ein arroganter Arsch, einer, der viel in seiner Kindheit erleben musste, aber trotzdem. Er war ein herablassender Geldsack. Ich schloss kurz die Augen. Einer, der mich nie hatte liegen lassen. Nicht dann, wenn ich am Boden war. Und mein Ärger verebbte. Da war ein Trommeln in meiner Brust und mein Darm, der sich verknotete bei dem Gedanken an Kaiba, was ich zur Seite schob, weil es einfacher war, zornig auf ihn zu sein. Und ich kam zu dem Ergebnis, dass es nicht die Dinge waren, mit denen wir aufwuchsen, die uns definierten, sondern die Dinge, die wir daraus machten. Aber dann kam der Gedanke, dass Kaiba nicht an mich dachte. Und statt Zorn war da das Gefühl, dass mein Magen implodierte. Ich verzog das Gesicht.   Als ich bei Yugi ankam, schlief sein Opa schon und ich schlich mich nach oben ins Bad, duschte und stand einfach unter dem Wasser, starrte die Fliesen an und dachte nichts – versuchte es zumindest. Ich kam mit einem Handtuch um die Hüfte in Yugis Zimmer. Der lag in seinem Bett und tippte auf seinem Smartphone herum, schaute aber auf, als ich die Tür hinter mir zuzog. »Hör zu –« »Joey, ich wollte nur –« Wir sahen uns an und grinsten grenzdebil. Obwohl es dunkel war im Zimmer, konnte ich Yugis Gesicht durch das Licht der Laterne von draußen erkennen. Sein Grinsen schwand, bevor er anfing zu flüstern. »Ich wollte nur sagen, dass ich für dich da bin, Joey. Ich weiß, dass es eine verdammt schwierige Zeit ist und –« Ich hob die Hand, um ihn zu stoppen, nahm mir eines der Shirts und Shorts, die mir Tris überlassen hatte, aus einer Schublade des Schranks und zog sie drüber. Dann hielt ich inne, noch immer dem Schrank zugewandt. »Ich war bei meinem Vater im Krankenhaus«, flüsterte ich. »Oh.« Stille. »Willst du –« »Nein«, unterbrach ich ihn. Das Letzte, was ich wollte, war das Ganze jetzt zu besprechen. Yugi schwieg und ich spürte seinen Blick in meinem Nacken, ich kramte in dem Schrank umher, suchte nach der Schuluniform, die Tris mir mit den Shirt und einer Hose da gelassen hatte und als ich sie fand, ließ ich sie einfach liegen und drehte mich um, während ich Yugis Blick auswich. Ich legte mich auf die Matratze, zog die Decke über mich und schob meine Arme dann hinter meinen Kopf, starrte an die Zimmerdecke. Gestern hatte Kaiba neben mir an die Zimmerdecke gestarrt.   »Dieses Mädchen –«, begann ich und wusste nicht recht, wie ich es formulieren sollte. »Thea«, erinnerte er mich. »Ja, Thea«, wiederholte ich langsam, »warum magst du sie? Sie scheint –« Ich wollte sagen, sie wirkte wie eine zickige Besserwisserin, aber sagte es nicht. »Ja, manchmal ist sie etwas vorlaut. Sie sagt, was sie denkt und macht alles für ihre Freunde, was sie kann. Ich glaube, wenn du sie erst besser kennst, dann magst du sie.« Ich schwieg. So konnte man das auch sehen. Ich bezweifelte es aber. Und ich hörte, dass Yugi wusste, dass ich sie bisher nicht wirklich mochte. Der erste Eindruck war nicht der beste gewesen. Ich wollte etwas sagen, weil ich das Ganze nicht einfach so in der Luft hängen lassen wollte, als er mir mit seinen Worten die Luft aus der Lunge boxte. »Manchmal erinnert sie mich ein bisschen an dich.« Yugi kicherte und ich starrte ihn durch die Dunkelheit an, war mir nicht sicher, ob diese Bemerkung eine witzige, spöttische oder eine widersprechende Antwort verlangte. Also bekam ich gar nichts heraus und lachte nur gequält. Dann herrschte wieder Stille, in der ich an die Zimmerdecke starrte, Yugi tippte etwas auf seinem Smartphone und ich dachte an Kaiba, der meines hatte. »Kaiba war heute nicht in der Schule.« Yugis Bemerkung sollte wohl beiläufig klingen. »Was?«, fragte ich und klang alles andere als beiläufig. »Tristan hatte schon den Verdacht, ihr hättet euch gegenseitig ertränkt oder einen Balkon runtergestoßen.« Er wirkte amüsiert trotz – oder gerade wegen – des Gedankens, doch schon mit dem nächsten Satz überwog die Ernsthaftigkeit. »Mokuba hat uns in der ersten Pause erzählt, dass du gestern bei ihnen aufgetaucht bist und dass du heute Morgen bei ihnen gefrühstückt hast.« Die Frage knisterte in der Luft, aber ich blieb still. Yugi seufzte und er drehte sich zu mir um, schaute vom Bett zu mir herunter. »Weswegen habt ihr euch diesmal gestritten?« Seit wann war Yugi so direkt? Ich legte einen Arm über mein Gesicht und schnaubte. »Kaiba ist nicht nur ein reicher Arsch. Er ist einer mit einer richtig arschigen Vergangenheit.« Ich wusste, dass das Yugis Frage nicht beantwortete, war mir aber unsicher, ob ich das überhaupt wollte. »Ich denke«, seufzte ich, dann schüttelte ich den Kopf. »Es war kein Streit. Kein richtiger.« Ich rechnete damit, dass Yugi weiterbohren würde. Immerhin hatte ich ihm damit wohl mehr Fragen geliefert als Antworten, aber als ich ihm einen Blick zuwarf, stutzte ich. Yugi lächelte mich an. »Was – warum –« Er strahlte geradezu. »Gute Nacht, Joey.« »Gute Nacht«, murmelte ich verwirrt und er drehte sich um, ehe ich fragen konnte, was los war. »Yugi, warum grinst du so?«, setzte ich nochmals an, aber er antwortete nicht.   Am nächsten Morgen, rüttelte Yugi meine Schulter. »Wach endlich auf, Joey! Die Sonne scheint!« Er grinste mich breit an und ich zog mir das Kissen über den Kopf. Wie konnte er um – ich griff nach meinem Handy, bemerkte, dass ich dort nichts fand und brummte, schaute dann auf Yugis Wecker – sieben Uhr schon so gut gelaunt sein? »Los! Heute ist der wundervolle Tag, an dem –« Er zog mir die Decke weg und ich knurrte. »– wir einen der letzten Schultage vor den Ferien genießen dürfen!« Eine Viertelstunde später stierte ich meinem Spiegelbild entgegen und putzte die Zähne. Ich würde auf Kaiba treffen. Mein Magen wandte sich wie Würmer im Kompost. Von genießen konnte keine Rede sein. Yugis Großvater wünschte uns einen schönen Tag. Ich unterdrückte das Bedürfnis zu schnauben.   Tristan nahm uns, während wir quer über den Schulhof wanderten, von hinten zwischen je einen Arm und erzählte etwas davon, er hätte heute extra eine Zeitung gekauft, um nachzulesen, ob der CEO der Kaiba Corporation und ein unbekannter, blonder, junger Mann irgendwo aufgefunden worden wären. Ich verdrehte die Augen und befreite mich aus seinem Arm. »Schon kapiert. Okay, mir geht’s gut. Kaiba geht’s gut. Alles gut.« »Gut, wo das geklärt ist«, begann Tristan nüchtern und stemmte seinen Rucksack über den Kopf, während er mich fixierte. Ich machte ein paar Schritte zurück. Er jagte mich mit seinem Ranzen über dem Kopf, rief etwas davon, er würde mir so oft damit einen überbraten, wie er meine Nummer gestern gewählt hatte. »Und wie oft war das?«, keuchte ich, während ich ihm auswich. »Unzählige Male«, erwiderte er grimmig. Als ich stolperte, weil der Boden uneben war – oder wegen meiner Füße – ragte er über mir, den Ranzen in den Himmel erhoben und schaute zu mir hinab. Dann ließ er den Rucksack neben sich ins Gras fallen und streckte mir seine Hand entgegen. »Mach so was nie wieder, du Idiot«, sagte er dabei und ich nickte, während ich seine Hand ergriff und mich hochzog. Yugi lächelte und folgte uns. Wir – außer Yugi natürlich – kamen verschwitzt und außer Puste im Klassenzimmer an. Tristan erzählte gerade etwas davon, wie Mokuba ihnen gestern das mit der Polizei ausgeredet hatte, als ich Kaiba in der hintersten Reihe entdeckte. Er nahm einen Schluck aus einem Pappbecher, tippte dabei etwas auf seinem Laptop und ignorierte die Schüler um ihn herum. Tristan und Yugi bogen in eine der mittleren Reihen ab. Ich indessen drückte meinen Rücken durch und stolzierte zu ihm, blieb vor ihm stehen, der Tisch und der Bildschirm seines Laptops zwischen uns. »Mein Handy«, verlangte ich, ohne irgendeine Begrüßung. Kaiba nahm einen weiteren Schluck, machte keine Anstalten mein Phone herauszurücken – er zeigte, um genau zu sein, nicht eine Reaktion, meine Anwesenheit zu bemerken. Ich biss meine Zähne zusammen. »Kaiba«, murrte ich, »ich will mein Handy zurück. Und zwar –« »Das hat Zeit.« Mein Mund klappte zu. Er klang entschieden. »Der Unterricht beginnt gleich.« »Seit wann interessiert dich der blöde Unterricht?« »Dich sollte er interessieren. Oder wolltest du lediglich dein Handy zurück, um dann wieder zu schwänzen?« Er schaute mich nicht an, tippte einfach weiter, als kostete ihn dieses Gespräch nicht genug Anstrengung, um damit aufhören zu müssen. »Ich habe gehört, du warst gestern auch nicht hier«, ätzte ich, schob meine Hände in die Hosentasche und stierte ihn finster an. »Ich habe gestern unter anderem wichtige Anrufe getätigt«, erwiderte er, dann schaute er auf und fixierte mich. »Ich denke, dass unser Gespräch gestern essentiell war. Mir sind ein paar Dinge klar geworden und ich habe entsprechend gehandelt.« Meine Augenbrauen kletterten nah oben, ich öffnete meinen Mund, wusste aber nicht, was ich sagen sollte. Sein Blick wanderte über meine Klamotten und seine Lippen pressten sich zu einem Strich. »Ich denke, du solltest deine Uniform mal wieder wechseln. Deine Hose ist voller Grasflecken.« »Halt die Klappe, Geldsack«, knurrte ich, doch er fuhr fort, als hätte ich ihn nicht unterbrochen. »Da das aber wahrscheinlich derzeit deine einzige Uniform ist –« »Ich will mein Handy. Jetzt!«, zeterte ich und er ließ den letzten Satz unbeendet zwischen uns schweben, kräuselte seine Lippen und wandte sich wieder seinem Laptop zu. »Mister Wheeler! Please sit down!« Unser Englischlehrer schaltete den Beamer an und allgemeine Begeisterung brach aus, als er eine DVD in den PC einlegte. Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Ich ließ mich demonstrativ neben Kaiba nieder, was der ignorierte und flüsterte ihm alle fünf Minuten zu, dass er mein Handy herausrücken sollte. Und zwar sofort. Den düsteren Blick, den ich Kaiba dabei von der Seite zuwarf, bemerkte der sicherlich, reagierte aber genauso wenig darauf wie auf meine Drohungen, ich würde das den ganzen Tag durchhalten. Als sein Mundwinkel zuckte, verschränkte ich beleidigt meine Arme vor der Brust und folgte dem Film für ein paar Szenen. Dieser Mister Darcy erinnerte mich an Kaiba. Ein arroganter Arsch. Beide. »Sechsundvierzig Mal«, sagte Kaiba beiläufig und ich tat so, als ginge es mir am Arsch vorbei, aber ich hielt den Atmen an, »so oft hat dein Freund Tristan gestern angerufen, fünfunddreißig Mal Yugi. Denkst du, die Anzahl ihrer Anrufe korreliert mit der Innigkeit ihrer Freundschaft zu dir?« Er hielt mein Handy in der Hand und schnaubte leise. Kurz wollte ich dem Impuls folgen, ihm mein Handy aus den Fingern zu reißen, aber er schaute mich an, als wüsste er genau, woran ich dachte. Also ließ ich es und ignorierte ihn. Es war verdammt schwer. Nach der Stunde, stand ich ohne ein Wort zu verlieren auf und schlenderte zu Yugi und Tristan, wo ich die nächsten Unterrichtsstunden blieb. Sie fragten nicht, was los war – wahrscheinlich konnten sie es sich denken. In der Pause saßen wir draußen auf einer der Bänke im Schulhof. Yugi und Tristan zockten eine Runde DuelMonster, während ich zu Kaiba starrte, der – was sonst – auf seinem Laptop tippte. »Er ist ein Arsch«, presste ich zwischen meinen Lippen hervor. Tristan seufzte, sagte aber nichts. »Ich aktiviere –« »Mit tausend Prozent ist er der größte Arsch, den es hier gibt – achwas, auf der ganzen Welt!«, unterbrach ich Yugi und verschränkte die Arme vor meiner Brust. »Ich aktiviere Wiedergeburt«, fuhr er fort, legte die Karte auf der Bank zwischen sich und Tristan um und durchsuchte die wenigen Karten auf seinem Friedhof. »Er ist –«, begann ich, als Tristan mich genervt anschaute. »Geh endlich zu ihm, verdammt! Und sag es ihm statt uns!« Tristan verlor gerade eine Menge Lebenspunkte, was keine Überraschung war. Er spielte gegen Yugi. Das war so, als langte man mit nassen Fingern in die Steckdose und erwartete den Stromschlag. Oder als beschimpfte man Kaibas Firma in dessen Gegenwart. Eine Reaktion kam in der einen oder anderen Form. »Ich soll zu Kaiba gehen und ihm sagen, dass er ein Arsch ist?«, fragte ich und überlegte. Im besten Falle würde ich Kaiba so nerven, dass er mir das Handy überließ. Im schlimmsten Fall würde er mich ignorieren. Oder gehörte das eher auch zu einem positiven Szenario? »Und am besten sagst du ihm gleich dazu, dass du ihn vermisst«, meckerte Tristan lauter als nötig gewesen wäre. Ein paar Mitschüler schauten zu uns. Mein Herz sackte in meine Schuhe. Der Zorn wie weggeblasen und das Gefühl, dass hunderte Raupen die Magenwände entlangkrochen. Es schüttelte mich. »Du spinnst doch«, knurrte ich, packte aber meine Schultasche und schulterte sie. Tristan war eh am Verlieren, Yugi würde wie immer gewinnen. Hier würde ich nichts Aufregendes verpassen. Zuerst schlenderte ich, dann schritt ich zielstrebig schräg über den Hof zu der Bank, die abseits stand und die Kaiba für sich beanspruchte. Er brauchte kein Schild, auf dem stand »Betreten auf eigene Gefahr« – das sagte seine gesamte Haltung. Ohne aufzusehen und bevor ich den Mund hatte öffnen können, wiegelte er mich ab. »Ich hab kein Eis für dich, Hündchen.« Wo eben noch Zorn meine Adern durchflutet hatte und der Vorsatz, ihm mein Handy abzunehmen – egal zu welchem Preis – flutete mich ein völlig unerwartetes Gefühl. Ich musste grinsen. Als keine Widerrede kam, sah er vom Bildschirm auf. Sein verwirrter Blick ließ meine Kontrolle zerbröseln. Ich, Joey Wheeler, stand vor ihm und prustete, bekam mich gar nicht mehr ein. Und obwohl ich die Augenpaare um mich herum wahrnahm, war es mir total egal. Ich setzte mich neben ihn und verfiel in immer neue Lachanfälle, rieb mir die Tränen aus den Augenwinkeln und versuchte etwas zu sagen, schaffte es nicht und lachte stattdessen einfach weiter. »Wheeler«, knurrte Kaiba und hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gedacht, ihm wäre die Situation unangenehm. Ich beruhigte mich langsam und ließ mich neben ihn auf die Bank plumpsen. »Warum –«, wollte er mahnend wissen Doch ich schüttelte den Kopf und grinste. Die Frage konnte er sich schenken. Ich wusste es selbst nicht. Ich wusste nur, dass da dieses Gefühl war. Das, das mich an den Spieleladen erinnerte, an Yugis Großvater und Eis, das ich mit Kaiba im Garten gegessen hatte. Obwohl wir gerade gar kein Eis aßen. Vielleicht wurde ich verrückt. Endgültig. Ich lehnte mich zu ihm und blinzelte. »Du spielst!«, rief ich und rückte noch ein bisschen näher. Seine Schuluniform roch nach frisch gewaschen. Es erinnerte mich an den Duft seines Mantels. Vielleicht drängte ihn die Überraschung in meiner Stimme zu einer Reaktion. Sein Gesichtsausdruck jedenfalls wirkte genervt, als hätte ich ihm erzählt, der Himmel wäre blau. Etwas so Offensichtliches, dass es kein Kommentar brauchte. Er stierte auf den Bildschirm. »Es ist Pause, Wheeler. Und ich spiele nicht, ich gehe verschiedene Spielzüge durch, um meine Strategie –« »Ja, ja.« Ich wedelte mit der Hand. Egal, wie er es formulierte. Seto Kaiba spielte auf seinem Laptop eine virtuelle Version des Kartenspiels. »Warum spielst du nicht lieber eine richtige Runde?« Er schnaubte, als hätte ich ihm gerade erzählt, dass Tristan am liebsten Döner aß. Etwas, das ihn absolut nicht interessierte. »Ich mein: nicht gegen einen Computer. Warum nicht gegen Yugi?« Jetzt schaute er doch wieder auf, seine Lippen gekräuselt. Mir fiel auf, dass er auch seine Nase kräuselte und wenn man ganz genau schaute, dann konnte man da ein paar Sommersprossen erkennen. Mein Blick wanderte von seiner Nase zu seinen Augen. Blau. Wie der Himmel. Als hätte jemand eine Eisschicht auf den Himmel gehämmert. Mit Blitzen verschraubt. Er schaute irritiert. »Warum schiebst du Yugi vor? Fürchtest du dich selbst dermaßen vor einer Niederlage, dass du deine Freunde vorschiebst?«, spöttelte er. Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, das den Hohn unterstrich. In meinem Magen polterte mein Herz und ich schmeckte Galle. Bitter und ätzend. »Ich hab eher gedacht, dass du lieber gegen ihn als gegen mich spielst.« Ich zuckte die Schultern und wich seinem Blick aus. Ich wollte es nicht zugeben, aber der Gedanke war, als verpasste mir jemand einen Hieb. Nicht, weil Kaiba mich nicht als ebenbürtigen Duellanten akzeptieren wollte. »Nicht heute«, erwiderte er langsam, als müsste er seine Worte mit Sorgfalt wählen, und ich starrte ihn an. Er lehnte sich zurück, schaute schon wieder auf seinen Bildschirm, während er fortfuhr. »Ich werde gegen Yugi früh genug spielen.« Klar, das Turnier, dämmerte es mir. »Mhm«, murmelte ich und wollte ihn fragen, was gegen ein Spiel zwischen uns sprach. Aber ich verkniff es mir. Vielleicht wollte ich es gar nicht wissen. »Gut, dann – geh ich wieder.« Ich erhob mich träge, zögerte, als Kaiba nichts sagte und schob etwas hinterher, um sein Schweigen zu überspielen. »Yugi hat Tris inzwischen auf jeden Fall geschlagen und es ist noch Zeit dafür, dass er mich auch einmal in der Pause schlägt.« Ich seufzte, aber es machte mir nichts. Kaiba kräuselte die Stirn, dann beugte er sich zur Seite, wo neben der Bank sein Aktenkoffer stand, öffnete ihn und kramte darin herum. »Wenn Yugi das nächste Mal seinen schwarzen Magier spielt, aktiviere die hier.« Er drückte mir eine Fallenkarte in die Hand, die ich voller Unglaube betrachtete. Kartenvernichtungsvirus stand drauf und zeigte lila Viren. Ich runzelte die Stirn. »Ich denke nicht, dass –« Yugi spielte in einer anderen Liga. Das wusste Tristan, das wusste ich, das wusste Kaiba. Warum also so tun, als wäre es nicht so? Manchmal konnte man eben nicht gewinnen. Doch Kaiba schnaubte, ehe ich das hätte aussprechen können. »Du denkst nicht, dass du gewinnen kannst. Deswegen probierst du es nicht ernsthaft. Würdest du es ernsthaft versuchen und verlieren, hättest du ja nicht mehr die Option davon zu träumen, du könntest es, wenn du es ernsthaft versuchen würdest.« Ich schwieg einen Moment und begutachtete die Karte. Mir kam der Gedanke, dass er nicht nur auf DuelMonsters anspielte, aber vielleicht interpretierte ich auch zu viel in seine Worte. »Okay.« Ich dehnte das Wort drei Sekunden. »Danke.« »Bedank dich erst, wenn du Yugi geschlagen hast«, erwiderte er schroff und tippte weiter auf seinem Laptop. Ich grinste, schaute mich nach Yugi und Tris um und entdeckte Thea, die neben Yugi auf der Bank saß, Tris ihr gegenüber. Mein Grinsen schmälerte sich. Ich warf Kaiba noch einen Blick zu, aber der war in seiner Strategie versunken, also zog ich meine Tasche über eine Schulter und trottete davon. Als ich bei Yugi, Tris und dieser Thea auftauchte, spielte sie eine Runde DuelMonsters gegen Tristan und benutzte dafür Yugis Karten. Tris begrüßte mich mit einem »Ich wechsel mit dem hier in den Angriffsmodus«, während Yugi mich anlächelte, seine Augenbrauen kurz hob, doch ich bedeutete ihm, dass ich es ihm später erzählen würde. Stattdessen konzentrierten wir uns auf das Spiel. Obwohl Yugi Thea ununterbrochen etwas erklärte und sie lenkte, schaffte sie es gegen Tristan zu verlieren. »Oh, verdammt«, sagte sie, aber lächelte Yugi an, der mit geröteten Wangen zurückstrahlte. »Keine Sorge. Du hast sehr gut gespielt. Der Rest ist Übung – und ein bisschen Glück«, behauptete er. Ich starrte ihn ungläubig an, wechselte dann einen Blick mit Tris. Diese Thea hatte nach keiner Definition sehr gut gespielt. Mit Yugis Karten und Yugis Unterstützung zu verlieren war, als könnte man mit Seto Kaibas Firma und seiner Unterstützung keinen Computer zusammenschrauben. Ich öffnete den Mund, doch Tristan stieß mir seinen Ellenbogen in die Seite, was er als übertriebene und verspätete Begrüßung tarnte. »Du bist dran«, behauptete er grinsend und tat so, als wäre nichts gewesen. Ich spielte eine Runde DuelMonsters gegen Yugi, aber ich verschwieg die Karte, die Kaiba mir anvertraut hatte – oder überhaupt alles Konkrete, über das wir gesprochen hatten. Als ich die Fallenkarte zog, entschied ich mich dafür, sie noch nicht einzusetzen. Zumindest nicht vor Thea. Yugi kannte mein Deck, so wie ich seines. Eine fremde Karte – und dazu eine wertvolle – würde mich in Erklärungsnot bringen. Es würde zu Kaiba führen und unserem Gespräch und unweigerlich würden Fragen auftauchen, die ich weder den beiden, noch den dreien noch mir beantworten wollte. Zehn Minuten vor Ende der Pause sanken meine Lebenspunkte auf Null. Kaiba schritt natürlich in dem Moment an unserer Bank vorbei, warf einen Blick zwischen uns, wo die Karten lagen und schnaubte. »Warum spielt sie sehr gut und ich bekomm nur den Blick«, brummte ich so, dass nur Tristan es hörte. Er brach in Lachen aus.   Nach der Schule warf ich einen Kuli und den Block in meinen Ranzen, Yugi erzählte etwas davon, dass er mit Thea gemeinsam – »Wheeler, morgen halb vier in meinem Büro«, durchschnitt Kaibas Stimme Yugis Satz und ich seufzte. »Natürlich, Geldsack.« Und hob meine Hand an die Stirn, als wären wir beim Militär. »Mach das nochmal und ich sorg dafür, dass dich niemand jemals einstellen wird«, fuhr er mich an und ich senkte entgeistert meine Hand. »Was zur Hölle – bleib mal ruhig. War nur n Scherz.« Ich wechselte einen Blick mit Yugi und Tris, aber die beiden waren genauso planlos wie ich. Kaiba rauschte an uns vorbei. Er war schon zur Tür, als ich mich aufraffte und ihm nachsetzte. »Hey, Kaiba. Warte mal! Was – war das?« Er blieb nicht stehen, schritt einfach weiter und ich rannte halb, um mitzuhalten. »Geht dich nichts an«, spie er. »Schön«, erwiderte ich angepisst und verstand gar nichts mehr. »Wenn du dich dann nicht mehr wie ein Arsch verhältst –« »Wenn du dich nicht mehr wie ein Idiot verhältst«, zischte er. »Wenn du dich nicht mehr wie ein Wahnsinniger!« Er blieb stehen, atmete hektisch, aber ich wusste nicht, ob wegen des schnellen Schritts von eben oder weil er wütend war. Denn das war er eindeutig. »Und du dich nicht wie ein Verlierer, der Angst hat, den Versuch zu wagen, zu gewinnen«, höhnte er. Das verschlug mir einen Moment jede Erwiderung. Wir standen auf dem Flur, unsere Mitschüler machten einen weiten Bogen um uns und tuschelten. Kaiba mir gegenüber, den Aktenkoffer in der Hand, die lange Schuluniform trotz sommerlicher Temperaturen an und einem Blick, mit dem man normalerweise Taubenscheiße auf den Schuhen betrachtete. »Ich weiß nicht, was wieder bei dir grade kaputt gegangen ist«, presste ich zwischen meine Lippen hindurch und hoffte, dass er einfach die Klappe hielt, denn andernfalls konnte ich für nichts garantieren. »Aber ich denke, es ist an der Zeit, dass du mir mein Handy zurückgibst, Eisschrank.« Ich rechnete mit Wut, Beleidigungen, Hohn und Spott. Als er mir einfach mein Smartphone zuschmiss, blinzelte ich es an – dann ihn. Doch er hatte sich bereits umgewandt und schritt davon.   Den nächsten Tag ignorierte Kaiba mich. Ich nahm es hin. So hatte alles begonnen. Wir hatten uns nie gemocht, hatten uns ignoriert, gestritten und wieder ignoriert. Es war nichts Neues. Neu im Vergleich zu den ersten Tagen, in denen wir uns gekannt hatten, war, dass ich ihm nach der Schule wie ein unbeliebtes Haustier folgte und mit ihm hinten in einer Limousine zur Kaiba Corporation fuhr.   Ich marschierte in die Hauptfiliale, wo alle Platz für Kaiba machten, ihn mit Guten Tag, Herr Kaiba! und Ich bringe Ihnen sofort die Akte, Herr Kaiba! begrüßten oder mit diesen Blicken. Ich war unsichtbar – und das waren noch die angenehmen Situationen. Denn als die ersten begriffen hatten, dass ich Joey Wheeler war, machten plötzlich auch alle Platz für mich, betrachteten mich, als wäre mir noch ein Kopf gewachsen – aus dem Arsch. »Ich habe von Ihrer Arbeit an der Werbekampagne gehört! Wundervoll!«, behauptete einer der Sekretäre mit Headset im Lift und nickte übertrieben eifrig den Kopf. »Wir erwarten das Ergebnis voller Vorfreude!«, fügte eine andere an und sprach in der nächsten Sekunde in das Mikrophon und bestellte etwas, das nach einem Titel eines Kung Fu-Films klang. Sie stiegen ein Stockwerk unter uns aus, erst dann genehmigte ich mir, mein Gesicht zu verziehen. Im Augenwinkel glaubte ich zu sehen, wie Kaibas Mundwinkel dabei zuckte, aber als er vor mir in seinem Bürosessel saß, starrte er aus dem Fenster, sein Mund dünn, seine Augen verengt. Ich wusste nicht, warum er so zornig war. Und ich würde den Teufel tun, danach zu fragen, also saß ich vor ihm – wie ein ungehöriger Schüler – und schwieg. Es brannte mir im Rachen zu fragen, was er eigentlich wollte, also presste ich die Lippen aufeinander, als könnte das verhindern, dass mir irgendetwas entwich.   »Mokuba meinte, es wäre keine Andeutung auf Gozaburo Kaiba gewesen«, durchschnitt er die Stille im Büro. Seine Stimme barg unterdrückten Zorn und so etwas wie eine Frage. Als hätte er ein Gerücht gehört und wüsste nicht, ob er wirklich glauben sollte, dass es nur erfunden war. »Auf – was?«, hakte ich nach und hörte selbst, dass ich eine Spur zu amüsiert klang. Als wäre das alles nur ein schlechter Scherz. Jetzt blitzte er mich an. »Der militärische Gruß.« Ich hätte ebenso viel verstanden, hätte er mit mir über die aktuelle Aktienbilanz seiner Firma diskutieren wollen und wollte ihm das gerade auch sagen, als ich endlich begriff, worauf er anspielte. »Ist das dein Ernst?«, fragte ich mit großen Augen. »Warum sollte ich – wie bist du darauf gekommen?« Er drehte sich auf dem Bürosessel langsam mit dem Körper zu mir um – nicht nur mit seinem Gesicht – und trommelte mit seiner rechten Hand auf die Tischoberfläche. »Ich habe dir von ihm erzählt. Ich dachte, du würdest das nun doch gegen mich verwenden.« »Gegen dich verwenden?«, echote ich. Kaiba war ein Arsch, das wusste ich, aber dass er ein paranoider Arsch war, war irgendwie neu. Oder? »Ich hab einfach nicht dran gedacht, okay? Es war ein blöder Scherz. Nicht mehr«, sagte ich. Kaiba hörte auf, mit den Fingern zu trommeln und zog Akten aus seiner Schreibtischschublade. »Sorry«, schob ich nach, doch er ignorierte es, stattdessen drückte er einen Knopf auf seinem Schreibtisch und wies seine Sekretärin an, Kaffee zu bringen. »Ja, zwei Mal. Mit allem«, erwiderte er auf eine Nachfrage, die ich nicht mitbekam. Nur wenige Minuten später klopfte jemand und nach Kaibas Aufforderung, kam die Sekretärin herein mit einem kleinen Tablett, auf dem zwei Tassen standen, Zucker und Milch. Der Duft von Kaffee stieg in meine Nase. Kaiba sagte nichts, während die Frau das Tablett auf den Schreibtisch abstellte, sondern schlug eine der Akten vor sich auf, welche er nicht einmal las. Vielleicht kannte er sie eh auswendig. Ich dankte der Sekretärin, wofür sie mir ein Lächeln schenkte. Sie schloss die Tür hinter sich. »Wofür Milch?«, fragte ich und brachte Kaiba dazu, mir einen irritierten Blick über die Akte hinweg zuzuwerfen. »Morgens schwarz, mittags mit Zucker, abends mit Milch«, erklärte ich und zuckte die Schultern. Er starrte mich an. »Ich wusste nicht, wie du deinen Kaffee trinkst«, sagte er und jetzt starrte ich ihn an. Das war das erste Mal, dass er mir Kaffee anbot – oder es in Erwägung zog. Und obwohl ich nicht wusste warum, dachte ich, dass es irgendetwas bedeutete. Ich nahm die Tasse, schüttete Zucker hinein und so viel Milch, dass aus dem Schwarz ein sanftes Braun wurde. »Das nächste Mal sparen wir uns den Kaffee und du trinkst einfach nur Milch« bemerkte er trocken. Ich rührte demonstrativ mit einem Löffel in dem Kaffee. Er nahm einen Schluck seines eigenen und lehnte sich dann zurück, legte die Fingerkuppen aneinander und betrachtete mich. Ich hätte wetten können, dass jetzt irgendetwas wegen der Kampagne kam. Irgendeine Aufgabe oder ein Anschiss. Ich hätte mit Tris um meine Ehre gewettet. »Du glaubst, dass mit mir etwas emotional nicht stimmt, weil ich nicht um meinen Vater getrauert habe.« Und hätte sie verloren. Ich ließ die Tasse in meinen Händen sinken und überlegte, während ich Kaiba anstarrte. Dass etwas emotional mit ihm nicht stimmte – ich denke, das hätte niemand bestritten. »Ich denk einfach, es ist okay um jemanden zu trauern – auch, wenn der scheiße war«, antwortete ich vorsichtig. Dass Kaiba und seine Vaterfiguren ein Thema voller Minenfelder war, war jetzt nichts Neues. Vielleicht war es auch eine Fangfrage – obwohl es keine Frage war. Ich war verwirrt. Immerhin war ich auch davon überzeugt, dass mit mir emotional etwas nicht stimmte. Warum saß ich überhaupt hier in seinem Büro? »Wie edelmütig«, erwiderte er ironisch, nahm einen Schluck und fixierte mich. »Wenn dein Vater stirbt, wirst du um ihn trauern?« Im ersten Moment dachte ich, ich hätte mich verhört. »Ich hoff mal, dass er nicht stirbt«, entgegnete ich. »Und wenn doch?« Ich betrachtete den Inhalt meiner Tasse für einen Moment. Sicher sein konnte man immer erst danach. Mein Vater war ein Arsch. Anders als Kaiba hatte er mich mehr als einmal liegen lassen. Er hatte mich nicht nur geschlagen, sondern auch emotional fertig gemacht. Und trotzdem. Ich zögerte. »Ich denke, ja«, murmelte ich unsicher. Jetzt lehnte sich Kaiba vor, stützte seine Ellenbogen auf die Tischplatte und betrachtete mein Gesicht, als versuchte er, es sich einzuprägen. Es fühlte sich an, als wäre ich ein Experiment, das er studierte. Ich nahm mir vor, ihm durch meine Miene nicht mehr preiszugeben als ich wollte – so wie er das immer tat. Doch mit seiner nächsten Frage, scheiterte ich mit jedem Vorsatz. Ich starrte ihn an, dann zerplatzte eine Schranke in meinen Gedanken und im nächsten Moment presste ich ihn gegen den Schreibtischstuhl. Seine Frage hing noch in der Luft.   »Und wenn deine Mutter stirbt?« Kapitel 38: … ist am richtigen Ort ---------------------------------- __________________________________________     Er, der unzufrieden ist an einem Ort, wird selten glücklicher an einem anderen Ort. Aesop __________________________________________             Seto Kaiba ragte über den anderen. Er war immer weit vorne mit dabei, oft allen voraus. Es hatte Häuser und Wohnungen in der ganzen Welt, kannte Leute, die ihrerseits Experten auf ihrem Gebiet waren. Selbst unter ihnen war er besonders – besonders jung, besonders talentiert, stark, gerühmt und beneidet. Auch wenn Kaiba bei ihnen war, war er nicht am richtigen Ort.   Ich presste ihn gegen den Schreibtischstuhl, meine Fäuste auf seinen Schultern und mein Blick, mit dem ich glaubte, ihn verbrennen zu können. »Lass sie da raus«, wiederholte ich, »hör auf mit deinem kranken Spiel, Kaiba.« »Hast du Angst vor der Antwort?«, flüsterte er ganz ruhig, griff nach meinen Händen und hielt sie. Vielleicht, um sicherzustellen, dass ich nicht doch zuschlug. Vielleicht, um mir Halt zu geben. Die Gedanken an meine Mutter ließen den Boden beben. Er wurde zu einem unebenen Matsch, auf dem man nicht geradeaus gehen konnte. Ich wollte meine Hände aus Kaibas ziehen und einfach abhauen. Aber der Boden verschlang mich und die Worte meines Vaters dröhnten in meinen Ohren. Hau doch ab. So wie deine Mutter. Ich glaubte, mich selbst zu verlieren, griff nach seinem Hemd und presste mein Gesicht an seinen Brustkorb. Ich wollte ihn spüren. »Wheeler, deine Gefühlswechsel sind wie die einer schwangeren Frau«, murrte Kaiba, doch es war mir egal. »Die Panikattacke wird –« Das machte Sinn, dachte ich durch die fette Schicht Nebel in meinem Hirn. Es war nur eine Panikattacke. Hatte ja länger keine mehr gehabt. Ob Kaiba so etwas Ähnliches spürte, wenn ich von seinem Vater sprach oder seiner Mutter oder Gozaburo? War er deswegen so ausgeflippt? »Wir sind beide emotionale Krüppel«, murmelte ich in sein Hemd. Und eine Erkenntnis zündete etwas in meinem Magen, das mich in Kaibas Armen erbeben ließ. Ich versuchte, es zu unterdrücken, aber es bohrte sich durch meine Lungen bis in meinen Hals und schüttelte mich. Kaiba drückte mich einen Arm weit weg und musterte mich irritiert. »Warum lachst du?« Es stand in seinem Gesicht, dass er kalkulierte, wie meschugge ich jetzt war. Ich konnte nicht mehr an mich halten und brach erneut in Lachen aus, schüttelte den Kopf und lehnte mich wieder an ihn. Nur mit Mühe brachte ich Silben in sinnvollen Worten zusammen, die sein Hemd teils schluckten. »Weil‘ch -mal in mein- Leben bin wie du!«, erklärte ich amüsiert. Er schnaufte. »Wunderbar«, erwiderte er trocken. Ich grinste und spürte, dass es wackelte, aber es brach nicht zusammen. »Seit ich ein Kind war, meinte mein Vater, ich sollte mir eine Scheibe von dir abschneiden. Scheint, wir hätten die falsche gemeinsam – bestimmt nicht die, die er gemeint hatte«, murmelte ich und lag halb auf ihm, eine Wange an seinem Hemd, meine Finger in den Stoff vergraben. Es war unbequem, doch ich rührte mich nicht und er schob mich nicht weg. »Warum bin ich eigentlich hier?«, wollte ich wissen, machte aber keine Anstalten, mich zu bewegen. »Wenn ich das wüsste«, murmelte Kaiba, seine Hand ruhte auf meinem Rücken. Sein Atem ging mit meinem im selben Rhythmus. In meinem Magen purzelten Raupen. In diesem Moment wünschte ich mir, ich würde mich für den Rest meines Lebens so fühlen.   »Wheeler«, murrte er, aber ich ignorierte ihn. Ich wusste, das war es. Das Ende dieses Moments. Kaiba drückte mich von seiner Brust. »Setz dich wieder.« Ich ließ mich auf seinem Schoß nieder. »Auf den Stuhl!«, knurrte er, aber ich war mir sicher, dass sein Mundwinkel zuckte. »Achso.« Ich machte mich also auf dem Stuhl gegenüber des Schreibtischs breit. Zwischen uns die Tischplatte, zwei Bildschirme und Fragen, die ich nicht stellte. »Kommen wir zum Geschäftlichen.« Kaiba rückte seine Krawatte zurecht und räusperte sich. Er hielt mir einen Vortrag über Rechte und Pflichten während der Promotion. Wiederholte das mit der Loyalität und Verschwiegenheit und musterte mich mit verengten Augenlidern, als ich irgendwann gähnte. Er trichterte mir ein, dass ich nicht mit irgendwelchen Reportern erzählen sollte, sondern meine Klappe halten. Ich dachte daran, wie sehr er wohl ausrasten würde, wenn ich ihn jetzt einfach küsste. »Du sagst nicht einmal, dass du keinen Kommentar gibst, hast du verstanden?« Ich nickte langsam. Dann schüttelte ich den Kopf und er verdrehte die Augen. »Welche Reporter?«, fragte ich. Würde er mich von der Security abschleppen lassen? »Wheeler, wie hast du dir die Werbekampagne vorgestellt?« Ich öffnete den Mund, doch er winkte mit der Hand, als erwartete er keine Antowort, und fuhr fort. »Dass wir überall deine Bilderchen ankleben und dann?« »Ähm –« Vielleicht würde es auch nur bei der Androhung bleiben. »Sarah sollte mit dir inzwischen darüber gesprochen haben. Es geht nicht nur um deine künstlerischen Fähigkeiten, sondern darum, dass du absolut nichts Besonderes bist.« Ich blinzelte, seine Worte in den Ohren. »Hey!«, knurrte ich viel zu spät und funkelte ihn an. Vielleicht wäre er auch zu irritiert, um etwas zu sagen. »Das war positiv gemeint«, behauptete Kaiba, lehnte sich zurück und verschränkte seine Finger ineinander. Ich schnaubte. »Was soll daran –« »Mit dir identifizieren sich die Menschen. Sie erkennen sich in dir wieder. Du bist der Kumpel von nebenan, der Junge vom Verein, der beste Freund.« So hatte ich das noch nie gesehen. Die Menschen sahen in mir normalerweise den Bengel, den Rebell, der nicht tat, was er sollte und das was er tun sollte, verbockte. Was sah eigentlich Kaiba in mir? »Wir werden dich vermarkten«, schloss Kaiba und ich zögerte. War das gut? »Ja, okay.« Es klang eher wie eine Frage. »Und das heißt?«, hakte ich nach. »Videos und Bilder für die Werbekampagne. Mit deinen Freunden.« »Und was genau müssen wir da machen?« Ich beäugte ihn misstrauisch, blieb an seinen Lippen hängen und starrte dafür umso finsterer. »Ein paar Sätze in eine Kamera sagen. Lächeln. Spielen. Das, was ihr den Tag über eh tut.« Kaiba wedelte mit der Hand und klang gelangweilt, als wäre mein Leben und das von Tris und Yugi reine Zeitverschwendung. »Versteh ich das richtig? Jemand macht Bilder und Videos und so für die Werbekampagne – von uns – und wir kriegen Geld dafür – einfach nur die zu sein, die wir halt sind?« »Natürlich werden auch deine Freunde Verträge bekommen. Ihr dürft nicht über eure Arbeit in der Öffentlichkeit sprechen. Keine Interviews, keine Video-Tagebücher oder was auch immer dir für ein unzumutbares Zeug einfällt. Nichts, was nicht ausdrücklich abgesprochen wurde. Kapiert?« Ich nickte und streckte meine Arme, während ich mich nach hinten lehnte und grinste. Wenn ich es vorher mit ihm absprechen würde – würde er es zulassen? »Wie steht Yugi zu Thea Gardner?«, wollte Kaiba wissen und ich stutzte. »Wer? Thea? Keine Ahnung«, murmelte ich. Ihr Name schmälerte mein Grinsen. »Woher weißt du von ihr?« »Einfache Recherche«, erwiderte Kaiba und blätterte durch die Akte. Ich setzte mich auf. »Moment. Sind das Infos über sie? Hast du – Detektive auf sie angesetzt? Hat sie was verbrochen?« Kaiba zog die Augenbrauen hoch. »Das sind die Verträge für deine Freunde«, erwiderte er und meine Neugierde verpuffte, ich sank wieder zusammen, rutschte nach vorne auf dem Sitz. »Achso.« Thea Gardner also. »Ich glaube, Yugi mag sie und sie mag Yugi«, erklärte ich und verzog das Gesicht. Ausgerechnet so eine wie Thea. »Und du?«, fragte Kaiba nach und in seinen Augen funkelte etwas. Ich zuckte die Schultern, kratzte an meiner Stirn und erwiderte seinen Blick. Kaiba schaute in die Akte, blätterte eine Seite weiter, las etwas und schlug die Seite um. »Sie ist eine besserwisserische Wichtigtuerin. Steht gerne im Mittelpunkt. Hat gegen Tris verloren in DuelMonsters«, fasste ich meinen ersten und zweiten Eindruck zusammen und griff mit einer Hand in mein Haar. »Mit Yugis Karten! Mit Yugis Hilfe!«, fügte ich hinzu. Mein Unglaube zwischen jeder Silbe. »Kannst du dir das vorstellen? Es ist einfach –« Jetzt schaute Kaiba auf und sein Mundwinkel zuckte, doch als er sprach klang er nüchtern. »Gut, das wäre dann alles. In den Sommerferien beginnt die Hauptphase. Wir werden deinen Freunden die Verträge zusenden. Wenn du möchtest, wäre es nicht von Nachteil, wenn du vorher mit ihnen über die Kampagne sprichst. Sie werden allerdings durch ein Team in jedem Falle eingewiesen, sollten sie interessiert sein. Sollten sie Fragen haben –« »Kaiba, wir sind in einer Klasse«, bemerkte ich trocken und es brachte ihn tatsächlich einen Moment aus dem Konzept. Vielleicht, weil ihn sonst niemand wagte zu unterbrechen – oder weil er normalerweise mit Vertragspartnern nicht in einer Klasse war. »Ja«, sagte er gedehnt, »aber über Firmeninternes spreche ich nur in der Firma und zu speziellen Anlässen. Du darfst jetzt gehen. Sarah wartet unten auf dich.« Es klang nach Geh jetzt endlich, ich habe noch wichtige Termine. Ich zögerte, erhob mich langsam, als hätte ich etwas vergessen zu sagen, und warf ihm einen Blick zu. Seto Kaiba, Krawatte und Hemd, Laptop, CEO einer der renommiertesten Unternehmen des Landes – der Welt? – und ich. Ich schaute an mir runter. Ich wusste, er wurde ungeduldig, denn er lehnte die Finger aneinander und stierte mich ab, als könnte er mich so zu Tür zwingen. Die Frage war gar nicht, wie er reagieren würde. »Arbeite nicht zu lange, Geldsack«, verabschiedete ich mich, während ich aufstand und grinste ihm schmal zu. Er sah mir nach. Dann zog ich die Tür zu.   Sarah empfing mich mit drei Skizzen, zwei Akten und einem Pappbecher in den Händen in ihrem Büro. Es herrschte das übliche Chaos. Sie balancierte zwischen Bilderrahmen und Computerbildschirmen. »Hier – das wäre das Format für Plakate, hier für Flyer, dieses für Soziale Netzwerke und –« Bei meinem Blick hielt sie inne. »Alles gut, Schätzchen?« Ihre Armkettchen klirrten, als sie mich an der Schulter berührte. »Ja«, hauchte ich, »alles okay, ich kann es nur nicht fassen.« Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich nicht verloren, sondern Teil von etwas Großem. Sarah lächelte mich an. Wir sprachen über meine Freunde und über mögliche Drehorte, Einstellungen, Dialoge. Sie wiederholte immer: »Authentisch! Wir wollen es authentisch!« Ihr Enthusiasmus sprang auf mich über. Die Werbekampagne nahm Form an. Noch dazu mit Tristan und Yugi. Die Sache konnte nur genial werden. Es dämmerte, als ich mich verabschiedete.   Ich hüpfte beinahe, in jedem Schritt lag Leichtigkeit und in jedem Gedanken Vorfreude. Ich konnte kaum erwarten, es Yugi zu erzählen. Die Arbeit würde richtig cool werden. Ich stellte mir vor, wie wir gemeinsam vor der Kamera lachten, während wir DuelMonsters zockten. Es würde so werden, wie wir eben waren.   Herr Muto schlief schon, also sprang ich gleich die Treppe hoch und jagte in Yugis Zimmer. Das Grinsen im Gesicht und die Ankündigung auf den Lippen starben, als ich meine Augen aufriss und mir Hitze auf die Wange stieg. Ich stolperte wieder rückwärts aus Yugis Zimmer und zog die Tür zu. Den Anblick würde ich nicht vergessen. Das Kichern erlahmte in meinem Rachen, während ich meine Augen rieb und aus dem Laden trottete. Er und Thea nackt im Bett.   Ich schlurfte durch die Nacht, mit den Händen in den Hosentaschen und war auf dem Weg, zu Tristan zu gehen, ich klingelte ihn an, aber er antwortete nicht. Hatte es wahrscheinlich wieder auf stumm geschaltet. Um die Uhrzeit fuhren keine Busse mehr, also schlenderte ich den Gehweg entlang. Ich wollte Yugi seine Privatsphäre lassen – auch, wenn diese Thea mir unsympathisch war, wenn Yugi mit ihr glücklich war, dann waren meine Gefühle gegenüber dem Mädchen unwichtig. Ein Grinsen pinnte meine Mundwinkel nach oben und ich schloss kurz die Augen. Yugi wurde erwachsen. Nicht, dass ich mehr Beweise dafür brauchte. Dieser eine reichte völlig. Es dauerte ungefähr zwanzig Minuten zu Fuß vom Spielladen zur Zentrale der Kaiba Corporation. Wenn man dabei nicht vor sich auf den Gehweg starrte, sondern hoch, dann konnte man das Gebäude schon von weiter weg sehen. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und schaute nach oben. Natürlich brannte noch Licht. Aber für heute hatte ich genug Kaiba gehabt. Das Gefühl in meinem Magen war wie Federn, die über Haut strichen.   Eine Viertelstunde später rief ich Tristan zum fünfundachtzigsten Mal an und endlich hob er mit einem »Was is’n passiert?« ab. Auf meine Story hin brach er in gedämpftes Lachen aus. »Das ist nicht lustig«, grummelte ich in mein Handy, doch Tristan bekam sich nicht mehr ein am anderen Ende. »Und jetzt machst du was? Nachts allein durch die Gegend rennen? Die beiden sind bestimmt – ähm – fertig«, er lachte schon wieder, »geh halt zurück und stell dich –« »Kann ich nicht bei dir pennen?«, fragte ich, doch Tristan schwieg. »Ist dein Alter da?«, hakte ich nach. »Ausgerechnet heute?« Tristan schwieg weiter. Das war Antwort genug. Ich kratzte meinen Nacken. Verdammt. »Ich geh einfach wieder zu Yugi. Du hast Recht. Sie werden schon – ja.« Tristans Gelächter ließ mich seufzen. »Bis dann, Alter.« »Geht das echt für dich klar?« Ich nickte, was Tristan natürlich nicht sah, schob ein »Ja, echt. Mach dir keinen Stress. Bis morgen dann!« nach und legte auf. Ich drehte mich um und schlurfte den Weg zurück. Von weitem sah ich das Gebäude der Kaiba Corporation in den Nachthimmel ragen. Es war hier zu hell, um die Sterne zu sehen, stattdessen sah ich Straßenlaternen und einzelne Fenster, in denen noch das Licht brannte. Mein Handy vibrierte und ich zog es verdutzt aus meiner Hosentasche, erst dachte ich, es wäre Tristan, aber die Nummer, die das Display zeigte, war meinem Phone unbekannt. Nebenbei stutzte ich, als ich sah, dass Yugi mir etliche Nachrichten geschrieben und versucht hatte, mich zu erreichen. Ich drückte auf den grünen Hörer. »Wheeler. Wo zur Hölle treiben dich deine Flöhe hin?« Im ersten Moment zog ich das Handy von meinem Ohr und starrte erneut den Bildschirm an. »Kaiba?«, fragte ich dann verwirrt in den Hörer. Seine Ungeduld rauschte durch die Verbindung. Bei seiner Stimme kribbelten Ameisen durch meinen Bauch. »Bringe mich nicht dazu, mich wiederholen zu müssen.« Ich fühlte mich gleich, wie ein ungezogenes Kind. »Ähm – was hast du nochmal gefragt?« Er atmete tief ein und ich hatte das Bedürfnis, meinen Kopf zwischen die Schultern zu ziehen. »Wo bist du?« Er betonte jedes Wort. »Auf dem Weg zu Yugi.« Es klang wie eine Frage. »Yugi hat Mokuba angerufen, um zu fragen, ob du bei uns zu Hause bist. Mokuba hat daraufhin mich angerufen, um zu fragen, ob du bei mir bist. Warum also wanderst du mitten in der Nacht durch die Gegend?« »Ja, also«, druckste ich herum, doch dann schnaubte ich. »Was interessiert dich das, hä?« »Spätestens dann, wenn mich mein kleiner Bruder anruft, der um die Uhrzeit schlafen soll, von deinem Freund geweckt wird, um sich nach deinem Aufenthaltsort zu erkundigen.« Meine Füße taten mir weh, mein Magen knurrte und seine Argumentation bot mir keine Lücke. Also schnaubte ich und schob beleidigt meinen Mund nach vorne und schwieg. »Wo bist du?«, verlangte Kaiba zu wissen und wiederholte sich entgegen seiner Mahnung schon zum zweiten Mal. »Aufm Weg zu Tris gewesen. Bin noch in der Robert-J.-Fischer-Straße. Ist nicht weit. Ich schreib Yugi sofort, dass ich –« »Bleib da. Wir holen dich ab.« Es war kein Angebot, es war eine Anordnung. Also zuckte ich die Schultern, dann bemerkte ich das fehlende Puzzleteil. »Moment, woher hast du –« Er hatte aufgelegt.   Fünf Minuten später hielt eine Limousine vor mir. Kaiba stieß die Tür auf und als ich seinen Blick bemerkte, rutschte ich ohne ein Wort neben ihn auf den Autositz. Ich zählte die Laternen, an denen Roland uns vorbeifuhr. Kaiba tippte auf seinem Laptop, bis er ihn mit einem Schnauben zuklappte und aus dem Autofenster starrte. Ich betrachtete seinen Hinterkopf und den Hals. Ich könnte ihn berühren, ihn zu mir ziehen und – was würde Roland denken? »Bist du irgendwie – sauer?«, fragte ich und riss mich von seinem Anblick los, nur um ihn einen Wimpernschlag später aus den Augenwinkeln zu mustern. Er massierte mit Zeigefinger und Daumen seine Nasenwurzel. »Ich bin müde«, erwiderte er. »Oh.« Es kam mir unpassend intim vor. Kaiba war nie müde. Kaiba arbeitete ohne Pause. Kaiba zeigte niemals, wie sehr es an seinen Kräften zehrte. Er gab es nie zu. Ich schluckte die Frage, woher er meine Handynummer und was für eine Nummer er benutzt hatte. Wahrscheinlich hatte er mein Gerät gehackt oder eine Geheimpolizei auf mich angesetzt. Ich wusste nicht, was naheliegender war. Ich traute ihm beides zu. Aber ich schwieg und schaute wieder aus dem Fenster, so wie er es tat. »Hast du Yugi Bescheid gegeben?«, fragte er. Ich erstarrte und sank ein wenig zusammen. Ups. »Ähm«, begann ich, zog mein Handy aus der Hosentasche und tippte Yugi schnell eine Nachricht, um ihn nicht zu wecken, falls er schon schlief. Sofort bekam ich einen Rückruf. »Joey! Endlich!«, seufzte Yugi in mein Ohr und seine Erleichterung fachte mein schlechtes Gewissen an. »Alles okay, keine Sorge«, murmelte ich. »Ich habe Mokuba angerufen, der –« »Ja, ich weiß«, unterbrach ich ihn kleinlaut. Yugi atmete tief durch, aber ehe er mir eine Predigt halten konnte, brachte ich ihn aus dem Konzept. »Sag mal – ist Thea noch da?« Kaiba beobachtete mich. Yugi schwieg einen Moment am anderen Ende und ich hoffte, die Frage klang beiläufig. »Ja, sie hat mit mir hier gewartet.« Unter anderem, fügte ich gedanklich dazu. »Moment, wie kommst du darauf?« Röte lief meine Wangen entlang. »Ähm«, stammelte ich. »Du meintest doch, du wärst – mit ihr unterwegs gewesen?« Es hörte sich mehr nach einer Frage an, als beabsichtigt. »Wo bist du jetzt?«, wollte Yugi wissen und überhörte mein Gestotter sicherlich nicht unabsichtlich. Oder? »Bei Kaiba.« Der hob die Augenbrauen, hatte seinen Kopf auf die Hand gestützt und verfolgte offensichtlich meine Worte. »Sozusagen«, fügte ich hinzu und rutschte auf dem Sitz hin und her. »Dann übernachtest du bei ihm?« Ich stutzte und erwiderte Kaibas Blick, der mich regelrecht festpinnte. »Übernachtet Thea bei dir?«, fragte ich und ließ Kaibas Blick nicht einen Moment los. Es war wie ein stiller Kampf. Yugi druckste herum. Antwort genug. Er hätte mich niemals aus seinem Zimmer geworfen, hätte niemals auf seine Privatsphäre bestanden – im Gegenteil. Er teilte schon tagelang sein Zimmer, ohne irgendetwas zu fordern, ohne auch nur ein Wort, dass es ihm irgendwie auf die Nerven ging. Yugi tat mehr als genug für mich – da konnte ich ihm heute Nacht den Rücken frei halten. »Ja, ich übernachte bei ihm«, sagte ich, ehe Yugi Thea für mich in den Wind schießen konnte. So seltsam es klang. »Was? Bist du dir sicher?« »Klar, wir sehen uns morgen.« Kaiba runzelte die Stirn und presste die Lippen aufeinander. »Gute Nacht, Yugi«, sagte ich noch und Kaibas Blick sprühte, was ich voll gespielter Gelassenheit ignorierte. In meinen Beinen marschierten Ameisen – solche die einem die Haut verbrannten. Von innen. »Gute Nacht, Joey«, murmelte Yugi zögerlich. Dann legte ich auf und schob mein Handy wieder in meine Hosentasche. »Wheeler, warum habe ich den Eindruck, dass du gerade –« »Jupp, ich schlaf heute bei dir, Geldsack. Und ich bin dir voll dankbar für alles.« Es war als stünde ich vor dem Abgrund, könnte alles von oben betrachten, aber es war zu entfernt, um zu begreifen, wer da unten meinen Namen rief. Ich verschränkte die Arme hinter dem Kopf und grinste, aber in meinem Kopf traten Gedanken die Bude ein. »Yugi wohnt von hier aus nur ein paar Straßen weiter, Hündchen, warum sollte ich dich nicht vor seiner Tür aussetzen?« Roland fuhr langsamer, als wartete er auf Anweisung. In meinen Adern marschierten Ameisen, in meinem Magen hüpften Grillen gegen die Haut, als Kaiba mich anschaute. Keine Ahnung warum. »Weil ich dann im selben Zimmer schlafen müsste wie Yugi und diese Thea«, erwiderte ich, was Kaiba zum Schnauben brachte, doch es klang nur teils genervt. War das Amüsement? »Und das ist mein Problem, weil?«, spöttelte er. Keine Ahnung warum. Kaiba bedeutete Roland rechts heranzufahren, während er seinen Kopf von mir weg drehte und aus dem Fenster sah. Sein Hals. Da zwischen Nacken und Schulter, hinter seinem Ohr, sein Brustbein. Seine linke Hand lehnte gegen den Fensterrahmen, seine andere lag auf dem Oberschenkel.  »Weil ich müde bin, weil du müde bist und weil du mich magst«, behauptete ich und weitete meine Augen in dem Moment, in dem ich es laut ausgesprochen hatte. Kaibas Blick ruckte zu mir, dann stierte er wieder aus dem Fenster. »Gewöhn dich nicht dran«, knurrte er und bedeutete Roland weiterzufahren. Ich fragte nicht, woran genau ich mich nicht gewöhnen sollte: dass er müde war, dass er mich mochte oder dass ich bei ihm übernachtete. Stattdessen ließ ich mich tiefer in den Autositz sinken und grinste.   Als Roland die Einfahrt entlangfuhr, schreckte ich hoch. War ich eingeschlafen? Irritiert schaute ich mich um. Kaiba schaute – noch immer? Wieder? – aus dem Autofenster. Dann stiegen wir aus. Es war ruhig in der Villa und sie wirkte wie ein großes, hohles Etwas, aus dem Schatten waberten. Die Flure wie leergefegt und die Stille, die jeden Schritt hallen ließ. Kaiba ging als erstes zu einem Zimmer, das er vorsichtig öffnete. Ich sah durch den geöffneten Türspalt, dass Mokuba im Bett lag. Auf dem Boden türmten sich Lego-Kartons und Flugzeuge, in der Ecke stand eine Gitarre, Stifte lagen verstreut davor. Mokuba schlief. Kaiba beugte sich über ihn und schien ihm über die Wange zu streicheln. Es war in diesem Moment, als hätte alles auf dieser Welt den richtigen Platz gefunden. Wir sagten nichts, als Kaiba die Tür hinter sich zuschloss. Stattdessen schaute er mich an und ich zurück. Meine Augen brannten vor Müdigkeit und ich sah, wie er ein Gähnen unterdrückte. Ich machte erst gar keine Anstalten, ins Gästezimmer zu gehen. Kaiba sagte nichts und folgte mir in sein Schlafzimmer. Er drückte mir wortlos eine verpackte Zahnbürste in die Hand und schmiss mir ein Shirt zu, was ich – ich verfluchte seine Sturheit – im Gästebad anzog, nachdem ich auf dem Klo gewesen war. Putzte mir die Zähne und wollte nichts mehr als schlafen. Ich verfluchte die Schule, die morgen – also heute – viel zu früh beginnen würde. Als ich in Kaibas Bett lag und mir die Augen zufielen wie Garagentore, kam mir ein Gedanke, der auf meine Eingeweide einstach und meine Augen wieder aufriss. »Kaiba«, murmelte ich. Er brummte, was er sicherlich als Halt die Klappe, Wheeler, und schlaf, verdammt nochmal! meinte, ich aber als Wenn es unbedingt sein muss, dann belästige mich mit deiner Frage auslegte. »Schläfst du oft mit irgendwelchen Typen einfach im Bett?« Es sollte irgendwie nach einem Scherz klingen, aber das tat es nicht und ich hielt den Atem an. Ich versuchte das Gefühl, das mich lähmte darauf zu schieben, dass – mir fiel nichts ein. »Nur mit blonden«, erwiderte er trocken und obwohl es so typisch Kaiba war und ich das wusste, gefror mein Magen. Als keine Erwiderung kam, seufzte Kaiba. »Schlaf, Wheeler.« Ich schwieg und starrte an die Zimmerdecke. Wenn ich meine Fuß nach rechts bewegen würde, ein bisschen strecken, dann würde ich seinen berühren. Der Gedanke elektrisierte mich. Ich bewegte mich nicht. Wenn ich meinen Arm etwas bewegen würde, nach rechts, ein bisschen gestreckt, dann würde ich seinen berühren. Ich bewegte mich nicht. Wenn ich – ich spürte, wie er sich bewegte und erstarrte. Doch er berührte mich nicht. »Nein«, flüsterte er, seine Stimme schwebte über meinem Ohr, ich spürte seinen Atem meinen Hals entlang streichen, »nein, tue ich nicht.« Um meine Eingeweide strich Samt und um meinen Magen Wärme, die jeden trüben Gedanken vertrieb. Alles war an seinem richtigen Platz. Mit einem Lächeln drückte ich mein Gesicht ins Kissen und dämmerte weg.   Das erste, was ich bemerkte, war etwas, das sich regelmäßig hob und senkte. Ich blinzelte und betrachtete meine Hand, die auf Kaibas Bauch lag. Ich rührte mich nicht, fuhr mit meinem Blick sein Brustbein entlang, den Hals und das Gesicht. Er schlief. Mein Blick blieb an seinen Wimpern hängen, dann an seinen Lippen. Ich schluckte und hob meine Hand, strich mit meinem Finger sein Kinn entlang. Hier war er so nah. Seine Haut war weich und als ich seine Lippen mit meinem Finger berührte, fühlte ich seinen Atem. Ich rückte näher an ihn heran, mein Gesicht schwebte über seinem. Mein Bauch kitzelte. Kaiba nicht im Hemd und Krawatte, das war so – privat.  Was würde er tun, wenn ich ihn jetzt küsste? Würde er mich verhaften lassen? Ich unterdrückte ein Glucksen. Er schlug die Augen auf und in meinem Magen brach ein schwarzes Loch hervor. Er würde mich von seinen Bodyguards irgendwo im Garten verscharren lassen. »Ich – ich wollte nur – also«, stotterte ich und zog meine Hand zurück, als hätte ich mich verbrannt. Ohne sein Gesicht zu verziehen, zog er mich an sich heran. Ich stützte mich seitlich ab, starrte ihm in die Augen und versuchte, das Gefühl der rasenden Elefanten in meinem Magen zu kontrollieren. »Hast du Angst?«, hauchte er. »Was? Nein!«, erwiderte ich aufgebrachter, als es in meiner Vorstellung noch hätte cool wirken können. »Natürlich nicht«, murmelte er und entgegen seiner sonstigen Angewohnheit, klang es nicht spöttelnd, sondern nachdenklich, dann räusperte er sich und er sprach mit dieser oberlehrerhaften Stimme, die in seinem Büro wunderbar funktionierte, aber in seinem Bett, während er halb unter mir lag, ihre Wirkung verlor. »Keine Öffentlichkeit. Keine Interviews, keine Video-Tagebücher oder was auch immer dir für ein lächerliches Zeug einfällt. Nichts, was nicht ausdrücklich abgesprochen wurde. Verstanden?« Es kam mir vor wie ein Déjà-Vu, ein total absurdes. »Hä? Was meinst –« Mit einem Ruck lag ich schräg auf ihm, seine Hand lag auf meinem Brustbein, wo er eben noch an dem Shirt gezogen hatte, und seine Lippen bewegten sich auf meinen. Mein Seufzen klang wie ein fremdes. Ich drückte mich an ihn und spürte seinen Körper durch den Stoff der Shirts hindurch. Ich konnte meine Hand nicht stillhalten und betastete seinen Bauch, seine Hüfte. Ich tippte mit meiner Zunge gegen seine Lippen und – er drückte mich weg und setzte sich an den Bettrand, sah auf den Wecker und fuhr sich durchs Haar. Ich beäugte ihn irritiert. Warum fühlte es sich an, als wäre das jetzt meine Schuld? »Steh auf und geh in die Küche«, brummte Kaiba, »Mokuba wartet bestimmt schon.« Er räusperte sich und ich verharrte still, verkniff mir jede Bemerkung mit dem Wort stehen. Ohne eine weitere Silbe erhob er sich und verschwand im Bad. Ich sah ihm nach, dann ließ ich mich mit einem Ächzen zurück ins Kissen fallen. In meinen Gedanken blinkte ein rot leuchtendes WTF?! auf.   Im Gästebad spritzte ich mir Wasser ins Gesicht, putzte die Zähne fast sechs Minuten – redete mir ein, ich würde es nicht tun, um Kaibas Anwesenheit zu meiden und spuckte dann in das Waschbecken. Überall an meinem Mund hing die weiße Zahnpasta. Ich starrte mein Spiegelbild finster an. Dann straffte ich die Schultern. Ich hatte keine Angst.   Mokuba saß in der Küche am Tresen und schmierte Nutella auf ein Brot. Neben ihm schnippelte eine Hausangestellte Äpfel. Sie begrüßte mich mit einem Lächeln und fragte, was ich trinken wollte. Mokuba erzählte mir währenddessen, dass sie heute für das Schulfest proben würden. »Was proben?«, hakte ich nach und schlurfte an meinem Kakao.  »Wir führen einen Tanz auf.« »Echt? Cool.« Ich hatte überhaupt nicht mehr an das Schulfest gedacht. Zwischen all meinen Baustellen, war es in eine Grube gekippt und verschüttet worden.  »Kommst du auch?«, wollte Mokuba wissen. Ich verschluckte mich. Es war lächerlich und innerlich verdrehte ich die Augen. Aber ich konnte in dem Augenblick Kaibas Körper durch unsere Shirts spüren. Wie seine Muskeln spielten und seine Haare ins Gesicht fielen, während – »Joey?« »Ich – ähm –« Ich war die letzten Jahre nie hingegangen. Einmal hatte Yugi mich und Tris überredet, aber dann hatte mich mein Vater angerufen und – jetzt war da Kaiba und dieses Gefühl im Magen, das ich ignorierte, das mir gerade Adrenalin durch die Adern pumpte. Ich fürchtete, ich müsste mich übergeben. »Ich weiß es noch nicht«, murmelte ich. Der Abend damals war ätzend gewesen. »Aber es ist doch dein letztes!«, ereiferte sich Mokuba. In seinem Gesicht konnte ich lesen, dass er überhaupt nicht nachvollziehen konnte, wenn man nicht zum Schulfest auftauchte. In dem Moment wünschte ich mir, ich könnte ihn verstehen. Seine Vorfreude wirkte so greifbar. Aber es war für mich, als griff ich nach Rauch. Er schaute mich voller Erwartung an. Seine blauen Augen groß und rund. Ich redete mir ein, dass es mich nicht beeinflusste.  »Warum eigentlich nicht«, sagte ich gedehnt und biss in eine Banane. Mokuba grinste mich an. »Dann kannst du ja mit Seto zusammen hingehen.« Es war keine Frage und für meinen Geschmack klang er viel zu aufgedreht. Ich dachte an Kaiba, aber nicht ans Schulfest. Kaiba schnaubte hinter mir und ich fuhr zusammen. »Mokuba«, raunte er. »Bist du fertig? Es wird Zeit.« Sein Bruder nickte und sprang vom Stuhl, rannte die Treppen hoch. Die Hausangestellte folgte ihm. Mich musterte Kaiba mit eisigem Blick. »Du hast Mokuba zugesagt. Warum?«, raunte er und ich hob mein Kinn. »Als ob du das nicht wüsstest«, erwiderte ich. »Es ist Mokuba.« Aus irgendeinem Grund schmolz das Eis in seinen Augen. Es blieben Schollen. »Enttäusch ihn nicht«, wies er mich an und die Drohung, was sonst passieren würde, brauchte er gar nicht weiter auszusprechen. Mokuba hüpfte mit seiner Schultasche auf dem Rücken die Treppe hinab, rief nochmal »Tschüss, Anna!« über die Schulter und strahlte uns an. Als ob Kaiba mich ermahnen müsste. Als ob ich Mokubas Lächeln auch nur um einen Grad verkleinern wollte. Dann hüpfte er durch den Flur davon Richtung Haupteingang. Ich sah ihm nach, schaute immer noch dorthin, als er längst durch die Wand nicht mehr zu sehen war. »Gut, wann treffen wir uns dort?«, fragte ich und schlurfte an meinem Kakao. Dabei zog sich meine Lunge zusammen, die Raupen in meinem Bauch zappelten. Er würde mich auslachen. Er würde fragen Was wollen wir da? Was sollte ich da mit dir wollen? Dabei seine Augenbrauen hochziehen und die Lippen kräuseln. »Um Sechs am Schultor.«   Obwohl die Kaibasche Villa per Auto nicht weit von der Schule lag, zog sich der Hinweg endlos. Ich kam mir vor wie eine Schnecke. Alles um mich herum raste, nur ich bewegte mich in einem Tempo, das nicht mithalten konnte. Wir sprachen kein Wort. Als ich aus Kaibas Limousine stieg, hatte ich das Gefühl, dass mir zig Augenpaare folgten. Yugi und Tristan kamen mir im Hof entgegen und ich atmete erleichtert durch. Kaiba schritt wortlos an uns vorbei, doch wir wechselten einen Blick, der mir den ganzen Unterricht hindurch nicht aus dem Kopf ging. In der Pause weihte ich Yugi und Tristan in Kaibas Pläne ein. Also die bezüglich der Kampagne. Tristan sah sich schon als neuen YouTube-Star, Yugi wirkte nüchterner. »Hast du ein gutes Gefühl dabei?«, wollte er wissen, was mich stutzen ließ. »Klar! Wir sind doch ein unschlagbares Team! Was soll schief gehen?«, fragte ich und dachte an Kaibas Lippen auf meinen. Yugi zuckte die Schultern und lächelte dann. »Du hast Recht. Es wäre bestimmt interessant.« Seine Begeisterung lief nicht über, was mich dazu brachte, meine Stirn zu runzeln. Tristan packte mich im Genick, zog mich an seine Brust und beschrieb mir, was wir alles mit unserer Berühmtheit und dem ganzen Geld anstellen könnten. Seine Augen strahlten. Yugi sagte nichts weiter, was Tristans Freude dämpfen konnte und ich schwelgte mit ihm in Visionen von Pools und Drinks und schnellen Autos. In keiner Vorstellung fehlten ein Paar blauer Augen und Arme, die mich umschlossen. Im Kunstunterricht platzten diese Träume und ich endete neben Kaiba auf dem Platz, dessen Arme mit seiner Brust verwachsen schienen. »Denken Sie an die Fragen und Antworten von gestern«, erinnerte uns unser Kunstlehrer. Kaiba zog einen Hefter hervor, wo ein Arbeitsblatt mit Fragen abgeheftet war. Ich lehnte mich zu ihm und las mit. Sein Nacken. Ich konzentrierte mich darauf, mich nicht auf seine Haut zu konzentrieren. Oder seinen Duft. Oder wie er seine Finger auf meiner Haut hätte entlang wandern lassen können – »Wheeler«, knurrte er. Ich konzentrierte mich auf die Papiere.  Natürlich hatte Kaiba alle Unterlagen. Selbst, wenn er nicht im Unterricht anwesend war. Er bekam alles, was er wollte oder brauchte. Oder beides. Er war so nah. »Hör auf damit, Wheeler, oder es war das letzte Mal.« Was wollte er eigentlich? »Womit?«, hakte ich nach und tat so, als wüsste ich nicht, dass ich mich jetzt vorbeugen und – »Mich so anzusehen, als wäre ich nackt«, schnarrte er gedämpft und es klang eher wie eine zornige Schlange. Ich räusperte mich. Es war wie mit dem blauen Elefanten. Nein, ich stellte mir keinen nackten Seto Kaiba links neben mir im Kunstunterricht vor. Ich beugte mich näher an die Arbeitsblätter, als würde es mir helfen, mich auf den Unterricht zu fokussieren. Stellen Sie sich vor, wo Sie in fünf Jahren stehen. Wo befinden Sie sich? Was tun Sie? Welche Menschen umgeben Sie? Ich hob meine Augenbrauen. Kaiba erwiderte den Blick. Was für beknackte Fragen. Er lehnte sich zur Seite und hob einen silbergrauen Koffer auf den Tisch, den er öffnete. Wenn ich ihm jetzt über den Rücken streichen würde, würde er mich aus dem Gebäude werfen. Aus dem Fenster. Kopfüber. Ich öffnete den Mund, doch Kaiba kam mir zuvor. »Fang an, du hast durch dein Fehlen gestern schon genug Zeit verpasst. Vergeude diese hier nicht auch noch durch unqualifizierte Kommentare.« Ich fand, ich hatte gestern nichts Wichtiges verpasst, aber ich sagte nichts, weil ich in seinem Blick sah, dass er wusste, was ich sagen wolle. Statt seines Laptops befanden sich Copic-Marker im Inneren des Koffers. Ich hatte noch nie so viele auf einmal gesehen und schloss den Mund, nachdem ich bestimmt zwei ganze Atemzüge die Stifte einfach nur bewundert hatte. Kaiba dirigierte. Ich malte. Außen schlängelten sich wie Filmbänder Bilder von meinen Freunden, von Orten, die mir viel bedeuteten, der Spieleladen, mein altes Zimmer, von meinen Lieblingsspielen, DuelMonsters und Activity, der Schwarze Magier. Das war ich. Der Weiße Drache mit eiskaltem Blick, die Zentrale der Kaiba Corporation, ein Hubschrauber und ein Flieger, eine Landkarte, eine Dueldisk, die mit einer Brille drahtlos verbunden war und eine Arena für DuelMonster-Spiele überflüssig machte und natürlich Mokuba. Das war Kaiba. Sie zeigten zu einem Fluchtpunkt in der Mitte des Papiers. Dort befand sich nichts. Nur unbemalte Fläche. Ich warf Kaiba einen fragenden Blick zu, doch er sagte nichts, betrachtete unser Werk. Wohin führte uns die Zukunft? Ich legte die Stifte zur Seite und ließ die Mitte frei. »Tristan und Yugi machen mit«, sagte ich. »Ich meine wegen der Werbekampagne.« Kaiba sagte noch immer nichts, aber er wirkte seltsam zufrieden.   Die letzten Tage in der Schule waren gezeichnet durch eine ausgelassene Vorfreude auf die Ferien. Mädchen kicherten, die Jungs grölten auf dem Schulhof, während wir das vorletzte Mal die Schule verließen. Mein Mageninneres verklumpte. Morgen gab es Zeugnisse. Da konnten selbst die Elefanten und Raupen in meinem Magen nichts gegen tun.   Abends saßen Yugi, sein Großvater und ich zusammen. Die Küche war eng und der Esstisch klein. Aber ich mochte die Eckbank und das Gefühl, dass ich immer bekam, wenn ich hinten drin saß und Yugis Großvater uns mit Speisen zudecke, die im Kochbuch sicherlich anders ausgehen hatten. Ich dachte daran, nicht zu viel an Kaiba, den Geldsack zu denken. »Alles okay?«, fragte Yugi irgendwann, während sein Opa mit der Pfanne herum hantierte. Es roch verbrannt. Ich murmelte etwas von Zeugnissen. »Keine Sorge. Du wirst versetzt, Joey, andernfalls hättest du schon ein Gespräch gehabt.« »Ich weiß«, murmelte ich. »Und dann?« Yugi schaute mich verständnislos an. »Was mach ich dann? Im besten Fall pack ich das Abi grade so. Und dann? Soll ich mit einem beknackten Abschluss irgendetwas Beknacktes studieren? Wie soll ich das finanzieren? Ich hätte mich doch für eine Ausbildung bewerben sollen.« Yugis Opa wechselte einen Blick mit seinem Enkel. »Weißt du, es gibt eine Menge Stipendien, mit denen –« Yugi klang zuversichtlich. Ich schwieg. »– man studieren kann. Du schaffst das, Joey. Du solltest was aus deinem Talent machen.« In dem Moment klingelte das Telefon der Mutos.   Heute Morgen hatte ich das Gefühl, dass alles irgendwie seinen Platz finden würde. Dass die neuen Puzzleteile in meinem Leben verwirrten, aber vielleicht auch die Lücken schließen konnten, die das Bild bisher zeigte. Hätte mich jemand vor ein paar Monaten gefragt, wie ich mich fühlen würde, gäbe es so eine Neuigkeit, hätte ich bestimmt mit den Schultern gezuckt und gesagt, dass es irgendwie egal wäre. Dass ich es nicht glauben würde. Dass es eine Verarsche war. Jetzt hatte ich das Gefühl, dass alles in sich zusammenbrach. Herr Muto hatte abgenommen, gehorcht. Sein Lächeln war verschwunden, stattdessen hatte er genickt und ein »Mhm« wiederholt. Um mich herum knirschte die Welt, als alles auseinander fiel. Ich saß da, den Kopf auf meine Hände, meine Arme auf meinen Schenkeln, und starrte auf den Boden. Dann hatte er mich angesehen und mir gesagt, dass wir ins Krankenhaus fahren sollten. »Was ist los?«, hatte ich gefragt und daran gedacht, dass ich echt Besseres zu tun hatte. Ich hatte noch nicht gewusst was, aber das war für mich nie ein Problem gewesen. »Es sieht nicht gut aus«, hatte er geantwortet. Herr Muto sprach mit der Ärztin. Yugis Hand lag auf meinem Rücken. Er flüsterte mir Worte zu, die ich nicht hörte, die mich wohl aber beruhigen sollten. Dabei war ich ruhig. Alles um mich stürzte ein, nur ich blieb still. Tristan saß neben mir und fügte immer mal wieder Worte zu Yugis hinzu, die ich auch nicht wahrnahm. Ich nickte trotzdem ab und zu. »Herr Wheeler«, sagte die Ärztin. Mein Kopf ruckte nach oben. »Möchten Sie jetzt zu Ihrem Vater?« »Nein.« Sie starrte mich an, Yugi starrte mich an, Herr Muto starrte mich an. »Kumpel«, begann Tristan, doch ich sagte ihm, er sollte die Klappe halten. Wahrscheinlich antwortete man auf so eine Frage anders, doch es war mir egal. Vielleicht sagte man normalerweise Ja, bitte, danke. Aber das Letzte, was ich wollte, war meinen Vater zu sehen. »Ich will jetzt nach –« Ich wollte sagen nach Hause. Aber es klang falsch und hohl. Ich presste die Lippen aufeinander. Tristan und Yugi tauschten einen Blick. »Nehmen Sie sich Zeit, aber vergessen Sie nicht, dass es leider äußerst ernst aussieht. Ich möchte nicht, dass Sie später bereuen –« »Schon klar«, ätzte ich und sie verstummte, wandte sich wieder Herrn Muto zu. Tristan redete auf mich ein, doch ich schüttelte einfach den Kopf. Yugi zog etwas aus der Tasche. Erst als er zu sprechen begann, merkte ich, dass er telefonierte. »Lass uns gehen«, murmelte ich und erhob mich. Tristan folgte mir langsam, Yugi trottete hinterher. Ich schaffte es bis zur Eingangshalle.   Kaiba war nie am richtigen Ort. Er war einem immer voraus, wusste mehr, hatte weiter gedacht. »Wheeler.« Seine Stimme hinter mir ließ mich zusammenfahren, dann kniff ich die Augen zusammen. »Was zur Hölle machst du hier?«, ätzte ich und es machte mir nichts aus, dass ich wusste, dass mir seine Lippen auf meinen einen Kick gaben.  »Dasselbe wollte ich dich gerade fragen«, erwiderte er ironisch. »Ich hab gehört, du kneifst den Schwanz ein. Hast du Angst?« Es war nicht die Frage, die mich herumfahren und ihn ungläubig, dann zornentbrannt anfunkeln ließ. Nicht einmal die Hunde-Andeutung. Nicht die Erinnerung an seine Berührung, nicht das Wissen in seinen Augen. »Red doch keinen Scheiß!«, rief ich. Die Leute im Empfangsbereich warfen uns Blicke zu, doch es scherte mich einen Dreck. »Ich will einfach nur weg, weil das hier Zeitverschwendung ist«, polterte ich. »Nein, ist es nicht«, entgegnete er ruhig und ich hielt die Luft an. Er stand nicht einmal in der Tür, um mir den Weg zu versperren. Alles, was er dafür brauchte, war seine Stimme. Ich stand da, die Leute machten einen Bogen um mich, bereit abzuhauen, aber Kaibas Worte hielten mich fest. Ich wollte mich losreißen. »Woher willst du das wissen, du Arsch?« Es war das völlige Fehlen von Spott in seiner Stimme, das mich dazu brachte, ihn anzubrüllen. Ich wollte, dass er sagte, dass alles gut werden würde. Alles brach in sich zusammen. Ich sah es in den Augenwinkeln. Und ich wollte es nicht. Denn er sollte mich nicht anlügen. Kaiba griff nach meinem Arm und mit seiner Berührung floss alle Wut aus mir heraus, alle Kraft. Ich sank an seine Brust, vergrub meine Nase in seinem Hemd und bebte. Ich hasste es. Dieses Gefühl. Das Gefühl, dass alle richtigen Leute am falschen Ort waren. »Weil ich das kenne«, murmelte er. Kapitel 39: … ist kein Kind mehr --------------------------------   __________________________________________   Es gibt kein Kind, das deshalb ein Kind bleibt,  weil es ein Kind war.  © Marion Gitzel (*1947)   __________________________________________           Seto Kaiba war schon lange kein Kind mehr. Manchmal fragte ich mich, ob er überhaupt je eines gewesen war. Stattdessen ermöglichte er seinem Bruder alles, was er selbst nie hatte haben können. Für ihn sprang er sogar über seinen eigenen Schatten.   »Als Kind hab ich mir ab und zu vorgestellt, dass mein Vater stirbt und ich wieder zu meiner Schwester komme«, murmelte ich. Meine Hand lag auf dem Türgriff des Zimmers, aber ich drückte ihn nicht runter. Ich wusste nicht, warum ich das Kaiba jetzt erzählte, aber es schien mir wichtig. Yugi stand hinter uns mit Tristan. Jederzeit bereit, meinen Rücken oder meinen Arm zu tätscheln, aber der Gedanke daran ließ mich nur trocken aufstoßen. »Nachvollziehbar«, erwiderte Kaiba. Kein schockiertes Gesicht, keine Predigt über Moral. »Er stirbt vielleicht«, fügte ich hinzu. Keine Trauer, kein Schmerz, eine Tatsache. Kaiba nickte. »Ja, so sieht es aus.« »Joey, sollen wir mit in –« Ich schüttelte den Kopf, ohne Tristan anzuschauen. Ich wusste, er wollte mir helfen, aber ich musste da alleine rein. Ich musste einfach. »Ich weiß ja, ihr seid gleich hier vorne dran«, murmelte ich und dann öffnete ich die Tür.   Er lag da wie das letzte Mal. Seine Augen geschlossen, um ihn herum die Geräte, die piepsten und irgendwelche Zahlen anzeigten. Davon abgesehen, war der Verband das einzige, was ihn so krank aussehen ließ. So richtig bemitleidenswert krank. Ich bemitleidete ihn nicht. Er war ein bekackter Vater. Ich ballte meine Finger. Wer gab mir die Pflicht, ihn mögen zu müssen? Weil er mich zufällig gezeugt hatte? Übertrug mir das die lebenslange Bürde, an ihm zu hängen, egal, wie beschissen er mich behandelt hatte? Ich hoffte, dass er Schmerzen hatte. Mit einem Schnauben riss ich meinen Kopf herum und starrte aus dem Fenster, um seinen Anblick nicht ertragen zu müssen. Irgendwann setzte ich mich, weil meine Beine weh taten, dann schritt ich wieder im Zimmer auf und ab. Ich hoffte, dass es ihm Leid tat. Dann saß ich bei ihm, betrachtete die Decke. Saß da und schwieg. Ich hätte auch nichts gesagt, wäre er wach gewesen. Es gab nichts zu sagen. Ich hoffte, irgendjemand würde ihm sagen, dass er ein bekackter Vater war. »Ein richtig, richtig bekackter«, murmelte ich und immer lauter, bis ich es brüllte. Immer wieder. »So ein verdammt bekackter!« Die Nachtschwester stürmte herein und betrachtete mich mit Missbilligung. »Wir sind auf der Intensivstation«, stauchte sie mich zusammen, Kaiba sprach mit ihr. Tristan und Yugi redeten auf mich ein. Ich schwieg und fuhr mit meinem Blick die Mumie, die in diesem Bett lag nach. Sie hatte kaum etwas mit meinem Vater gemeinsam – nur den Körper. Die Nachtschwester zeterte, Kaiba antwortete mit knappen Worten und sie folgte ihm hinaus. Yugi und Tristan standen wenige Meter hinter mir. »Ich komm gleich nach«, sagte ich und obwohl ich es nicht sah, wusste ich, dass sie wieder so einen Blick tauschten. »Joey, wir –« »Einen Moment«, unterbrach ich ihn und sie gaben mir meinen Willen. Als sie die Tür hinter sich schlossen, musterte ich die Gestalt in diesem Bett. Wie oft hatte ich mir gewünscht, einen anderen Vater zu haben? Oder wenigstens keinen? Meine Hand lag auf der Decke, ich kniff die Augen zusammen und stellte mir vor, wie es wäre. »Ich will nicht, dass du stirbst«, wisperte ich. Niemand antwortete und ich verließ das Zimmer.   Ich wollte nichts mehr als zu schlafen. Mich in einer Decke vergraben und nichts denken. Ich fürchtete mich vor den Augenblicken davor, aber das sagte ich nicht. »Leute«, murrte ich, »morgen ist der letzte Schultag, lasst uns – gehen und fertig.« Kaiba beobachtete mich schweigend, dann lieferte er mit den Worten »Roland wartet unten« eine gutes Argument, ihm jetzt zu folgen. Er ließ uns alle vor dem Spielladen aussteigen. Ich murmelte ein »Danke« und er betrachtete mich einen Augenblick, als wollte er etwas sagen, aber er schwieg und ich drückte die Tür zu.   Herr Muto drückte meine Schulter statt mir eine gute Nacht zu wünschen. Und Yugi und Tris legten sich mit mir auf die Matratze. »Als Kind hab ich mich gefragt, wo Schmetterlinge schlafen«, sagte Yugi in die Stille. »Bestimmt nicht so warm und viel zu eng«, murmelte Tris trocken und schob meinen Arm von seiner Brust. Es war mir egal. Mit einem Grinsen schloss ich die Augen. Als ich aufstand, spürte ich die Hitze auf meiner Haut. Ich atmete Rauch und das Feuer schoss aus der Tür. Da waren Schreie. Ich rannte los, aber ich konnte nur noch erkennen, wie mein Vater auf dem Boden kümmerte und verbrannte. »Joey«, rief jemand. Ich keuchte. Mein Mund war trocken. Ich riss die Augen auf. »Mein Vater. Er brennt. Er brennt!« Tristan schaute mich an. Yugi saß daneben. »Das war nur‘n Alptraum«, wiederholte einer von beiden immer und immer wieder, bis es irgendwann bei mir ankam. Ich nickte langsam und rutschte wieder unter die Decke. Tris und Yugi lagen neben mir. Obwohl ich die Augen nicht mehr zumachte, schwieg ich. Lauschte nur ihren Atemzügen und starrte an die Zimmerdecke.   In den Gängen der Schule waren die Werke der Zehntklässler ausgestellt. An den Türen hingen Plakate von Lesungen und Projekt-Vorstellung von der Robotik- über die Englisch- zur Theater-AG. Draußen im Hof standen Bierbänke und Tische und Schüler wuselten herum, um ein Zelt aufzustellen. Ich gähnte. Wir standen in der Pause im Gang und schlenderten an den Bildern vorbei, als ich an Tristans und Yugis stehen blieb. »Was is’n das?«, fragte ich und zeigte auf etwas das aussah wie ein deformiertes DuelMonsters-Monster. »Das ist Yugi als Arzt, Penner«, motzte Tristan und ich verdrückte mir das Lachen. Vor uns kicherte Thea und Yugi grinste verlegen und ich verdrehte die Augen. Tristan zuckte die Schultern. »Macht dir keine falschen Hoffnungen, Köter.« Kaibas Stimme ließ mich herumfahren, dabei fiel mir auf, wie nah er stand und ich machte einen Schritt zurück. »Es wird noch viel schlimmer. Das ist erst den Anfang«, murmelte er. »Das hatte ich befürchtet«, erwiderte ich gedämpft und zog eine Grimasse, »Yugi und Thea –« »Ich spreche vom Schulfest«, fuhr er dazwischen und ich stutzte. »Minderbemittelte Gören mit einem Drang zu schreien und Aufmerksamkeit auf ihre Unfähigkeiten zu ziehen.« Ich beobachtete wie Thea mit Yugi weiterzog, ohne dass er sich nach mir umdrehte. »Nicht, dass es nicht deinem Biotop entspräche.« Er bemerkte nicht, dass ich und Kaiba stehen geblieben waren. Missmutig verzog ich mein Gesicht. Tristan trottete ihnen hinterher. »Mh«, murrte ich. Als Kaiba mich mit hochgezogenen Brauen bedachte, zog ich sie zusammen. »Was?« »Gleich findet die Zeugnisübergabe statt, beweg dich Richtung Klassensaal.« »Ich kann’s kaum erwarten«, entgegnete ich ironisch.   Fünf Jahre hatte ich dafür gearbeitet. Also eigentlich ja eines, aber da ich ohne die vorherigen Jahre nicht hier säße – Jeden Tag Schufterei. Also fast jeden Tag. Stress und Tests und Hausaufgaben. Die ich manchmal auch gemacht hatte. Ziemlich oft sogar, öfter als die meisten annehmen würden. Für einen feuchten Händedruck und einen skeptischen Blick meines Klassenleiters. »Ich wünsche Ihnen alles Gute, Herr Wheeler«, behauptete er, »wenn Sie an Ihrem Durchhaltevermögen arbeiten, wäre es sicher besser ausgefallen. Ich hörte, Sie hätten ein Talent in Kunst. Vielleicht machen Sie was draus.« Damit bekam ich das Papier als Letzter in die Hände gedrückt und lächelte meinem Lehrer angestrengt entgegen. Als er sich endlich verzogen hatte beugte sich Tris von links zu mir. »2,9 und du?« Um uns herum quasselten unsere Mitschüler, standen zwischen den Reihen, kicherten, saßen, lehnten an Tischen und Fensterbänken und freuten sich, endlich das Schuljahr hinter sich gebracht zu haben. Eine sorglose Zeit vor sich. Sommerferien. »Ähm –« Ich addierte und – »3,1. Für einen Hund nicht schlecht«, sagte Kaiba hinter mir, als könnte er nicht zurückhalten, dass er es schon wusste. »Hey!«, rief ich und drückte das Dokument an meine Brust und funkelte ihn an. »Und du, Yugi?«, wollte Tris wissen. »Ganz okay«, meinte er mit einem Rotschimmer. »Ach, gib her!« Tris zog es ihm aus den Fingern, überflog es und klopfte ihm gegen die Schulter. »Sauber. Echt sauber. 1,3«, verkündete er. Yugi grinste verlegen und verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, als fühlte er sich ganz unwohl im Zentrum unseres Lobpreises zu sein. »Supercool, Kumpel! Echt! Und du, Geldsack?« Ich drehte mich um. Kaiba stand da mit Aktenkoffer neben sich und Zeugnis in der Hand und beäugte gelangweilt sein Smartphone. »Kaiba!«, knurrte ich. Statt des Ärgers, den ich in meine Stimme legte, kribbelte ein warmes Gefühl in meinem Magen. Ich beobachtete ihn und stellte fest, dass er seine Stirn runzelte. »Zeig schon her«, murrte ich und zog ihm das Papier aus der Hand. Überrascht bemerkte ich, dass er es ohne Widerstand zuließ. Vielleicht war er auch einfach zu abgelenkt mit seinem Smartphone. Sehr gut. Sehr gut. Sehr gut. Sehr gut. Sehr gut. Natürlich. Oder? Kaiba war reich, intelligent und gutaussehend. Ein arroganter Arsch manchmal und sein zwischenmenschliches Verhalten immer mal wieder unter aller Sau. Er führte ein international renommiertes Unternehmen, brachte seinen Bruder zum Lachen und schaffte nebenbei die Schule mit einer glatten Eins. Von außen sah es ganz einfach aus. Aber von innen – Ich gab ihm das Zeugnis zurück. »Für einen arroganten Eisschrank«, begann ich ernst, »nicht schlecht.« Aber ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen. Er starrte mich an und nahm das Papier mit einem Stirnrunzeln zurück.   Die Schule endete früh. Angeblich, um das Schulfest zu unterstützen. Ich war mir aber sicher, dass die Lehrer einfach keinen Bock mehr auf uns und Unterricht hatten – was natürlich auch im Gegenzug galt.   »Bist du dir sicher?« Ich verdrehte die Augen, während ich mein Haar kämmte – natürlich völlig umsonst – und mir ein Shirt von Tris überzog, während wir in Yugis Zimmer standen. Yugi wechselte mit Tristan einen Blick. Ich sah es im Spiegel. »Ja, mein Alter wird schon nicht ausgerechnet heute abkratzen.« Ich sprach es aus, als wäre es ein besonders lustiger Witz, aber die beiden verzogen keine Miene. Vielleicht starb er gerade. Vielleicht war alles eh schon verloren. Vielleicht war es egal. Es brauchte dreizehn Versicherungen und neun Seufzer, um Tristan und Yugi zu überzeugen, dass ich auf das verdammte Schulfest gehen würde. Und dann begann Tris zu maulen, er wäre das fünfte Rad am Wagen. Yugi hätte ein Date mit Thea und – »Ich hab kein Date mit Kaiba!«, behauptete ich empört. Er lachte und zog mich in den Schwitzkasten, ich schaute finster und schnaufte.   Es war ein ganz normales Treffen. Für Mokuba. Weil er tanzen würde und er mich gefragt hatte und Kaiba da eben auch hinging. Es war ja nicht so, als würden wir Händchen haltend über den Schulhof schweben. Ich lehnte am Eingang zum Schulhof. Dort hinten hatten sie Stände aufgebaut mit Pizza und Cocktails und einer Lotterie (für den guten Zweck angeblich), Zuckerwatte, eine Hüpfburg, Grills und Getränke, eine kleine Bühne und eine Band. Yugi stand bei Thea und Tristan stand unschlüssig neben den beiden. Er hätte einem beinahe leidtun können. »Ich geh zum Tor, da treff ich –« »Schon klar«, erwiderte Tris und grinste und wackelte mit den Augenbrauen. Aber auch nur beinahe. Ich trottete über den Schulhof. Die Schüler lachten und sprachen, dazwischen Lehrer und Eltern. Unbekümmert und leger. Ich wusste, warum ich diese Veranstaltungen so verabscheute. Aber für Mokuba. Ich mochte, wenn er lächelte. Es erinnerte mich an – Kaiba stieg aus einem Sportwagen, Mokuba sprang aus der anderen Tür und rannte in meine Richtung.   »Hey, Joey! Voll cool, du bist da!«, rief er und lächelte.  »Natürlich bin ich da«, behauptete ich, obwohl es ganz so natürlich natürlich nicht war, und grinste ihn an. Er winkte jemandem hinter mir, ich schaute über meine Schulter und sah einen blonden Jungen mit Brille und ein rothaariges Mädchen mit Locken, die auf uns zukamen. »Joey, das sind Tobi und Lina – das ist –« »Du warst auch da auf der Sylvester-Party von der Schule, nicht?«, fiel ihm Tobi ins Wort. Ich erinnerte mich vage an die beiden. Sylvester kam mir vor wie aus einer anderen Zeit. Es war so viel passiert. So viel, dass es seltsam war, dass es für andere so aussah, als wäre ich derselbe. »Ja, hi«, erwiderte ich und kratzte mich am Hinterkopf. Ich sah mich nach Kaiba um und bemerkte, wie er einige Meter weiter telefonierte, dabei auf und ab ging. »Ab nächsten Jahr sind wir in eurem Gebäude! Dann sind wir in den Pausen bei euch! Richtig genial, nicht?«, erzählte Mokuba und strahlte, als wäre es eine ungemeine Ehre. Ich nickte und die drei verloren sich in Diskussionen darüber was sie alles machten, sobald sie endlich erwachsen wären. Wo sie ja jetzt schon zu den Großen kamen. Ich grinste und hoffte gegen jeden Verstand, dass Mokuba immer Kind bleiben würde. »Seto! Wir gehen vor zur Zuckerwatte! Okay?«, rief Mokuba. Kaiba hielt das Handy ein Stück vom Ohr weg und nickte ihm zu. Ich hatte den Eindruck, sein Blick wanderte danach einen Moment lang zu mir, aber dann runzelte er die Stirn und sprach wieder in den Hörer. »Wir sehen uns später, okay? Verpass ja nicht unseren Auftritt!«, erinnerte Mokuba mich. Ich lachte. Tobi schaute eher so drein, als wäre es ihm ganz recht, würde niemand zu ihrer Tanzeinlage kommen. Lina betrachtete verlegen ihre Schuhe. »Klar, ich seh euch dann auf der Bühne!« Ich glaubte, Tobi erblasste bei den Worten.   Noch zehn weitere Minuten stand ich mir die Füße in den Bauch, bis Kaiba das Smartphone wegsteckte und mit einer Miene bei mir zu stehen kam, dass ich abwog, ob das Gespräch nicht hätte länger dauern können. Ich notierte automatisch, dass er keinen Anzug trug. Stattdessen hatte er ein dunkelblaues, kurzärmliges Hemd an und eine schwarze Jeans. Aber es war nicht die Kleidung, die Kaibas Präsenz ausmachte. Er hätte jederzeit in eines dieser Meetings gehen können. »Was machen wir bis zu Mokubas Auftritt?«, wollte ich wissen, ohne Begrüßung, und stieß mich mit dem Fuß, den ich dort angelehnt hatte, vom Schultor ab. Kaiba bedachte mich mit Missbilligung. »Was man auf Schulfesten eben tut, Wheeler. So tun, als wäre die Zeit in der Schule produktiv und keine Verschwendung. Als wären die Leute hier von irgendeiner Bedeutung und keine Versager, die man nach dem Abschluss nie wieder sehen möchte«, schnarrte er. Ich grinste trotz seiner Worte. »Okay, dann lass uns die Zeit produktiv verbringen. Seh das halt als Recherche. Für die Kampagne. Das is‘doch unsere Zielgruppe hier, ne?« Das hier war kein Date. Es war Recherche. Ich trottete vor zu den Essständen. Er widersprach nicht, also nahm ich es als Zustimmung.   Wir saßen auf einer dieser Bierbänke und ich biss in meine Wurst im Brötchen. Kaiba beäugte seine Portion Pommes. »Die beiden da hinten«, murmelte ich, »der Junge im roten T-Shirt und das Mädel mit der gestreiften Bluse. Siehst du die?« Kaiba schaute sich kurz um, dann nickte er. »Glaubst du, sie würde mit auf das Turnier gehen, wenn er geht?« »Nicht unbedingt«, erwiderte Kaiba, »es kommt auf –« »Sie würde«, erklärte ich und grinste, dann biss ich wieder in mein Brötchen. »Für die Aussage hast du keine faktenbasierte Grundlage. Studien belegen, dass –« »Sie steht auf ihn. Sie schaut ihn an, wie Thea Yugi anschaut.« Bei dem Gedanken wackelte mein Grinsen. Ich verzog mein Gesicht. »Oh, verdammt. Thea geht mit auf das Turnier«, erkannte ich und selbst ich hörte meinen Widerwillen. Ich fasste mir an die Stirn und seufzte. Kaiba betrachtete mich, lehnte seine Finger aneinander und schaffte es, dass ich – mitten auf dem Schulhof, auf einer Bierbank im gegenüber sitzend – das Gefühl bekam, in seinem Büro zu hocken. »Was hast du gegen sie?« Ich seufzte. »Verstehst du eh nicht.« »Bist du eifersüchtig?« Ich hielt mit dem Kauen inne und starrte ihn an. »Was? So ein absoluter – nein!« »Yugi ist eine deiner verlässlichen Bezugspersonen. Es wäre nicht außergewöhnlich, wenn du Furcht gegenüber einer potenziellen Gefährdung deiner Beziehung mit ihm verspürst.« »Wir sind nur Freunde!«, stammelte ich. »Mit Beziehung bezog ich mich nicht ausschließlich auf eine romantisch–partnerschaftliche Beziehung«, erklärte er nüchtern. »Moment. Sagst du, ich hätte Angst, dass Thea mir Yugi wegnimmt? Das ist –« Ich brach in Lachen aus. »Nein, wirklich –« Ich hielt meinen Bauch und holte tief Luft, schnaufte und brachte irgendwann heraus: »Sie ist einfach nur nervig.« Dann biss ich wieder in meine Wurst. »Wäre da was dran, würde ich außerdem kaum bei dir rumhängen und hätt nicht den Schwachsinn von Tris ertragen«, fuhr ich grinsend fort. Er erdolchte mich mit diesem Blick, der einen zwang, sich zu erklären oder im Boden zu versinken. Oder beides. »Er hat doch echt –«, ich schüttelte den Kopf und mein Grinsen schwand, ließ Unglauben zurück, »Theas und Yugis Treffen hier auf dem Schulfest mit unserem gleichgesetzt. So ein –« Kaiba hob seine Augenbrauen. »Was lässt ihn diesen Schluss ziehen?«, fragte er und ich dachte, er würde einen seiner trockenen Scherze machen. »Ja, eben«, erwiderte ich und zuckte die Schultern. »Ich mein, das sind total verschiedene – Dinge.« »Inwiefern?« Ich stutzte. »Sie – haben sich getroffen.« Bevor Kaiba seinen offensichtlichen Einwand aussprechen konnte, verdeutlichte ich: »Ich meine, sie haben sich getroffen. Und sie hängen dauernd beieinander rum. Das ist schon nicht mehr normal. Und sie – ich mein –« »Haben sich geküsst?« »Genau!« Ich hatte eigentlich sagen wollen, dass sie eine unerträgliche Klugscheißerin mit dem Hang zur Weltverbesserin war, aber das mit dem Kuss war fast noch besser. Sehr guter Punkt. Kaiba war also doch kein Soziopath. Nicht ausschließlich. »Bestimmt. Unter anderem«, murmelte ich. Dann dämmerte etwas in mir und mein Blick jagte von meinem Brötchen zu Kaiba, der mich mit hochgezogenen Augenbrauen und verschränkten Armen beobachtete. »Oh.« Stille – bis auf das Gerede um uns herum und das Lachen und die Rufe. Ameisen krabbelten in meinem Magen und Hitze schoss von meinem Bauch in meinen Kopf. Ich erwiderte seinen Blick und glaubte, die Hitze würde mir den Atem rauben, bis ich irgendwann in Ohnmacht fiele. Er schaute mich mit diesem Blick an, der verriet, dass ich irgendeinen Fehler, irgendeinen undurchdachten Scheiß erzählt hatte. Mein Blick rutschte nach unten und ich brabbelte: »Du – ähm – solltest Ketchup drauf machen.« Ich deutete auf seine Pommes, die er noch nicht angerührt hatte. »Dadurch wird die Qualität oder der Fettgehalt auch nicht besser«, erwiderte er nüchtern und tat so, als wäre der Hinweis kein Kommentar, der meine Verlegenheit überspielen sollte. »Ich mag Ketchup.« »Und warum sollte ich Ketchup auf mein Essen tun, weil du es magst?«, fragte er ironisch. Ich hob meinen Blick – Provokation funkelte in seinen Augen – und ich erwiderte standhaft seinen, mein Mundwinkel zuckte und ich klaute mir eine Fritte von der Pappschachtel, zuckte die Schultern. Das hier war kein Date. Das war etwas völlig anderes. Obwohl er die Augenbrauen zusammenzog, stauchte er mich nicht zusammen, stattdessen erhob er sich, zog sein Handy aus der Tasche und telefonierte, während er sich zwischen der Garnitur hindurchschlängelte. Ich schaute ihm nach. Seit wann reagierte Kaiba wie ein beleidigtes Mädchen? (Obwohl ich ziemlich sicher war, dass auch Thea nicht so reagieren würde.) Natürlich hatte ich nicht vergessen, dass wir uns geküsst hatten. Aber wir hatten auch nie wirklich daraus Schlüsse gezogen. Oder? Ich sah ihm nach, biss in mein Brötchen und rang mit mir, ob ich ihm nachgehen sollte. Er verschwand aus meinem Blickfeld. Gut, dass das kein Date war. Das hatte ich richtig verbockt. Irgendwie.   Zehn Minuten später ließ sich Kaiba mir gegenüber nieder. »Alter, was war’n das? Seit wann –« Er schob mir eine Portion Pommes über den Tisch entgegen. »Ich nahm an, du hast noch Hunger«, sagte er. »Ah, ich –« Wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich starrte die Portion Pommes an. Er hatte Ketchup drauf. Dann starrte ich ihn an. Er hatte seine Arme vor der Brust verschränkt und schaute sich um. Hätte ich es nicht besser gewusst, wäre der Eindruck entstanden, er würde mir ausweichen. »Danke«, murmelte ich und griff nach den Pommes. »Mit wem hast du telefoniert?« Er antwortete nicht und ich zuckte die Schultern.   Wir schlenderten zwischen den Ständen entlang, die verschiedene Klassen aufgebaut hatten. Da gab es einen Cocktail-Stand und einen mit einem Erdkunde-Quiz, bei dem wir einen Teddybären gewannen. (»Was ist die Hauptstadt von Angola?« »Luanda. Wir hatten vor ein paar Jahren ein Projekt, um die Menschenrechte dort zu –« »Schon klar, Streber. Was machen wir jetzt mit dem Bären?«) Und ich überzeugte Kaiba davon, dass Zuckerwatte immer rein passte. (»Du hast zwei Portionen Pommes, ein Brötchen mit Wurst, Schokolade, ein Eis gegessen und einen dieser schülergerechten, antialkoholischen Cocktails getrunken.« »Sag mal, notierst du dir das alles irgendwo? Und die sieht nur so groß aus. Guck, wenn man nämlich so macht – dann wird sie ganz klein und passt immer noch rein. Also. Willst du deine eigene?«) Manchmal tuschelten irgendwelche Schülerinnen und Schüler oder warfen uns Blicke zu. Die meisten bekam natürlich Kaiba. Eltern warfen ihm Blicke zu, Lehrer warfen ihm Blicke zu, aber er ignorierte sie. Ich glaubte sogar, dass manchmal jemand ein Foto mit dem Handy machte, aber wenn ich hinsah, waren sie schon wieder weg. Es war als würde man dauerüberwacht und ich fragte mich, wie Kaiba das aushielt. Es war, als würde jeder darauf warten, dass er etwas machte, dass man nicht machte. Oder nicht von ihm erwartete. Vielleicht starrte er mich deswegen so an, als ich aus meinen Schuhen schlüpfte und zwischen Fünft- und Sechstklässlern auf der Hüpfburg meine Runde drehte. »Kaiba, hast du gerade ernsthaft ein Bild davon gemacht, wie ich hier –« »Du wirst mir zukünftig ohne Widerrede gehorchen. Andernfalls wäre es im Bereich des Möglichen, dass dieses Bild im Verteiler der KC landet.« Ich brach in Lachen aus. »Weißt du, was der Unterschied zwischen uns ist, Kaiba?« »Du bist eine außerordentliche Nervensäge mit dem Hirn eines Hundes, der – muss ich das wirklich ausführen?« »Mir ist egal, ob so ein Bild im Verteiler landet. Ich glaub, du machst dir manchmal zu viel Gedanken um andere. Auch, wenn du’s nicht zugeben willst.« »Und das ausgerechnet von dir, Hündchen?« Ich reckte mein Kinn, saß auf einem der Schläuche der Hüpfburg, vor denen die Schuhe standen und zog mir meine an. »Was meinst du?« »Dir ist es womöglich gleichgültig, ob dich Leute für – verrückt halten. Aber du erträgst es nicht, wenn du nicht gemocht wirst.« Das klaute alle Worte von meinen Lippen. Ich runzelte die Stirn, während ich meine Schuhe band. »So ein Blödsinn«, behauptete ich. Er erwiderte nichts und wir schlenderten weiter. Ich betrachtete ihn manchmal von der Seite, wenn er gelangweilt auf sein Smartphone blickte oder genervt in den Himmel. Welche Schlüsse hätte er an Tristans Stelle gezogen? »Wheeler, es wird Zeit«, sagte er irgendwann mit einem Blick auf sein Smartphone und auf meinen verwirrten Blick setzte er nach: »Wir sollten uns zur Bühne bewegen.«   Vielleicht war der Grund für meine Abneigung, Schulfeste zu besuchen, dass es mir vor Augen führte, was ich alles nicht hatte. Vielleicht hatte Kaiba aber auch Recht. Vielleicht verschwendete man hier schon genug Zeit und die Leute, die man hier traf konnten einem gestohlen bleiben. Um die eigenen Freunde zu treffen musste man keine Schulfeste feiern. Wir standen vor der Bühne und warteten auf Mokubas Performance, als ich mich verstohlen nach Leuten umschaute, die Fotos machen wollten. Jedes Mal glaubte ich, dass uns das Blitzen galt. Aber meistens waren es nur Eltern, die ihre Kinder ablichteten. Sah so eine normale Kindheit aus?   »Wie machst du das?«, fragte ich, er antwortete nicht, sondern warf mir nur so einen Blick zu. »Ich meine: diese Blicke, die Fotos! Die Fotos! So was Ätzendes!« »Man gewöhnt sich an die Inkompetenz der Menschen. Man ignoriert sie. Und geht dagegen vor, wenn es Grenzen überschreitet, die man sich setzt«, erwiderte er. »Was für Grenzen?«, wollte ich wissen, aber in diesem Moment strömten Kinder auf die Bühne. Mokuba strahlte, als er uns entdeckte und in meinem Gesicht formte sich von selbst ein Lächeln. Sah so eine normale Kindheit aus? Ich betrachtete Kaiba von der Seite. Seine Mundwinkel hoben sich, seine Stirn völlig frei von Falten und seine Brauen weder zusammengezogen, noch spöttisch nach oben gewandert. Seine Hände steckten locker in den Hosentaschen Er wirkte so entspannt und jung, so zufrieden, dass ich mich fragte, ob es eine Grenze überschritt, ein Foto von ihm zu machen. Jetzt. Ich glaubte zu erahnen, wie es wäre, wäre er nicht Seto Kaiba, sondern nur Seto. »Hey, Leute!« Tristans Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Er stieß als erster zu uns, Yugi und Thea folgten ihm. »Mokuba hat uns von seinem Tanz erzählt«, sagte Tris zu mir, ehe er mit seinen Armen wedelte und rief: »Mokuba, du rockst!« Kaiba hob seine Augenbrauen, ohne seinen Blick von seinem Bruder zu nehmen. Mein Herz rutschte in meine Schuhe. Ich würde Tris kopfüber in den Boden rammen, würde er nur einen Kommentar wegen Kaiba und mir ablassen. Doch es kam nichts in der Richtung, statt ihn also kopfüber in den Boden zu rammen, fiel ich in Tristans Anfeuerungen mit ein, während eine schnelle Popnummer durch die Boxen dröhnte und die Klasse von Mokuba – manche mehr schlecht als recht – dazu ihre Choreographie zum Besten gab. Ich sah, wie Tobi zu Mokuba linste. Lina kannte zwar die Schritte, starrte aber auf den Boden und schien sich irgendwo anders hinzuwünschen. Mokuba hingegen strahlte. Seine Präsenz überschattete die anderen und zog meinen Blick auf sich. Er wirkte glücklich. Sah so eine normale Kindheit aus? »Er ist sehr gut!«, hörte ich Thea begeistert zu Yugi sagen. »Er ist genial«, fügte ich hinzu. Kaiba sagte nichts. Aber das brauchte er auch nicht. Es stand in seinen Augen.   Wir saßen auf einer der Bänke, die im Hof standen. Ich hockte auf der Rückenlehne der Bank und betrachtete Mokuba und seine Freunde. Sie quasselten, lachten und schleckten ihr Eis, während Tobi gerade schwor, er würde so etwas nie wieder machen und Mokuba ihn auf den Arm nahm – also nicht wortwörtlich. Lina grinste ein verlegenes Grinsen. Wenn man Kaiba kannte und wie der sich anderen gegenüber verhielt, dann überraschte es einen, wie Mokuba mit anderen umging. Zumindest ging es mir so. Yugi lächelte Thea an und ich lenkte meinen Blick zurück zu Tris, der mir seine Gewinne aus der Tombola präsentierte. Eine elektrische Zahnbürste und ein Stoffherz. »Ich mein – was soll ich damit?«, seufzte Tristan und wedelte mit den Sachen. Kaiba telefonierte, während er hin und her schritt. »Dir die Zähne putzen?«, schlug ich schulterzuckend vor. »Kumpel, tu wenigstens so als würdest du mir zuhören«, grummelte er. »Hab ich doch?« »Ich red von dem blöden Stoffherz«, erwiderte er, »aber ich glaub, du kannst es besser gebrauchen.« Er drückte es mir in die Hand und wackelte mit den Augenbrauen, während er mit seinem Kopf Richtung Kaiba ruckte. Mein Blick verdüsterte sich. »Mokuba.« Kaibas Stimme riss mich aus meiner Missbilligung. Er steckte sein Smartphone zurück in seine Hosentasche und machte ein paar Schritte, womit er wieder bei uns stand. »Roland wird dich nach Hause fahren. Ich muss nochmals in die Firma.« Mokubas Mund klappte auf, als wollte er widersprechen. Unsere Blicke sprangen von Kaiba zu Mokuba und zurück – selbst Yugi und Thea schienen einen Moment nicht ineinander zu verfließen. »Es tut mir leid, aber es ist wichtig«, fuhr Kaiba fort – distanziert und so als müsste er sich dafür nicht entschuldigen. Mokuba schluckte, starrte auf den Boden und nickte. Es war offensichtlich, dass es nicht das erste Mal war, dass er so etwas herunterschluckte. »Aber Tobi und Lina dürfen trotzdem übernachten?«, wollte er wissen und blinzelte Kaiba an, der mit blanker Miene da stand. Ich konnte das Nein aus seinem Mund schon hören. »Ohne Aufsicht ist das –« Meine Augen wanderten einmal über die Gruppe. Theas Blick verschlang schon wieder Yugis. Tris lehnte an der Rückenlehne der Bank. Mokuba schaute betreten auf den Boden. Tobi  legte eine Hand auf seinen Rücken. Dann sah ich es, als hätte ich eine Sonnenbrille in einem düsteren Zimmer von den Augen gezogen. »Hey, ich kann doch auf sie aufpassen!« Kaibas Blick sprang zu mir. Mokubas Lippen zogen sich zu einem Lächeln. »Das ist die Idee!«, erwiderte er total begeistert. »Und wer passt auf dich auf, Hündchen?«, fragte Kaiba absolut nicht begeistert. »Bitte, Seto!« Mokuba legte alles in seinen Blick, dem niemand widerstehen konnte. Ich konnte das Nein aus Kaibas Mund verwehen hören und übrig blieb ein »Ihr werdet nicht die Nacht durchmachen!«, was die drei Kinder einander angrinsen ließ.   Yugi und Thea bestanden darauf, zu laufen, weil es eh nicht weit wäre. (Ich vermutete, sie wollten Hand in Hand durch die Straßen tanzen.) Tris sagte, er hätte noch etwas zu tun. (Auf meine Frage, was grinste er nur.) Und so saßen ich und Kaiba mit drei Kindern bei Roland hinten in der Limousine – mit einem Stoffherzen in den Händen. »DuelMonsters, Dawn of the Dragon und danach Animes. Dann können wir dabei einschlafen«, tuschelte Mokuba mit Tobi und Lina. Kaiba warf ihm einen strengen Blick zu, den Mokuba ignorierte – oder in seinem Eifer einfach nicht mitbekam. »Nein, DotD zuerst. Wir sind nur zwei Level vom Endgegner entfernt!«, widersprach Tobi. Ich grinste, lehnte mich zurück und erahnte, wie eine glückliche Kindheit aussah. »Wir können auch ein Partner-Duell machen! Joey, du machst doch mit?«, fragte Mokuba hoffnungsvoll. Ich nickte. »Klar doch«, meinte ich. Kaiba schnaubte. Einen Moment dachte ich daran, ihm das Stoffherz an den Kopf zu werfen.   Als wir in der Einfahrt standen, stieg Kaiba mit aus und hielt mich an meiner Schulter zurück. Die drei bekamen gar nicht mit, dass wir nicht folgten, während sie vorausgingen und voller Vorfreude miteinander quasselten. Ich sah ihnen nach. Mokuba hatte einen Arm um Lina, einen um Tobi gelegt. Im Hintergrund stand die Villa mit dem Garten davor. Es sah aus wie aus einem Werbeprospekt. »Wheeler«, schnarrte Kaiba, »wenn du etwas verschmutzt oder einen von ihnen in deinem Chaos, das du Leben nennst, verlierst, wird dich nicht einmal Mokubas Blick retten können. Kapiert?« Ich nickte ernst. »Ich krieg das schon hin, Geldsack.« »Es wäre möglich, dich immer noch ins –« »Ich bleibe hier, Kaiba«, schnitt ich ihm das Wort ab, weil ich fürchtete, was er sagen wollte. Kaiba musterte mich, dann öffnete er die Tür eines Sportautos, das neben der Limo in der Einfahrt stand und wandte seine Blick von mir, schaute hinauf, wo die drei Kinder schlenderten. »Mokuba«, rief er, sein Bruder schaute zu ihm zurück und als er sah, dass Kaiba schon ins Auto einstieg, jagte er über die Einfahrt zu ihm. Er stand einen Augenblick vor ihm und sie schwiegen. Ich schaute in den Himmel, machte ein paar Schritte und tat so, als wäre ich nicht da, aber ich konnte nicht anders als jedem Wort zu lauschen. »Warte nicht auf mich«, murmelte Kaiba und strich ihm über das chaotische Haar. »Und pass auf dich auf.« Mokuba schwieg, starrte gen Boden und nickte.   Seto Kaiba war schon lange kein Kind mehr. Manchmal fragte ich mich, ob er überhaupt je eines gewesen war. Stattdessen ermöglichte er seinem Bruder alles, was er selbst nie hatte haben können. Er sprang sogar über seinen eigenen Schatten. Aber nicht immer. Manchmal ließ er seinen Bruder zurück.   Wir schauten dem Auto eine Weile nach, bis es in der Ausfahrt und um die nächste Ecke verschwand. Ich legte meine Hand auf seine Schulter und wollte ihm sagen, dass es bestimmt eine richtig geniale DVD-und-Spiele-Nacht werden würde. Und dass wir Popcorn machen würden und uns eine Pizza bestellen und dass wir so lange auf blieben, wie wir wollten. Wir müssten es Kaiba ja nicht sagen. Es wäre unser DVD-und-Spiele-Nacht-Geheimnis. Ich glaubte, so sah eine glückliche Kindheit aus. Kaiba hatte sicherlich viel geopfert, um Mokuba das zu ermöglichen. Anders als ihm oder mir fehlte es ihm an nichts. Doch dann schaute Mokuba in den dämmernden Himmel. Seine Augen waren ganz ernst und statt des Strahlens lag Bitterkeit auf seinen Lippen. Es war, als hätte jemand seine Kindheit aus dem Gesicht gewaschen. Und die Ähnlichkeit zu seinem Bruder schlug mir auf den Magen.   »Als Kind hab ich mir manchmal gewünscht, dass die KC abbrennt und Seto deswegen nicht mehr dorthin geht«, murmelte er. Kapitel 40: … ist reuelos -------------------------   __________________________________________   Reue kommt langsam, aber gewiß. Deutsches Sprichwort   __________________________________________           Seto Kaiba schaute nur auf das, was er erreicht hatte, er schaute nicht zurück, um das zu vermissen, was er zurückließ.   »Du bist doch immer noch ein Kind«, witzelte ich, doch Mokuba warf mir einen Blick zu. Seine Augen ähnelten denen von Kaiba. Nicht nur, weil sie blau waren. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber schloss ihn wieder, ohne ein weiteres Wort hervorgebracht zu haben. In Mokubas Satz lag so viel Ehrlichkeit und Schmerz, schlechtes Gewissen und unterdrückter Zorn, dass ich an nichts denken konnte, das dem hätte standhalten können. Stattdessen zog ich ihn an mich und schritt gemeinsam mit ihm zu seinen Freunden, die vor dem Eingang der Villa warteten.   Mokuba lachte und erzählte voller Begeisterung, er besiegte Tobi in DuelMonsters, während Tobi ihn im Videospiel schlug. Wir stopften Popcorn in uns hinein, verschlangen Pizza. Lina suchte ein paar der Animes aus, die Mokuba in seinem Regal bunkerte und wir glotzten die halbe Nacht TV. Es war als hätte Mokuba nie den Satz gesagt. Wir standen in der Küche – Lina und Tobi saßen im Wohnzimmer auf der Couch – und ich wartete bis das Popcorn in der Mikrowelle aufploppte. Mokuba lehnte an dem Tresen und schaute aus dem Fenster. »Warum bist du nicht bei deinem Vater?« Ich erstarrte und drehte mich wie in Zeitlupe zu ihm um. »Wie kommst du darauf? Woher –« Ich ließ die Frage so in der Luft stehen, ehe ich über meine Augen rieb und Mokuba musterte. »Er ist ein Arsch, der mich für seine Fehler verantwortlich macht. Seine Art kotzt mich an und ich lasse mich nicht erpressen, irgendetwas so zu machen, wie er es vielleicht gern hätte. Auch jetzt nicht. Nicht mehr.« Ich wandte mich wieder der Mikrowelle zu und fixierte die Tüte, in dem der Mais begann zu explodieren. »Das erinnert mich an Seto«, murmelte Mokuba hinter mir, »ich mein – so hat er manchmal von Gozaburo geredet.« Ich brummte, wusste nicht, was ich davon halten sollte, also schwieg ich. Dann seufzte er. »Weißt du. Ich glaube manchmal, ich erinnere Seto an Gozaburo.« Mit gehobenen Brauen ruckte mein Kopf zu ihm und während ich ihn betrachtete, sank mein Herz Richtung Socken. Mokuba stand da, die Hände in den Hosentaschen und starrte auf den Boden. Einige Haarsträhnen fielen in sein Gesicht, weswegen seine Mimik unkenntlich war, aber als er schniefte, konnte ich mir seine geröteten Augen vorstellen. »Warum sollte –«, begann ich und legte meine Hand auf seinen Rücken, als uns Tobis Stimme aus dem Wohnzimmer unterbrach. »Hey, wo bleibt das Popcorn?«   Mokuba lachte mit seinen Freunden, zog Tobi auf und diskutierte mit Lina, die erstaunlich schnell seine Argumente konterte. Von dem Mokuba aus der Küche blieb nichts übrig – nichts, das man sehen konnte. Ich versuchte, ihn in einem Moment abzufangen und darauf anzusprechen, aber er mied meine Blicke und ich ließ es vorerst auf sich beruhen. Am frühen Morgen – irgendwann zwischen fünf und sechs Uhr – schliefen die drei ein. Mokuba hing halb über Tobi, während Lina in einem der Sessel zusammen gerollt schlief. Ein Anime, deren Titel ich nicht einmal mehr mitbekommen hatte, flimmerte über den Bildschirm. Ich schaltete den Fernseher aus und trug die Kinder eins nach dem anderen hoch, steckte Mokuba und Tobi in das Bett im Kinder- und Lina in das Gästezimmer. Danach watete ich nach unten und packte die Teller und Pizzareste zusammen, stellte das Popcorn auf den Küchentresen und stellte die Kaffeemaschine an. Ich sah nach den dreien in den Zimmern, überprüfte, ob sie alle brav schliefen und Zufrieden stellte ich fest, dass ich keinen der drei verloren hatte – und verschmutzt war auch nichts. Soweit. Ich fiel zurück in das Sofa im Wohnzimmer und schloss die Augen. Nur für einen Moment.   »Wheeler, hör auf mein Sofa vollzusabbern.« Ich blinzelte. Dann stöhnte ich. Mein Nacken schmerzte. Ich ließ ihn knacken und schaute dann über die Lehne zu der Quelle meiner Schlafstörung. Kaiba stand da, ausnahmsweise mal nicht mit Aktenkoffer in der Hand, stattdessen mit verschränkten Armen, und betrachtete mich, als wäre ich ein Phänomen, das er nicht einzuordnen wusste. »Es ist schon nach zwölf. Du –« »Erst zwölf? Es ist Samstag. Der erste Sommerferien-Samstag! Lass mich in Ruhe«, grummelte ich und sank zurück in die Couch. »Ich hab nur fünf Stunden geschlafen.« Kaiba schnaubte. »Das sind fünf Stunden mehr Schlaf als ich bekommen habe. Hast du nichts zu tun?« Ich streckte mich, gähnte, ohne mir die Hand vorzuhalten und grinste ihn dann an. »Nö, ich kann den ganzen, schönen Tag mit dir verbringen. Super, ne?« »Ja. Wunderbar«, erwiderte er trocken, »dann können wir gleich in die Firma fahren.« »Was? Wieso?« »Die Werbekampagne. Erinnerst du dich oder ist dein Hundehirn bereits –« »Ja, ja. Schon gut«, murrte ich und erhob mich träge, streckte meine Arme und ging an ihm vorbei in die Küche. Erst einmal ein Glas Milch. Während ich mir ein Glas aus dem Schrank und die Milch aus dem Kühlschrank holte, die Tür mit meinem Hinterteil zustieß, beobachtete mich Kaiba mit gerunzelter Stirn. »Was ist eigentlich mit Mokuba?«, fragte ich und goss mir die Milch ein. »Er und seine Freunde schlafen noch. In einer halben Stunde kommen sein Kindermädchen sowie die Haushälterin. Zeit für einen Kaffee. Und für eine Dusche.« Er fuhr sich durch sein Gesicht und ich ließ ihm einen Kaffee ein. »Na, dann geh doch duschen. Oder brauchst du dafür auch meine Unterstützung?«, fragte ich ihn trocken. Er schnaubte und verschwand ohne ein weiteres Wort aus der Küche.   Eine gute halbe Stunde später stand Mokuba in der Küche und verabschiedete sich einsilbig von Kaiba. Der ließ das unkommentiert. Ich schaute aus dem Fenster des Sportwagens, während Kaiba auf seinem Laptop tippte und dabei telefonierte. »Es ist irrelevant, wie Sie das machen. In einer Woche muss das abgewickelt sein.« Er beendete das Gespräch ohne Verabschiedung. Ich zählte die Bäume, an denen wir vorbeifuhren. Die Zentrale der Kaiba Corporation konnte ich schon von hier sehen, »Warum musstest du gestern so dringend in die KC?«, fragte ich. »Seit wann muss ich dich über firmeninterne Vorgänge informieren?« Ich schwieg. Neunzehn, zwanzig. Mir gingen firmeninterne Vorgänge natürlich am Arsch vorbei. Dafür ging mir etwas Anderes nicht aus dem Kopf. Ich wandte meinen Blick von der Straße und dem Bürgersteig, wo irgendwelche Fremden ihrem Leben hinterher rannten und blickte Kaiba an. Seine Augen auf den Bildschirm gerichtet, das Tippen der Tastatur, sein Hemd gebügelt und die blaue Krawatte, die seine Augen betonte. Ob er das wusste? Kaiba wirkte so, als könnte er alles schaffen, alles organisieren und jeden unter Kontrolle halten. Als wäre es ihm egal, seine Jugend zu opfern, um seinem Bruder alles bieten zu können.   »Mokuba meinte gestern, er glaubt, dass er dich an Gozaburo erinnert.« Kaibas Finger erstarrten, seine Augen weiteten sich diese eine Sekunde, in der er seine Menschlichkeit nicht hinter seiner Maske verbergen konnte. Hätte ich Kaiba nackt gesehen, ich hätte weniger sehen können als in diesem Augenblick. »Ich glaube, du vergisst, dass nicht nur du etwas opferst, wenn du deine Firma aufbaust.« »Das geht dich nichts an, Köter.« Der Augenblick war vorbei. Da war sie, die Maske, die Oberfläche, die die Menschen um ihn herum vergessen ließ, dass er kaum älter als sechszehn war, bald siebzehn. Ich wandte meinen Blick von ihm. »Stimmt. Aber Mokuba«, murmelte ich. Ein weiterer Baum glitt an meinem Autofenster vorbei.   Direkt vor der KC hielt Roland und öffnete Kaiba die Tür, während ich meine selbst aufstieß. Die Sonne blendete mich einen Moment und erinnerte mich daran, dass ich jetzt am Weiher liegen könnte, mich mit Eis vollstopfen und mit Yugi und Tris zocken, stattdessen stopfte ich meine Hände in meine Hosentaschen und trottete neben Kaiba in das Gebäude der Firma. Die Dame am Tresen nickte uns beiden zu. Angestellte und Klienten beobachteten uns. Kaiba nickte manchen zu. Wir warteten auf den Lift, betraten ihn, schwiegen. Ich trat vom einen auf den anderen Fuß und seufzte. Warum war ich nicht auf dem Sofa geblieben? Ich hätte mit Mokuba frühstücken können und danach im Pool die Sommerferien genießen. Stattdessen strafte mich Kaiba mit Ignoranz. Ich war mir keiner Schuld bewusst. Im Gegenteil. »Wo ist Sarah?«, wollte ich wissen und machte keinen Hehl daraus, dass ich alles andere als Begeisterung verspürte, mit ihm hier zu sein – statt so ziemlich allem, was man machen konnte, wenn Ferien waren. »Anders als du arbeitet sie.« Ich verdrehte die Augen, schaute aus dem gläsernen Fahrstuhl und dann wieder zu Kaiba, der wie eine Säule da stand. Er starrte an die Fahrstuhlwand. »Dann geh ich zu ihr. Wo ist sie?« »Extern.« »Hä?« Er antwortete nicht. Die Lifttür teilte sich und Kaiba verließ als erstes den Fahrstuhl, ich folgte ihm bis in sein Büro, wo er sich hinter den Schreibtisch setzte und mich wie einen Idioten herumstehen ließ. Er drückte eine Taste. »Keine Unterbrechungen«, sprach er in das Telefon und schob es zurück. Natürlich lief Kaiba stets Gefahr, unterbrochen zu werden, weil er ja so wichtig war, dass sich die Welt nach seinem Arsch umdrehte. »Was ist mit Sarah, Kaiba?«, brummte ich. »Sie steht dir heute nicht zur Verfügung, Wheeler. Setz dich und halt die Klappe.« Natürlich blieb ich stehen. Statt seiner Aufforderung zu folgen, lehnte ich mich zu ihm, stützte mich auf beide Hände ab und funkelte ihn über den Schreibtisch an. »Wo ist sie?« »Nicht hier«, knurrte Kaiba. »Okay«, erwiderte ich gedehnt, »wo ist sie dann?« »Wheeler«, spie er. »Ist das ein Geheimnis? Was Illegales? Bekommst du dafür Ärger?« Kaiba massierte sich die Schläfen. »Sie verhandelt mit Industrial Illusions. Und jetzt setz dich, verdammt nochmal.« »Ah. Mh«, murmelte ich und fuhr mit meinem Blick sein Gesicht nach. Seine Augen fixierten die Hände, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen, die Finger aneinander gelehnt. »Und was –« »Wheeler, wenn du dich nicht sofort hinsetzt und deine Klappe hältst, sorg ich dafür, dass du sie die nächsten Tage nicht mehr benutzen kannst.« Meine Brauen kletterten die Stirn hoch. »Mh.« Mit einem Schulterzucken ließ ich mich auf den Stuhl gegenüber des Schreibtischs fallen. »Und wie willst du das machen?«, provozierte ich mit dem Gefühl, auf einer hohen Mauer zu balancieren. »Was glaubst du, Köter?« Er hob seinen Blick und fixierte mich. Auf einer hohen Brücke über dem Meer, das Blau in der Tiefe drohte einen zu verschlucken, sobald man einen falschen Schritt machte. Hitze schoss mir in die Wangen. »Ähm – also ich – du –« »Deine Eloquenz beeindruckt mich immer wieder«, spöttelte er. »Ja, und mich deine Arschigkeit«, entgegnete ich pampig und lehnte mich zurück, wich seinem Blick aus, aber ich spürte, dass er mich beobachtete. Im Augenwinkel sah ich, wie er sich erhob. »Die Produktion des Videomaterials beginnt in knapp einer Woche«, informierte er mich und zog einen Ordner aus dem Schrank hinter sich, »es wird in der Stadt und im Studio gedreht. Bis dahin könnt ihr das auswendig.« Er warf mir den Ordner in den Schoß. Bevor ich fragen konnte, fuhr er fort. »Das ist das Drehbuch für die Videoclips.« »Aber –« »Ich denke, du bist im Stande zu lesen. Es sollte also selbst für dich zu schaffen sein.« Ich schnaubte und reckte das Kinn. Kaiba sollte bloß nicht denken, dass seine bescheuerten Seitenhiebe mir irgendetwas ausmachten. »Was ist mit meinen Skizzen und den –?« »Die werden in der Abteilung für Marketing Design bearbeitet.« »Ah, mh.« Er fuhr sich über das Gesicht, blinzelte und ließ seinen Nacken knacken. Dann klingelte sein Handy und er zog es aus der Tasche. Mit einem Blick auf das Display nahm er das Gespräch an. »Ja? – nein. Das ist unerheblich. Er hat einen Vertrag unterschrieben. Nein. Ja, seine Freunde ebenso. Yugi Muto ist bereits engagiert. Ja, sag ihm das und dass er sich sein Angebot in den Arsch schieben kann. Ja, du darfst die Formulierung anpassen. Gut.« Er beendete das Gespräch und legte das Smartphone neben sich auf den Tisch. »Was ist, Wheeler?«, knurrte er. »Welches Angebot?«, schoss aus meinem Mund. »Und welcher Arsch?« Sein Mundwinkel zuckte. »Das sind firmen-« »Firmeninterne Dinge und blabla bla. Ja, schon klar«, wiegelte ich ab. »Darf ich wenigstens gucken, was die mit meinen Skizzen machen?« »Nein.« »Arsch«, murmelte ich und blätterte durch den Ordner. Dialoge standen dort und Anweisungen, wie was zu sagen war. Ich atmete tief durch. Was für ein Aufwand. »Wheeler, warum spielst du DuelMonsters?«, unterbrach Kaiba meine Leserei und funkelte mich an, was mir ganz deutlich zeigte, dass er meinen Kommentar durchaus gehört hatte. »Äh – weil es – Spaß macht?«, sagte ich und kratzte mich an der Stirn. »Ist das eine Frage?« Ich seufzte. Warum wollte er das überhaupt wissen? War das ein Test? »Weil es Spaß macht«, wiederholte ich und zuckte die Achseln. »Warum?« »Warum DuelMonsters und nicht DungeonDiceMonsters?« »Hä? Keine Ahnung?« »Wheeler«, knurrte er. »Weil Yugi und ich halt DuelMonsters spielen? Jeder kennt es.« »DuelMonsters begeistert deine Freunde und deswegen interessierst du dich dafür und nicht für das andere Spiel. DuelMonsters repräsentiert für dich eine gemeinsame Vergangenheit und eine gute Zeit. Es gibt viele Fans des Spiels, die dir das Gefühl von Gemeinschaft vermitteln. Sonst noch etwas?« Ich starrte ihn an und schüttelte den Kopf. »Gut. In einer halben Stunde haben wir ein Interview.« Ich nickte, blätterte wieder durch den Ordner, dann erstarrte ich und blinzelte. Kaibas Handy klingelte schon wieder. »Moment. Was?«, wollte ich wissen, doch er ignorierte mich und nahm das Gespräch an. »Ja, das ist mir völlig klar«, schnarrte er in den Hörer, »aber das ist nicht mein Problem. Ich benötige seine Zusammenarbeit nicht für den Erfolg des Turniers. Umgekehrt sieht es anders aus. Er ist ein erbärmlicher Verlierer.« Ich beobachtete ihn, wie er sich nach hinten lehnte und aus dem Büro schaute, über Domino und all die Menschen, die von hier aussahen wie Ameisen. »Ja, richte ihm aus, er soll seine eigene Werbekampagne produzieren, wenn er nicht unter meinen Konditionen – ja, mach das.« Er legte auf und massierte sich die Augeninnenwinkel. »Muss ich einen Anzug anziehen?«, fragte ich mit finsterem Blick. »Das würde bei dir auch keinen Unterschied machen«, spöttelte er und ich schob meinen Mund vor. »Was, wenn ich nicht mit mach?«, provozierte ich. »Warum hast du mir nicht früher mal was gesagt?« »Teil des Vertrags, Wheeler. Es geht um einen Zeitungsartikel. Es wird dir vielleicht eine Frage gestellt – vielleicht nicht einmal die. Sie machen ein Bild von uns und fertig.« Er betrachtete mich, sein Blick blieb bei meinem Haar hängen. »Hast du dir die Haare gekämmt?«, fragte er trocken. »Ja, verdammt«, knurrte ich.   Ich zupfte an meinen Shorts und versuchte möglichst souverän auszusehen, während ich mich an den Ordner klammerte. Wie auch immer man das mit der Souveränität machte. Wie machte Kaiba das? Er saß hinter seinem Schreibtisch und sah aus wie der verdammte König von Domino-City. Zwei Sicherheitsleute begleiteten die Reporterin in das Büro und blieben an der Tür stehen. Sie nickte und schüttelte Kaibas Hand, dann meine. »Ich danke Ihnen für das Treffen, Herr Kaiba. Ich nehme an, Sie sind schwer beschäftigt. Mir geht es nicht anders. Also lassen Sie uns gleich beginnen.« Ich musste bei ihrer Begrüßung grinsen und warf Kaiba einen Blick zu. Sie setzte sich schräg zu mir und Kaiba gegenüber, den Block in der Hand und einen Stift in der anderen, dann drückte sie einen Knopf an ihrem Aufnahmegerät, um das Gespräch aufzuzeichnen. »Es gibt Gerüchte, Sie arbeiten an einem neuen Turnier, Herr Kaiba. Treffen diese Gerüchte zu?« Kaiba nickte. »Also ja. Gibt es bereits einen Veranstaltungstermin? Und Ort?« »Die Orte der Vorrunden werden bald bekanntgegeben. Das Finale findet in Domino-City statt. Die Vorrunden beginnen im Herbst. Das Finale wird nächsten Sommer abgehalten.« Die Journalistin schrieb eifrig mit. »Wird Yugi Muto daran teilnehmen?« Kaiba nickte knapp. Ich beobachtete ihn, wie er mit unbewegter Mimik ihre Fragen beantwortete und über alles erhaben wirkte. Ob er immer noch so ruhig blieb, wenn sie ihn nach seiner Niederlage gegen Yugi fragte? Meine Mundwinkel zuckten. Es hatte eben jeder seine Schwäche. Dann begegnete ich ihrem Blick und blinzelte, als ich bemerkte, dass sie mich fixierte. »Du bist Joey Wheeler, nehme ich an. Yugi Mutos bester Freund. Würdest du dich als seinen besten Freund bezeichnen?« »Ähm«, stammelte ich und kratzte meinen Hinterkopf, »klar, ja.« »Du kennst Yugi seit einigen Jahren. Stimmt das?« Ich hatte das Gefühl, dass sie das gar nicht fragen musste. »Ja, ich – also kenn ich schon ein paar Jahre. Geh’n zusammen auf die Schule.« »Und du bist ebenfalls Spieler von DuelMonsters?« Mein Blick sprang zu Kaiba. Hatte er nicht behauptet, mich würde niemand etwas fragen? Er erwiderte meinen Blick. »Du spielst das Spiel?«, wiederholte sie und ich schaute zurück zu ihr. »Ja, also – Yugi hat mir das Spiel beigebracht und wir zocken es zusammen.« Sie nickte und machte sich Notizen. »Warum sollte man an dem Turnier teilnehmen, Joey? Was ist das Besondere? Sie bohrte ihren Blick in meinen. »Ähm – das – es geht nicht nur um das Turnier«, erwiderte ich und ihre Augenbrauen hoben sich. »Was meinst du?« »Also – es geht nicht nur um das Turnier. Das ist natürlich schon n wichtiger Teil, aber es geht vor allem um die Leute dort. Man trifft richtig coole Leute dort, mit denen man eine echt tolle Zeit hat. Es macht immer Spaß zu zocken und das Spiel ist genial. Aber die Leute dort sind das Beste. Das Spiel kennt jeder. Es – verbindet uns sozusagen.« Die Journalistin musterte mich einen Moment, dann lächelte sie, notierte sich etwas. »Ich habe Informationen, dass Industrial Illusions ein Turnier in demselben Zeitfenster abhält, in Kooperation mit der Kaiba Corporation«, fuhr sie fort und wandte sich wieder an Kaiba. »stimmt das?« Kaiba lehnte seine Finger aneinander und musterte die Frau über seine Hände hinweg. »Diese Informationen kann ich Ihnen nicht bestätigen.« Sie starrte ihn an. »Stimmt es, dass Industrial Illusions Aktien der Kaiba Corporation –« »Wäre es umgekehrt und die Aktien von Industrial Illusions das der KC wert, würde ich sicherlich auch mit dem Gedanken spielen, mir meinen Anteil zu verschaffen. Wenn das dann alles wäre.« Kaiba erhob sich und nickte ihr zu. Sie steckte ihren Notizblock ein und beendete die Aufnahme. »Ich danke für das Gespräch.« Sie streifte mich mit einem Lächeln, während Kaiba sie zur Tür begleitete. Ich blieb verwirrt zurück.   Seto Kaiba kümmerte sich nicht um die Gefühle anderer, wenn diese seinen Zielen im Weg standen. Er nahm sich, was er brauchte und ging weiter. Er schaute nur auf das, was er erreicht hatte, er schaute nicht zurück, um das zu vermissen, was er zurückließ.   Kaiba fuhr sich über die Augen. Unter seinen Augen hingen Schatten. Sein Smartphone klingelte. Mit einem Blick auf das Display ignorierte er das Brummen, setzte sich wieder an den Schreibttisch. »Sag mal«, begann ich gedehnt. »Was läuft da mit Industrial Illusions?« Kaiba schnaubte, antwortete aber nicht. Mit einem Seufzen wanderte mein Blick zu der Fensterfront und betrachtete Domino-City. Die Hochhäuser und Wolkenkratzer, die den Horizont verdeckten, die Straßen, die sich zwischen ihnen schlängelten, die Autos, die wie Spielzeuge aussahen und die Menschen, so viele, jeder mit einer eigenen Geschichte, eigenen Problemen und Sorgen. »Kaiba«, brummte ich, »weißt du, deine –« »Was hat Mokuba zu dir gesagt?« Mein Blick sprang zu ihm und ich runzelte die Stirn. »Was?« Sein Smartphone vibrierte schon wieder, aber er ignorierte es. »Stell dich nicht dumm, Köter«, knurrte er. »Was hat er zu dir gesagt?« »Warum fragst du ihn das nicht selbst, Geldsack?« Kaiba lehnte sich zurück, nahm sein Handy und starrte auf das Display. »Egal«, murrte ich und stand auf, »ich geh jetzt. Es sind Sommerferien. Vielleicht solltest du auch mal nach Hause. Aber was weiß ich schon.« Ich drehte mich um, war schon fast an der Tür, als mich sein Kommentar erstarren ließ. »Und vielleicht solltest du dich mal bei deinem Vater blicken lassen.« »Was weißt du schon von Vätern?«, knurrte ich, ohne mich umzusehen. Vielleicht starb mein Vater gerade. Vielleicht hätte ich es verhindern können. Vielleicht wäre ich bei dem Brand gestorben, wäre ich dort geblieben. Lava floss meine Lungen hinauf. »Was weißt du von Geschwistern?«, ätzte er zurück. »Und du?«, spottete ich und drehte mich zu ihm. Ich zuckte zusammen, als ich bemerkte, dass er hinter mir stand. Nur eins, zwei Schritte entfernt. »Mich erkennt mein Bruder immerhin. Wie ist es mit deiner Schwester?« Meine Augen weiteten sich. »Woher – woher weißt du von meiner –« »Wusstest du, dass sie nicht weit von Domino wohnt? Sie –« Ich stürzte auf ihn zu, krallte meine Finger in den Kragen seines Hemdes, funkelte ihn an und atmete, als wäre ich gerannt. »Woher weißt du das?«, spie ich und betonte jedes Wort. Er senkte seinen Kopf. Unsere Nasenspitzen berührten sich fast und er stierte in meine Augen, seine Mundwinkel zu einem höhnischen Lächeln verzogen. »Ich habe mit ihr telefoniert. Wusstest du, dass deine Mutter noch einen Sohn hat?« Ich ließ ihn los, als hätte ich mich verbrannt. »Das ist mir egal«, hauchte ich. »Das ist mir verdammt egal!« Mit jedem Wort brüllte ich mehr, doch er schaute mich nur an. »Was geht dich meine Familie an, Kaiba? Halt dich raus! Kümmer dich um deinen Scheiß! VERPISS DICH AUS MEINEM LEBEN! LASS MICH IN RUHE, DU ARSCHLOCH!« Ich fuhr herum und wollte weg, einfach nur raus hier und diese ganze Scheiße hinter mir lassen, doch Kaiba griff nach meinem Arm. »Lass mich los!« »Was hat Mokuba zu dir gesagt?« Ich zerrte an seiner Hand, doch sein Griff war wie ein Verschluss, den man nicht auf bekam. Ich riss und drückte, aber er ließ nicht los und saugte all die Wut aus mir heraus. »Er hat gemeint – dass er«, ich zog an meinem Ärmel, doch dann gab ich es auf und fixierte Kaiba, »gehofft hat, dass die KC abbrennt. Dass du nicht weggehst. Bei ihm bleibst.« Statt mich endlich loszulassen, zog er mich näher, so nahe, dass ich seine Wimpern zählen konnte. In dem Moment tönte wieder sein Handy los. »Wer ist das die ganze Zeit?«, raunte ich, als hätte ich Angst Kaiba aufzuschrecken, wie ein wildes Tier, das man nicht einschätzen konnte, obwohl ich das Bedürfnis hatte, ich zu schütteln. »Mokuba«, sagte er. Irritiert schaute ich ihn von unten an. »Ich weiß, du bist ein Arsch«, begann ich, »aber seit wann bist du ein Arsch zu deinem Bruder?« Kaiba schnaubte. »Ich hätte mit Mokuba weggehen können. Aber meine Arroganz hat mich davon abgehalten. Mokuba hat meinetwegen gelitten. Ich wollte Gozaburo zerstören.« Er funkelte mich an. Es überrumpelte mich, so viele Emotionen in dem Blau schwimmen zu sehen. »Wenn ich ein Arsch war, dann zu Mokuba«, flüsterte er, als wäre es ein Geheimnis zwischen uns. Stille. Da waren mein Herzschlag in meinen Ohren, das Gefühl, dass jemand ein Loch in meinen Bauch schlug und Kaibas blaue Augen. »Bereust du es?«, wisperte ich. »Und du?«, flüsterte er. »Hast du sie nie versucht zu finden?« Ich schloss die Augen. Versuchte mich daran zu erinnern, wie ihre Stimme geklungen hatte. Doch da war nichts. Sah sie vor mir, aber es waren Bilder, die jemand auseinander gerissen und zusammengeklebt hatte. Würde ich sie heute noch erkennen? Es waren fast acht Jahre. »Oder hattest du so viele Probleme, dass du nicht wusstest, wie du dein Leben auf die Reihe kriegen sollst? Wolltest du sie nicht enttäuschen, mit dem, was du geworden bist?« Sein Atem haftete an meiner Wange. Seine Wimpern. Seine Nase. Seine Lippen. Er drängte mich zurück. Mein Rücken stieß an die Wand, wo er seinen Arm abstützte, mit dem anderen zwang er mein Kinn nach oben. »Hast du Angst, Wheeler?«, raunte er. Vielleicht starb mein Vater gerade. Vielleicht hätte ich es verhindern können. Vielleicht wäre ich bei dem Brand gestorben, wäre ich dort geblieben. Es war egal, denn ich war jetzt hier. Kaibas Mund schwebte über meinem Nacken. Er schob seine Hand unter mein T-Shirt. Ich presste mich an ihn und drängte meine Finger unter sein Hemd. Seine Zunge fuhr meine Haut entlang. Jemand seufzte. War ich das? Wo war meine Wut hin? Ich wollte schreien, aber alles, was aus mir hervorbrach, war ein Seufzen. Kaibas Atem hing in meinem Ohr. Eine Gänsehaut krabbelte über meine Beine, den Rücken hinauf, über die Arme. »Was sind wir, Kaiba?«, raunte ich der Zimmerdecke entgegen. »Ein Arsch und ein Köter«, spöttelte er. »Ich meine – was sind wir geworden?«, murmelte ich gegen seine Haut. Seine Finger zupften an meinen Shorts. Seto Kaiba schaute nur auf das, was er erreicht hatte, er schaute nicht zurück, um das zu vermissen, was er zurückließ. Er schaute nicht zurück, weil er fürchtete, das zu sehen, was er verloren hatte. Oder war ich das? Ich riss an seinen Hemdknöpfen und zog sie auf. Kaiba presste seine Hüfte gegen meine und irgendwo dazwischen raschelten meine Shorts auf den Boden. ENDE TEIL 1 Kapitel 41: … bin lebendig -------------------------- TEIL 2 __________________________________________   wagen zu lieben   über den Schatten der Angst springen in ein Nichts   wohl ahnend daß es trägt   wohl wissend um die Angst   © Anke Maggauer-Kirsche   __________________________________________           Ich schaute nur auf das, was ich erreicht hatte, ich schaute nicht zurück, um das zu vermissen, was ich zurückließ.   Seine Finger schwebten über meinen Bauch und tasteten über Muskeln und Sehnen und Gänsehaut kletterte darüber. Sein Atem hing über meinem Ohr, während sein Oberkörper gegen meinen presste und seine Lippen gegen meinen Hals. Ich wollte ihn wegstoßen und drückte ihn gleichzeitig an mich, griff mit meinen Händen in den Stoff seines Hemdes und zog ihn näher. Seine Hand streifte den Bund meiner Boxershorts, wo Ameisen meine Leiste hinabkletterten. Unsere Atemstöße erfüllten die Stille des Büros. Sein Haar stand ab, seine Lippen geschwollen. Ich zog seine Krawatte vom Hals, ließ sie auf den Boden fallen, obwohl ich mir sicher war, dass es keinen Boden mehr gab. Meine Füße berührten nichts, wir schwebten mitten im Raum. Seine Gegenwart verdrängte alles andere. Die Finger wanderten unter mein Shirt, streiften die Seiten, wo sie mich kitzelten, und über meinen Brustkorb. Ich schob sein Hemd auseinander, über die Schultern, ließ es hinabgleiten und lehnte mein Gesicht an seine Haut, atmete tief ein und füllte meine Lungen mit Wärme und seinem Aftershave. Seine Hitze flammte überall dort auf, wo er mich berührte, auf meinem Bauch und meiner Brust, meinem Po, meinen Schenkeln. Sein Penis berührte mein Bein durch seine Stoffhose. Ein elektrischer Schlag. Er ächzte und ich seufzte auf. Ein Zittern jagte durch meinen Körper. Seine Fingerkuppen wanderten hinab, dehnten den Bund meiner Boxershorts und tasteten durch mein Schamhaar. Ich krallte meine Finger in seine Schulter, während Hitze durch meine Beine walzte und jeden Gedanken auslöschte. Atem, Finger, Haut, Hitze, Lippen, Blau. Ich versank in seiner Nähe. Gierte nach mehr. Als hätte ich etwas gekostet, das ich nun verschlang. Etwas, das mich nicht erfüllte, sondern nur noch hungriger zurückließ. Mit dem Versprechen nach mehr. Keine Vergangenheit, keine Zukunft. Nur dieser Moment, in dem alles in meinen Adern nach mehr schrie, weil ich lebte. Jetzt, in diesem Augenblick.   Meine Finger flogen über seine Haut, über die Brust, über den Bauch, mit einem klaren Ziel, das ihm den Atem stocken ließ. Ich fummelte an seinem Gürtel, riss ihn auf und fuhr unter seine Stoffhose, fühlte einen weichen Haaransatz und zögerte, hob mein Gesicht und schaute in seines. »Hast du Angst, Wheeler?«, murmelte er. Röte auf den Wangen. Seine Augenlider halb geöffnet. Sein Atem schwer, als wäre er einmal von unten wieder hoch in sein Büro gerannt. Seine Stimme jagte Wellen aus Elektrizität durch meine Adern, zwangen meine Härchen an Armen und Nacken nach oben. Da war Provokation und Herausforderung. Zwischen den Worten hingen Möglichkeiten. Wenn ich mich traute, seiner Stimme zu folgen. Mit einem Schnauben drückte ich meine Hand tiefer in seine Shorts, strich über seine Haut dort, tastete über weiches Haar und – Erstarrte. »Seit wann denkst du so viel?«, murrte er. »Seitdem du damit aufgehört hast«, murmelte ich, wankte zwischen Faszination und Beklemmung. Ich war ihm noch nie so nahe gewesen. Ich könnte seine Mauern einreißen und ihn in die Knie zwingen. Ich könnte ihm zeigen, dass ich ihm ebenbürtig war. Ich könnte ihn dazu bringen, meinen Namen zu stöhnen. Er bewegte seine Finger, streichelte über meine Hüfte und glitt tiefer. Mein Atem stockte und ich schloss die Augen, spürte seine Berührung, hörte seinen Atem nahe meines Ohres und seine Haut auf meiner. Seine Lippen strichen über meine Ohrmuschel, seine Finger vergruben sich in meinem Schamhaar, dann zog er seine Hand zurück, seufzte, streichelte über meinen Bauch und drückte mich eine Handbreit von seinem Körper, als müsste er sich dabei konzentrieren. Ich glühte und rührte mich nicht, hörte nur meinen Atem und spürte das Zittern in meinen Beinen, während er nach seinem Hemd auf dem Boden angelte und es überstreifte, dann seine Hose hochzog, den Gürtel schloss. Er griff nach der Krawatte, bückte sich und ich starrte seinen Arsch an, dann schoss mein Blick gen Decke. Meine Boxershorts kniffen. Alte Oma, Tris, als er sich übergeben musste – »Ich hoffe, du erwartest nicht, dass ich dir beim Anziehen helfe.« »Pfff«, machte ich, »ist ja nicht so, als wärst du unschuldig dran, dass ich‘s muss.« Er drückte mir meine Sommershorts gegen die Brust und mein Blick flog zu ihm. Sein Haar ein Chaos. Seine Wangen noch immer gerötet und die Lippen geschwollen. Seine Hand ruhte auf meiner Brust, nur durch den Stoff meiner Shorts getrennt. Unsicher, ob er sie dort beließ, um mich zu fühlen oder Distanz zu wahren. Sein Gesicht schwebte vor meinem. In seinen Augen tobte das Meer. »Erwarte nicht mehr Hilfe von mir«, flüsterte er, »ich garantiere nicht für deren Zweckmäßigkeit.« Ich wollte ihn näher ziehen, aber wich seinem Blick aus. Ihn spüren, mich an ihn klammern und die Hitze überall im Körper fühlen, das Prickeln, wenn seine Finger über meine Schenkel waberte, als suchten sie etwas, sein Blick mit der Mahnung, mich zu verschlingen. Ich zog hastig meine Hosen drüber.   Wüsste Tris davon, was würde er sagen? Sein Grinsen am Schulfest spukte durch meinen Kopf. Die Worte in meiner Erinnerung. Erwartete er so etwas zwischen Kaiba und mir? Ich stand in Kaibas Büro und fühlte mich auf einmal fehl am Platz. Was zur Hölle war nur in mich gefahren? Ich war nicht einmal schwul. War Kaiba schwul? Wir hatten uns geküsst. Irgendwie. Aber das war doch irgendwie aus der Situation heraus irgendwie passiert. Irgendwie. Meine Gedanken stolperten übereinander. Wann zur Hölle war aus Kaiba, der, den ich am liebsten ins Gesicht schlagen würde, Kaiba, der den ich am liebsten – »Will ich wissen, was du dir zusammenfantasierst?« Kaibas Blick fuhr über mein Gesicht. Die Hitze kroch über meinen Nacken. Verlegen trat ich von einem Fuß auf den anderen. Er beäugte mich mit einem Seufzen und schaute dann auf die Uhr an der Wand. »Das Foto wird in einer halben Stunde gemacht.« Ich stand einfach da und nickte, als spräche er mit mir in einer unbekannten Sprache. »Du solltest dich vorher anziehen«, bemerkte er trocken und ich verdrehte die Augen, schnappte mein Shirt und zog es drüber.   Wie war das geschehen? Wann war das passiert? Hätte ich es kommen sehen müssen? Was, wenn Tris Recht hatte? Was, wenn Kaiba dachte, es wäre ein Date gewesen? Wann wusste man, dass es so war? Machte man das nicht vorher aus? Jo, Kaiba. Lass uns ein Date haben. Bis denn. Klärte man die eigentlich wichtigen Sachen nicht irgendwie? Hey, ich komm dann vorbei. Genau, lass uns danach in deinem Büro herummachen. Oder wusste man es einfach? Gab es da einen geheimen Code, den ich absolut nicht raffte?   Kaiba rückte seine Krawatte zurecht und schritt an sein Schreibtisch, wo er in der Schublade wühlte. »Wegen – ich mein wegen Tris – also nicht wegen Tris, sondern dem Schulfest und –« »Wheeler –«, brummte er. »Ich mein, das war doch kein – oder? Aber wärst du nicht du und ich nicht ich –« »Wheeler, du hast vor wenigen Minuten beinahe nackt in meinem Büro gestanden. Und du willst über das Schulfest reden?« »Ja«, erwiderte ich langsam, wusste nicht ob ich ersterem, letzterem oder beidem zustimmte und Wärme prickelte über meinen Nacken. Er schwieg. Wenn ich ihm hinter den Schreibtisch folgen und seinen Körper an mich ziehen würde, würde er mich gegen die Tischplatte drängen? Ich könnte ihn gegen den Aktenschrank pressen. Meine Lippen auf seinen Hals und – »Okay – also –«, räusperte ich mich und dehnte das Wort drei Sekunden, knetete meine Hände. »Es ist mir völlig gleichgültig, was deine Freunde sagen. Wenn das dann geklärt wäre, dann können wir zu der für dich eigentlich wichtigen –«, erwiderte er. Es war für mich keineswegs geklärt, starrte ihn an, »Sache kommen.« Ich riss die Augen auf. Hitze brannte auf meinen Wangen. »Willst du nachher essen?« Mit einem tiefen Atemstoß fuhr ich mir durchs Haar und kniff die Augen zusammen. »Ist das dein Ernst?« Wie schaltete er von Kaiba, der mit dem Sturm in den Augen zu Kaiba, der das Abendessen besorgte? In einer Sekunde zur nächsten. Ich stand da, als hätte mir jemand eine mit einer Pfanne drüber gebraten. »Mokuba wartet sicherlich zu Hause. Was –« »Lasagne«, unterbrach ich ihn belämmert und er zog sein Smartphone hervor, als wäre das alles ganz normal.   Zwanzig Minuten später laberte der Fotograf über das Fotomotiv. Ich versuchte ihm zuzuhören, aber mein Blick wanderte immer wieder zu Kaiba. Sein Haar ordentlich, seine Augen kühl, seine Hemd glatt gestrichen. Da war nichts mehr von all den Möglichkeiten, die zwischen seinen Worten gehangen hatten. Da war der Businessmann, der seine Geschäfte ohne Verluste abschloss, ohne je die Kontrolle zu verlieren, ohne Gefühle durch die Maske sickern zu lassen. Aber ich wusste es besser. Ich hatte den jungen Mann unter dieser Fassade gekostet. »Oder sie spielen eine Runde DuelMonsters. Das wäre ein realistisches Szenario. Authentisch.« Ich unterdrückte, in Lachen auszubrechen. Das Szenario wäre alles andere als authentisch. Kaibas Blick verdüsterte sich. Der Fotograf sollte vielleicht ein Bild von uns machen, während wir uns stritten – oder – Ich schluckte und verdrängte den anderen Gedanken. »Sie haben noch fünf Minuten für das Foto. Schießen Sie es endlich. Ich habe nicht den ganzen Tag für so einen Unsinn Zeit«, knurrte Kaiba. Der Fotograf nickte und hob beschwichtigend die Hände. »Wie Sie wünschen.« Also machte er ein Foto von Kaiba hinter dem Schreibtisch, ich saß ihm schräg gegenüber und schaute zurück in die Kamera. Die Tränen des unterdrückten Lachens noch immer in den Augen und das Grinsen zwischen den Wangen.   Die Tür fiel ins Schloss, Kaiba tippte auf seiner Tastatur und stierte in den Bildschirm. Hinter ihm strahlte die Sonne durch das Fenster und rückte in mein Bewusstsein, dass Sommer war, dass ich jetzt Eis essen sollte und faul am Weiher liegen und mit Tris Yugi ins Wasser werfen, stattdessen stand ich unschlüssig vor Kaiba und starrte auf seine Lippen, dann auf seine Hände und dann wieder aus der Fensterfront. »Und das ist ein normaler Arbeitstag für dich?«, fragte ich. Obwohl es nach einem Scherz klingen sollte, schmeckte es nach mehr. Nach Fragen, die ich nicht stellte. »Wheeler. Ich muss arbeiten.« »Ah. Ja.« Ich wusste nur nicht, welche Fragen. Ich senkte meine Schultern, ließ mich auf den Stuhl ihm gegenüber, griff nach dem Ordner mit den Skripten und blätterte darin herum, obwohl ich es nicht las. Meine Gedanken sprangen zu Kaibas Berührungen. »Du kannst gehen.« Ich zuckte zusammen. Kaiba schaute mich nicht einmal an, unterbrach nicht sein Getippe. »Ich hole dich heute Abend ab. 18 Uhr.« »Jo, ähm – also. Dann – noch viel – Spaß.« Kaiba erwiderte nichts, zuckte nicht einmal mit der Wimper. Ich verzog mein Gesicht und verdrehte die Augen, sagte aber nichts, schlenderte hinüber zur Tür, warf einen Blick zurück, legte meine Hand langsam auf die Türklinke, drückte sie hinunter, schaute wieder zurück und fragte mich, warum Kaiba so ein Arsch, warum alles so kompliziert war und seit wann, drückte ein bisschen weiter, öffnete die Tür und ging. Im Aufzug überrollte mich ein Gedanke. War das ein Date?   Ich betrat den Laden, rief ein Hallo und Yugis Großvater begrüßte mich mit einem breiten Lächeln hinter dem Tresen, dann vertiefte er sich wieder in das Gespräch mit einem der Nachbarn. Ich trottete nach oben, rief nach Yugi, aber der war nicht da, also ging ich nach hinten und schaute aus der Glastür, wo ich wie angewurzelt stehen blieb. Yugi und Thea lungerten im Garten hinter dem Spielladen, lagen unter dem Apfelbaum und hielten Händchen. Er lachte, sie beugte sich zu ihm, legte ihre Hand an seine Wange. Ich wollte wegschauen, aber konnte es nicht. Es war wie bei einem Unfall. Etwas in meinem Magen verknotete sich. Yugi strahlte. Müsste ich das nicht auch? Es schaute bei ihm so leicht aus. Glücklich zu sein. Yugi schaffte es trotz aller Widrigkeiten in seinem Leben, diesen Glanz nicht zu verlieren. Diese Zufriedenheit. Früher hatte ich gedacht, er wäre ein Schwächling. Er brachte Thea zum Kichern. Sie hielt sich den Bauch und lehnte sich zu Yugi. Kaiba und ich hatten dort gesessen. Seine Hitze sprudelte noch in meinem Bauch, aber durch seine Augen zog Kälte. Warum war Kaiba so kompliziert? Ich hatte gedacht, Yugi wäre unauffällig, so ein Durchschnittstyp, das Gegenteil von Kaiba. Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und schaute zur Seite. Aber wer behauptete, es wäre nicht gut, das Gegenteil von Kaiba zu sein? Yugis Sanftheit, seine Aufrichtigkeit, seine Zuneigung. Ich hielt den Atem an. Zwischen Kaiba und mir würde es nie leicht sein. Wir – die Erkenntnis zuckte durch mein Bewusstsein wie ein Stromschlag – wären immer wie ein Kampf. Wir würden uns fertig machen, küssen, streiten, nahe sein und gleichzeitig in verschiedene Richtungen stoßen. Thea schaute auf, drehte sich zu Yugi, näherte sich seinem Gesicht. Sie strahlten. Kaiba sah mich nie so an. Selbst, wenn ich ihm nah war. Was war das zwischen uns? Ich war nicht einmal schwul. Ich wandte meinen Blick ab. Dann straffte ich meine Schultern und polterte durch die Tür in den Garten.   Sie schauten auf, als hätte ich sie ertappt. Auf Yugis Wangen lag Röte und Thea erwiderte meinen Blick, als könnte sie sich nicht zwischen Ärger und Verlegenheit entscheiden. Es war mir egal. »Hey, Yugi. Kaiba hat mir die Skripte gegeben wegen den Dreharbeiten.« Ich streckte ihm den Ordner entgegen, während er mich zaghaft anlächelte. Mein Blick schweifte über Thea, aber ich begrüßte sie nicht explizit, nickte nur in ihre Richtung. »Joey, Tris kommt gleich vorbei«, informierte mich Yugi, »wir wollten an den Weiher. Kommst du mit?« Mein Blick wanderte zu Thea und in mir brodelte die Möglichkeit, abzulehnen. Aber in dem Moment rief Tris meinen Namen durch den Garten, ich schaute zu ihm, während er quer durch den Garten stapfte und murmelte meine Zustimmung. Als ich Tris ein Set der Skripte überreichte, erhoben sich Thea und Yugi. Wir ließen den Ordner erst mal in Yugis Zimmer und fuhren mit unseren Fahrrädern an den Weiher. In der Ferne thronte das Gebäude der Kaiba Corporation. Kaiba würde nie im Leben mit dem Fahrrad an einen Weiher fahren. In meinem Magen wandte sich eine Schlange.   Ich lehnte das Rad an einen Baum und beobachtete, wie Thea mit Yugi Hand in Hand an das Ufer spazierte. Sie trug einen blauen Bikini. Ihr Bauch war flach und ich Po war straff. Sie musste oft trainieren, irgendeinen Sport machen. Nicht, dass es mich interessierte, was sie trieb. »Alter. Alles okay bei dir?«, fragte Tristan und ich nickte. Thea kreischte, als Yugi sie mit Wasser vollspritzte, während er lachte. Er war fast einen Kopf kleiner als sie, eher schlank, aber nicht dürr. Seine Arme waren dünn und sein Bauch flach, aber nicht muskulös. Ich war nicht schwul. »Warum machste dann so’n Gesicht?«, bohrte Tris weiter. Ich schaute ihn eine Sekunde irritiert an. »Wenn alles okay ist, mein ich«, wiederholte er. Ich zuckte die Schultern. Thea war attraktiv. Solange sie die Klappe hielt. Wenn ich sie nackt sehen würde, wäre mir das sicherlich nicht egal. Ich war nicht schwul. Der Wind strich meine Arme entlang, fuhr durch mein Haar und ich atmete tief ein. Die Sonne im Gesicht, blinzelte und hielt einen Moment den Gedanken fest, dass Ferien waren. Kein Stress, keine Sorgen, keine Fragen. Keine Vergangenheit oder Zukunft. Nur dieser Moment. Tris zog mich in den Schwitzkasten, rubbelte mit seiner Faust über meinen Kopf, bis ich murrte. »‘s tut weh, Idiot.« Er grinste und ich erwiderte es, obwohl ich mir wehleidig den Kopf hielt. Yugis Stimme zog meinen Blick wieder zu ihm. Er zog Thea am Arm, zog sie näher. Würde ich Yugi nackt sehen – Seine lange Badehose verhüllte nur seinen Hintern und einen Teil seiner Oberbeine. Es war nicht so, dass es mich irgendwie reizte. Aber genauso wenig reizte es mich, Thea nackt zu sehen. »Weißte, sie ist gar nicht so übel, Kumpel. N bisschen laut manchmal, aber auch irgendwie ganz lustig und ich glaub, unser Yugi mag‘se echt.« Tristan musterte mich, fuhr sich durch sein kurzes Haar und zuckte die Schultern, während er sein T-Shirt über den Kopf zog. Oder Tristan? Ich stellte mir vor, Tristan zu küssen oder Thea. So wie Kaiba mich geküsst hatte. Wären Tristans Lippen auch so – so? Oder Theas? Thea war immerhin ein Mädchen. Ich verzog das Gesicht. Oder Yugis. Und runzelte die Stirn. »Joey, Alter. Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Tris und klang irgendwie genervt. »Ja, ja.« Ich räusperte mich und zog mein Shirt aus. Heterosexuelle Menschen küssten auch nicht wahllos irgendwelche Leute. Woher wusste man, was einen sexuell anzog? Konnte man das überhaupt wissen? Wirklich wissen? »Ja, du mich auch«, erwiderte er und klatschte seine Hand auf meinen nackten Rücken. Ich verzog meinen Mund, wegen des kurzen Brennens. »Weißte, du bist echt komisch drauf. Wenn das was mit Thea –« »Ich hab mit Kaiba rumgemacht.« Er erstarrte, sein Mund offen, formte erst die stumme Silbe, ehe der Laut folgte. »Oh.« Etwas in mir gefror, als er nichts weiter sagte. Er schaute mich an und ich wich seinem Blick aus. »Is’seltsam, oder? Haste damit ein Problem? Ich mein –« Tristan hob abwehrend die Hände. Musste man es überhaupt wissen? »Ich glaub, vielleicht – hab ich damit ein Problem«, murmelte ich und legte meinen Kopf in den Nacken, starrte in den Himmel, mein Mundwinkel zuckte. Musste ich es mit einem Label versehen? »Alter, Quatsch. Du hast ihn schon abgeknutscht, vergessen? War mir auch egal. Also nicht egal. Und joar, schon irgendwie seltsam. Aber auch weil’s Kaiba war – also ist – verstehste? Dass er ein Kerl ist, ist nur zweitrangig irgendwie. Macht das Sinn?« Mein Blick raste zu ihm. Ich schüttelte den Kopf, dann nickte ich, dann schüttelte ich wieder den Kopf. Tristan beäugte mich, zuckte die Achseln und grinste. Wann machten Kaiba und ich schon jemals Sinn? Ein Grinsen breitete sich auf meinen Lippen aus, das versteinerte. Es machte keinen Sinn. Was erwartete Kaiba? Was wollte er von mir? »Wie üblich, oder?«, sagte Tris und im ersten Moment wollte ich widersprechen. Es war nichts wie üblich. Aber dann nickte er zu Yugi, der mit Thea am Ufer stand, das Wasser bis knapp unter die Knie. »Und wie«, erwiderte ich. Mit einem Schrei rasten wir auf Yugi zu, schnappten uns je einen Arm, zogen ihn mit, stolperten mit ihm ins Wasser und tunkten ihn. Als er japsend auftauchte, lief sein Eyeliner über die Wangen und seine Haare hingen ihm ins Gesicht. »Joey! Tristan!«, brüllte er und brach in Lachen aus.   Ich schaute nur auf das, was ich erreicht hatte, ich schaute nicht zurück, um das zu vermissen, was ich zurückließ. Was gab es da schon zu vermissen?   Von meinen Strähnen tropfte das Wasser, während wir auf Yugis Decke saßen und zu viert Karten spielten. »Gewonnen!«, rief ich, als ich meine letzte Karte auf den Stapel schmiss und streckte Tris die Zunge raus. »Yugi hat schon vor zwei Runden gewonnen«, bemerkte Tris trocken, aber ich zuckte die Schultern, zog Yugi an mich und strubbelte durch sein Haar, das noch immer nass und platt bis auf seine Schulter hing. »Klar, ich meinte ja auch Gewinner nach Yugi, dem sein Gewinnen nicht zählt, weil er immer gewinnt.« Selbst beim Mau-Mau zog er uns ab. Yugi lächelte verlegen. Ich klopfte auf seine Schulter. »Nur weil etwas regelmäßig stattfindet, ist es nicht weniger bewundernswert«, wies Thea zurecht und ich verdrehte die Augen. »Ist schon okay, Joey meint das nur –« »Nein, Yugi, du solltest dein Talent wirklich nicht so herunterspielen. Dadurch bagatellisierst du das Problem, wenn dich Leute nicht ernst nehmen.« Thea warf ihm einen tadelnden Blick zu und er verstummte. »Leute, ich hab echt Hunger, lasst uns doch –« Doch sie ignorierte Tris total. Ein Auto fuhr an uns vorbei und ich folgte ihm mit meinen Blick, ehe Theas Stimme wieder durch die Luft schnitt. »Er stellt sich nicht gerne Konflikten«, fuhr sie fort, als spräche sie von ihrem Kind – oder Haustier – und vor allem so, als wäre er nicht da. »Aber als zukünftiger Arzt muss er sich mit seinen Schwächen auseinandersetzen.« Sie legte die Karten aufeinander und mischte sie, während sie mich anschaute. »Zieh ihn also bitte nicht so herunter. Yugi ist mein Freund. Wenn es dir im Leben reicht, deine Träume nicht zu verwirklichen und nur zweiter zu sein, wenn überhaupt, ist das –« »Alter, hast du’n Schuss?«, knurrte ich und fuhr hoch. »Joey, sie meint nur, dass –« Yugis Stimme wurde höher, so wie damals, wenn er uns auf ihn lauern sah. Zorn rauschte durch meinen Körper. »Was ich mit meinem Leben mach, geht dich’n Scheiß an«, spie ich Richtung Thea. Ich sprang auf, stülpte mir mein Shirt über den Kopf, zog es mit einem Ruck runter und wollte zu meinem Rad laufen, als Tris mich am Ärmel zurückhielt. »Leute, jetzt atmet jeder mal tief durch«, sagte er, aber ich riss mich von ihm los. »Lass mich«, zischte ich, »ich hab echt keinen Bock auf die Scheiße.« »Joey, sie hat es nicht so gemeint«, behauptete Yugi und blinzelte mich mit seinen großen Augen an. »Doch«, erwiderte ich langsam, »sie hat es genau so gemeint.« »Lass ihn doch, Yugi«, sagte sie, »er hat nur eine große Klappe und sonst nichts zu –« »Jetzt halt mal den Rand«, rief Tris und innerlich jubelte ich, aber in mir brüllte weiter die Wut. »Ja, Thea, das reicht!«, stimmte Yugi mit ein, was mich besänftigte. »Joey ist mein bester Freund!« Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Ich wusste, dass du im Ernstfall auf seiner Seite bist!«, warf sie ihm vor und irgendetwas an ihrem Ton streichelte mein Ego. Das Bild, wie sie beide unter dem Apfelbaum lagen, verpuffte. »Natürlich ist er auf meiner Seite. Er ist mein Freund«, rief ich und Tristans Blick schnellte zu mir. Yugi blinzelte. »Was?«, wollte ich irritiert wissen. »Das wird mir zu blöd«, zischte Thea und stieg auf. Sie schnappte sich ihre Handtasche und machte sich auf zu ihrem Rad. Yugi sah mich an, dann Tristan, dann wieder mich. Sein Blick wanderte zu Thea, die schon fast beim Fahrrad angelangt war. Tristan stieß mich mit der Schulter gegen meine. Ich blieb stumm. Er bohrte seinen Finger in die Seite. Ich sagte nichts. Yugis Blick fixierte Thea. Sie stieg auf ihr Rad. Tristan schlug mich auf den Rücken. Ich verharrte. Thea radelte davon und Yugi blieb bei mir. »Super«, stöhnte Tris und atmete tief durch. »Und jetzt?« Ich antwortete nicht, weil sich in meinem Magen eine Schlange wandte. Stille. Yugi wich meinem Blick aus. »Ich hab Hunger«, teilte uns Tris nach wenigen Minuten mit, die sich dehnten wie Kaugummi. »Es ist schon fast halb sieben. Soll’n wir –« »Wir können uns Pizza bestellen«, schlug Yugi vor, doch obwohl er lächelte, klang er niedergeschlagen.   Gemeinsam radelten wir zu Yugi. Vor dem Laden hielt mich Tris zurück, während Yugi die Tür öffnete. »Das hast du ganz schön verkackt«, murrte Tris mir zu. »Weiß nicht, was du meinst«, zischelte ich und drückte mich an ihm vorbei in den Laden. »Ah, Joey. Da bist du ja!«, rief Herr Muto erfreut und ich erstarrte, als ich Kaiba neben ihm bemerkte. »Was machst du hier?«, wollte ich wissen. Ich hatte gerade echt genug Probleme. Auch, wenn ich nicht wusste, warum. Kaibas Augen bestanden aus Eis, als er mich musterte, wie etwas, das man am Türabtreter abstreifte. Meine weiteten sich, als ich mich erinnerte. »Oh.« Betreten schaute ich auf meine Füße, dann zu meinen Freunden, Yugi, der meinem Blick auswich, Tristan, der mich anfunkelte, als würde er mich bei nächster Gelegenheit überfahren, dann zu Kaiba, der mich ansah, als wäre ich ihm nie so nahe gewesen, dass ich ihn meinen Namen hätte stöhnen lassen können, dann an die Wand. Die Wand war okay. Ich räusperte mich, während ich von einem Fuß auf den anderen trat, als wollte ich schnell von hier verschwinden. »Und du hast gewartet?«, wollte ich kleinlaut wissen. Wo war meine große Klappe hin? »Nein«, erwiderte Kaiba kühl und ich runzelte die Stirn. »Warum bist du dann –« »Herr Muto. Wir haben uns übers Geschäft unterhalten.« Natürlich. Kaiba schaute in die Runde und ich war mir sicher, dass er ungefähr so Mokuba ansehen musste, wenn Kaiba wusste, dass sein Bruder etwas getan hatte, was er nicht erlaubt hatte. Ich öffnete meinen Mund, um ihm zu sagen, dass er dann ja gehen könnte. Doch Yugi trat an mir vorbei und ich klappte meinen Mund wieder zu. »Entschuldigt. Ich bin müde und hab Hunger. Tristan kommst du schon mal mit hoch? Dann können wir gleich eine Pizza bestellen.« Tris stimmte zu und folgte Yugi die Treppe nach oben. Ich sah ihnen nach und atmete tief durch, verschränkte die Arme vor der Brust. »Und das alles nur wegen dieser Tusse«, murrte ich. Yugis Großvater und Kaiba wechselten einen Blick. »Ich bin sicher, dass alles wieder in Ordnung kommt«, erwiderte Yugis Großvater mit Zuversicht in den Augen, die ich überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Er drehte das Schild an der Tür auf geschlossen und wandte sich dann wieder zu uns, lächelte, als wäre es nicht seltsam, als glühte die Luft nicht vor unausgesprochenen Problemen und Fragen. »Ich danke dir, Seto, für das Gespräch und die Hilfe. Wie wäre es mit Pizza?« Wie wir so da standen, in diesem Laden, erinnerte mich an die Woche, als Kaiba und ich hier unser Praktikum absolviert hatten. Hatte es damit begonnen? Oder früher? Später? Ich warf Kaiba einen Blick zu, der schüttelte den Kopf, dankte Herrn Muto aber. Hätte er ihm früher gedankt? »Mokuba wartet.« »Natürlich.« Herr Muto schenkte uns ein Lächeln, als wären wir Kinder von guten Freunden, als bedeuteten wir ihm etwas. Mehr als der Freund seines Enkels, mehr als ein ehemaliger Praktikant, der zufällig das größte Unternehmen in der Umgebung führte und ihm geschäftliche Tipps anbot. Er reichte Kaiba die Hand. »Bis dann, Seto.« Ich fragte mich, wann Kaiba für ihn zu Seto geworden war. Mit einem Lächeln drückte er meine Schulter, dann drehte er sich um. »Für mich eine große Pizza mit Salami«, rief er nach oben, während die Stufen unter seinen Schritten ächzten. Kaibas Blick folgte ihm, bis er um die Ecke bog, dann schnaufte er. »Was hast du angestellt, Wheeler?«, fragte er trocken. Ich öffnete meinen Mund, um ihn anzufahren, wie er darauf käme. Als wäre alles immer meine Schuld, aber in meinem Magen rumorte es und ich blieb stumm. War es falsch gewesen? War es meine Schuld? Und vor allem was? »Was auch immer vorgefallen ist –« »Es ist nicht wichtig«, brummte ich. »Nimmst du mich noch mit oder soll ich mir auch ‘ne Pizza bestell’n?« Er musterte mich einen Moment. »Mokuba wird sich freuen«, erwiderte er schließlich. Ich nahm es als ein Ja, ich nehm dich mit, nein, es gibt Lasagne. »Gut, ich sag nur grad schnell Bescheid.«   Tris sah aus, als würde er mich bei nächster Gelegenheit übers Knie legen, während ich in der Küche auftauchte, wo er gegen den Tisch gelehnt da stand, und verkündete, ich würde bei Kaiba zu Abend essen. Yugi stand an der Theke und trank ein Glas Wasser oder Limonade. Sein Großvater saß auf der Eckbank. »Einen schönen Abend, pass auf dich auf«, sagte Yugi und streifte meinen Blick. Ich nickte, ignorierte Tristans Schnauben und drehte mich zum Gehen.   Wir fuhren an Häusern vorbei und Bäumen, Menschen, die Hunde ausführten oder Kinder an den Händen hielten. Die Sonne stand tief und blendete mich, also klappte ich die Sonnenblende nach unten, während Kaiba um die Ecke bog. Ich drückte den Knopf vom Radio, schaltete es ein und suchte das nächste Programm, hörte einen Augenblick, drückte weiter, lauschte, drückte wieder weiter, hielt inne und drückte weiter. Diese verdammte Zicke. Hatte doch keine Ahnung. Es war richtig gewesen, ihr mal die Meinung zu sagen. »Wheeler. Drück noch einmal weiter und du läufst den Rest.« Ich zweifelte keinen Moment an seinen Worten, also ließ ich es, schob aber meine Mund nach vorne. Vor uns tuckerte einer, der bestimmt nur alle paar Jahre in ein Auto stieg. Genervt verschränkte ich die Arme und verengte die Augen. Und es war ganz sicher nicht meine Schuld, dass sie so eine arrogante Kuh war. »Oh Mann, was für ein Penner«, knurrte ich. Kaiba schwieg. »Warum fährt der so bescheuert?« Ich fluchte. »Hat der seinen Führerschein gewonnen oder was?« Kaiba atmete tief durch. »Wheeler, du hast nicht einmal einen.« »Ich fahr selbst ohne besser als der«, behauptete ich. Er bremste, fuhr wieder an, weil jemand einscherte. Die Straßen vollgestopft mit Autos. »Ich hass solche Idioten!«, murrte ich. »Die, die glauben, sie wüssten alles!« Kaiba schwieg. Dabei war ich mir sicher, dass er eine Menge über Idioten zu berichten wusste.   Mokuba freute sich tatsächlich und schon sein Lächeln entknotete die Schlange in meinem Bauch ein Stückchen. Wir aßen zusammen. Er plapperte, erzählte, als bemerkte er nicht, dass ich in meinem Essen herumstocherte, ohne zu essen – vielleicht bemerkte er es wirklich nicht. Er erzählte, wie cool Tobi mich fand – Kaiba verdrehte an der Stelle die Augen – und dass Lina den Abend voll lustig gefunden hatte. »Morgen können wir im Pool schwimmen, Joey. Kommst du morgen wieder?« Ich warf Kaiba einen Blick zu, doch der schaute auf sein Handy, drückte auf den Touchscreen und zog es an sein Ohr, während er aufstand und aus dem Raum schritt. »Und?«, fragte Mokuba. Ich schaute ihn an. Verwirrung. »Mh?« »Ob du morgen wieder hier bist.« Ich spieß mit meiner Gabel Nudeln auf. »Ich weiß es noch nicht«, murmelte ich und schob mir das Essen in den Mund. »Morgen wird das Wetter richtig gut! Totales Badewetter!«, teilte Mokuba mir mit. Meine Gedanken hüpften zum Weiher und ich starrte düster in meinen Teller, als könnte er etwas dafür. Yugi verdiente jemanden Besseren. Thea war das Letzte.   Mokuba saß noch eine dreiviertel Stunde später auf seinem Platz, obwohl sein Teller leer war. Meiner war es nicht, aber das würde sich auch in der nächsten Stunde nicht ändern. Theas Worte hallten in meinem Kopf wider. Jemand, der seine Träume nicht verwirklichte. Nur der Zweite. Der sich seinen Schwächen nicht stellte. »Ist bestimmt einer seiner Geschäftspartner«, mutmaßte Mokuba, »dann lässt er sich manchmal stundenlang nicht blicken.« Er stierte auf seinen Teller, die Hände in seine Hosen verknoten. Was wusste diese Tusse schon? Ich schaute auf und meine Gedanken verpufften. Mokubas Blick erinnerte mich daran, als er sagte, er wünschte sich manchmal, die KC würde brennen. Ich seufzte, dann stand ich auf, schnappte mir unsere Teller, ignorierte Kaibas, und stellte sie einfach auf den Küchentresen. Mokuba folgte mir. »Lass uns Popcorn machen«, schlug ich vor, »ist noch was da? Dann machen wir’s und schauen ein paar Filme, na?« Sofort war da wieder dieser große Unterschied zwischen seinen und Kaibas Augen. Sie sprudelten über vor Leben.   Wir schauten irgendwelche Kinderfilme, obwohl Mokuba behauptete, dass er manchmal schon Filme ab sechzehn sehen durfte. »Klar, wenn dein Bruder nicht da ist«, erwiderte ich amüsiert. Er blähte die Wangen auf, widersprach aber nicht, sondern grinste nur. Wir mampften Popcorn und spülten es mit Limo runter. Irgendwann um Mitternacht, ließ sich Kaiba neben Mokuba auf der Couch im Wohnzimmer nieder. »Was du lebst noch? Wir dachten schon, das Handy hätte dich verschlungen«, sagte ich, die Ironie in jedem Wort. Mokuba nickte ernst. Seine Augenlider schwer, die leere Popcorntüte auf dem Schoß, mit dem Kopf an meine Schulter gelehnt. »Und du willst echt mitgucken? Ich weiß nicht, ob du dem Film noch folgen kannst«, plapperte ich mit gespielter Sorge. »Das ist mein Fernseher in meinem Wohnzimmer in meinem Haus«, erwiderte Kaiba und lehnte ein Bein über das andere. »Wenn nötig, schauen wir den Film von vorne.« Die Drohung war nur halb so bedrohlich, wenn sie sich auf einen Kinderfilm bezog. »Damit meint er, dass er gerne mit uns Zeit verbringen will«, sagte Mokuba und gähnte. Kaiba widersprach nicht. Ich grinste und senkte die Schultern. »Also – es geht um nen Löwen, der König werden soll, aber sein böser Onkel –« Ich erzählte und erzählte und Kaiba nickte ab und zu, als würde es ihn wirklich interessieren. Mokuba lauschte und kommentierte immer mal wieder. Irgendwann schwieg er und seine Augen fielen ihm zu. »Er schläft«, flüsterte ich. »Ich weiß.« »Wir können den Film ausmachen.« »Ich weiß.« Keiner von uns bewegte sich. Stattdessen verfolgten wir, wie der Löwe seinen Onkel in der finalen Schlacht besiegte. Ich warf Kaiba einen Seitenblick zu, Mokuba zwischen uns, und irgendwie musste ich daran denken, dass Kaiba und der Löwe einiges gemeinsam hatten. Er hatte dafür gekämpft, dort zu sein, wo er jetzt war. Aber Kaiba war nicht sanft, nicht aufrichtig. Er zeigte seine Zuneigung nur zwischen dem Eis in seinen Augen und hielt jeden auf Distanz. Als der Abspann über den Bildschirm flimmerte, grub Kaiba seine Arme um seinen kleinen Bruder, der murmelte etwas, Kaiba flüsterte zurück und hob ihn hoch. Mokuba schlang seine Arme um dessen Hals. Das Eis in Kaibas Augen schmolz und seine Sanftheit spiegelte sich in der Körperhaltung, so, wie er seinen kleinen Bruder in den Armen hielt. »Nacht, Joey«, nuschelte Mokuba, ohne die Augen zu öffnen. »Gute Nacht«, erwiderte ich und lächelte. Kaiba trug ihn aus dem Raum und ich starrte noch ein paar Minuten auf den Fernseher, hörte die Musik, die während des Abspanns spielte, dann erhob ich mich irgendwann, sammelte die leere Popcorntüte ein, nahm unsere Gläser und Flaschen und ging damit in die Küche. Es war still in der Villa. Draußen zirpten die Grillen, drinnen brummte der Kühlschrank. Wie oft war ich schon hier gewesen? Es fühlte sich merkwürdig vertraut an. Ob Kaiba von diesem Leben geträumt hatte, als er im Waisenhaus Gozaburo geschlagen hatte? Jemand, der seine Träume nicht verwirklichte. Wovon träumte er jetzt? Nur der Zweite. War sein Verlangen, Yugi zu besiegen, sein Traum? Der, der einen über alle Niederlagen trug? Der sich seinen Schwächen nicht stellte. Welche Schwäche hatte Kaiba? Und welche war meine?   »Mokuba ist in seinem Bett.« Ich fuhr zusammen, mein Kopf schnellte herum, als ich schon spürte, dass er hinter mir stand. War ich so in Gedanken gewesen? Ich verharrte, nickte, brummte und starrte wieder aus dem Fenster, schloss die Augen und stellte mir vor, wie es wäre, ihn jetzt zu berühren. Ich lehnte mich versuchsweise zurück, als testete ich, ob er zurückweichen würde. Aber das tat er nicht. Dann drehte ich mich um, mein Hintern gegen den Küchentresen, und schaute Kaiba an. Wenn ich ihm so nah war, bemerkte ich, dass er ein paar Zentimeter größer war als ich. Die machte ich aber locker durch meine große Klappe wett. Ich stellte mir vor, er würde mich so ansehen, wie Yugi Thea und sie ihn. Aber es gelang mir nicht. Sein Oberkörper berührte meinen. Ich machte einen Schritt nach hinten und seine Schenkel berührten meine. Ich spürte Hitze durch meinen Unterleib schießen. Das war dieselbe Hitze, die meine Haut entflammte, wenn seine Hände unter meinem Shirt entlangwanderten. Dabei war ich nicht schwul. Wahrscheinlich.   »Ich fahr dich nach Hause«, raunte er, »es sei denn du möchtest –« »Ich will ganz sicher nicht laufen«, brummte ich. Er musterte mich einen Moment lang. »Ich wollte sagen, hier übernachten.« Und ich glotzte ihn an, stellte mir vor, wie ich mich an ihn presste, seine Lippen berührte und sie wieder so zum Schwellen brachte wie heute Morgen. Ich könnte sie morgen früh wieder dazu bringen. »Das wäre effizienter«, fuhr er fort und klang genervt. »Dann müsste ich dich morgen nicht abholen oder abholen lassen, sondern wir könnten direkt in die Firma fahren.« Sein Haar so chaotisch und das Hemd voller Falten, weil ich es in die Ecke pfefferte. »Wheeler. Hat dein Hirn zu wenig Sauerstoff abbekommen oder –« Ich griff nach seinem Hemd und zog ihn näher. Meine Hände fuhren über seine Schultern, glitten hinab bis zum Hosenbund. Warum wollte ich nicht Tris oder Yugi oder Thea so nah sein? Mein Magen verknotete sich bei dem Gedanken an meine Freunde. Oder irgendeinem anderen Mädchen – oder Kerl? Warum stieß mich seine Kaltschnäuzigkeit, seine Ignoranz und Härte nicht ab? Unser Atem hing in der Luft, unsere Berührungen waberten über unsere Haut. Ich hielt inne und er fixierte mich. In seinem Blick das Meer. Warum jagten Schauer durch meinen Körper, wenn Kaiba mich berührte? Warum stieg Hitze von meinen Zehen in meinen Kopf? Warum fühlte ich mich mit ihm so, als balancierte ich am Abgrund und genoss es? Warum spürte ich mit ihm in jeder Faser, dass ich lebte? Ich hielt inne und ich konnte seinen Blick durch mein T-Shirt spüren. »Kaiba«, begann ich, sein Atem an meiner Ohrmuschel, und wusste nicht, welche Frage ich zuerst und wie ich sie formulieren sollte. Also platzte etwas aus mir heraus. »Bist du – schwul?« Ich erwartete einen spöttischen Kommentar oder während er mich wegschob einen Blick, mit seiner Augenbraue, die er so voller Hohn hob. Oder gar keine Antwort. Stattdessen brachte er mich dazu, meine Augen zu weiten, als im nächsten Moment seine Schultern bebten. Seto Kaiba stand bei mir. Nur eine Hand breit entfernt. Und lachte. Ich drückte ihn weg und gaffte. Wenn Kaiba lachte, dann zog er seine Nase ein bisschen nach oben, so dass sie sich kräuselte. Seine Augen schmal und Fältchen drum herum. Der Ton seines Lachens traf mich in den Bauch. Es war höher als erwartet und vibrierte trotzdem in mir. Er fuhr sich durchs Haar und wandte sich um, aber seine Schultern zuckten noch immer und dazwischen hörte ich sein Schnaufen, sein unterdrücktes Brummen, als könnte er sein Gelächter dazu irgendwie verschleiern. Er stützte sich auf dem Küchentresen ab. Den Rücken zu mir, aber seine Mimik hatte sich in mein Gedächtnis gebrannt. Da war keine Kälte oder Härte oder Ignoranz. »So dämlich find ich die Frage auch wieder nicht«, murmelte ich und vergrub meine Hände in den Taschen meiner Shorts. Aber wenn solche Fragen ihn so zum Lachen brachten, dann würde ich sie stellen, selbst, wenn sie es wären. Ich stierte auf seinen Rücken, den Nacken und den Hinterkopf und beobachtete, wie seine Schultern irgendwann nicht mehr bebten. »Es war kein Date«, erwiderte er wie aus dem Nichts, das Wort, als wäre es eine Krankheit, und ich runzelte die Stirn. Wo war das eine Antwort auf meine Frage? In welcher Welt erklärte das seine Reaktion? Kaibas Gedankensprüngen konnte niemand folgen. Manchmal sicherlich nicht einmal er selbst. »Hä?« »Das Schulfest.« »Achso. Ja, ich –« »Dates finden freitags gegen Abend statt und nicht auf Schulfesten. Mit kitschiger Musik und gezwungener Atmosphäre.« »Mh.« Stille. Er drehte sich langsam um. Sein Blick kitzelte über meine Haut. »Wheeler. Was –« Es war Zeit für ein paar Antworten. Und ein paar Fragen. Das Klingeln meines Handys ließ mich zusammenfahren. Er starrte meine Hosentasche an, aus der das Geräusch im Sekundentakt die Stille zerschnitt. »Willst du nicht abheben?« Nicht die Frage. Ich wollte nicht, aber sein Gesichtsausdruck drängte mich, also schnaubte ich, zog mein Handy aus der Hosentasche und stierte auf den Display. Die Nummer war unbekannt. Mitten in der Nacht. Wenn das so einer war, der sich verwählt hatte. Oder so ein Scherzanruf, bei dem die Freunde um das Handy versammelt standen und im Hintergrund kicherten. Verärgert presste ich die Taste, um das Gespräch anzunehmen, meinen Blick unverwandt mit Kaibas verschlungen. Als zählte nur die Gegenwart. Als könnte uns die Vergangenheit oder Zukunft nichts. Wir lebten im Moment. Wir schauten nur auf das, was wir erreicht hatten, schauten nicht zurück, um das zu vermissen, was wir zurückließen. Es gab nichts, das ich vermissen würde.   Mit jedem Wort, das in meinem Ohr widerhallte, jedem Wort, das sich in meiner Mimik spiegeln musste, schaute Kaiba aufmerksamer, irgendwie alarmiert, als begriff er mehr als ich, obwohl er die Stimme am Apparat unmöglich verstehen konnte.   »Herr Joseph Wheeler? Es geht um Ihren Vater.« Kapitel 42: … bin am Ertrinken ------------------------------   __________________________________________   Es ist niemand da, dem man die geballte Macht seiner Seele reichen kann, wenn man das Gefühl hat, daran zu ertrinken. © Damaris Wieser    __________________________________________           Ich war schon lange kein Kind mehr. Dafür hatten meine Eltern gesorgt. Aber manchmal tat ich so, als hätte ich das vergessen.   »Was soll das heißen, er ist gegangen? Nein, er ist nicht bei mir!« Ich fuhr hoch und starrte auf meine Füße. Die Stimme der Frau am Apparat klang, als käme sie aus einem Traum. Ihre Worte ergaben keinen Sinn und ich öffnete den Mund, schloss ihn wieder, ballte meine Hände, um das Gefühl in meinem Magen unter Kontrolle zu bekommen. Aber die Lava ätzte durch meinen Bauch. Ich wollte mich übergeben. »Das letzte Mal sagt man mir sozusagen, er ist am Abkratzen und jetzt haut er ab oder was? Kann er das überhaupt? Ich mein –« »Ich verstehe Ihre Aufregung. Der Gesundheitszustand Ihres Vaters war weiterhin kritisch. Allerdings schlugen die Medikamente an und dank der Operationen«, wann hatte er Operationen?, »konnte die verbrannte Haut –«, es war mir egal, warum rief sie mich überhaupt an? Sollte er doch gehen und nicht mehr auftauchen. Sollte er doch abhauen und nie wieder kommen. »Wir verständigen sofort die Polizei, allerdings wollten wir sichergehen, dass er sich nicht einfach nach Hause begeben«, ich hatte kein Zuhause mehr. Wo sollte dann er hin? Ich nickte, obwohl ich bemerkte, dass die Frau das nicht sehen konnte. »Wir benachrichtigen Sie sofort, wenn wir neue Informationen erhalten.« Ich wusste, dass man sich normalerweise verabschiedete oder bedankte oder irgendetwas sagte. Aber mir kam keine Silbe über die Lippen, die ich zusammenpresste, deswegen blieb ich still und als sich die Frau verabschiedete, kappte ich die Verbindung, indem ich auf den roten Hörer drückte. Stille. »Ich sollte –« Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Es war mitten in der Nacht und es gab so viele Sachen, die ich klären wollte. Mein Vater stand nicht einmal auf der Liste drauf und trotzdem ging er mir nicht aus dem Kopf. »Verdammte Scheiße«, knurrte ich und wollte auf etwas einschlagen, das nicht nachgab. Kaibas Blick brannte sich in meinen Nacken, aber ich sah nicht zu ihm. »Mein alter Herr ist aus dem Krankenhaus abgehau'n«, erklärte ich, obwohl ich mir sicher war, dass Kaibas brillanter Verstand das längst verarbeitet hatte. »Dabei gibt's nicht mal nen Ort, wo er hin könnt. Außer die Bar, ein paar Bars – von unserer verkohlten Wohnung mal abgeseh'n«, spie ich aus. »So ein dummer –« »Lass uns gehen.« Kaiba schlug es nicht vor, er ordnete es an. Ich wollte ihm den Vogel zeigen, aber sein Blick hielt mich davon ab. »Wir fahren die Orte ab, wenn er dort nicht ist, dann –« Ich schnaubte. »Es geht mir am Arsch vorbei, wo er ist oder nicht«, knurrte ich. Ich wollte verschwinden, mein Atem ging, als wäre ich einmal durch mein altes Viertel gejoggt, während ich von einer Bande Jungs mit Messer verfolgt worden wäre. »Ja, genau so wirkst du. Völlig gleichgültig«, spöttelte Kaiba und schritt in den Flur, zog sein Phone aus der Hosentasche und gab jemandem Bescheid, dass es sich um einen Notfall handelte und Mokuba eine Aufsicht benötigte. Keine Viertelstunde später stand Roland in der Tür, in Anzug und Krawatte, und deutete eine Verbeugung an. Trotz der Situation konnte ich nicht anders als ihn anstarren. Hatte der Mann kein Leben? Kaiba ließ mir keine Gelegenheit, die Frage zu stellen. Er stieß mich vor und drückte sich dann an mir vorbei Richtung Garage.   »Wo glaubst du, würde er als erstes hingehen, Wheeler?« Kaiba lenkte seinen Sportwagen durch die leeren Straßen des Viertels, während ich abwog, ob ich Yugi anrufen sollte. Aber was könnte er mehr tun als wir eh schon taten? »Unsere alte Wohnung«, brummte ich und sträubte mich gleichzeitig gegen die Worte. Ich wollte nicht dorthin. Wir fuhren die Nacht durch Domino, mehrmals an den Blöcken meines alten Viertels vorbei, die dort standen wie Mahnmale, klapperten einige Bars ab, kreisten durch die Straßen, aber wir fanden nur Obdachlose, Katzen und Schichtarbeiter. Ich starrte aus dem Fenster des Autos, tief in den Sitz gesunken, die Arme ineinander verschränkt und lauschte dem Fahrgeräusch. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich meinen Vater finden wollte. Ich wusste nicht, ob ich seine Gegenwart ertrug. Es war leichter, alles zu ignorieren. »Ich fahr dich zu Yugi.« Mein Blick schnellte zu Kaiba, der seine Augen nach vorne auf die Straße gerichtet hatte und mit beiden Händen das Lenkrad hielt. Ich seufzte und rieb mir über die Augen. »Nein«, meinte ich gedehnt. »Fahr zu dir.« Er schwieg, aber widersprach nicht.   Obwohl ich mich dafür verabscheute, legte ich mein Handy auf seinen Nachttisch und streckte immer mal wieder meinen Arm danach aus, um zu überprüfen, ob ich einen Anruf verpasst hatte. Aber der Bildschirm zeigte an, dass dem nicht so war. »Wheeler, schlaf. Sie werden dich nicht schneller benachrichtigen, wenn du dauernd auf das Handy starrst.« Ich brummte. Was, wenn mein Vater tot war? Überfahren? An seinen Schmerzen eingegangen? Irgendwo in einer Ecke verreckt? Ich wiederholte in meinen Gedanken, dass es mir egal war. Aber sich selbst anzulügen war wie mit dem Spiegelbild zu diskutieren. Man verlor. Ich starrte an die Decke von Kaibas Schlafzimmer, lag in Shorts und einem T-Shirt da, das mir viel zu groß war und an dessen linker Brusttasche ein KC gestickt war. Ich wollte einen trockenen Scherz loslassen, aber der blieb mir im Halse stecken. Stattdessen lauschte ich Kaibas Atemzügen und beobachtete immer mal wieder sein Profil. Obwohl ich es nur wie einen Schatten erkannte, sah ich sein Gesicht vor mir. Die Stille klatschte mir meine Lügen um die Ohren. Das Gefühl, darin zu ertrinken, überrannte mich. Es war mir nicht egal. Und in diesem Gedanken sprudelte die Hilflosigkeit. Mein Vater war ein Arsch. Er war schwach und zerrüttet. Aber was, wenn er tot war? Das Gefühl von Einsamkeit ergoss sich über die Hilflosigkeit. »Kaiba«, raunte ich und drehte mich seitlich zu ihm, »schläfst du schon? Geldsack?« »Flohschleuder, halt die Klappe! Wir haben nur noch zwei Stunden!« Über meine Lippen zuckte ein schwaches Lächeln. »Mehr brauch ich nicht.« »Ich würde eher auf zehn Minuten tippen.« »Arsch«, brummte ich, streckte meinen Arm ein bisschen, was meine Nerven entflammte, berührte etwas, von dem ich glaubte, dass es sein Arm war, der zurückzuckte. Es jagte mir eine Gänsehaut über den Nacken und alle Härchen stellten sich auf. Er war mir so nah. Die Einsamkeit ertrank in dem Gefühl von Möglichkeiten. »Kaiba«, raunte ich wieder und fiel beinahe vor Schreck aus dem Bett, als er sich mit einem Ruck zu mir drehte und mir direkt in die Augen sah. »Alter!«, knurrte ich und schnaubte, nur um das Schlucken zu verschleiern. »Wheeler, schlaf endlich oder ich schmeiß dich aus dem Zimmer.« »Ich wollte nur –« Ich wollte nur sichergehen, dass er neben mir lag. Dass er wirklich, wirklich da war und das Gefühl in meiner Brust, das mir den Atem nahm, nur von meinem Kopf kam. Ich presste meine Lippen zusammen, drehte mein Gesicht weg, verkreuzte die Arme hinter meinem Kopf, bettete ihn drauf und starrte wieder an die Decke. »Du hast mir nicht mal meine Frage beantwortet«, flüsterte ich. »Umso interessanter, dass du jetzt hier neben mir liegst.« Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Mir wollte einfach nichts darauf einfallen. Also drehte ich ihm den Rücken zu und schwieg. Mein Blick fiel auf den Nachttisch und ich stierte ihn so lange an, bis mir die Augen zuklappten.   »Wach auf, Wheeler.« Ich zog die Decke über meinen Kopf. »Wheeler, das ist absolut kindisch.« »Is'mir egal«, nuschelte ich mit geschlossenen Augen. Es war warm und weich und das war jede Kinderei wert. »Wheeler, ich habe keine Zeit für so einen Unfug. Meine Firma –« Er zog mir die Decke weg und ich schnappte nach Luft, klammerte mich um meine Beine in dem Versuch, die Wärme einzufangen. »– wartet nicht, bis sich das Hündchen aus seiner Hütte bequemen möchte.« »Is'mir auch egal.« Ich tastete nach der Decke, fand einen Zipfel, riss sie zu mir und ächzte, als etwas viel Schwereres auf mir landete. »Wheeler!«, knurrte Kaiba und ich blinzelte. »Warum lässt du auch nicht einfach los, Idiot«, murmelte ich und sah mich zwei glühenden Eiszapfen gegenüber. Kaiba hing halb mit der Decke über dem Bett, stützte sich mit einem Arm ab und schwebte nur einen halben Arm von mir entfernt. »Köter«, begann er und in seiner Stimme lauerte eine Lawine. »Nur zehn Minuten?«, wagte ich zu fragen, grinste ihn an und zog ihn an seinem Shirt ein bisschen näher. Das verschlug ihm für einen Moment die Stimme. Ich strich durch die Strähnen, die in sein Gesicht fielen. Und da zuckte etwas durch seine Augen. Ein Feuer, das sich durch das Eis seines Blickes fraß. »Geh duschen«, brummte er und befreite sich mit einem Ruck aus meiner Gegenwart. In dem Moment droschen die Fragen, die Gedanken und die Gefühle von letzter Nacht wieder auf mich ein. Ich verzog mein Gesicht. Es war so schön leicht, das alles in seiner Gegenwart zu ertränken.   »Iss«, befahl er, als ich mein Brötchen anstarrte, während wir zu dritt am Frühstückstisch saßen. Normalerweise schenkte ich mir das Frühstück für ein paar Minuten mehr im Bett, aber das war nicht der Grund, warum sich mein Magen anfühlte, als traten Beine von innen dagegen. Mokuba schmatzte neben mir. Mir war danach, mich wieder ins Bett zu legen. »Joey, geht's dir nicht gut?«, fragte Mokuba, zog seine Augen zusammen und betrachtete das Brötchen vor mir. Oder mich zu übergeben. »Alles gut«, log ich und ich glaubte mir nicht einmal selbst. Mokuba suchte Kaibas Blick, aber sie schwiegen beide. Ich war kurz davor aufzustehen und Yugi anzurufen, aber was hätte es gebracht? Nur mehr Personen, die nichts ausrichten konnten und sich verrückt machten. Also ließ ich es. Stattdessen starrte ich immer wieder auf das Handy. Nichts.   Wir fuhren in die Kaiba Corporation, wo mich Kaiba Sarah überließ. Nicht ohne mir einen Blick zuzuwerfen. Als würde er ein unartiges Kind am liebsten an die Leine nehmen. Ich blähte vor Trotz die Wangen und er hob die Augenbrauen, sagte aber nichts. Sarah lächelte und dirigierte mich in ihr Büro. Dort herrschte wie immer organisiertes Chaos und ich setzte mich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch, bei dem ich mich wunderte, dass er nicht zusammenbrach, während ich meine brennenden Augen rieb. Sarah knipste den Beamer an und tätschelte meine Schulter, während sie am Schreibtisch lehnte und die Animation betrachtete, die mir einen Stein in den Magen warf. »Joey«, sagte sie, »du kannst wirklich stolz auf dich sein!« Ich nickte, aber von dem Stolz spürte ich nichts, als ich auf einer Projektionsfläche meine animierten Zeichnungen sah. Der Drache schlängelte sich. Die Karte drehte sich. Die Buchstaben bewegten sich, doch alles, was ich vor mir sah, war mein Vater im Krankenbett. Es war, als verlor ich das Gefühl in meinen Füßen. Ihr Telefon klingelte, sie hob an und gleichzeitig ihre Brauen. »Ja, alles in Ordnung, Schätzchen. Wir arbeiten. Ob du es glaubst oder nicht. Auch andere Leute in diesem Haus arbeiten ab und zu. Ja, wunderbar. Bis dann!« Sie legte auf und schüttelte den Kopf, dann wandte sie sich wieder mir zu und ein Lächeln spannte sich über ihre Lippen. »Wo waren wir? Ahja, hier ein Poster, hier ein Flyer, und so wird das Plakat aussehen. Überall dein Kunstwerk!« Sie strahle, ihre Armketten klimperten, während sie sich zu mir beugte und eine Hand auf die Schulter legte, setzte sich auf den Bürostuhl und legte ihre Finger aneinander, nahm einen Schluck Kaffee und nötigte mich, es ihr gleich zu tun. Also saß ich ihr gegenüber, trank Kaffee, der für mich viel zu schwarz war und schwieg sie an. »Erzähl, Joey.« Ich sah auf, stellte die Frage ohne Worte, woraufhin sie ihr Lachen hören ließ. »Was hast du angestellt?« Ich runzelte die Stirn. »Wie kommst du drauf?«, wollte ich wissen und mein Blick verdüsterte sich. Natürlich war ich der Schuldige, der, der etwas vermasselt hatte und nie jemand anderes. Die Müdigkeit wich Zorn. Ich blähte meine Wangen und ballte die Hände, doch ihre nächsten Worte saugte die Luft aus meinem Brustkorb. »Seto hat vorhin angerufen, um sich zu erkundigen, wie es dir geht.« »Oh.« Sie fixierte mich, hob ihre Kaffeetasse wieder an die Lippen und nahm einen Schluck, als säße sie in feiner Gesellschaft, mit abgespreiztem kleinem Finger. Ich betrachtete ihn, damit ich ihrem Blick nicht begegnen musste. Ich fürchtete, sie würde in meinem zu viel lesen. Ich konnte jetzt nicht darüber nachdenken. Ich würde darin ertrinken. »Schön«, behauptete sie und stellte die Tasse zur Seite. »Ich glaube, ich weiß, wie ich dich wach bekomm und ein bisschen aufmuntern kann.« Ich bezweifelte es, aber als sie mich am Arm packte und mitzog, wehrte ich mich nicht. Wir rauschten durch den Gang mit weißen Wänden und Glasfronten, bis wir vor einer Automatiktür stehen blieben, an deren Seite Sarah einen Code eingab. Die Tür glitt auf und meine Augen weiteten sich. »Willkommen, Joey!« Sie klopfte mir auf die Schulter und ich machte mit ihrem Klaps einen Schritt hinein. Anders als der Teil der Kaiba Corporation, den ich schon kannte und mich eher an Zahnärzte erinnerte, herrschte in diesem Geschoss buntes Durcheinander. »Das hier ist das Kaiba Animation Studio«, erklärte sie, »und diese wunderbaren Menschen hier hauchen allerlei Zeichnungen Leben ein.« Menschen saßen sich an Tischen gegenüber, PCs und Laptops dazwischen. An den Seiten standen Zeichenbänke, auf sich denen Papiere, Rollen, Skizzen, Blöcke und Stifte stapelten. Gespräche schwebten über den Arbeitsplätzen, Kaffeetassen standen auf den Tischen und Kopfhörer steckten in dem einen oder anderen Ohr. Die Atmosphäre erinnerte mich an geschäftige Pause. Statt Anzügen kamen mir Sweatshirts und Tops entgegen. »Du siehst ziemlich verloren aus. Mach dir nichts draus, Schätzchen. Du wirst dich daran gewöhnen. Schneller als dir lieb ist. Seto war anfangs auch ziemlich schüchtern.« Mein Blick fuhr zu ihr, während ich versuchte, nichts zu verpassen. Es war als hätte mich jemand in einen Laden gestellt, an dem draußen stand Schulbedarf und innen die Regale voller Süßigkeiten überquollen. »Schau mich nicht so ungläubig an! Er war aber auch erst vierzehn, als er das alles hier aufbaute. Kannst du dir vorstellen, wie sich manch feiner Herr benommen hat, als Seto ihm eröffnete, dass statt Kriegsmaschinerie ab sofort hier Kinderspielzeug geplant wird? Statt Kriegstechnik, High-Tech-Spielzeug?« Nein, konnte ich nicht. Ich konnte mich ja schon gegen Tris manchmal nicht durchsetzen. Wie hatte Kaiba das gemacht? »Gut, schüchtern ist vielleicht der falsche Begriff«, fuhr Sarah nach ein paar Schritten fort. »Arrogant und von sich selbst überzeugt?«, schlug ich vor und unterdrückte ein Gähnen. Ein Grinsen zuckte über ihre Lippen. »Äußerlich«, gab sie zu, »aber innerlich?« Ich beantwortete die Frage nicht, weil sie nicht so einfach zu beantworten war und weil Sarah mir bedeutete an einem der Tische mit PCs zu warten, während sie von hinter an den Mann trat, der mit riesigen Kopfhörern auf dem Drehstuhl saß und immer wieder mitsang und dabei jeden Ton vergeigte. Sein Haar grün gefärbt und lockig, hätte ich ihm keine Silbe davon geglaubt, bei der Kaiba Corporation zu arbeiten. Er schob den Kopfhörer vom Kopf auf die Schulter, drehte sich um und blinzelte, während er einen Stift aus dem Mund nahm und dann breit grinste. »Sarah, schickt dich der Chef oder flüchtest du vor der Langeweile in deinem Büro?« »Weder noch«, erwiderte sie und deutete auf mich. »Ich habe dir versprochen, ihn dir vorzustellen, Mailo. Hier ist er: Joey Wheeler.« Mailos Blick wanderte zu mir, seine grünen Augen kniffen sich kurz zusammen, dann rollte er mit dem Stuhl zu mir und statt mir die Hand zu reichen, streckte er mir die Faust entgegen. »Ja, ey, Joey! Das freut mich! Wird auch mal Zeit, dass du dich hier blicken lässt. Hoff, die alten Säcke da oben haben dich noch nicht versaut.« Er tippte mit dem Stift an seinen Kopf und ich war wie erschlagen, was ich auf den Schlafentzug schob. »Die gehen in deinen Kopf und saugen dir alle Ideen raus, ehrlich. Vor lauter Standardisierung und Geld und Scheißdreck«, raunte er. Sarah verdrehte die Augen, aber widersprach nicht. Er lachte. Sein Lachen war tief und brummte in meinem Bauch. Er öffnete ein paar Dokumente auf seinem PC und ich schaute auf meine Zeichnungen, koloriert, verschiedene Perspektiven und dann einige Animationen, für die mein Zeug als Vorlage gedient hatte. »Die Sache hier zieh'n wir mal traditionell auf. Kein 3D-Wahn. 2D-Zeichnungen, aber 3D-Effekt. Himmelweiter Unterschied. Wird mal Zeit, dass wir den Kids von heute gutes Material bieten.« Er grinste mich an und ich hatte das Gefühl zu schweben. Mein Zeug gleich gutes Material? »Wunderbar. Joey, ich sehe, du bist in guten Händen. Ich gehe dann wieder in mein langweiliges Büro.« Sie warf Mailo einen Blick zu, der daraufhin nur mit der Schuler zuckte, grinste und am Stiftsende knabberte. »Wenn was ist, dann –« »Er wird keine Sekunde bereuen, hier zu sein, dafür sorg ich schon«, behauptete Mailo und verschränkte die Arme hinterm Kopf. Sarah seufzte.   Wenn ich an die Kaiba Corporation dachte, spukten Konferenztische und Schlipsträger in meinem Kopf. Sekretärinnen, die mich nur mit einem Zähneknirschen vorbei ließen, Bodyguards, die mich argwöhnisch beobachteten und Kaiba, der hinter seinem Schreibtisch thronte, Domino zu seinen Füßen. Was ich dabei vergaß war, dass hinter den ganzen Spielen, der Technik und Werbung viele Köpfe steckten. Und nicht alle zwängten sich durch Krawatten. Ich hatte das Gefühl ein Kind zu sein, das im Spielzeugladen ausgesetzt worden war.   Mailo wies mir einen der Tische zu, auf denen Zeichenutensilien verteilt lagen, Skizzen hingen an den Wänden und Blöcke zeigten kolorierte Versionen. »Hey, ich bin Tai«, begrüßte mich ein Mann einen Tisch weiter rechts und schüttelte meine Hand. Er lächelte, während er die Strähnen, die unter der Mütze hervorlugten, aus seiner Stirn strich. Es war eine Wollmütze, wie man sie im Winter trug, und es war wohl so eine Künstler-Macke, die ihn damit im Sommer rumlaufen ließ. »Joey«, entgegnete ich und lächelte. »Was arbeitest du?« Meine Augenbrauen sprangen nach oben. »Ähm. Ich bin noch in der Schule.« Tai lachte auf. »Ich meinte, woran du hier arbeitest.« »Oh.« Ich kam mir vor wie ein Idiot. »Ähm – also –« In dem Moment ließ sich eine Frau einen Tisch weiter links auf den Stuhl fallen und stöhnte genervt, während sie ihre Hände vors Gesicht schlug. »Einen Weißen Drachen, der singt«, brabbelte sie vor sich hin, »ein Weißer Drache, der mit einem Kleinkind singt! Sie glauben echt, das spricht Kleinkinder an!« »Hey, Maya, was los?«, fragte Tai und grinste mich an, dann schaute er wieder zu der Frau, die sich in ihr rotes Haar griff und stöhnte. »Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Der Song, den sie dafür komponiert haben oder die Idee an sich«, brummte sie. »Ich hab's satt Weiße Drachen zu zeichnen! Weiße Drachen Plüschtiere, Weiße Drachen als Actionfiguren. Schön und gut! Aber Der Weiße Drache geht zum Zahnarzt? Der Weiße Drache geht in die Schule? Weiße Drachen, die singen. Was kommt als nächstes? Jedes Mal werden die Ideen schlimmer!« Dann fiel ihr Blick auf mich. »Hey. Wer bist du denn? Ich bin Maya! Schön, dich kennen zu lernen! Bist du neu? Ja, offensichtlich. Woran arbeitest du denn?« Sie redete so schnell, dass ich sie mit offenem Mund anstarrte, während sie meine Hand schüttelte und lächelte. »Äh. Joey. Ich bin hier nur –« »Moment! Joey?« Sie ließ meine Hand fallen und starrte mich an. Ihre Stimme bekam etwas Quietschendes. »Aber nicht wie in Joey Wheeler, oder? Joey Wheeler wie in: hat Le vor versammelter Mannschaft in den Boden gestampft. Vor dem Chef! Und seine Idee! 2D-Zeichnungen! Back to the roots, Mann! Sei der, der du sein willst, nicht der, den die anderen in dir sehen! Endlich jemand, der mal den Mund aufmacht! Und die Skizzen: So einfach und genial! Der Stil brillant! Kein Blinkiblinki, keine sprechenden Weißen Drachen, kein Getanze und Gesinge! Der Weiße Drache in seiner anmutigen Stärke! Kein Chibi-Zeug. Kein –« »Ich denke, wir haben's begriffen«, bremste Tai sie und Mayas Mund schnappte zu, doch ihr Blick klebte an mir. »Ähm – ja, doch. Joey Wheeler«, versicherte ich und kratzte meinen Hinterkopf vor Verlegenheit, dann grinste ich, als sie eine Unterschrift verlangte und ich kritzelte meinen Namen auf eine meiner Skizzen, schob sie ihr zu, während sich mein Selbstbewusstsein dehnte und streckte und ich ihr bereitwillig Fragen beantwortete. »Joey Wheeler«, wiederholte sie, »verrückt!« Ich warf Tai einen Blick zu. Wer oder was hier verrückt war hing wohl deutlich vom Standpunkt ab. Tai grinste zurück und zuckte die Achseln. »Hey, Joey!«, rief Mailo über seine Schulter. »Zeichne Yugi Mutos Lieblingskarte und die der anderen Turnierteilnehmer. Und alle gemeinsam auf eine Skizze. In dem Stil. Danach machen wir uns an die Animationen.« Ich hatte das Gefühl, ein neuer Mensch zu sein. Als wäre ich ertrunken und wieder aufgetaucht. Als hätte mich jemand herausgezogen und auf ein Podest gestellt. Hier, deine Chance. Maya war auf ihre Art verrückt, aber sie strahlte etwas aus, das mich behaglich zurücklehnen ließ. Tai verströmte – ganz im Gegensatz zu Maya – Ruhe. Mailo forderte mich und nahm kein Blatt vor den Mund. »Nö, nochmal! Da muss mehr Bewegung rein! Dynamik, Joey! In dem Spiel geht's um Action!« Auf seinen Lippen lag immer ein Lächeln, dazwischen hing ein Stift. In seinen Augen funkelte Anerkennung, selbst, wenn ich es verbockte. Kritik, die mich nicht zerschmetterte, sondern beflügelte. Wir diskutierten über die Skizzen, kritzelten Ideen auf Papier, schritten hin und her und wedelten mit Händen, nickten und schüttelten unsere Köpfe. Die Atmosphäre hing zwischen freundschaftlich und arbeitswütig. Dann befiel Stille das Studio und Mayas Schweigen brachte mich dazu, von meiner Zeichnung aufzusehen. »Hey, was –« Mein Blick folgte ihrem. Ich stützte die Lippen. Die Mitarbeiter verstummten, hielten inne, die Atmosphäre kippte in Anspannung. Seto Kaibas Gegenwart brachte die Arbeit in der Abteilung zum Erliegen. Mit seinem Hemd und der Krawatte passte er hier hinein wie ich mit Shorts und T-Shirt in den Konferenzsaal. Er wirkte wie ein anderer Mensch, als der, der mir heute Morgen die Decke weggezogen hatte. Ich überlegte, woran das lag, aber kam nicht drauf. Mailo schlenderte ihm entgegen. »Herr Williams«, durchschnitt Kaibas Stimme die Stille. »Wie geht es mit der Kampagne voran?« Mailo schüttelte seine Hand und führte ihn dann, unter den Blicken aller, an seinen PC. Maya flüsterte etwas, das ich nicht verstand. Tai zuckte die Schultern. »Warum arbeiten Sie nicht in Ihrem Büro?«, fragte Kaiba und seine Herablassung jagte Falten über meine Stirn. »Ach, bin so allein da«, erwiderte Mailo gelassen und grinste. »Ich bevorzuge meine Kollegen hier.« Kaiba rümpfte die Nase, sagte aber nichts. Seine Mimik drückte alles aus, was er mit Worten hätte sagen können. »Die neuesten Skizzen sind noch bei – hey, Joey, bring mal die neuen Skizzen her!«, rief Mailo zu mir rüber und ich spürte, wie sich alle Augen auf mich richteten. Mein Hals wurde trocken, als ich nach den Papieren griff und meine Schritte kamen mir zentnerschwer vor unter den ganzen Blicken. »Danke, Joey!« Mailo hatte immer die Zeit, sich zu bedanken. Dann blätterte er die Papiere durch, zeigte sie Kaiba, dessen Mimik unbewegt blieb und klickte sich durch die Animationen und Entwürfe am PC. Wenn er so schaute, war es unvorstellbar, dass er derselbe war, der letzte Nacht neben mir gelegen hatte. Der, dessen Augen entflammten, wenn ich ihm nur nah genug kam. Ich stand neben den beiden, die Blicke der Abteilung im Kreuz, und konnte das Grinsen, das meine Lippen nach oben bog, nicht verbergen. Hitze kribbelte über meine Arme und mit jeder kolorierten Zeichnung und jeder Bewegung der von mir vorgelegten Skizzen, füllte sich mein Bauch mit Wärme. Das Kribbeln, ein Gefühl, als zuckten hunderte Fische in meinem Magen, ließ mich neben Kaiba und Mailo von einem Fuß auf den anderen treten. »Verdammt, Kaiba, ist das nicht echt cool?«, platzte aus mir heraus. Etwas fiel auf den Boden. Ein Geräusch, als zog jemand scharf die Luft ein. Ein Raunen: Oh, Gott, was macht der? Ich hatte das Gefühl, alle hielten ihren Atem an. Und ich vergrub meine Hände in den Hosentaschen und verstand nicht, was los war. Kaibas Blick streifte meinen, dann lehnte er sich zurück und nickte langsam. »Keine schlechte Arbeit«, entgegnete er und drehte sich um, ließ mich hier stehen, während er im Gehen erwähnte: »Dann ist die Abteilung vielleicht doch ihr Geld wert.« Als die Tür hinter Kaiba schloss, brach Hektik in der Abteilung aus, als müsste sie die Bewegungslosigkeit der letzten Minuten wettmachen. »Du hast es drauf, Junge«, behauptete Mailo, schenkte mir ein Lächeln, schlug mit mir ein und drehte sich dann wieder seinen PCs entgegen, während meine Beine zu Wackelpudding wurden. Hinter mir raunten Stimmen irgendwelche Komplimente und ich schritt unter der Aufmerksamkeit viel zu vieler zurück an meinen Tisch. »Was zur – Joey! Wie hast du das gemacht?«, redete Maya sofort auf mich ein und Tai betrachtete mich mit etwas, das ich als Bewunderung identifizierte. »Was meinst du?«, wollte ich verwirrt wissen. »Seto Kaiba taucht hier nie auf«, plapperte sie und ihre Augen tellerrund, »und wenn er es tut, dann feuert er jemanden. Und heute – das war ein Kompliment, oder? Ein echtes Lob!« Sie wandte sich an Tai, um sich zu versichern. Der nickte langsam. »Tja«, machte ich und zuckte die Schultern, grinste und glaubte über ganz Domino zu thronen. Ob sich Kaiba so fühlte, wie ich in diesem Moment?   Wir lachten, zeichneten, hörten Musik, diskutierten. Ich ignorierte mühsam die Kommentare, während ich zur Toilette schlenderte, und die Blicke, die mir folgten. Ob man sich daran gewöhnte? Ich grinste, als mein Handy klingelte und mein Magen zusammenquetschte. Ich ließ es fast fallen, als ich es aus meiner Hosentasche zog und eine unbekannte Nummer auf dem Display erschien. Ich erstarrte und schaute aus der Fensterfront hinunter in die Stadt. Es war als tunkte mich jemand unter, so lange, bis ich keine Luft mehr bekam, bis das Gefühl des Vergnügens dem der Panik wich, weil Wasser in den Mund eindrang und das Gefühl zu ersticken durch den Körper jagte. Ich presste das Phone an mein Ohr. Was, wenn mein Vater tot war? Überfahren? An seinen Schmerzen eingegangen? Irgendwo in einer Ecke verreckt? Wie eiskaltes Wasser, das jemand über mich goss. Ich wiederholte in meinen Gedanken, dass es mir egal war. Aber sich selbst anzulügen war wie mit dem Spiegelbild zu diskutieren. Ich verlor. All die Gefühle und Gedanken der letzten Nacht peitschten durch meine Adern. »Joey?«, fragte Maya, aber ich antwortete nicht, dann vernahm ich die Stimme am Apparat. »Herr Wheeler? Ihr Vater befindet sich wieder bei uns im Krankenhaus und ihm geht es den Umständen entsprechend gut.« Ich zwang mich, nicht auf die Knie zu fallen, stützte mich am Glas ab und hinterließ Fingerabdrücke auf der perfekt polierten Scheibe. »Danke«, hörte ich mich sagen, doch das Seltsamste war, dass ich es meinte. Die nächsten Stunden zogen an mir vorüber, als läge ein Schleier über meinen Gedanken. Es war, als schwebte ich, während ich unter Wasser gedrückt wurde. Als atmete ich, ohne Luft zu holen. Ich lachte mit Maya, diskutierte mit Tai, obwohl mir nach Weinen zu Mute war und nach Schweigen. Erleichterung durchströmte meinen Magen, während ich das Gefühl hatte, jeden Augenblick auf dem Boden aufzuschlagen. Ich war über jede Müdigkeit hinaus. Gegen sieben Uhr tauchte Sarah auf und nahm mich mit. Maya umarmte mich, Tai schüttelte meine Hand und Mailo zwinkerte mir zu, während er behauptete, Sarah suchte nur eine Ausrede, um aus ihrem Büro herauszukommen. »Wo ist Kaiba?«, wollte ich wissen, während wir durch den Gang schritten. »Eine Konferenz. Ich glaube, es geht um Spielzeug für den Markt für unter Dreijährige.« Ich nickte, obwohl es mir total egal war, um was es ging. »Ich glaube«, begann ich und in diesem Augenblick überwältigte mich die Erkenntnis, »ich muss ins Krankenhaus.« Sarah stierte mich von der Seite an. »Was hast du, Joey? Hast du Schmerzen? Warum ins Krankenhaus?« Ich schüttelte den Kopf, verhedderte mich in Worten und schnappte nach Luft. »Nein. Ich mein – sag Kaiba, dass alles okay ist! Mein Vater und – alles! Ich muss los! Jetzt!« Sarah hielt mich nicht auf, als ich mit einem Satz lossprintete und sie hinter mir ließ.   Er war ätzend, ein schlechter Vater, einer, der seine Probleme auf mich abwälzte, der mich fertig gemacht und einmal sogar geschlagen hatte. Einmal zu viel. Er war nicht tot. Und entgegen all meiner Gedanken, entgegen aller Vermutungen, breitete sich ein Gefühl in meinem Magen aus, das mich schneller rennen ließ. Ich rempelte jemanden an, stolperte fast über meine eigenen Füße, keuchte, als ich an der Rezeption stand und dort nach meinem Vater fragte. Die Rezeptionistin schaute mich mit diesem Blick an, den ich kannte, aber in diesem Moment, ignorierte ich ihn. Es war mir egal, denn mein Vater lebte.   Vor dem Zimmer atmete ich tief durch. Mein Vater musste nicht einmal auf die Intensivstation. Er lag hier in diesem Zimmer hinter dieser Tür und ich hatte es endlich begriffen. Es würde nicht alles gut werden. Er wäre weiter der Vater, der ätzend war, schlecht, der seine Probleme auf mich abwälzte, mich fertig gemacht und geschlagen hatte. Es ging nicht darum, dass ich das ändern konnte. Die Zeit war rum, in der ich glaubte, er würde irgendwann wieder wie früher. Dass er irgendwann meine Mutter anrufen würde und wir wieder eine Familie wären. Es war vorbei. Es war dieser Gedanke, der mich aus der Tiefe zog, in die Höhe riss und meine Lungen mit Sauerstoff füllte. Es ging darum, was ich ändern konnte. Ich würde mein Leben selbst in die Hand nehmen. Ein Zimmer mieten, die Kampagne zu einem Riesenerfolg machen, ich würde meinem Vater beweisen, dass ich mehr war, als er mir jemals gesagt hatte. Ich würde sein, wer ich sein wollte. Nicht, wer andere in mir sahen. Ich würde leben. Mit dem Gedanken klopfte ich an und riss gleich die Tür auf. Und erstarrte. Mein Lächeln fiel in sich zusammen. Mein Mund klappte auf, dann zu. Meine Lungen geflutet von eiskaltem Wasser. Ich stürzte ab. Jemand tunkte mich und ließ mir keine Zeit zum Atmen. So hatte ich mich das letzte Mal als Kind gefühlt. Ich erinnerte mich noch genau. Ich schnappte nach Luft, als ich die Silben zwischen meinen Lippen herauspresste und stützte mich an der Wand ab.   »Was – machst du hier?« Kapitel 43: … bin ein Bruder ---------------------------- __________________________________________   Gewinn und Verlust sind Bruder und Schwester. Aus Belgien   __________________________________________           Ich unterlag den anderen, war immer abgeschlagen, hinke hinterher. Ich wohnte in der falschen Gegend und kannte die falschen Leute. Selbst unter ihnen war ich besonders – besonders chaotisch, schlagkräftig, laut, frech und – trotz allem – beneidet. Auch, wenn ich bei ihnen war, war ich nicht am richtigen Ort.   Die Frage füllte noch die Stille des Raumes, als ich auf den Fersen umdrehte, um abzuhauen. Eine Stimme hielt mich zurück, ließ mich in der Bewegung einfrieren. »Joey?« Ich schaute über die Schulter von meiner Mutter, die da mit zusammengekniffenen Lippen stand, zu einer jungen Frau, die ich erst auf den zweiten Blick entdeckte. Grünbraune Augen, rotbraunes Haar, das ihr bis zur Hüfte reichte, zierlich. Sie erinnerte als erstes an meine Mutter, auf den zweiten Blick erst sah man die Ähnlichkeiten zu mir. Ich riss meine Augen auf. Sie hielt einen kleinen Jungen an der Hand. Vielleicht sieben, acht Jahre. Seine blonden Haare standen im wirr vom Kopf. Als er mich ansah, schluckte ich und machte einen Schritt zurück. Die junge Frau wiederholte meinen Namen. Diesmal klang es weniger wie eine Frage, aber sie schaute an mir vorbei, obwohl sie mir ihr Gesicht zuwandte und in ihrem Blick glitzerte etwas. Unglauben? Freude? Er wirkte starr. »Seren-« Ich schluckte. »-ity, du bist –«, brachte ich hervor. Ich machte einen Schritt auf sie zu, dann blieb ich stehen. Es war als deckte sich die Erinnerung nicht mit der Realität. Als sähe ich Fotos vor mir. Ich kannte sie nicht. In meinem Kopf war sie ein kleines Mädchen und hier stand sie – eine junge Frau. Der Junge schaute von ihr zu mir und zurück, dann zu meiner Mutter, die unbewegt da stand. Ich hatte mir immer vorgestellt, wie ich ihr voller Wut im Bauch ins Gesicht brüllen würde, was für eine Scheiße sie mir angetan hatte. Stattdessen stand ich hier und wusste nicht, was ich sagen sollte. »Joey, ich –« Meine Schwester streckte ihren Arm aus, als tastete sie sich durch die Luft, in der anderen Hand ein Stock, mit dem sie am Bett entlangfuhr. In dem Moment presste sich meine kleine Schwester an mich, als wäre ich kein Fremder. Ich atmete tief durch, während ein Zittern durch meine Glieder fuhr, ich atmete ihren Duft, an den ich mich nicht erinnerte, legte meine Arme um ihren Körper, aber dann fielen meine Arme an meinen Seiten hinab. Ich suchte nach dem Gefühl von Vertrautheit, aber ich fand nur Leere in mir. Ich schaute zum Bett, wo ein Junge stand, der aussah wie ich früher, und wo mein Vater lag und meinen Blick erwiderte, als könnte er mir alles erklären, aber er sagte natürlich nichts und ich presste meine Lippen zusammen. Er lebte, ich lebte. Meine Mutter lebte, Serenity lebte. Happy End. Es hätte eines sein können. Mühsam brachte ich Distanz zwischen Serenity und mich, drückte sie einen Arm weit weg von mir, wich ihrem Bick aus, der mich nicht sah, schaute zu dem Jungen, der mich anschaute, als wollten gleich all die Fragen aus seinem Mund platzen. Ich ertrug es nicht, starrte an die Wand, in deren Richtung meine Mutter stand, schüttelte den Kopf und drehte mich um. Ich musste hier raus.   Ich schaffte es in den Gang, machte Schritte, blieb stehen, schaute mich um, wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte und lehnte mich dann an eine der Wände. Schwestern schritten vorbei, warfen mir Blicke zu, doch ich nickte, versuchte ein Lächeln, das mir misslang. Tränen brannten hinter meinen Augäpfeln, dort, wo niemand sie sehen würde. Nicht einmal ich. »Joey.« Ihre Stimme ließ Galle meine Lungen hochsteigen. Ich biss die Zähne aufeinander, obwohl ich schreien wollte. Hör auf, meinen Namen zu sagen. Meine Hand ballte sich an der Wand zu einer Faust. »Ich – dein Vater rief gestern an und tauchte wenige Stunden später bei uns vor der Tür auf. Er war völlig neben sich«, fuhr sie fort und ich wollte nur weg. Stattdessen schaute ich auf und schnaubte. Sah nicht sie an, sondern den Gang, der sich hinter ihr ausbreitete. Er hatte sie angerufen. Nach all den Jahren hatte er sie angerufen. Ich wollte schreien, aber stattdessen presste ich nur Worte hervor, die aus meinem Mund stolperten. »Und warum bist du hierhergekommen? Mit Ser-« Mir wollte ihr Name wieder nicht über die Lippen. Und diesem Jungen. Sie brauchte einen Moment, bis Silben kamen. War da ein Zittern in ihrer Stimme? Es war mir egal. »Ich bin kein Monster, Joey. « Das war ihre Sicht der Dinge. »Vielleicht können wir uns mal unterhalten. Wir könnten etwas zusammen essen und –« Sie streckte ihre Hand nach meinem Gesicht aus, vielleicht um eine Strähne aus meiner Stirn zu streichen, aber ich wich zurück. »Du kannst mich mal«, zischte ich, fuhr herum und rauschte durch den Gang, weg von ihren Worten, ihrer Stimme, all den Erinnerungen, der Erkenntnis, dass meine Schwester blind war. Und dass ich einen Bruder hatte.   Tage. Wenn ich den Vorhang auseinanderzog, war es grau. Wenn ich schlafen ging, war es grau. Draußen schien die Sonne, es war grau. Es regnete, es war grau. In mir drin. Ich hatte Hunger, aber keinen Appetit. Ich war müde, konnte aber nicht einschlafen. Ich wollte schreien, aber schwieg. Manchmal hatte ich mir als Kind vorgestellt, dass er einfach nicht mehr aufstehen würde, dass meine Mutter zurückkäme mit Tränen in den Augen und mir erklärte, dass sie gezwungen war zu gehen, weil mich sonst die Mafia getötet hätte. Oder weil Aliens sie bedroht hatten. Oder Piraten. Als Kind hatte ich daran geglaubt, dass es einen Grund gab. Dass sie sich Sorgen um mich gemacht hatte, aber das es einen verdammt guten Grund für das alles gab. Dass es fair war. Dass es in Wirklichkeit um mich ging. Um uns. Dass sie keine Wahl gehabt hatte. Aber ich war schon lange kein Kind mehr.   Tristan redete auf mich ein, während wir auf Yugis Bett saßen und ich an die Decke starrte. Ich antwortete nicht. Yugi erzählte mit mir und egal, was er sagte, ich wusste, dass er damit meinte, dass er immer für mich da wäre. Aber das Problem war, ich hatte das Gefühl, woanders zu sein. Herr Muto legte seine Hand auf meine Schulter und behauptete, es wäre nicht einfach, aber ich würde damit fertig werden, weil ich nicht alleine war, weil sie mich nicht alleine lassen würden. Aber das Problem war, ich wollte alleine sein. Irgendwann kapierten sie es.   »Wheeler, wir haben Arbeit vor uns.« Seine Stimme zerriss die Höhle, die ich mir hier gebaut hatte. Eine Höhle aus Stille und Alleinsein. Ich schnaufte. Er stand im Türrahmen von Yugis Zimmer, als holte er mich täglich hier ab. Sein Hemd, seine Krawatte, den Aktenkoffer, als hätte er sich verlaufen. Mein Blick wanderte von ihm zur Decke. Wäre es nicht er gewesen und nicht hier oder jetzt, ich hätte gelacht, aber Kaiba scherzte nicht. »Ja, du hattest eine schwierige Kindheit. Du wirst es überleben. Deine Schwester leidet unter Retinopathia pigmentosa. Sicherlich muss ich den Unsinn, den deine Freunde dir bereits tagelang vorbeten nicht wiederholen. Es gibt Optionen.« Glut in meinem Magen. Ich verdrängte das Gefühl und das Grau umhüllte mich erneut. »Wheeler, wenn das Turnier deinetwegen –« »Verpiss dich«, murmelte ich und drehte mich mit dem Gesicht zur Wand. Ich horchte, ob er es raffte und ging. Irgendwann hörte ich Schritte. Für einen Moment fürchtete ich, er käme zu mir, aber als ich einen Blick über meine Schulter wagte, war er verschwunden.   Tage. Die Tage waren alle gleich. Yugi erzählte. Ich schwieg. Er aß mit mir drei Mahlzeiten, während ich darin herumrührte. Manchmal saß Thea mit dabei. Tristan schleppte DVDs an und Spiele und Mangas. Ich schaute ihn an und schwieg. »Alter«, sagte er manchmal, »ich weiß, is‘ irgendwie scheiße, dass sie jetzt auf einmal aus dem Nichts auftaucht und voll krass – mit dem Bruder und allem, aber –« Es gab kein Aber. Und er wusste es nicht. Er glaubte es nur zu wissen.  Aber das war ein Unterschied. Ich hatte das Gefühl, sie hätte mir das Leben geraubt, das mir zugestanden hätte.   Tage. Graue Tage mitten im Sommer. Yugi saß einfach mit mir ihm Zimmer. Wir schwiegen uns an. Es tat weh. Alles in mir schmerzte, als verbrannte ich von innen, aber ich verzog keine Miene. Sollte sie doch einfach wieder abhauen. Das wäre nicht das erste Mal. Es war mir egal.   »Wheeler.« Ich ignorierte ihn. Kaiba ließ sich nicht ignorieren. Er nannte mich Köter. Ich schwieg. Er nannte mich drittklassiger Duellant. Ich drehte mich mit meinem Gesicht zur Wand. Er schwieg. »Selbstmitleid ist pathetisch.« »Leck mich«, knurrte ich, doch er fuhr einfach fort. »Noch schlimmer ist nur das Mitleid anderer, die behaupten sie verstünden, was in dir vorgeht.« Ich hielt den Atem an. Das Grau verschwand, was die Furcht meinen Nacken hinaufwandern ließ. Als ich mich zu ihm umwandte, stand er noch immer dort. Mein Blick schnellte zur Decke. »Mh«, brummte ich. Stille. Er fragte nicht nach. Stattdessen lag ich hier in Yugis Bett und er lehnte gegen den Türrahmen und wir schwiegen. Ich hätte es ihm sagen können, aber ich musste nicht. Seine Stimme war kein vorsichtiger Singsang, als könnte ich bei einem falschen Ton auseinanderfallen. Es schmerzte, aber ich verbrannte mich nicht von innen. Natürlich, er hatte es mir gesagt. Aber es war so verdammt anders, es nicht nur zu hören, sondern den kleinen Jungen auch zu sehen. Als Kaiba gegangen war, stand ich auf und ging duschen.   Yugi, Tris und ich saßen im Zimmer und schauten irgendwelche Filme bis tief in die Nacht. Tristan raschelte mit der Popcorntüte. Meine Stimme zerriss die Höhle, die ich mir hier gebaut hatte. Eine Höhle aus Stille und Alleinsein. Aber in ihren Blicken ertrank ich in Mitgefühl und Verständnis. Das Problem war, ich fühlte nichts und ich verstand es nicht. Ich schnaufte. »Sie meinte, wir könnten ja vielleicht was zusammen essen gehen. Als wäre das nichts.« Ich gluckste, obwohl mir überhaupt nicht nach Lachen zu Mute war. »Verdammte Scheiße!«, zischte ich und griff mir mit beiden Händen ins Haar. Tristan sah mich von der Seite an und schwieg. Als Teenager sagte ich mir, dass ich alleine klar käme, dass ich niemanden bräuchte und das Leben eben nicht fair war. »Serenity. Sie ist kein Kind mehr, sie ist – so erwachsen geworden«, brachte ich hervor und suchte Yugis Blick, der mir seine Hand auf die Schulter legte und zudrückte. »Du bist auch keins mehr«, erwiderte er leise und ich schluckte. Stille. Das Problem war, ich wollte nicht alleine sein. Tristan raschelte mit dem Popcorn, hielt mir die Türe hin und ich stopfte mir das Zeug in den Mund. »Was soll ich ihr sagen?«, murmelte ich. »Ich weiß nicht mal, worüber ich mit ihr reden soll! Ich kenn sie kein Stück, verdammt! Und sie ist blind! Blind! Und – mein – der Sohn meiner – dieser Junge!« Stille. Ich starrte auf meine Finger, die sich ineinander verknoteten und dann in meine Hose griffen. »Unsere Alten waren nicht das, was man sich wünscht«, holte Tris aus. »Mh.« Ich verdrehte die Augen. Das war wirklich nichts Neues. »Aber guck, was trotz allem aus uns geworden ist, Kumpel.« Tris packte mich im Schwitzkasten und zog mich zu sich heran. »Vielleicht wussten’se es nicht besser. Aber du weißt‘s besser, Joey. Und wenn du nicht zu deiner kleinen Schwester gehst und zu deinem kleinen Bruder, dann bereust du‘s vielleicht fürn Rest deines Lebens.« Mein Blick fuhr zu ihm hoch. Meine kleine Schwester. Mein kleiner Bruder. Es war seltsam, ihn das sagen zu hören. Ich schlug meinen Arm vor mein Gesicht und ließ mich nach hinten auf die Matratze fallen. Aber ich wusste, dass er Recht hatte.   Am nächsten Tag lag ich im Bett, meine Arme hinterm Kopf und starrte an die Decke, dann mein Handy an, dann an die Decke, dann mein Handy. Ich müsste nur ein paar Anrufe tätigen, nur nach ihrer Nummer fragen, ich könnte sie wahrscheinlich noch heute sehen, aber – ich starrte wieder an die Decke. »Hier ist schon das Zimmer. Er liegt auf dem Bett. Soll ich –« »Schon okay, ich will nicht lange stören.« Ich erstarrte, mein Blick raste zur Tür, an der sie stand und Yugi sie an der Hand führte. Serenity lächelte in seine Richtung, dann schaute sie in das Zimmer, wahrscheinlich dorthin, wo sie mich vermutete. »Joey? Es tut mir leid, wenn ich dich überfalle, aber –« Ich setzte mich auf. »– Mutter ist bei Vater im Krankenhaus und ich – ich wollte dich sehen.« Da war ein Zittern in ihrer Stimme, das mich meine Augen zusammenpressen ließ. Mich sehen? Wann hatte sie mich sehen wollen? Wann hätte sie es gekonnt? »Schon gut«, erwiderte ich, erhob mich, um mitten im Raum stehen zu bleiben. »Willst du dich – setzen  oder so?« »Mh. Wenn es für dich okay ist?« »Klar, natürlich.« Noch ehe ich das Wort ausgesprochen hatte, wusste ich, wie unsinnig es klingen musste. Vor allem nach unserer ersten Begegnung. Ich machte ein paar weitere Schritte, um sie irgendwie zu führen, aber sie hielt mich auf. »Ist schon gut. Ich bin blind, nicht blöd.« Diesmal lag ein verschmitztes Lachen in ihren Worten. Sie orientierte sich mit ihrem Stab, nickte und schritt an mir vorbei. »Ich nehme an, hier ist – ah, das Bett!« Erstaunen erfüllte mich, als ich zu ihr zurücksah. »Verdammt! Woher wusstest du das?«, platzte aus mir hervor und sie kicherte. »Yugi meinte doch, du hättest auf dem Bett gelegen. Und von hier kam deine Stimme vorhin her.« Es war genial, aber auch ein bisschen gruselig. Genau das sagte ich ihr. Sie sah aus, als hätte ich ihr geschmeichelt, dann streckte sie mir ihre Zunge heraus und lachte. Ihr Lachen steckte mich an. Es war so, als gäbe es keinen Grund, nicht zu lachen und es kitzelte in meinem Bauch. Irgendwann verebbte es und die Stille in dem Raum dröhnte in meinen Ohren. »Wie geht es dir, Joey?« Die Frage brachte meine Gedanken zum Stolpern. Ich schaute sie an und ich wusste nicht, ob ich wieder lachen sollte. Was antworteten Brüder auf solche Fragen ihrer Schwestern, die sie acht Jahre lang nicht mehr gesehen hatten? »Gut«, behauptete ich, »und dir?« Auf ihrer Stirn erschienen Falten und wo eben noch ein Lächeln zwischen ihren Worten hing, stand jetzt Ernst. »Seto Kaiba hat mich angerufen«, ich wollte aufspringen und seinen Hals umdrehen, aber sie ließ den Gedanken daran mit ihren nächsten Worten verschwinden, »stell dir vor. Ich dachte erst, mich will jemand auf den Arm nehmen«, sie kicherte, dann seufzte sie, »er meinte, dein pathetischer Zustand zerre an seinen Nerven und er würde einen Besuch meinerseits befürworten. Ich habe auch mit Yugi gesprochen. Es tut mir leid, wenn das nicht angebracht war, aber –« Ihre Finger spielten mit ihrem Rock. »Ich denk oft an dich. Und Mama auch.« Ich riss meine Augen auf, öffnete meinen Mund, ein dumpfes Geräusch sprang über meine Lippen, als hätte jemand ein Kissen auf mein Lachen gestopft. »So einen Scheiß habe ich schon lang nicht mehr gehört«, brummte ich und fuhr mir über die Stirn. »Ich erinnere mich nicht dran, was damals genau war«, entgegnete sie und seufzte, ihre Hand tastete nach meiner und obwohl ich zusammenzuckte, zog ich sie nicht zurück. »Aber ich kann dir eins sagen. Sie hat dich nicht vergessen.« »Ich sie leider auch nicht«, knurrte ich. Serenity widersprach mir nicht, aber ich konnte in ihrem Gesicht sehen, dass es ihr wehtat. Ich wollte ihr nicht mehr Schmerzen zufügen, aber meine Worte sprudelten aus mir heraus. Die Wut, die Angst, die Bilder, wie sie mit einem Koffer vor mir stand, Serenity einen Teddybären in der Hand, sich verabschiedete, als würden wir uns morgen wieder sehen. Aber der nächste Tag kam nie. »Wenn diese – wenn sie nur einmal an mich gedacht hätte, dann hätte sie mich nicht zurückgelassen. Als wäre ich ein verkacktes Möbelstück, das nicht mehr in den Transporter gepasst hat! Scheiße! Ich war erst acht, Serenity, und von einem auf den anderen Tag wart ihr weg. Ich dachte, ich – ich –« Ich stützte mein Gesicht in meine Hände. Hinter meinen Augen brannte es. »Ich weiß«, flüsterte sie, »ich – dachte, es wäre nur für ein paar Tage. Ich dachte, es wäre wie Urlaub. Ich hatte als Kind nicht verstanden, dass – manchmal verstehe ich es noch immer nicht.« Ihre Hand streichelte meinen Rücken entlang und sie saß neben mir auf der Bettkante, lauschte mit mir in die Stille des Zimmers und mein Schniefen, das ich versuchte zu unterdrücken. Es kamen keine Tränen, nur das Gefühl, ein Band in den Händen zu halten, das zerrissen worden war und das immer wieder auf der Naht aufplatzen würde. »Jacob ist jetzt fast acht«, murmelte sie, als mein Schniefen verebbte und mein Blick kletterte zu ihr. »Jacob?«, fragte ich und sie nickte. Ihre Finger klammerten sich um meine und in ihren Mundwinkeln wuchs ein Lächeln. »Er ist – er ist bei Mama. Aber ich könnte ihn abholen und –« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Du musst ihn nicht wieder treffen, wenn du nicht willst, wenn es dir – zu viel ist oder so.« In meinem Bauch fuhr eine Achterbahn Überschläge und Schrauben. Mein erster Impuls war, abzulehnen. In meinen Schläfen pochte es. Mein Magen rebellierte und in meinem Kopf herrschte Müdigkeit, aber dann sah ich Serenity an. Sie streckte ihr Kinn und schaute an die gegenüberliegende Wand, spielte mit ihren Füßen und lächelte, während ihre Finger sich mit meinen verknoteten, so wie damals. In meinem Hals entstand ein Klumpen. Ich räusperte mich. Unsere Mutter hatte mir schon genug gestohlen. »Lass uns gehen«, sagte ich und zog sie auf die Füße.   Ich wollte weder meinen Vater, noch meine Mutter sehen. Wir schritten den Gang zum Zimmer im Krankenhaus entlang und ich verlangsamte meine Schritte, als ich die Tür entdeckte. Serenity neben mir bemerkte das. »Weißt du«, begann sie, »warte doch kurz hier. Wir sind gleich zurück.« Sie schenkte mir ein Lächeln und ich blieb stehen. Als die Tür hinter ihr zuschnappte, brannte sich etwas in meinen Magen. Was zur Hölle tat ich hier? Was sollte ich mit diesem Kind anfangen? Was erwartete Serenity? Was, wenn er ein Bengel war? Ich erstarrte. Natürlich. Er war mit Sicherheit einer. Was machte man mit Kindern? Was mochten Kinder? Was, wenn ich ihn verletzte? Was, wenn ich mich wie ein Idiot dranstellte? Ich erschauderte. Mit einem Zittern zog ich mein Handy aus der Tasche. Es tütete ein paar Mal, ehe es klickte und ich seinen Atemzug hörte, so, als müsste er sich zurückhalten, mich nicht gleich verbal fertig zu machen. »Wheeler, was willst du?«, schnarrte er. »Ich muss mit dir reden.« Als wäre das nicht offensichtlich. »Ich arbeite«, erwiderte Kaiba. »Was hast du mit deinem kleinen Bruder gemacht, als er fast acht Jahre war?« Stille. »Soll ich in meinem Kalender nachschauen?«, fragte er trocken und ich knurrte. »Ich mein's ernst, Geldsack.« »Ich auch«, behauptete er. »Was, wenn ich ihn verletze?«, brach aus mir hervor. »Verdammte Scheiße. Wenn er auf die Straße rennt und ich nicht hinseh und er fällt und –« »Mokuba ist alt genug, um sicher über eine Straße zu gehen.« Kaiba klang mehr als genervt, »Ich red nicht von deinem kleinen Bruder«, zischte ich, »ich sprech von meinem!« Stille. Ich erstarrte. Blut sackte in meine Füße und ich glaubte, der Boden drehte sich. Ich hatte einen Bruder. Ich hatte einen kleinen Bruder. Ich hatte es gerade selbst gesagt. Einen kleinen Bruder. »Kauf ihm ein Eis.« Kaibas Stimme klang merkwürdig. »Echt jetzt? Das ist dein toller Tipp?« »Am besten im Becher. Dann sieht er danach nicht aus, als hättest du ihn darin getunkt. Am besten, du kaufst dir das Eis auch im Becher, wenn du schon dabei bist.« Die Trockenheit seiner Worte rieb wie Sandpapier über meine Nerven. »Geht auf den Spielplatz. Da findet sich auch deine geistige Altersgruppe, Hündchen. Und gegen sechs Uhr holt euch Roland ab. Es gibt Spaghetti mit Tomatensuppe.« »Das klingt nicht mehr ganz so bescheuert«, seufzte ich, dann runzelte ich die Stirn »hey, warte mal!« Er hatte schon aufgelegt. Mit einem Schnauben lehnte ich mich gegen die Wand und fixierte die Tür, bis ich blinzeln musste, weil meine Augen zu brennen begannen. Was, wenn er mich hasste? In dem Moment schob ein blonder Junge die Tür auf, seine Strähnen standen ab und ließen ihn wie einen Chaoten aussehen. Ich kannte das Problem. Er hielt Serenity an der Hand, der er gerade etwas erzählte, dann fiel sein Blick auf mich und ich hielt den Atem an. »Bist du Joey?«, fragte der Junge, obwohl es nicht wie eine Frage klang. Wahrscheinlich hatte Serenity ihm von mir erzählt. Oder meine Mutter. Ich bevorzugte Variante eins. Ich stieß mich von der Wand ab und fuhr mir durchs Haar, während ich nickte. »Und du Jacob«, sagte ich. »Du bist das letzte Mal weggerannt. Machst du das wieder?« »Jacob«, rügte Serenity sanft, aber ich schnaubte amüsiert. »Nö«, sagte ich nur und wir schlenderten nebeneinander den Gang hinunter. »Warum?«, wollte der Junge wissen und er betrachtete mich mit einem Argwohn, der mir nicht gefiel. »Weil wir jetzt Eis essen gehen«, erklärte ich und sah, wie seine Mimik aufhellte.   Jacob schaffte es, sich trotz Becher irgendwie mit dem Schokoladeneis vollzuschmieren, was Serenity zum Lachen und mich zum Verzweifeln brachte. Irgendwann gab ich auf und genoss einfach die Sonne und das Eis und Serenitys Geschichten, was die Personen, die an uns im Park vorbei spazierten wohl miteinander zu tun hatten und wer sie waren. Ich beschrieb ihr die Leute, sie erfand den Rest. »Mh, übrigens. Passt es, wenn wir heute Abend bei Kaiba essen? Wann müsst ihr zurück?«, fragte ich, während sie ihr Eis schleckte und ich in die Sonne blinzelte. »Passt«, erwiderte sie und nichts mehr. Ich nahm es hin. Wir saßen auf einer der Bänke, die Sonne in den Gesichtern und vor uns ein Brunnen. Ein paar Kinder tummelten sich am Wasser, Mütter schoben Kinderwägen vorbei, Hunde rannten einer Frisbee hinterher. Es war dieses Sommerfeeling, das den Stress aus den Gliedern sog und gute Laune verbreitete. Ich lehnte mich zurück und spachtelte mein Eis, kommentierte Serenitys Geschichte über zwei ältere Leute, von denen sie sich zusammenreimte, dass sie sich erst nach einer unglücklichen Heirat mit anderen Partnern und nach einem Krieg gefunden hätten und dann den Rest ihres Lebens miteinander verbringen würden. »Stimmt es, dass meine Mama auch deine Mama ist?« Jacob fixierte mich. Serenity sog scharf die Luft ein und ich riss meine Augen auf. »Jacob, woher – wie kommst du darauf?«, wollte sie wissen. Ich sah, wie er die Schultern zuckte und wieder sein Eis schleckte, als hätte er eben festgestellt, dass es nicht regnete. »Ich hab's gehört. Mama hat es zu dem Mann im Krankenhaus gesagt, als sie dachte ich hör es nicht. Sie hat mir gesagt, ich kann mir ein Eis kaufen gehen unten im Krankenhaus. Da bin ich aus dem Zimmer und dann hat sie es gesagt. Sie hat gesagt, Joey ist auch ihr Sohn.« Ich ließ den Becher fallen. Das Eis spritzte über den Boden bis ins Gras und ich glaubte, mein Brustkorb würde zerspringen. »Joey, alles – okay?«, fragte Serenity und ich hörte den Stress durch ihren Ton. »Ja, ja. Ich hab nur – hab's nur fallen lassen«, erwiderte ich zerstreut, hob den Becher auf und starrte meine Hände an. Wie in Trance wanderte mein Blick von meinen Fingern, über Serenity zu Jacob und ich hörte mein Herz in den Ohren klopfen. »Ist es so oder nicht?«, fragte Jacob mit kindlicher Unbesonnenheit und ich nickte ihm langsam zu. »Ja, wir – also du – ich – wir sind Brüder«, erklärte ich und meine Zunge klebte an meinem Gaumen. Jacob spitzte seine Lippen, als würde er überlegen. »Hast du Serenity lieb?« Meine Brauen schossen nach oben. »Natürlich«, erwiderte ich und schnaubte, als hätte er mich beleidigt. »Du etwa nicht?« Jacob schaute mich an, als hätte ich jetzt ihn beleidigt und verschränkte die Arme vor seiner schmalen Brust und antwortete mit einem inbrünstigen: »Natürlich!« Neben mir gluckste meine Schwester. Jacob sah mich an, seine braunen Augen ein wenig zusammen gezogen, als dachte er nach. Er schleckte an seinem Eis, von dem mehr auf seinen Fingern als in seinem Becher klebte. »Spielst du DuelMonsters?« Ich blinzelte. Das fiel ihm als nächstes ein? »Jo, und du?« »Ich hab Karten!«, erzählte er und ich konnte dabei zusehen, wie er aufblühte. »Richtig starke Monster!« Dann wich er meinem Blick aus. »Aber ich verlier immer gegen meine Freunde.« Röte legte sich auf seine Wangen, die er aufblähte, als staute sich darin sein Trotz. »Mh, ich kann dir helfen! Ich bin ein richtig erstklassiger Duellant.« Ich reckte mein Kinn und streckte ihm meinen Daumen entgegen. Seine Augen begannen zu leuchten.   Gegen halb sechs, fuhr Roland vor. Als Jacob die Limousine entdeckte, fiel ihm der Kiefer fast auf die Füße. Er riss seine Augen auf und plapperte aufgeregt, als ich ihm verkündete, dass der Fahrer auf uns wartete. War es schlecht, seine kleinen Geschwister damit beindrucken zu wollen? Weil es materialistisch war? Weil das Auto nicht einmal mir selbst gehörte, sondern nur Kaiba? Jacob schaute aus dem Fenster, an dem Villen vorbeizogen und beschrieb sie Serenity, die immer wieder kicherte. Seine großen Augen waren durch seinen Ton hindurch zu hören. Mokuba empfing uns an der Tür, sein Blick klebte einen Moment auf Jacobs T-Shirt, das voller Schokoladenflecken war, aber er grinste nur und sagte nichts und führte uns ins Esszimmer. Jacobs Blick kletterte an den Wänden entlang zur Decke, wo die Malereien von Weißen Drachen mit Eiskaltem Blick schlängelten, zu den Treppen, die in den ersten Stock führten, die Fenster entlang, vor denen sich der Garten ausbreitete und der Pool. »Wohnst du hier?«, wollte Jacob wissen, als wir am Tisch saßen, er eine Apfelschorle schlürfte und sein Blick durch den Raum zu Mokuba wanderte. »Ja, mit meinem Bruder«, erwiderte er und schenkte sich ein. »Ich hab auch einen Bruder. Stimmt's, Joey?«, entgegnete Jacob und ich verschluckte mich, nickte, während ich nach Luft schnappte. Er schaute mich über sein Glas hinweg an. Sein Blick funkelte, Serenity kicherte und Mokuba grinste.   Vielleicht eine knappe halbe Stunde später zog Kaiba die Tür zum Esszimmer auf und setzte sich dazu. Er trug noch sein Hemd und die Krawatte, die Jacob beäugte, als wunderte er sich darüber, aber den Aktenkoffer hatte er woanders gelassen. »Jacob, das ist Seto Kaiba. Ich hab dir doch von Joeys Freund erzählt«, erklärte Serenity und mir blieb die Spucke weg. »Ja, Freund, also – wir sind sozusagen Freunde irgendwie – schon – wir sind zusammen auf der Schule«, stammelte ich und lachte, fuhr mir durchs Haar und hatte das Bedürfnis meinen Kopf gegen die Tischplatte zu rammen. Kaiba betrachtete mich, als überlegte er, warum er mich nicht von seinem Eigentum entfernen sollte, während Mokuba sein Grinsen in einem Schluck aus seinem Glas ertränkte. Jacob irritierte mein Gestammel nicht. Er betrachtete Kaiba interessiert und legte seinen Kopf schief. »Bist du der, der die DuelDisks macht?«, fragte er und Kaiba lehnte sich zurück. Klar, das streichelte sein ohnehin aufgeblähtes Ego. Ich schürzte die Lippen. »Unter anderem, ja.« »Voll cool«, erwiderte Jacob und funkelte ihn an. Kaibas Mimik reagierte nicht. Stattdessen brachte er Mokuba mit einer Handbewegung dazu, auch ihm ein Glas einzuschenken, während wir auf das Essen warteten. »Und du bist Mokubas Bruder, stimmt's?« Kaiba nickte und nahm einen Schluck. Serenity und Mokuba begannen ein Gespräch, dem ich nicht folgte, weil Jacob meine Aufmerksamkeit an sich band. Er zog sie auf sich, ohne dass ich wusste, wie er es machte. Er sprach voller Inbrunst, seine Augen glänzten, seine Arme wedelten umher, um seine Worte zu untermauern. »Joey ist mein Bruder und er ist ein erstklassiger Duellant!«, plapperte Jacob weiter und Kaibas Blick wanderte von dem Jungen zu mir, während er eine Augenbraue hob. Sein Mundwinkel zuckte und in mir gor die Befürchtung, er würde Jacob über den Mund fahren und mich mit wenigen Worten fertig machen. Auf meiner Lippe lag schon eine scharfe Bemerkung, als Kaibas Blick zu Jacob rutschte. »Mh. Er kennt einige Züge, die auch ein erstklassiger Duellant kennen sollte«, bemerkte er und während es für Jacob wie eine Zustimmung klingen mochte, hörte es sich für mich überraschend diplomatisch an. »Natürlich, Geldsack«, erwiderte ich, streckte mich, während ich mich nach hinten lehnte und grinste, »weil ich einer bin.« Jacob kicherte bei meinen Worten und ich schaute zu ihm. Was war daran denn so lustig? »Geldsack«, wiederholte er, als wäre es etwas Verbotenes und brach wieder in Kichern aus. Mein Blick wanderte zurück zu Kaiba, der mich mit gehobenen Brauen musterte und ich verdrehte die Augen, obwohl mir eher danach zumute war, gegen die Wand zu rennen. Und schon hatte ich begonnen, meinen kleinen Bruder zu verderben. Sein Gekicher brachte mich zum Grinsen.   Wir aßen Spaghetti mit Tomatensoße und Salat und selbst(-von-der-Hausdame-)gebackenes Brot. Jacobs Schokoladenflecken zierten bald auch ein paar Kleckse Tomatensoße auf seinem dunkelblauen T-Shirt. Serenity lächelte, lauschte Jacobs Plapperei und seinen Fragen, welches DuelMonster gegen welches das beste wäre. Mokuba erklärte, dass Zauber- und Fallenkarten das Spiel nicht weniger entschieden. Serenity fragte mich über die Kampagne der KC aus, wobei mich Kaiba immer wieder mit Blicken bremste. Die ich öfters mal ignorierte. Serenity war nicht die Öffentlichkeit, die nur bestimmte Infos bis zum jetzigen Zeitpunkt bekommen durfte. Sie war meine Schwester. Wir spachtelten Kuchen zum Nachtisch und Jacob aß, als hätte er den ganzen Tag noch nichts gehabt. Kaibas Blick wanderte zwischen dem Jungen und mir hin und her und hob die Augenbrauen (»Die Tischmanieren liegen wohl in der Familie.«), Serenity lachte über meine Witze und wiederholte, wie stolz sie auf mich wäre (»Die Kampagne hört sich so interessant an. Ich bin so glücklich für dich, Joey! Und so stolz!«) und Jacob sagte: »Du bist so cool, Joey.« Ich unterlag anderen, war immer abgeschlagen, hinke hinterher. Ich war kein Vorbild. Ich wohnte in der falschen Gegend und kannte die falschen Leute. Selbst unter ihnen war ich besonders – besonders chaotisch, schlagkräftig, laut, frech und beneidet. Aber in diesem Moment, war ich stolz darauf, wer ich war. Und ich war am richtigen Ort. Mit einem Grinsen lehnte ich mich zurück und genoss das Kribbeln auf meiner Haut. Happy End. Es hätte eines sein können.   Gegen zweiundzwanzig Uhr klingelte es und meine Mutter stand vor der Tür. Serenity drückte sich an mich und Jacob hing mir um die Hüfte, als sie sich von mir verabschiedeten. »Spielen wir mal  DuelMonsters? Können wir das machen, Joey?«, murmelte Jacob in mein T-Shirt und schaute dann hoch zu mir, mit diesen großen Augen, von denen ich schon jetzt wusste, ihnen niemals etwas abschlagen zu können. »Serenity mag das nicht. Sie findet es langweilig. Und ich muss ihr immer die Karten vorlesen, weil sie ja blind ist und so. Und dann kenn ich ihre Karten und das ist blöd.« Mein Blick wanderte von ihm zu meiner Schwester, die bei meiner Mutter im Eingang stand. »Auf jeden Fall, Kleiner«, antwortete ich ihm, während ich den Blick meiner Mutter erwiderte. Sollte sie etwas anderes behaupten, sollte sie nur. Ich würde Serenity nicht noch einmal gehen lassen. Und Jacob genauso wenig. Meine Mutter schwieg, dann schnaubte sie. »Du brauchst mich nicht so anschauen, Joey.« Jacob hing an mir, schaute von seiner Mutter zu mir und zurück. Sie schnappte sich Jacobs Hand und zog ihn zu sich. »Ich habe meine Kinder nie geschlagen«, fuhr sie leise fort. Meine Augenlider weiteten sich, ich erstarrte, dann verengte ich meinen Blick. Serenity zuckte zusammen. Jacob blinzelte. Ich ballte meine Hände, als meine Mutter mir zum Abschied die Hand reichen wollte, die ich erst anstarrte und dann ignorierte. In meinem Magen ätzte Säure. Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um.   »Ich hasse sie.« Meine ersten Worte, nachdem die Tür ins Schloss fiel. Kaiba lehnte hinter mir am Türrahmen und beobachtete mich. Ich spürte es im Nacken. Er sagte nichts, aber das war auch nicht nötig. Wir wussten beide, dass es stimmte. Ich kochte. Gedanken überschlugen sich in meinem Kopf. Erinnerungen an Koffer und Teddybären und Abschiede. An die Frage, wann sie wiederkommen würde. Und die Antwort, die keiner gab. Bilder von Serenity und uns. An Kindheit und gestohlene Tage zusammen. Gedanken an einen kleinen Bruder, der plötzlich acht Jahre alt war. »Woher wusstest du, dass ich noch einen – dass sie noch einen – von Jacob?«, fragte ich und hasste das Zittern in meiner Stimme. Wut. Trauer. Leere. Stille. Vielleicht wog er ab, wie viel Wahrheit mich zum Ausflippen bringen, wie viel mich aus der mühsam aufrecht erhaltenen Ruhe zur Raserei jagen würde. »Ich rief bei deiner Mutter an, um mich zu erkundigen«, begann er nüchtern, »ob eine Möglichkeit bestünde, dass du bei ihr wohnst. Sicherlich ist dir bekannt, dass sie das Sorgerecht mit deinem Vater teilt.« Egal, wo ich war, ich war nicht am richtigen Ort. Ich sog die Luft ein. Was zur Hölle dachte er sich? Zorn tanzte über meine Haut in meinen Magen und ich presste die Lippen zusammen, um ihn nicht anzubrüllen. Arsch. Idiot. Penner. Die Wut auf meine Mutter sprang auf ihn über. Langsam drehte ich mich zu ihm herum und funkelte ihn an. Er stand einfach da, die Arme vor der Brust verschränkt, mit dem Rücken an die Tür gelehnt. »Bevor ich bei der leben muss«, zischte ich, »würde ich sogar bei dir leben!«   Kapitel 44: … bin ein Idiot --------------------------- __________________________________________     Wenn der Weise auf den Mond zeigt, sieht der Idiot nur den Finger. Aus China     __________________________________________           Ich dachte zu wenig. Ich dachte nicht an die Sachen, die passieren konnten, bevor sie passierten. Ich war kein Schachspieler mit Angestellten, Medien und Presseleuten, Wirtschaftsexperten und Geschäftspartnern als Schachfiguren. Ich stolperte von einer Woche in die nächste. Ich war ein ganz normaler Teenager mit einer zu großen Klappe.   »Ich meinte nicht«, ruderte ich zurück, »damit wollte ich nicht sagen – also –« Im ersten Moment hämmerte mir sein Blick den Gedanken aus dem Kopf, was ich hatte sagen wollen. Ich wusste nur: Da hatte es sich noch wie eine Beleidigung angehört. Kaiba stand einfach im Türrahmen und ließ mich an meinen Worten zappeln wie ein Hund an der Leine. »Doch, also ich wollt sagen, dass –« Warum verhedderten sich meine Gedanken immer auf meiner Zunge? Ich wollte ihm den Mittelfinger zeigen, tat es aber nicht. Sein Blick hypnotisierte mich. Und wie machte Kaiba das? Ich verengte meine Augen. Kaiba kräuselte seine Lippen. Er stieß sich vom Türrahmen ab und schlenderte auf mich zu. Mein Instinkt drängte mich dazu, einen Schritt zurück zu machen, aber ich tat es nicht. Nicht bei Kaiba. Erst recht nicht. Ich reckte mein Kinn. »Du glaubst doch nicht, ich würde einen Straßenköter bei mir aufnehmen? Glaubst du wirklich, das ginge gut?«, wollte er wissen und ich wusste, dass er wusste, welche Knöpfe er drücken musste, um dieses Gefühl meine Wirbelsäule hinauf wandern zu lassen. Das Gefühl, das meine Haut entlang brannte und meine Hände zu Fäuste ballte. Er war so nah, es versengte mich. Die Wärme, die er ausstrahlte, die ich greifen konnte, widersprach der Kälte in seiner Mimik. »Ich bin kein Straßenköter, Geldsack«, knurrte ich und zog meine Augen zusammen, stierte ihn an und hörte das Hämmern in meinen Ohren. Wie oft hatte er es mir schon an den Kopf geworfen? Wie oft ich widersprochen? Es hatte mich nicht gekümmert. Doch. Nicht. Ja. Selbst ich hörte, dass meinen Worten der echte Ärger auf ihn fehlte. Er hob seine Augenbraue. Wie jemand so viel Herablassung allein in eine Bewegung der Augenbraue packen konnte, war ein Mysterium. Das Gefühl, das in mir das Verlangen weckte, ihm – »Ich könnte dir deine Krawatte manchmal in den Mund stopfen«, murrte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Als könnte ich mich so vor ihm schützen, als könnten seine Worte nicht durch sie hindurchschneiden und mich dort treffen, wo es wehtat. Er machte einen Schritt und ich machte keinen zurück. Also standen wir fast Nase an Nase da und er rieb mir die Zentimeter drunter, die er mich überragte, während er auf mich hinabschaute – in jedem Sinn. Hitze tanzte über meinen Nacken. »Schau mich nicht so an, Wheeler.« Sein Atem streifte meine Wange. Sein Blick erwiderte meinen. Etwas glitzerte in dem Blau. Provokation? Wut? Weswegen? Worauf? Du brauchst mich nicht so anschauen, Joey. »Glaubst du wirklich auch nur einen Moment, es würde gut gehen?« Ich öffnete den Mund, aber Kaiba kam mir zuvor. Und als er sprach, obwohl die Kälte in seinen Augen wie Eis glitzerte, obwohl seine Mimik so ruhig wirkte, hörte ich ein Zittern. Es stachelte meinen Zorn an. »Was willst du, Wheeler? Dich weiter hinter deiner pathetischen Kindheit verstecken?« Das Gefühl, das in mir das Verlangen weckte, ihm das gehässige Grinsen von den Lippen zu – Ich zitterte, meine Finger ballten sich zu Fäusten, die ich in meinen Hosentaschen versenkte. Ich habe meine Kinder nie geschlagen. Er schaute mich an und in seinem Blick stand etwas Seltsames, als wüsste er etwas, das ich wissen müsste, aber offensichtlich nicht wusste. Das Gefühl in mir riss den Rachen auf und drohte mich zu verschlingen. »Es wird Zeit, dass du dich entscheidest.« Vielleicht können wir uns mal unterhalten. Wieso schaffte er es, seine Gedanken so akkurat wiederzugeben? Und schaffte er das? Ich wandte meine Augen ab, starrte dorthin, wo er nicht war. Denn alles an ihm schrie mich an, ihm eine zu verpassen. Ich krallte meine Finger in den Innenstoff der Hosentasche, öffnete den Mund, aber in meinem Kopf wirbelten nur ihre Worte. Dann drehte ich mich um. Er hielt mich nicht auf, obwohl ich spürte, wie sein Blick mir im Rücken brannte. Als die Eingangstür hinter mir zufiel, atmete ich tief aus, dann sprintete ich los. Ich rannte und rannte und rannte und irgendwann stand ich an einer Ecke und keuchte und stützte meine Hände auf meinen Oberschenkeln ab und fluchte. Eine Frau machte einen Bogen um mich und ich konnte es ihr nicht verdenken. Meine Seite stach von innen und mein Brustkorb war viel zu eng und mein Kopf explodierte und der Zorn überwältigte und ich fluchte nochmals. Egal, wie schnell ich rannte, die Worte folgten mir. Ich bin kein Monster, Joey. »Idiot! Idiot, Idiot, Idiot!« Ich redete mir ein, zu wissen, wen ich beschimpfte.   »Er ist ein Idiot«, spie ich aus und lag auf der Matratze, während mein Arm über meinen Augen hing und ich Yugi seufzen hörte. Er senkte das Drehbuch in seinen Händen. »Er hat es sicherlich nur –« Ich funkelte ihn unter meinem Arm hindurch an und Yugi verkniff sich das Ende des Satzes und starrte wieder auf das Drehbuch, wo die Sätze standen, die irgendwelche schlauen Männer in Anzügen geschrieben hatten und uns beide höchstens vom Sehen kannten. Ich antwortete gelangweilt, nachdem Yugi seinen Satz aufgesagt hatte. »Ein bisschen mehr Freude, Joey«, ermunterte er mich. »Oh ja! Das Feeling! Als wären es echte Monster!«, versuchte ich es nochmal und Yugi prustete los, presste sich eine Hand auf den Bauch und brachte zwischen schweren Atemzügen hervor: »Und jetzt nochmal so, als würdest du Seto Kaiba nicht verwünschen.« Ich verdrehte die Augen, aber das Grinsen setzte sich in meinen Mundwinkeln fest. »Oh ja! Das Feeling! Als wären es echte Monster!«, wiederholte ich und sah das Funkeln in seinen Augen, was mich ihm die Zunge herausstrecken ließ. Sein Grinsen prickelte über meine Lippen und ließ mich selbst lächeln. Yugis Talent. Yugis wahres Talent. »Als wäre man selbst mitten im Duell!«, führte er weiter. Ich seufzte. Mit Kaiba war man dauernd im Duell. Auf Yugis fragenden Blick, winkte ich nur ab und wir begannen nochmals von vorne, bis wir irgendwann unter dem Dachfenster lagen und hinauf in den Sternenhimmel schauten. Von draußen waberte die warme Brise über meinen Arm. Yugi schwieg. Er hat es sicherlich nur gut gemeint. Natürlich. Kaiba war ja berühmt. Für sein Mitgefühl. Nicht. Er hat es sicherlich nicht so gemeint, wie er es gesagt hat. Natürlich. Weil Kaibas Worte nicht genau so trafen, wie er es wollte. Selbst Yugi musste es klar sein. Warum nagte in meiner Brust dann dieses Gefühl? »So ein Scheiß«, fluchte ich gedämpft, drehte mich um und erstickte die Aneinanderreihung dieses Wortes im Kissen. Die Begegnungen der letzten Tage brachen in der Stille der Nacht über mich ein und ich atmete tief durch, aber mein Brustkorb war zu eng. Zu viele Gedanken wimmelten in meinem Kopf und Yugi drückte meine Schulter. Ich atmete nochmals durch und auf meiner Zunge formten sich endlich die Worte, die ich die ganze Zeit nur wirr gedacht hatte. »Kurz vor der ganzen Scheiße hatte ich mir so fest vorgenommen, dass ich mein verdammtes Leben endlich selbst in die Hand nehme. Ein Zimmer mieten oder so die Kampagne zu einem verdammten Riesenerfolg mache. Ich hatte – ich wollte –« Yugis Hand lag wieder auf meiner Schulter. Ich atmete zittrig ein. »Und plötzlich taucht diese alte –« Und schluckte das Bitch herunter. »Kommt die und alles ist wieder dieser große Misthaufen.« Als würde ich mitten drin stehen und versuchen, mich freizuschaufeln, während eine Gruppe mich gleichzeitig mit Scheiße bewarf. Ich verzog mein Gesicht und starrte Yugis Profil an. Er schaute unbeirrt nach oben, seine Gesichtszüge von Sternenlicht erhellt. Er wirkte so fremd – und vertraut. Sein Kopf machte einen Ruck, ich zuckte zusammen, als er mich plötzlich anschaute. »Mh. Aber mal ehrlich, Joey. Was willst du eigentlich machen? Auf längere Sicht? Möglicherweise wäre es eine Überlegung wert. Deine –« Ich funkelte ihn an und er seufzte unhörbar. »Ein anderes Mal«, murmelte er und ich wusste nicht, ob es ein Versprechen oder eine Drohung war. »Morgen ist schon der Videodreh. Ich denke, das wird lustig«, fuhr er fort und seine Begeisterung verjagte ein wenig meine Zweifel. Die Kampagne kam noch dazu. Kaibas Blick in meinen Gedanken. Sarah. Und die Armee von Anzugsträgern. Kameras, Anweisungen, Drehbücher. Wie war ich nur in die ganze Situation geraten? Wann hatte das Ganze angefangen? Ich biss auf meine Unterlippe, schwieg und schaute wieder nach oben. Der Himmel war so weit entfernt und die Sterne schienen doch zum Greifen nah.   Wenn ich an Sommerferien dachte, dachte ich an Sonne und Eis und Weiher und freie Stunden. Nicht an Stress und Befehle und gaffende Männer im Anzug. Oder Zicken, die über den besten Kumpel herfielen. Ich saß da auf dem Stuhl und beobachtete im Spiegel, wie Thea mit Yugi abseits stand. Als wären sie im Auge eines Sturms. Yugi stand neben ihr, als wäre er ihr Hund. Er sah fehl am Platze aus. Sie redete auf ihn ein und er hob beschwichtigend die Hände. Ich ballte meine. Was wollte diese –? Was hatte die überhaupt hier zu suchen? »Alles gut, Schätzchen?«, fragte Sarah über meine Schulter und ließ mir keine Zeit zum Antworten. »Meine Güte! Du siehst bezaubernd aus, Joey, Schätzchen! Bezaubernd! Dein Haar ist so – ordentlich!« Ich verzog mein Gesicht. Menschen schwirrten um mich herum, griffen in meine Haare, sprühten irgendwelches Zeug hinein, puderten meine Nase. Ich starrte in den Spiegel und fing Tristans Blick auf, der neben mir saß. Er hob die Augenbrauen. Ich schaute schnell weg, kämpfe gegen das Gelächter, das sich zwischen meinen Lippen sammelte. In dem Moment hörte ich Tristan losprusten. Es riss mich mit. Als sie begannen Tristans Nase zu pudern, streckte ich ihm die Zunge heraus, was mir ein Naserümpfen meiner Stylistin einbrachte. »Oh je«, murmelte Yugi hinter mir und ich schenkte ihm ein Lächeln, als sich unsere Blicke im Spiegel trafen und ein Stylist Yugi auf den Platz neben mir bugsierte. »Ich hätte nicht gedacht, dass Kaiba so einen – ich hätte es mir denken müssen«, unterbrach er sich selbst und lächelte ein Lächeln, das nur Yugi in so einer Situation zustande brachte. Unbeschwert und ehrlich. Es brachte mich zum Grinsen. Ich drehte mein Gesicht zu ihm, was meiner Stylistin ein »Nanananaana!« entlockte und ich wandte mich resigniert zurück zum Spiegel. »Ja, Kaiba halt«, murrte ich. Thea kniff ihre Lippen zusammen, als mein Blick über den Spiegel auf sie fiel. »Seto Kaibas Methoden sind sicherlich außergewöhnlich. Aber er gibt alles. Nimmt das Ganze ernst – uns ernst! Und wir sollten es als Chance wertschätzen«, behauptete sie. Was wusste sie schon von Kaibas Methoden? Und überhaupt? »Oh, bitte«, spöttelte ich und funkelte Thea an, dann ignorierte ich ihren brennenden Blick in meinem Nacken. Genauso wie Yugis Blick von der Seite oder Tristans von der anderen.   Wenn ich an Sommerferien dachte, sah ich Freizeit, späte Nächte, späte Tage, Schlaf, Wasser, Eis, Sonne, Freunde. »Und cut!«, rief einer, der besonders wichtig aussah und ich verdrehte die Augen. Was ich nicht sah war Anzüge, Leute, die mir Anordnungen entgegen riefen, Schweiß auf der Stirn, Damen, die um mich herumwuselten, um mein Chaos auf dem Kopf alle Viertelstunde zu bändigen und Drehbücher, die absolut beschissen waren. »Und nochmal!« Wie oft denn noch? Jedes Mal nieste jemand oder verpasste den Einsatz. Oder vergaß Worte. Oder eine Geste. Oder einen Blick. Oder blickte nicht richtig. Es war heiß und wir drehten bereits das fünfte Video am dritten Ort. Ich hasste es. Ich denke, das wird lustig. Lustig mein Arsch. Tristan strich sich durchs Haar. Eine der Stylisten quiekte. Thea schnitt eine Grimasse, als ihr jemand die Wimpern nachtuschierte, während mir zwei Hände durchs Haar fuhren. Nicht meine eigenen Hände. »Und Action!« Ich runzelte die Stirn und drehte mich wieder zu Yugi, der mir gegenüber saß. Wir hielten DuelMonsters-Karten, die nicht uns gehörten, in den Händen. Die Stapel bestanden nur aus Karten, deren Rückseiten so aussahen, als wären es DuelMonster-Karten. »Das Spiel ist einfach super, stimmt's Yugi?« Ich lächelte ihn an und spürte, dass mein Lächeln bescheuert aussehen musste. Genau so, als hätte ich es schon fünf Videos an drei verschiedenen Orten durchstehen müssen. »Es macht viel Spaß!«, stimmte er zu. »Es kann nur noch cooler sein, wenn wir es dort spielen!« Er zeigte auf die Arena hinter sich. Eine echte DuelMonsters-Arena, die die Monster von den Karten dreidimensional im Gelände abbildete. So etwas brachte auch nur Kaiba. »Oh ja! Das Feeling! Als wären es echte Monster!«, erwiderte ich. Fühlten sich die Worte nur auf meiner Zunge so lahm an? Als kaute ich auf einem ausgekauten Kaugummi. »Als wäre man selbst mitten im Duell!«, fügte Yugi an. »Mit allen Freunden! Und der Familie!«, riefen Tristan und Thea hinter uns. »Und cut!« Ich strich mir über die Stirn und meine Stylistin knurrte hinter mir, ich verdrehte die Augen. »So ein Schwachsinn«, murrte ich. »Joey Wheeler«, zischte Thea und baute sich vor mir auf. »Hör auf mit deinem kindischen Benehmen die Arbeit von uns allen zu versauen!« Ihre Augen zogen sich zusammen, als ihr Blick über mich flog. Am liebsten hätte ich ihr die Karten, die meine Finger umklammerten, in den Hals gestopft. Stattdessen ignorierte ich sie und wandte mich um. Unter einem der Schirme sah ich Sarah stehen und mit einem der Männer sprechen. »Warum spielen wir nicht einfach richtig? Das ist doch bekackt«, murrte ich und schmiss die Karten auf den Stapel. »Das nimmt einem doch keiner ab! Ich nehm's mir nicht mal selbst ab!« Tristan brummte zustimmend. Yugi schwieg. Thea musste natürlich wieder ihren Mund aufreißen, als hätte sie irgendjemand gefragt. »Dann streng dich mehr an! Hättest du das geübt –« »Es soll natürlich sein. Der Scheiß hier ist alles andere natürlich!«, unterbrach ich sie. »Hey, Leute. Vielleicht –« Sie ignorierte Tristans Einwand. »Dafür musst du sorgen! Das ist die Herausforderung daran! Die Kunst!« Ich wollte mir ihre Klugscheißerei nicht geben. Was machte sie hier überhaupt? »Ich bin kein verdammter Schauspieler! Wir sollten einfach eine Runde spielen!« Yugi und ich hatten schon so viele Spiele gespielt. Es ergab keinen Sinn, nur so zu tun. Er war amtierender Landesmeister und ich immerhin sein Kumpel. Wie schwer war es da ein Spiel unter Freunden mit der Kamera aufzunehmen? »Ich denke«, begann sie und ihre Nasenflügel zitterten, »wir sollten –« »Wen interessiert's«, brummte ich. Tristan schlug sich eine Hand resigniert über die Augen, Yugi zuckte zusammen und Theas Mimik verdüsterte sich wie der Himmel bei einem Sommergewitter. Es war mir egal. Mir war heiß und das, was wir hier zusammenstotterten, klang beschissen. »Was macht die überhaupt hier«, rief ich, wandte mich zu Sarah und wedelte mit meiner Hand Richtung Thea. Sarah schaute von einem Mann mit Kamera zu mir, als hätte ich sie in einem Gespräch unterbrochen. Ich zuckte entschuldigend mit den Achseln. »Sie spricht die Zielgruppe der Mädchen zwischen neun und dreizehn Jahren an«, erwiderte Sarah mit einem Lächeln, als hätte sie kein Wort unserer Unterhaltung zuvor gehört. Thea schaute zufrieden drein. Der Ärger in meinem Magen brüllte. Yugi griff nach meinem Ärmel, aber ich schüttelte ihn ab. Eine Limousine fuhr heran, an den Absperrungen vorbei. »Ich dachte, wir wollen nur meine Freunde und mich für die Kampagne«, sprach ich unbeirrt. Thea ballte die Hände und das Glühen in meinem Bauch ließ alle anderen Gefühle schmelzen. Die Autotür schlug auf. Kaiba stieg aus, strich sich seien Mantel glatt. »Ich denk, wir kommen auch ohne sie klar«, fuhr ich schroff fort. Keine Unsicherheit. Keine Sorgen. Keine Gedanken. Nur dieses Glühen. »Du bist so ein –«, sie suchte nach Worten, atmete zittrig ein, »Idiot!«, rief Thea und stürmte an mir vorbei. In meinen Wangen stach Gelächter, aber meine Mimik versteinerte. Kaibas und mein Blick trafen sich in diesem Augenblick und das Glühen in meinem Magen verlosch. »Was ist hier los?« Es klang weniger wie eine Frage als ein Befehl, ihn aufzuklären. Sarah beugte sich zu ihm und flüsterte ihm hektisch Sachen ins Ohr. Stylisten und Kameraleute, Tonassistenten und Leute in Anzügen, die für mich keine sichtbare Funktion hatten, schauten Thea nach und mich an oder zu Kaiba. Es war mir egal. Ich riss meinen Blick von ihm los und suchte Yugis, aber der starrte Thea nach. Tristan atmete tief durch. Die Stylistin schwieg und behielt zum ersten Mal an dem Tag ihre Hände außer Reichweite meiner Haare. Die Zufriedenheit, die ich bis eben noch bei Theas Anblick gespürt hatte, bröckelte. Yugi schaute mich kurz an, zögerte und dann drückte er seinen Rücken durch, wandte sich von mir ab und folgte Thea. »Oh, shit«, murmelte Tris und packte damit irgendwie alles, was ich dachte, in zwei Silben. Durch meine Adern raste dieses Gefühl. Als hätte mir jemand etwas vor die Nase gehalten und dann weggenommen, ohne, dass ich es wirklich besessen hatte. Als hätte ich ein Versprechen gebrochen, das ich nie ausgesprochen hatte. Mit einem Satz hechtete ich Yugi hinterher, bis –   »Wheeler!« Kaibas Stimme ließ mich zusammenzucken. Ich spürte Blicke auf mir, ohne sie zu sehen. »Auf ein Wort.« Unsere Blicke verknoteten sich und ich vergaß all die anderen um mich herum, als wären wir die einzigen beiden Personen hier. Er stand da. In einer Hand seinen Aktenkoffer. Mit einem weißen Mantel, der diesen Temperaturen völlig unangemessen war und einem Gesichtsausdruck, der mich schlucken ließ. Ich drückte meinen Rücken durch und reckte mein Kinn und redete mir ein, dass es mir egal war. Ich sah, wie Yugi über Theas Schulter strich und Tristan, der mich anschaute, als wäre alles meine Schuld. »Mittagspause! Los! Eine Stunde! Dann wieder hier!«, rief der Mann mit Anzug in sein Megafon und scheuchte die Crew davon, als handelte es sich um einen Unfallort. Ich konnte auch weder hin- noch wegsehen. Kaiba thronte über allen, obwohl er nur einer von vielen war. Und trotzdem war er es nicht. Das hier war Seto Kaiba, der Geschäftsmann. Alles an ihm schrie, dass er ein arroganter Arsch war, der sich nur für sich interessierte. Einer mit Dollarzeichen in den Augen und zehn Angestellte an jedem Finger. An jedem Haar. Der, der nur unter seinen Bedingungen Verträge schloss, der, dessen Charisma jeden erblassen ließ. Der, den die Presse verfolgte. Und trotzdem sah er nur mich an in diesem Augenblick. Dann wandte er sich um und schritt zu seiner Limo und stieg ein, ohne sich zu versichern, dass ich ihm folgte. Ich folgte ihm zähneknirschend. Als ich die Tür hinter mir zuzog, wies Kaiba Roland an, eine Runde zu drehen und ließ die getönte Scheibe zwischen Fahrer und Kabine hoch, während ich das wohlige Seufzen unterdrückte, weil die Klimaanlage den Schweiß von meiner Stirn kühlte. Kaiba saß neben mir auf der Rückbank der Limo mit überschlagenen Beinen und dem Blick aus dem Fenster, als ignorierte er mich – oder müsste sich ablenken. Draußen schlichen andere Autos auf der Gegenspur und Menschen hasteten über die Ampel. Jemand hupte. Genervt wandte ich mich wieder dem Inneren des Wagens zu und wartete auf einen spöttischen Kommentar, auf Wut oder auf eine Kündigung mit verbalem Mord. Stattdessen schwieg er. Ich wollte ihm den Hals umdrehen. »Was zur – was soll das?«, murrte ich. »Zählst du innerlich bis zehn oder was?« Nur Seto Kaiba schaffte es mit einem Blick, dass ich mich gleichzeitig verteidigen und ihm eine verpassen wollte, nicht kleinbeigeben und abhauen. Glaubst du wirklich, das ginge gut? »Ich bin bei siebenundvierzig«, erwiderte er trocken, was mir ein humorloses »Ha. Ha« entlockte, während er seinen Laptop in aller Ruhe aus dem Koffer zu seiner Seite auspackte, ihn auseinander klappte und anfing zu tippen, dabei nippte er an einem Kaffee in einem Becher-to-go. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete ihn. »Hör auf damit«, knurrte ich. Zuerst glaubte ich, er würde nicht antworten. Mich mit der Limo an den Stadtrand fahren und mich mitten im Nirgendwo aussetzen. Seine steinerne Mimik beruhigte mich nicht wirklich. »Womit?«, fragte er kühl. Er schrieb, nahm einen Schluck aus seinem Becher, tippte weiter. »Damit«, murmelte ich und machte eine Handbewegung, die ihn komplett einschloss. »Ich muss arbeiten, Wheeler. Anders als andere arbeite ich immer für meinen Erfolg und setze nicht auf gelegentliches Glück trotz Inkompetenz.« Meine Gelenke versteiften. Als hätte mir jemand Schrauben in jedes einzelne gedreht. »Arsch«, knurrte ich und drehte mich von ihm weg, schaute nach draußen, aber als er wieder sprach, schnellte mein Blick zu ihm. »Fühltest du dich etwa angesprochen?«, fragte er und in seinen Augen glitzerte der Spott. Ich sah es, obwohl er mich nicht direkt anschaute. Es war etwas um seine Mundwinkel. Kein Lächeln, eher ein grimmiges Zucken. »Was willst du, Geldsack? Was machen wir hier?«, wollte ich wissen und meine Ungeduld zappelte in jedem Wort. Er presste seine Lippen aufeinander und zerstörte damit das Bild des gleichgültig vor sich hin tippenden Geschäftsmannes. Seine Finger erlahmten und dann schaute er zur Seite, mich direkt an. Seine Augenbraue zuckte nach oben, doch ansonsten trug er eine Maske über jedem Muskel seines Gesichts. Mein Blick geisterte darüber und er kam mir so fremd vor, dass ich an seinem Mund hängen blieb und den Gedanken, ihm nahe gewesen zu sein, als witzlosen Witz empfand. »Die Frage ist: Was machst du, Wheeler?« Ich stierte ihn an, bohrte meinen Blick in seinen. »Was meinst du?« Er lachte kurz auf und es klang nach dem Gegenteil von Amüsement. »Du kapierst nicht, dass jeder auf der Welt alleine ist, Wheeler. Aber das ist die Wahrheit. Letztlich bleibst nur du und du musst mit deinem Leben klarkommen. Das kann keiner für dich –« »Und Mokuba?«, fragte ich. »Würdest du ihm das auch sagen?« Sein Mundwinkel senkte sich, während sein Blick nach draußen schweifte. Hochhäuser umsäumten jetzt die Sicht aus dem Fenster. Sie wanderten hinter Kaibas Kopf vorbei. »Wie würdest du bei ihm den jämmerlichen Versuch starten, dein lächerliches Verhalten zu erklären? Oder deinem Bruder? Deinen Freunden?«, flüsterte er, doch jedes Wort schlug mir in den Magen. Ich zuckte bei der Erinnerung an Yugis Miene innerlich zusammen. Ich hatte es verkackt. Ich hatte es echt und so richtig – aber diese verdammte – »Es gibt nur drei Möglichkeiten«, fuhr er fort und klang, als verhandelten wir über ein Geschäft, das ihn nicht interessierte. »Erstens. Die Flöhe auf deinem Kopf verseuchen dein Gehirn. Zweitens. Du fällst in alte Verhaltensmuster. Drittens. Du bist eifersüchtig.« Wenn ich an Sommerferien dachte, sah ich nicht Seto Kaiba vor mir, der mich über meine Gefühlswelt belehrte. Ich blinzelte. »Eifersüchtig«, krächzte ich und konnte nicht fassen, dass Kaiba dieses Wort benutzt hatte. »Ich persönlich tippe auf eine Mischung aller drei Aspekte. Wobei ich den mit den Flöhen favorisiere.« Ich verdrehte die Augen, verlor aber die Lust, ihm den Hals zu verdrehen. Dafür beschlich mich Übelkeit. »Seit wann bist du der Menschenkenner?«, spöttelte ich, aber es klang lahm. Er wandte mir sein Gesicht zu, studierte meines, als suchte er etwas. Verärgert schnaubte ich, doch er ließ sich nicht beirren. »Menschen sind mir zum Großteil gleichgültig, Wheeler.« Er nippte an seinem Kaffee und in seinen Augen glitzerte dieses Mal etwas, das als Belustigung hätte durchgehen können, wäre es nicht Kaiba gewesen. »Hündchen.« Das Wort rollte von seinen Lippen als verspeiste er Eis zum Nachtisch. Ich ballte die Hände. Da war es wieder. Das Gefühl. »Ich bin kein Hündchen!«, brauste ich auf, doch noch ehe ich meine Beleidigungen los wurde, schaffte er es, mich sprachlos zu machen. »Dann hör endlich auf, dich wie eines zu benehmen, Hündchen. Hör auf zu winseln und Yugi hinterher zu laufen. Hör auf, dich hinter ihm zu verstecken. Und bei ihm.« Es wird Zeit, dass du dich entscheidest. Für einige Sekunden starrte ich ihn einfach nur an, den Mund geöffnet. Dann sickerten seine Worte durch die dicke Schicht an Unglaube und Sturheit. Seto Kaiba, der Geschäftsmann. Der, der nur unter seinen Bedingungen Verträge schloss, der, dessen Charisma jeden erblassen ließ. Aber mich nicht einschüchterte. Nicht immer. Nicht Kaiba. Erst recht nicht. »Hast du sie noch alle? Ich lauf ihm nicht – ich –«, brauste ich auf. »Ich hab einfach grade sau viel –« »Deine Ausreden sind lächerlich, Wheeler. Erspar mir deine pathetischen Ausflüchten und fang endlich an, das zu tun, was du wirklich kannst.« Seto Kaiba. Der, der mich mit wenigen Worten mehr verletzen konnte, als eine bewaffnete Gang. »Zu winseln? Herum zu sabbern? Ein Idiot sein? Oder welche beschiss'ne Beleidigung kannst du kaum warten, loszuwerden, du bekackter, arroganter –« Er nippte an seinem Kaffee und wischte nebenbei meine Worte mit einer Bewegung seiner Hand fort, lehnte sich zu mir und ich wollte mich von ihm wegdrehen, aber tat es nicht, weil er mich hypnotisierte. Also saßen wir hier, Seite an Seite auf der Rückbank der Limousine und schauten einander in die Augen, als würde der verlieren, der zuerst blinzelte.   »Nicht der zu sein, den andere in dir sehen«, antwortete er und ich blinzelte. Kapitel 45: ... bin ein Anderer ------------------------------- __________________________________________   Ich ist ein anderer. Jean-Nicolas Arthur Rimbaud   __________________________________________           Ich  schätzte Pünktlichkeit nicht. Das war für mich keine große Sache. Wer sich verspätete, nahm halt den nächsten Zug. Das Leben bestand aus so vielen Möglichkeiten. Manchmal lohnte sich ein Umweg.   »Was meinst du damit?« Kaiba wandte sein Gesicht ab, als hätte ich ihm ins Gesicht geschlagen. Das Auto hielt. »Steig aus, Wheeler«, sagte er, doch ich machte keinerlei Anstalten. Ich streckte meine Hand nach ihm aus, wollte ihn zwingen, mich anzusehen, mir zu erklären, welche Regeln dieses Spiel hatte, das er spielte. Und seit wann wir es spielten. »Kaiba, du kannst nicht einfach –« Jemand öffnete die Tür, ich hörte das Klick, doch schenkte dem keine Aufmerksamkeit. »Steig aus!« Es wird Zeit, dass du dich entscheidest. »Was meinst du mit, ich muss mich entscheiden? Wofür?« Er sah mich nicht einmal an. »Wheeler, steig jetzt aus. Ich habe keine Zeit für deine kindischen –« Roland legte seine Hand auf meinen Rücken. Ich erstarrte. »Herr Wheeler, wenn Sie der Bitte von Herrn Kaiba folgen würden.« Ich mahlte mit meinen Zähnen, aber ich wusste, wann ich eine Runde verloren hatte. Also fuhr ich herum und hätte am liebsten mit meinem Fuß aufgestampft, aber ich tat es nicht, weil ein Wheeler das nicht wegen einem Kaiba tat. Ich stolperte aus dem Wagen und fiel nur nicht auf die Knie, weil ich mich an der Tür hielt. Roland schloss sie, umrundete das Auto und ich schaute ihm zu, mein Kopf blank, obwohl ich Kaiba so viel fragen, ihm so viele Beschimpfungen an den Kopf werfen wollte, zu viele. Stattdessen stand ich einfach da und sah zu, wie er davon brauste. Ich atmete aus und wandte mich um.   Schon von weitem machte ich Yugis Stachelkopf und Tris aus. Sie saßen nebeneinander auf einer Bank und stopften Sandwiches in sich hinein. Zumindest Tris tat es – Yugi hielt seines in den Händen und starrte auf seine Schuhe. Thea war verschwunden. Ich hätte mich freuen sollen, aber ich tat es nicht. Der Videodreh zog sich bis in den frühen Abend und ich hätte schwören können, dass ich jede Szene irgendwie verkackte. Es war mir egal. Tristan krauste seine Stirn. Yugi erwiderte meine Blicke nicht.  Das war mir nicht egal.   Wenn ich an Sommerferien dachte, dann an Weiher und Eis und lange Tage, späte Nächte, Grillabende und meine Freunde. Vormittags saß ich mit Mailo, Tai und Maya zusammen, wir zeichneten, hingen über Skizzen und Animationen. Wir diskutierten und sie gingen nicht über meine Meinung hinweg oder schauten mich an, als wäre ich bescheuert und in meinem Magen blühte Wärme. Nachmittags hing ich mit Yugi und Tris am Weiher oder wir aßen Eis hinter dem Spieleshop. Thea tauchte nicht auf. Die Ärzte bescheinigtem meinem Vater eine langsame Genesung, meine Mutter ließ mich in Ruhe, Serenity und Jacob kamen regelmäßig im Spieleladen vorbei, wo wir im Garten zockten oder Eis aßen oder beides gleichzeitig und ich hätte zufrieden mit meinem Leben sein können. Aber irgendetwas, was Kaiba gesagt hatte, kroch ab und zu in mein Bewusstsein und piekte mir zwischen meine Rippen.   »Scheiße. Alles so – so ein Idiot!«, spie ich aus und lehnte neben Tris am Baum hinten im Garten. Er seufzte und öffnete sein Wassereis mit den Zähnen. Ich starrte meines an und rupfte am Gras. Als könnte das was dafür. Wer konnte eigentlich was dafür? »Wegen?«, fragte Tristan und hakte nicht einmal nach, wen ich meinte. »Ich wollte endlich – ich wollte –«, ich raufte meine Haare, »dieser Penner, dieser –« »Was wollteste?« Ich zuckte meine Achseln. »Ich wollte beweisen, dass ich – ich weiß nicht – anders bin«, murmelte ich und atmete tief durch. »Wem?« Ich reckte mein Kinn in die Luft, blickte nach oben, wo die Blätter in der Sommerbrise rauschten vor einem Blau, das mich an etwas erinnerte. An Freiheit vielleicht. An Ferien. »Allen«, nuschelte ich. Meinem Vater. Meiner Mutter. Kaiba. Mir. Tristan nickte langsam, drückte ein Stück Wassereis weiter nach oben und nahm es zwischen die Lippen, ohne mir zu antworten. Ich sog an meinem Eis und schwieg, starrte auf meine Füße, ohne sie zu sehen. Am liebsten wäre ich in Kaibas Büro gestürmt und hätte ihm alles an den Kopf geworfen, was mir gerade durch den Kopf ging. Aber ich tat es nicht. »Und seit wann hält Kaiba dich davon ab, das zu machen, was du willst, Alter?«, nuschelte Tristan. Ich schwieg und hob meine Nase in die Sommerbrise. »Joey«, sagte Tris, unterbrach meine Gedanken, und schaute nach oben in die Ferne, »weißte, mir brauchst du eigentlich gar nichts beweisen.« Leichtigkeit sprudelte in meinen Magen und obwohl ich es nicht aussprach, wusste ich, dass Tris wusste, dass es mehr bedeutete als jedes Wort der Aufmunterung. Ich lächelte und sog an meinem Eis, lehnte mich zurück und schaute den Wolken dabei zu, wie sie über unsere Köpfe hinwegzogen. »Sag mal«, begann Tris. »Hast du in der letzten Woche mal mit Yugi gesprochen?« Natürlich. Ich sprach jeden Tag mit Yugi. Wir teilten uns immerhin sein Zimmer. Ich warf Tris einen entsprechenden Blick zu. »Ich mein wegen Thea«, fügte er hinzu und ich runzelte meine Stirn. »Hm? Nö, wieso?«, fragte ich, obwohl ich es gar nicht wissen wollte. Tris kratzte sich am Hinterkopf, streckte seine Beine aus und schaute an mir vorbei zum Haus. »Weil wir befreundet sind, Alter, erinnerste dich?« Ich hatte das Gefühl, diesen Satz schon einmal gehört zu haben, aber ich konnte meinen Finger nicht darauf legen, wann oder von wem und so schüttelte ich das Gefühl ab. Natürlich waren wir Freunde. Aber was hatte Thea damit zu tun? Ich schob meinen Mund vor und starrte auf mein Eis, ohne es anzurühren. »Sie ist eine Zicke, Besserwisserin, eine –« Tristan wedelte mit der Hand und ich verstummte. »Hast du ne Ahnung, was sie von dir denkt? Sie sieht in dir nur einen bekloppten Jungen.« Mein Blick verdüsterte sich. »Was zur Hölle sieht Yugi in ihr?« »Vielleicht fragst du ihn das einfach mal selbst.« Das Wassereis tropfte auf meine Haut. Ich verzog mein Gesicht.   Sommerferien hieß eine Pause vom Alltag. All die Menschen, die mich sonst nervten, wusste ich weit weg von mir. Stattdessen durfte ich meine Zeit mit wirklich wichtigen Menschen verbringen. Normalerweise war das eine Garantie für ein paar super gute Stunden. Stattdessen schritt ich in Yugis Zimmer auf und ab und rang meine Finger durch mein Haar. Der Gedanke, Yugi gegenüberzutreten beunruhigte mich. Mich durchbohrten zwei Gefühle. Da war Ärger – und Scham. Vor allem aber Ärger. Yugi betrat sein Zimmer. Jetzt wäre die Möglichkeit. Sachlich und erwachsen. Keine Eskalation. Ihn einfach fragen und die Sache klären, aber ich schwieg und wir taten so, als wäre es normal, dass wir nicht miteinander scherzten. Sommerferien hieß seine Probleme zu vergessen und nicht, sich darin zu suhlen. Keine Menschen, die einem die Sorgen wie Dreck ins Gesicht warfen. Nicht im Krankenhausflur zu stehen, während die Ärzte mit den Eltern sprachen. Tagelang nicht die Fragen zu stellen, die einen quälten. Nicht die Antworten zu bekommen, nach denen man gierte – und vor denen man sich fürchtete. Sie redeten mit wichtigen Mienen. Der Blick meiner Mutter fiel auf mich und sie zogen die Tür zu, während Serenity und Jacob bei mir im Flur standen und ich das Gefühl hatte, langsam auseinandergezogen zu werden. Es war so ein Sommerferientag, an dem ich normalerweise am Weiher hätte liegen sollen mit Tris und Yugi Karten spielen, mit Mokuba ein Eis essen und gegen Abend hinter dem Spielladen im Garten liegen, als meine Mutter die Tür zum Krankenhauszimmer nicht vor unseren Augen schloss, sondern mich hineinbat. Serenity horchte auf. Jacobs Blick wanderte von mir zu unserer Mutter und zurück. Ich zwang mich zu einem Grinsen, doch ich sah, dass er es mir nicht abnahm. Ich hasste Krankenhäuser. Der Geruch und dieses Weiß. Vielleicht lag es aber auch an meinen Eltern. Mein Vater lag teilnahmslos im Bett, während meine Mutter aus dem Fenster schaute. Ich trat von einem Fuß auf den anderen. Vielleicht war er doch todkrank. Vielleicht würde sie endlich wieder aus meinem Leben verschwinden. Vielleicht beides. »Dein Vater und ich haben uns aufgrund der Situation geeinigt«, begann sie und ich schnaubte. Es war mir egal. Sie sollten mich in Ruhe lassen. Ihr Leben leben, mich meines leben lassen. Ich war nicht unglücklich, wie es war. Ohne sie. Sie hob ihren Blick und sah an mir vorbei. »Du wirst zu mir ziehen.« In diesem Moment zersprang ich. Mein Magen war wie ein Gummi, das zu lange auseinandergezogen wurde und zurückschnallte und gegen Haut schnalzte und brannte. »Vielleicht wirst du die Schule besser wechseln. Es wäre eine gute Option, um –« Ich öffnete den Mund, starrte sie an und schüttelte den Kopf. »Nein«, brach aus mir hervor. »Ich komm nicht zu dir.« »Ich diskutiere nicht. Dein Vater benötigt eine intensive Behandlung und ist nicht in der Lage gleichzeitig –« »Wann war er das schon?«, brüllte ich. Mein Blick zuckte zu ihm, doch er sah mich nicht an, er starrte irgendwo an die Wand. »Joey, es wird Zeit, dass du nicht mehr der ungezogene Straßenjunge bist und –« Sie machte einen Schritt auf mich zu. Ich wich zurück. Mein Atem ging stoßweise, als wäre ich ein Gejagter. »– dein Leben auf die Reihe bekommst.« Ich zog meine Augen zusammen. »Ich brauch dich nicht dazu«, spuckte ich ihr vor die Füße, fuhr herum und stürmte heraus. Ich hörte Serenitys Rufe hinter mir und sah Jacobs geweitete Augen vor mir, aber ich stoppte nicht. Ich rannte, rannte und rannte, bis ich nicht mehr konnte.   Die nächsten Tage hingen dicke Wolken am Himmel. Hitzegewitter entluden sich bereits mittags und ich saß im Laden und half aus. Es war nichts los. Zumindest nicht drinnen. Draußen tobte der Sturm, Regen peitschte gegen die Scheiben und Donner grollte über den Dächern. Ich ignorierte das Grollen in meinem Bauch, das mich zu überwältigen drohte, wenn ich meine Augen schloss. Als die Klingel einen potenziellen Käufer ankündigte, hob ich den Blick. Thea stolzierte in den Laden, hinter ihr stolperte Yugi über die Schwelle. Yugis rechte Hand lag auf Theas Rücken, die andere mit ihrer verknotet. Mein Blick huschte zu Yugi, der lachte und Thea zu einem Lächeln brachte. Wahrscheinlich schaffte ich es nicht ganz, meine Schadenfreude zu verbergen, als ihr von ihrem Pony Regentropfen über das Gesicht liefen. Ihre Frisur hing in nassen Strähnen hinab. Es sah richtig scheiße aus. Sie lächelte. Yugi lächelte. Ich brodelte. Ihr Blick fiel auf mich und sie zog ihre Augen zusammen. »Hallo«, sagte ich, die gekünstelte Höflichkeit in jeder Silbe. Yugi murmelte eine Begrüßung. Thea nickte mir zu, dann zog sie Yugi weiter, Richtung Treppe, dort, wo der Geschäftsraum zu den Privatzimmern der Mutos führte. Ich rieb mir über die inneren Augenwinkel, als könnte ich so eine klare Sicht auf die Situation bekommen. »Hör zu«, wollte ich sagen, »ich mag dich nicht und du mich nicht, aber wir mögen beide Yugi, also lass uns irgendwie klar kommen, auch wenn ich keine Ahnung habe, was er mit dir will, du blöde Zicke –« Irgend so etwas. Ein paar Worte. Vielleicht schaffte ich es sogar, die Beleidigung herunterzuschlucken. Aber statt überhaupt etwas zu sagen, hing ich weiter über der Theke und blätterte im Magazin herum und schwieg und kämpfte gegen das Gefühl zu ertrinken. Du wirst zu mir ziehen. Ich hörte, wie jemand die Dusche anstellte und ich verdrehte meine Augen. Ich würde kotzen, wenn ich irgendwelche anderen Geräusche außer denen von Wasser hören müsste. Vielleicht wirst du die Schule besser wechseln. »Bist du langsam fertig damit?« Ich fuhr hoch. Thea stand vor mir. Allein und trocken. Sie beobachtete mich, als wäre ich ein Tier, das sie nicht einschätzen konnte. Das Wasser der Dusche oben lief noch immer. »Womit?«, fragte ich und schaute Richtung Treppe, aber Yugi stand nicht da. »Er duscht«, beantwortete sie mir die Frage, die ich nicht stellte, weil die Antwort so offensichtlich war, dass ich sie gar nicht hätte hören brauchen. Ich zuckte die Schultern. »Womit?«, wiederholte ich und fühlte, wie ich die Seiten des Hefts zwischen meinen Fingern zerknitterte. Sie lehnte sich an die Theke. Ihre Augen waren blau. Es irritierte mich und ich schaute an ihr vorbei. »So zu tun, als hättest nur du Probleme.« »Du hast keine Ahnung«, knurrte ich, »du kennst mich nicht, tu nicht so, als –« »Und du kennst mich nicht. Es geht nicht immer um dich«, schnitt sie mir das Wort ab und ich starrte sie an. Mit offenem Mund, den ich zuklappte, weil mir natürlich nichts in diesem Moment einfiel – außer Beleidigungen. Ich atmete tief durch. »Was willst du von Yugi? Und was willste jetzt von mir?«, brach aus mir hervor. Sie legte den Kopf auf eine Seite und musterte mich, als wägte sie ab, ob ich sie beleidigt hatte. »Sein Lieblingsspiel ist DuelMonsters, aber mit seinem Großvater spielt er am liebsten Mühle«, sagte sie, »er mag keine klassische Musik, aber verzieht nicht einmal das Gesicht, wenn ich stundenlang auf ein klassisches Stück trainieren muss. Wenn er lügt, dann wird er rot, aber wenn er beim Spielen blufft, zuckt er nicht mit der Wimper. Ich bin ihm wichtig«, schloss sie leise, »aber er würde dich nie im Stich lassen. Das ist umso ernüchternder, weil du ihn dauernd auflaufen lässt.« Ich starrte sie an, ihre Worte hingen in der Luft, während ich tief ein- und ausatmete. War das eine Antwort auf meine Frage? »Ich lass ihn nicht auflaufen«, erwiderte ich und versuchte mit aller Konzentration meinen Drang zu kontrollieren, sie zu beleidigen. »Weißt du, warum ich bei Seto Kaibas Kampagne mitmache?« Ich stockte. Das Gespräch mit ihr verwirrte mich. Ihre Sätze schienen nicht zusammenzugehören. Als passten ihre Gedanken nicht zueinander. Was hatte das jetzt mit ihr zu tun? Oder mit meiner Frage? Doch sie fixierte mich. »Ich mache mit, weil ich das Geld brauche, um Tanzstunden zu bezahlen. Mein Traum ist es mal, ein eigenes Tanzstudio zu haben. Ich will Tänzerin werden.« Was interessierte es mich? »Weißt du, warum Yugi bei Seto Kaibas Kampagne mitmacht?« Was hatte das jetzt mit ihm zu tun? Doch sie ließ meinen Blick nicht los. Ich legte das Heft auf den Tresen ab. Auf dem Cover prangerten DuelMonsters. Weil Yugi DuelMonsters liebte? Weil es Werbung für das größte Turnier im nächsten Jahr war? Weil Seto Kaiba ihn dazu aufgefordert hatte? Weil Yugi der beste Spieler werden wollte? Oder war er das nicht eh schon? Weil – Ich zuckte die Schultern und Thea seufzte. »Deinetwegen. Er hat zu mir gemeint, dass es für dich eine riesige Möglichkeit ist, deine Träume zu verwirklichen.« Ich spürte, wie ihr Blick mein Gesicht entzündete. »Mh«, machte ich und etwas durchzog meinen Bauch wie Spinnenweben. »Aber ich habe das Gefühl, dass du keine Ahnung hast, was du eigentlich willst. Was ist deiner? Dein Traum? Wofür machst du das Ganze? Was willst du mal sein?« Ich antwortete ihr nicht, schlug wieder das Heft auf und ignorierte sie und sie ließ mich mit den Fragen alleine.   Am Abend saß ich auf der Bettkante und knabberte auf meiner Lippe. Die Tür öffnete sich und Yugi trottete herein, nachdem er Thea verabschiedet hatte. Er murmelte eine Begrüßung, ohne mich anzusehen und schlich dann an mir vorbei zu seinem Bett, wo er sich einen Manga schnappte und sich auf die Matratze fallen ließ. »Yugi«, begann ich und verstummte. Er hob seinen Blick, blinzelte und versuchte ein Lächeln, aber es barg nicht sein sonstiges Strahlen. Als hätte ihm jemand den Glanz geraubt und übrig war nur das Spiegelbild. »Mh?«, machte er, nachdem ich nichts weiter sagte und ich straffte meine Schultern. »Was – warum – also seit wann –« Ich spürte wie sein Blick jetzt meinen Nacken verbrannte. Warum verkackte ich immer solche Gespräche? Es war doch eine absolut einfache Frage: Was zur Hölle willst du mit der blöden Tussi? Sie war arrogant und eine Besserwisserin, drückte jedem ihre Meinung auf und wenn es nicht so lief, wie sie es wollte, dann fing sie an herumzumeckern. Als müsste jeder nach ihrer Pfeife tanzen. Ich öffnete den Mund, um genau das zu sagen, aber ihre Fragen wirbelten in meinem Kopf und als Yugi in diesem Moment meinen Blick erwiderte, kam es anders. »Meine Mutter will, dass ich zu ihr ziehe«, flüsterte ich. »Ich soll die Schule wechseln.« Seine Augen weiteten sich, ich schluckte und er legte mir seine Hand auf die Schulter. Wir schwiegen. Schulter an Schulter saßen wir auf dem Bett. Er starrte durch das Fenster nach draußen, ich an die Wand, blinzelte ab und an zu ihm und wollte etwas sagen, aber ich wusste nicht was oder wie, also ließ ich es. »Und was willst du?«, fragte er in den Raum. Ich senkte meine Schultern, starrte auf meine Füße, dann meine Hände. Ich wollte nach Hause. Aber das Zuhause, wohin ich wollte, gab es schon lange nicht mehr. Viel länger als der Brand her war. Und ich lief vor den Konsequenzen davon. Hör auf zu winseln und Yugi hinterher zu laufen. Hör auf, dich hinter ihm zu verstecken. Und bei ihm. Mein Blick schweifte von Yugi zu seinem Schreibtisch. An der Pinnwand darüber hingen Bilder von uns und die ein oder andere Zeichnung, die ich angefertigt hatte. Wir lachten auf den Fotos. Was Yugi und ich schon gemeinsam geschafft hatten, die vielen Situationen, in denen wir uns gemeinsam hochgezogen, die vielen Stunden, in denen wir im Garten unter dem Baum gelegen und erzählt hatten, die ganze Zeit, in der wir miteinander alle möglichen Spiele im Laden gezockt hatten und die Augenblicke, in denen wir uns begannen zu verändern. Ich kann euch das Spiel zeigen! Willst du – willst du es lernen? Das Spiel? Das Kartenspiel meine ich. »Es tut mir leid, Yugi. Ich war son Idiot«, murmelte ich. Wie erklärte man es, dass man das Gefühl hatte, jemand anderes gewesen zu sein? Er lehnte sich vor, hob seinen Blick und sah mich von unten heraus an. »Das stimmt«, erwiderte er, aber so, wie es nur Yugi fertig brachte. Ohne Trotz. Ohne Vorwurf. Er lächelte. Es war kein Strahlen, der Funken in seinen Augen schwach. Aber er lächelte und das Gefühl, einen Knoten im Magen zu haben, entwirrte sich. Es wird Zeit, dass du dich entscheidest. »Und jetzt?«, fragte Yugi. »Was ist dein Plan?« Er schaute mich mit seinen großen Augen an und ich drückte meinen Rücken durch. Vielleicht war es das. Nicht mehr die Zeit, zurückzublicken. Nicht mehr zu bedauern, was ich verloren hatte, sondern Zeit, die Dinge anzupacken und das zu verändern, was ich verändern konnte. Mich nicht mitreißen lassen und mich zu bemitleiden, sondern aufzustehen und selbst Entscheidungen zu treffen. Wofür machst du das Ganze? Was willst du mal sein? Was willst du mal werden? Yugi glaubte an mich. »Was denkst du, wie arg mir Kaiba in den Arsch treten wird wegen der Videodreh-Sache?«, fragte ich und legte mein Finger ans Kinn. Yugi brach in Lachen aus und ich runzelte die Stirn. Er hatte Recht. Ich war wirklich am Arsch. Aber ich grinste. Wann hatte mich das schon am Boden liegen lassen? Mein Blick wanderte zurück zu den Fotos. Ein Drehbuch von irgendeinem fremden Anzugsträger könnte das nie schaffen wiederzugeben – all das, was wir waren. Meine Augen weiteten sich. »Ich hab'ne Idee«, begann ich langsam und Yugi betrachtete mich mit hochgezogenen Brauen, während ich Tristans Nummer in mein Handy hackte und danach Mokubas und Sarahs. »Los. Ruf Thea an«, murmelte ich und grinste schief.   Ich stand oft auf dem Schlauch und begriff Dinge erst später, aber manchmal lohnte sich ein Umweg. Es waren nicht die schlechten Dinge, die alltäglich um uns passierten, die uns definierten, sondern die Dinge, die wir daraus machten. Gozaburo konnte Kaiba nicht stoppen. Kaiba hatte aus einer Kriegsfabrik eine Firma gemacht, die Spielzeug herstellte. Und mich würde meine Mutter auch nicht aufhalten. Und erst recht würde ich mir nicht selbst im Weg stehen.   Am nächsten Tag liefen wir mit Kisten durch den Haupteingang der Kaiba Corporation. Geschäftsmänner mit Aktenkoffern starrten uns an, die Angestellten folgten uns mit Blicken und ich war mir sicher, dass uns die Security nur deshalb nicht hinausschmiss, weil Mokuba uns mit einer Kiste vor der Brust anführte. »Bist du dir sicher, dass das so ne gute Idee war, Kumpel?«, murmelte Tristan links von mir und sah aus, als wollte er hinter seinem Karton verschwinden. »Mach dir net ins Hemd«, erwiderte ich und streckte mein Kinn. »Ich denke, die Idee ist nicht schlecht«, fügte Thea hinzu und Yugi lächelte mir zu. Ich grinste schief. Mokubas Mimik schwankte zwischen Amüsement und dem Ausdruck, wenn man etwas dabei war zu tun, das man zum ersten Mal tat – und es aufs Tiefste genoss. In meinem Bauch machte sich ein Kribbeln breit. Sarah empfing uns im Stockwerk der Animation Studios der KC und ließ ihren Blick über uns, die Kisten und Kartons vor der Brust, schweifen. Sie rückte ihr Hütchen zurecht, lächelte und meinte nur: »Ich freue mich schon auf sein Gesicht.« Maya und Mailo begrüßten uns und wir stapelten unser Zeug um einen der Tische.   Sommerferien hieß eine Pause vom Alltag. Ich durfte meine Zeit mit wirklich wichtigen Menschen verbringen. Wir hingen über den Kisten und kramten in alten Fotoalben, spulten uns durch Videoaufnahmen und durchstöberten Digitalfotos auf dem PC. Wir lachten, erinnerten uns daran, wer wir früher waren und manchmal schämte ich mich. Wir erzählten, teilten Geschichten und Thea lachte mit uns und Yugi schaute mich an und ich war nicht unglücklich. »Woha! Wer hat'n das Bild gemacht?« Tristan fuchtelte mit seinen Händen vor dem Bildschirm. Das Digitalfoto zeigte uns in Yugis Garten. Uns klebten Zettel auf der Stirn, während wir dieses Spiel spielten. Yugi lachte, während ich scheinbar mit Kaiba diskutierte. Mokuba strahlte. Tristan schlug sich die Hand gegen die Stirn. Yugis Großvater musste uns festgehalten haben. Meine Augen klebten am Bildschirm. Ich erinnerte mich an den Abend, als wäre ich ein Anderer gewesen, dabei war es gar nicht so lange her. Das nächste Bild zeigte mich und Kaiba. Ich lachte darauf. Und er – er schaute nicht wirklich so, als wollte er mich im nächsten Moment umbringen. »Das Bild muss mit rein«, bestimmte Mokuba. Yugi nickte. Thea nickte. Ich konnte den Kopf nicht schütteln. Bilder, auf denen wir am Weiher lagen, Karten spielten. Thea war mit drauf. Fotos, die Yugi und sie zeigten. In der Stadt, in einer Art Turnhalle. Videoclips. Sie tanzte und Yugi feuerte sie an. Aufnahmen. Während Yugi eine Runde zockte und sie feuerte ihn an. Hatte ich das alles echt übersehen? Die ersten Mitarbeiter verabschiedeten sich und machten Feierabend. Mokuba schnitt Clips am PC zurecht. Sarah scannte und diskutierte dabei mit Thea. Yugi sortierte Fotos. Tristan blieb neben mir stehen und klopfte mir auf die Schulter, ohne etwas zu sagen. Etwas in meinem Bauch hüpfte, dann animierte ich weiter mit Mailo. Mokuba verabschiedete sich irgendwann. Sarah zog sich in ihr Büro zurück. Wir arbeiteten die Nacht durch. Meine Augen brannten. Ich gähnte, rieb mir über die Nase, streckte mich und beugte mich erneut über den Bildschirm. Yugi und Thea verließen das Studio nach Tristan und Maya. Ich blieb. »Joey, du solltest auch nach Hause gehen«, brummte Mailo neben mir. Ich schüttelte den Kopf. »Es ist fast fertig«, beharrte ich. Die Dächer reflektierten das Orange, die Wolken überzog ein Rotstich. Von hier oben hatte man den perfekten Blick auf Domino. Kaffeeduft stieg mir in die Nase. Ich fuhr hoch. An meiner Wange hing eines der Bilder. Blicke streiften mich und ich fuhr mir durchs Haar. »Hey, Joey«, begrüßte mich Maya und grinste. »Gut geschlafen?« Mein Nacken beantwortete die Frage. Ich stöhnte. »Verdammt! Wie – wie viel Uhr ist's?« »Kurz nach neun – hey, was –?« Ich sprang auf, speicherte das Video auf einem USB-Stick und stürmte davon. »Und was ist mit den ganzen Kisten?«, fragte Maya. »Später, später!«, rief ich über meine Schulter. Ich rannte durch den Gang, riss fast einen Mann im Anzug mit, entschuldigte mich und stürmte weiter. Ich quetschte mich in den Aufzug und spürte die Blicke, die sich in meinen Nacken brannten. Mein Haar stand wirr vom Kopf, mein T-Shirt klebte an meiner Haut. Ich musste aussehen, als wäre ich wo ausgebrochen. Aber es war mir egal, was die dachten. Warum betätigst du dich kreativ, Schätzchen? Weil man manche Dinge nicht sagen konnte, aber zeigen. Ich fuhr bis in die oberste Etage und stolperte in den Flur, joggte bis vor Kaibas Büro und ich riss die Tür auf, ohne zu klopfen. »Ich weiß, ich bin spät dran«, verkündigte ich, »aber wir ham's geschafft.« Ich streckte den USB-Stick in die Luft, als würde der jede weitere Erklärung überflüssig machen. Was meinst du mit, ich muss mich entscheiden? Wofür? Nicht wofür. Es war wichtig, den Arsch hochzukriegen und sich selbst zu entscheiden. Nicht entscheiden zu lassen. Das Leben bestand aus so vielen Möglichkeiten. »Wheeler!« Kaiba schaffte es, dass es sich gleichzeitig nach einem Ausrufe- und Fragezeichen anhörte, während seine Finger über der Tastatur schwebten und seine Augenbrauen fast unter dem Pony verschwanden. Sein Anzug, seine Krawatte, sein ordentliches Haar, sein makelloses Auftreten. Dagegen ich. Brennende Augen, als wäre ich ein Drogenabhängiger, das Haar wie ein verlassenes Vogelnest. Abgetragenes T-Shirt, abgewetzte Shorts. Nicht einmal Zähne geputzt von der durchgemachten Nacht. Der hat es verdient. Der hat was aus sich gemacht. Der ist halt nicht son Verlierer wie wir. »Was zur – Wheeler. Du hast keinen Termin. Ich habe keine Zeit für deine infantilen Anfälle, die –« Nicht der zu sein, den andere in dir sehen. »Das hier«, unterbrach ich ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, stützte mich auf seinem Bürotisch ab und beugte mich zu ihm, während ich den USB-Stick zu ihm schob, »ist unsere Werbekampagne.«   Ich hatte mir ständig Gedanken darum gemacht, was andere in mir sahen. Aber die wichtige Frage war nicht mehr, wer ich gewesen war, sondern wer ich sein wollte. Kapitel 46: … bin zweite Wahl ----------------------------- __________________________________________   Erste Wahl ist, wer die falschen Entscheidungen am intelligentesten vertritt. © Stefan Schütz    __________________________________________           Ich lebte in meiner eigenen Welt  – einer voller Schule, Freunde, Feste, Gespräche über die Freundin des Kumpels des Cousins. Dazwischen versuchte ich das ganze abgefahrene KC-Leben auf ein Minimum zu begrenzen – Aktien, Meetings, Medienrummel, Angestellte und Sekretärinnen. Ich war immer hier, nie schon beim nächsten Schritt, der nächsten Kalkulation, dem nächsten Meeting. Ich stolperte von einer Deadline zur nächsten. Und manchmal verpasste ich deswegen die wichtigen Pläne für die Zukunft. »Sieht nach einem ordinären USB-Stick aus«, dann rümpfte er die Nase, »auf dem jemand herumgekaut hat«, erwiderte Kaiba und ich verdrehte die Augen. »Steck es halt in deinen –«, ich stockte kurz und grinste, als er seine Augenbrauen hob und jede Furche auf seiner Stirn mich dazu provozierte, den Satz anders zu beenden. »Computer«, schloss ich gedehnt. Er lehnte sich in seinem Bürosessel zurück und die Fingerkuppen aneinander und betrachtete mich. Sein Blick wanderte von meinem Haar über mein Shirt zu meinen Hosen. »Du siehst aus, als hättest du nicht geschlafen.« »Hab ich nicht«, antwortete ich und zappelte vor Ungeduld. »Jetzt schau's dir endlich an, Alter!« Kaiba verengte die Augen, als ich ihm in seinem Büro Befehle gab und wahrscheinlich wog er innerlich ab, ob er mich einfach hinauswerfen sollte, aber als ich mich auf die Akten setzte, die vor ihm auf dem Schreibtisch ausgebreitet lagen, und den USB-Stick mit dem PC verband, erwürgte er mich nicht von hinten. Ich nahm es als Erlaubnis. Während das Video lief, starrte ich ihn an. Meine Augen brannten, meine Finger zitterten vor Müdigkeit und in meinem Bauch wühlte eine Übelkeit, wie bei einem Kater. Ich war so erschöpft, dass ich die Müdigkeit nicht mehr spürte, stattdessen stieg mir Adrenalin zu Kopf. Die Welt gehörte mir. Wenn man an sich glaubte, konnte man alles schaffen. Niemand würde mich aufhalten. Ich hatte es geschafft. Ich saß hier vor Kaiba (auf dessen Schreibtisch), Domino uns zu Füßen und in ein paar Wochen, wenn die Kampagne anlief, würde jeder meinen Namen kennen. Ich würde reich werden und wäre frei. Ich wäre unabhängig. Niemand würde mir mehr Vorschriften machen können. Ich würde mir ein Apartment suchen und hier zur Schule gehen und meine Geschwister würden mich besuchen und Tris und Yugi und Mokuba kämen vorbei und wir würden Nächte durchzocken und – »Mhm.« Das Geräusch aus Kaibas Mund versetzte mir einen Schlag auf den Kopf und riss mich aus meinen Visionen. »Was soll das heißen? Mhm?«, brummte ich. »Wir haben die ganze verdammte Nacht –« »Joseph Wheeler arbeitet einmal eine Nacht durch und glaubt, damit hätte er sein Soll erledigt «, unterbrach er mich unwirsch. Der Spott in seinem Ton zerrte an meinen Nerven. »Verschwinde. Ich habe mich mit wichtigen –« »Das ist wichtig!«, widersprach ich ihm, verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihn an. »Hervorragend«, meinte er und es war offensichtlich alles andere als das. Sarkasmus zupfte an jeder Silbe des Wortes. »Entschuldige, wenn ich bei deinen dauernd wechselnden Prioritäten nicht auf dem Laufenden bin.« Er schob mich zur Seite, ich rutschte von der Schreibtischkante und er tippte weiter auf seinem Computer. »Sarah wird sich bei dir melden. Ich habe genug Zeit mit dir verschwendet.« Kaibas Bemerkung versetzte mir einen Stich, den ich unter Prügel abgestritten hätte. »Was ist jetzt mit –« »Wheeler«, raunte Kaiba und sein Ton klang, als spräche er mit einem Vorschüler, ohne mich anzusehen. Sein Blick klebte auf den Bildschirmen, er zog Dokumente heran, warf Blicke auf irgendwelche Graphen und Zifferfolgen. »Die Deadline für deinen Beitrag war bereits vor drei Tagen. Das Videomaterial war unbrauchbar. Ich werde nicht mehr Zeit und Geld investieren, um mich mit deinen Launen auseinanderzusetzen. Nächste Woche wird die Kampagne von Herr Le während der Konferenz vorgestellt. Damit endet unsere –« »Vorgestellt?«, echote ich und mein Hals verengte sich. »Moment, heißt das –« »Herr Le wird sein Projekt präsentieren.« Kaiba verkündete das, als wäre es keine große Sache, als hieße das nicht, dass ich fiel und fiel und fiel – von dem Ausblick über Domino zurück in die Gosse. »Herr Le hat ein Projekt für – für die Werbekampagne?« Ich hatte das Bedürfnis, die nächste Wand zu zertrümmern. »Die Welt wartet nicht auf dich«, spöttelte Kaiba. Er hätte mir auch einfach eine Backpfeife verpassen können. Ich hatte das Bedürfnis, mich in meinem Bett unter einer Decke einzurollen. Das Klackern der Tastatur bohrte sich in meinen Kopf und hämmerte von innen dagegen. »Das –« Ich würde bei meiner Mutter enden. Ich hatte verloren. Mir wurde heiß und kalt. Das Brennen meiner Augen breitete sich bis in meine Zehen aus. Herr Le hatte mein Video in die Tonne geklopft, ohne es jemals zu Gesicht bekommen zu haben. Ich war aus dem Konferenzsaal herausgeschmissen worden, ohne ihn nochmals zu betreten. Ich sparte mir die Blicke, die sagten »Wussten wir es doch. So ein Versager«, während Kaiba und Sarah mich hochkant aus der KC kickten und jedes Dokument mit meinem Namen verbrannten, aber es fühlte sich an, als schlitzte sich jeder dieser Blicke gerade in meine Haut. Jedes Wort, das sie tuscheln würden. Ich ballte meine Hände. »Und seit wann hält Kaiba dich davon ab, das zu machen, was du willst, Alter?« »Nein«, murmelte ich. »Wheeler«, knurrte er. »Hau endlich ab. Deine –« »Nein«, rief ich. »Ich – lass mich nicht –«, dann klappte eine Idee vor meinem geistigen Auge herunter, »lass mich unser Video vorstellen! In der Konferenz!« Kaibas Blick versenkte sich in meinem. Er verengte die Augen. »Lass sie abstimmen oder so«, fuhr ich fort, überrumpelt von seiner ungeteilten Aufmerksamkeit. »Wenn sie unser Video kacke finden, dann nimm halt Herrn Les. Und wenn nicht. Dann nimm nicht die zweite Wahl!« In Kaibas Augen glühte ein Funken. Er lehnte sich zurück, legte seine Hand an das Kinn und fixierte mich, als schätzte er ab, wie viel ich bei einer Auktion einbringen würde. »Glaubst du wirklich, dass das gut gehen könnte?«, höhnte er. Es kam mir vor wie ein Déjà-vu. »Glaubst du wirklich, du hättest gegen Herr Le eine Chance?« Ich hasste Anzüge und Präsentationen. Ich hasste es, wenn mich Leute anstarrten und der Konferenzsaal brachte mich dazu, in Schweiß auszubrechen. Ich hatte keine Chance. Aber meine Stärke war, Herrn Lee trotzdem in die Augen zu sehen. Selbst während ich unterging. »Ja«, behauptete ich und reckte mein Kinn. Er wusste, dass es eine Lüge war und schnaubte, wandte seinen Blick ab, fuhr fort mit seinem ewigen Herumgetippe und ich stand neben seinem Bürotisch, als hätte mich jemand gerufen und wäre einfach abgehauen. Aber dann – ohne aufzusehen – durchbrach er die Stille erneut. »Die Konferenz ist Dienstag um neun Uhr.« Meine Augen weiteten sich. Mein Herz hämmerte zwischen den Rippen und ein Zittern schoss in meine Beine. »Okay«, erwiderte ich und trat von einem Fuß auf den anderen. Stille. Das Klickern der Tastatur. Mein Atemzug. Meine Gedanken schwirrten wie Bienen durch mein Hirn, das wie auf Zeitlupe gestellt war. »Und jetzt?«, hakte ich nach. Er fasste an seine Stirn und seufzte. »Geh, Wheeler. Schlaf. Und nimm eine Dusche.«   Am nächsten Tag saß ich in der Mittagspause im Garten hinter dem Laden und biss in einen Döner. Schmatzend weihte ich Tris und Yugi ein. Thea saß auch dabei. Während Tris am Baum lehnte so wie ich, saßen uns Thea und Yugi gegenüber. Ihre Hand ruhte in seiner. Ich schaffte es, nicht die Augen zu verdrehen. »Das ist wirklich dein Plan?«, wollte Tristan wissen und hielt seinen Döner, als hätte er vergessen, das er beim Essen war. »Absolut. Ich kick den in seinen Arsch und werd reich und werd mir eine Wohnung mieten. Easy.« Tristan sog die Luft zwischen seinen Zähnen ein. Yugi legte seinen Kopf schief. »Und dieser Herr Le ist der Hauptabteilungseiter des Marketings in der Zentrale der KC?«, hakte er nach. »Jop.« Ich zuckte die Schultern. Und Kaiba war der Chef von allen. Nicht, dass es mich je davon abgehalten hätte, etwas zu tun oder zu sagen. Ich würde nicht den Schwanz einziehen, nur weil Herr Le erfahrener war, seine Rhetorik meiner bei weitem überlegen oder sein Anzug besser saß als meiner. Den ich nicht einmal wirklich besaß. Ich verzog meinen Mund. Zweifel krochen über meine Nerven und ich schluckte, dann schüttelte ich meinen Kopf, als wäre es möglich, die Gedanken so loszuwerden und stieß meine Faust in die Luft, in der anderen Hand der Döner. »Aber der macht nur so Kommerz und ich – ich mein – es ist unser Video, verstehst du?«, erklärte ich und fuchtelte mit der Hand. Yugi und Tris tauschten einen Blick. »Eben«, unterstützte mich in dem Moment die Person, die ich ausgeblendet hatte. Meine Brauen schossen in die Höhe, als Thea mir zunickte und ihre Augen dabei funkelten. »Es ist ein Produkt der Freundschaft!«, stimmte sie zu und Tristan biss in seinen Döner, um sein Lachen zu ersticken. Sie bemerkte es trotzdem und warf ihm einen missbilligend Blick zu, dann hob sie ihr Gesicht, schaute von Yugi, über Tristan zu mir und ihre Lippen bogen sich nach oben, bis ihr Lächeln mich nicht mehr an eine schräge Puppe erinnerte, sondern ihre Augen strahlten. »Wir haben unsere Träume, unsere Hoffnungen und unsere Stärke in das Video gesteckt. Du wirst das schon schaffen, Joseph«, sagte sie und ließ keinen Zweifel daran, dass sie echt glaubte, was sie aussprach. Ich gaffte sie an, dann schloss ich meinen Mund und rieb mir den Hinterkopf. »Joey«, murmelte ich, »nenn mich Joey.« Sie nickte mit einem Lächeln.   Die nächsten Tage bastelten wir an meiner Präsentation. Wir verwarfen die Powerpoint-Version, denn Herr Le würde mich in so etwas mit links übertrumpfen, und beschränkten uns auf das, was ich wirklich rüberbringen wollte. »Wir sollten es zusammen vorstellen«, schlug ich vor. »So als Freunde halt. Ich mein –« »Du klingst schon wieder wie Thea«, murmelte Tris. Ich verpasste ihm einen Seitenhieb, Thea gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. Dann brachen wir alle in Lachen aus.   Einen Tag später saßen wir am Weiher. Wir lieferten uns eine Wasserschlacht, die Thea zum Quietschen brachte und Yugis Frisur ihm wie einen Mob auf die Stirn klatschte. Serenity schaffte es irgendwie Jacob zu tunken und es faszinierte mich, wie selbstsicher sie sich bewegte, als könnte sie sehen. Tristan schien nicht weniger begeistert von ihr. Ich verpasste ihm einen Schlag auf den Hinterkopf. »Alter, sie ist meine Schwester!«, raunte ich ihm ins Ohr, während ich ihn im Schwitzkasten hatte. »Ja, eben«, keuchte er. »Deine, nicht meine.« Ich schnaubte und trottete klitschnass an das Ufer und zog eine Coke aus dem Rucksack. Tris folgte mir und ich warf ihm eine Dose zu, während er sich durchs Haar fuhr und ungeniert Serenity beobachtete. »Tristan«, knurrte ich. »Ist ja gut. Werd nicht eifersüchtig, Kumpel, ich bin immer noch voll und ganz dein«, erwiderte er mit einem fetten Grinsen und ich verdrehte die Augen. Wir saßen am Ufer. Die warme Brise strich durch unser Haar, über unsere Arme und Beine hinweg und Vögel sangen oben in den Baumkronen, die lange Schatten warfen. Theas Lachen übertönte kurz die Vogelstimmen und Jacob landete mit einem Platsch im Wasser. »Okay, ich hab jetzt mal voll die verrückte Idee«, erklärte Tris und ließ sich neben mich an das Ufer fallen. »Warum ziehst du eigentlich nicht einfach bei Kaiba ein? Der hat doch genug Platz und wenn du eh für ihn arbeitest, ist das –« Ich starrte ihn an. Mein Mund geöffnet. Dann brach ich in Lachen aus. »Ist das dein Ernst?«, zwang ich zwischen meinen Lippen hervor und hielt meinen Bauch. Tristan zuckte die Schultern, während sein Blick an Serenity klebte. »Ich mein, nur bis du das Geld für die Kampagne kriegst.« »Falls«, murmelte ich. Seine Hand fiel auf meine Schulter und packte sie und drückte kurz zu. »Wir schaffen das morgen schon, du Depp.« »An deinen Aufmunterungen musste noch arbeiten«, brummte ich, aber ein Grinsen stahl sich über meinen Mund. Ich beobachtete, wie meine Geschwister gegen Thea und Yugi eine Wasserschlachtoffensive starteten. »Würd nicht gutgehen. Und will nicht ins Gefängnis«, erwiderte ich nach einer Weile ernst. »Und bin zu jung zum Sterben.« Tris legte seinen Kopf schief und seine Stirn in Falten. »Hä?«, machte er und schaute mich verdattert an. Ich seufzte. »Ich glaub, einer von uns würd den anderen erwürgen«, erklärte ich und zuckte die Achseln, als wäre es offensichtlich. Ich reckte mein Gesicht gen Himmel und sah, wie zwei Vögel über uns hinwegzogen. »Außerdem will ich«, ich stockte, denn ich wollte so viel und ich wusste nicht, wie es in wenigen Worten ausdrücken sollte, ohne mich zu blamieren. »Ich will's selbst schaffen. Ich will mich nicht hinter ihm verstecken. Verstehste?« »Mh. Ja, ich glaub, das macht Sinn. Obwohl es von dir kommt.« »Ja, find ich – hey!« Ich wollte ihm einen Rippenstoß verpassen, aber er war zu schnell und grinste, sprang auf und rauschte zurück ins Wasser. Ich jagte ihm hinterher.   Der Morgen am nächsten Tag ließ meinen Kopf schwirren, als hätte ich einen Kater. Als Yugi mich rüttelte, glaubte ich einen Moment, ich würde mich übergeben. »Du solltest was essen, Joey. Lass uns frühstücken«, behauptete er. Mein Magen widersprach. Wir saßen schweigend auf der Eckbank in der Küche. Ich kaute auf meinem Brot, als wäre es Gummi und Yugi lächelte mir immer wieder zu, aber in seinen Augen lauerte etwas, das seine sonstige Sorglosigkeit verdunkelte. Mein Magen rebellierte. Yugis Großvater legte seine Hand auf meine Schulter und lächelte mich an, aber ich schwieg und wünschte mir, ich könnte seinen Optimismus teilen. Tristan und Thea stießen vor dem Spielladen zu uns. Statt unserem sonstigen Geplänkel trotteten wir kaum ohne ein Wort auf den Lippen nebeneinander her. Meine Finger krallten sich um den USB-Stick in meiner Hosentasche.   Die Zentrale der Kaiba Corporation schien den Himmel zu berühren. Ein Platz, in dessen Mitte ein Brunnen mit dem Weißen Drachen thronte, führte zum Haupteingang. Bäume säumten den Weg und Blumen – nur weiße und blaue Blüten. Kaiba schaffte es, sogar mit der Dekoration vor seinem Unternehmen ein Statement zu machen. Die Sonne strahlte und Männer in Anzügen schritten neben Frauen in Businesskostümen an uns vorbei. Tristan legte seinen Arm um meine Schulter. »Alter, kipp nicht um«, raunte er in mein Ohr, ich grinste. Aber es sah sicherlich aus wie eine Grimasse. Wer die Kaiba Corporation betrat, tauchte in eine Welt ein, in der Kleidung, Ansehen und Geld die Reputation definierten. Alles an dem Gebäude, sogar die Blicke der Menschen drinnen, sprachen das aus. Sie behaupteten, besser zu sein, weil ihre Anzüge so teuer waren, wie die Monatsmiete von Tristans Familie. Weil sie Jobs hatten, in denen sie mehr verdienten, als sie ausgeben konnten. Weil sie in Büros saßen, die sie über Domino blicken ließen und über jeden einzelnen verdammten Einwohner. Weil sie ihnen auf die Köpfe hätten spucken können. »Ah, Herr Wheeler.« Die Empfangsdame stieß mich aus meinen Überlegungen. Sie musterte mich, dann meine Freunde und ließ ihren Blick anschließend über einen Bildschirm hinter ihrem Desk wandern. »Sie werden erwartet.« Es klang in meinem Kopf nach »Willkommen auf Ihrer letzten Reise«. Aber wenn mich dabei Yugi und Tris und meinetwegen eben auch Thea begleiteten, dann – Ich nickte, grinste schief und reckte mein Kinn.   Im Aufzug klebten Blicke auf uns. In den Gängen tuschelten Mitarbeiter, wenn sie an uns vorbei waren und steckten die Köpfe zusammen. Manche schauten von oben herab, andere mit Bewunderung. Sie registrierten unsere Jeans und die T-Shirts und dass wir nicht älter sein konnten als siebzehn. Aber niemand hielt uns auf. Und ich schwor mir, dass uns auch nicht Herr Le aufhalten würde. Nicht, ohne eine letzte Chance. »Was kann schon passieren?«, murmelte ich vor mich her. »Wir blamieren uns und können niemals in irgendeinem Geschäft arbeiten, das nur im Entferntesten mit der Kaiba Corporation in Verbindung steht? Wir werden fertig gemacht und die reichsten und einflussreichsten Menschen dieser Stadt werden sich hinter unseren Rücken über uns amüsieren, weil die alle unter eine Decke stecken und irgendwie davon erfahren werden?«, schlug Tristan vor. Thea gab ihm einen Schlag auf den Hinterkopf. Yugi griff nach ihrer anderen Hand und beruhigte sie. »Aber«, wandte ich nach einem Moment ein, während wir durch den Gang schritten, im was-weiß-ich-wievielten Stock über Domino und aus der verglasten Front hinunter schauten, und ein Grinsen breitete sich auf meinen Wangen aus, »sie werden uns nicht vergessen. Die reichsten und einflussreichsten Menschen der Stadt werden unsere Namen kennen.« Es klang wie ein Versprechen.   Sarah zog mich in ihrem Büro in die Arme und danach jeden meiner Freunde. »Hier, wollt ihr euch schick machen?«, fragte sie mit einem Blick in die Runde. Die Feder in ihrem Hut wackelte dabei aufgeregt, während sie auf einen Haufen verpackter Anzüge deutete. Ich wusste nicht, wo sie die aufgetrieben hatte, aber ich traute ihr zu, extra für solche Gelegenheiten, irgendwo einen geheimen Schrank zu haben. Noch bevor wir ihr antworten konnten, schüttelte sie den Kopf. »Nein, nein, nein«, widersprach sie uns, obwohl niemand etwas gesagt hatte, »das braucht ihr nicht. Ihr seid mehr als schick genug.« Sie lächelte uns an und petzte mir in meine Wange und obwohl ich eine Grimasse schnitt, schwebte etwas in meinem Bauch. »Geht schon mal vor, meine Lieben! Ich komme gleich nach.« Und rammte zurück auf den Boden.   Meine Beine machten Schritte, als gehörten sie zu einem mies zusammengebauten Roboter. Tristan laberte irgendetwas und ab und zu machte ich »Mh« oder »Mhm«, aber ich hätte nicht einmal seinen letzten Satz wiedergeben können. Meine Finger verkrallt in meine Hosentaschen und in meinem Magen ein Loch, blieb ich stehen. »Ich schwör – wenn du mir auf die Schuhe kotzt –«, flüsterte Tristan und ich warf ihm einen düsteren Blick zu. Er verstummte. Wir standen in dem Gang, vor uns eine Tür aus Milchglas. Ich hatte mir den Eingang zur Hölle immer anders vorgestellt. Hinter uns trat Yugi von einem Fuß auf den anderen und Thea murmelte etwas vor sich her. Meine Hand lag auf der Türklinke, aber ich drückte sie nicht herunter. In meiner Hosentasche spürte ich das Gewicht des USB-Sticks, als wäre er ein Ziegelstein. Wenn ich das vermasselte, wenn ich es nicht schaffte, wenn ich – »Los, Joey«, durchschnitt Yugis Stimme meine Gedanken. Ich schaute auf. Seine großen Augen verengten sich, während er lächelte. Thea fuhr sich durch ihr Haar, atmete tief durch und nickte mir dann zu. Tris legte seine Hand auf meine und drückte gemeinsam mit mir die Tür auf.   Es heißt, dass der erste Eindruck nach drei Sekunden feststeht. In dieser Zeit bilden sich Menschen eine Meinung übereinander und glauben zu wissen, mit wem sie es zu tun haben. Als ich und meine Freunde in den Konferenzsaal schritten – mehr stolperten, als eintraten – lagen sofort alle Blicke auf uns. Kaiba war noch nicht da, aber Herr Les Blicke stachen wie Nadelspitzen durch mein Shirt. Es war nicht schwer zu erraten, was er dachte – was jeder hier dachte. Ich atmete tief durch und setzte mich an den Konferenztisch. Yugi und Thea zögerten, Tris machte es mir als erster nach. Die nächsten zwölf Minuten – ich starrte auf eine Uhr an der Wand – dehnten sich wie Kaugummi an einem Turnschuh. Die Anzugsträger um uns herum tuschelten, starrten uns an, als wären wir Bakterien, die sich bei ihnen festgebissen hatten. Konnten sich Bakterien festbeißen? Hatten Bakterien Zähne? Mit einem Ruck glitt die Tür auf und Kaiba trat ein und durchschnitt die Gedanken in meinem Kopf. Stille. Hinter ihm traten Fabienne Mathieu und Sarah ein, die mir beide zulächelten. Mein Blick huschte zu Herrn Le, der seine Stirn in Falten legte. »Halten Sie diese Angelegenheit kurz«, natürlich hielt sich Kaiba nicht mit Begrüßungen oder Floskeln auf. Er stand am Kopf des Konferenztisches und ließ seinen Blick über uns gleiten – geradezu gelangweilt. Als rechnete er damit, dass wir seine Zeit nur verschwenden würden. Herr Le erhob sich, mit ihm zwei seiner Kollegen. »Natürlich, Herr Kaiba.« Seine Präsentation fehlerlos. Seine Rhetorik makellos. Seine Darstellung war perfekt. »Und die Werbevideos wären problemlos zu produzieren?«, hakte Kaiba nach. Herr Le stellte seinen Businessplan vor. Werbestrategien, Finanzierung, Produktionskosten. Graphen und Zahlen und Symbole, die ich schon irgendwo gesehen hatte, die mir aber nichts sagten und Bilder von glücklichen Menschen, die in die Kamera strahlten. Mir wurde schlecht. »Auf jeden Fall, Herr Kaiba.« Kaiba hatte keine andere Antwort erwartet. Die Anwesenden klopften zum Abschluss der Präsentation mit ihren geballten Fingern auf die Tische. »Wheeler.« Mein Name aus seinem Mund ließ mich hochfahren. Zum ersten Mal, seit er den Saal betreten hatte, schenkte er mir einen Blick – mehr als den, der vage über mich hinwegflog. Ich schluckte und stand langsam auf. Alle Augen richteten sich auf mich. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Ich war ein Vollidiot. Neben mir erhoben sich Tris, Yugi und Thea. Ich konnte nicht atmen, ich konnte nicht sprechen, ich würde da vorne stehen und jedem beweisen, dass es stimmte, dass das, was sie über mich dachten, zutraf. »Ja, also –«, begann ich und dehnte jede Silbe, zerschnitt die Sätze mit »ähm«s und »öhm«s und kaute auf meiner Lippe, die Hände in den Hosentaschen. »Wir sind heute hier, um –« Warum eigentlich? Mein Blick fiel auf Sarah, die mir ermutigend zunickte, aber alles, was ich wahrnahm, war das Trommeln in meinen Ohren. »Weil ich – also wir«, ich machte eine Geste zu meinen Freunden. »Wir – « Wer hatte diese beschissene Idee eigentlich gehabt? »Wheeler«, Kaibas Stimme kratzte über mein Gemüt wie Fingernägel über eine Tafel, »wenn dein Produkt nicht wesentlich besser ist als deine rhetorischen Fähigkeiten –« Ich erwiderte seinen Blick, weil ich das immer tat, und reckte mein Kinn, während ich ihn anfunkelte. Hitze wallte durch meinen Magen, wo eben noch ein schwarzes Loch Leere hineinfraß, und pumpte Ärger durch meine Adern. »Alter! Sowas von!«, erwiderte ich und streckte meine Faust. »Ich will ja keine verdammte Rede für euch schreiben, sondern euch das zeigen!« Jemand kicherte, aber es klang nicht herablassend. »Wir sind Tristan, Thea und Yugi, Joeys Freunde«, sprang Yugi ein, während ich den Speicher-Stick in den Laptop fummelte. »Wir haben echt keine Ahnung von Marktanteilen und Reichweite«, fuhr Tris fort und kratzte sich am Hinterkopf. Ich hörte sein schiefes Grinsen durch seine Stimme, »aber nur weil Joey keine Ahnung von etwas hat, hat ihn das noch nie davon abgehalten, seine Ziele zu erreichen.« Ich warf ihm einen finsteren Blick zu und Tris zuckte die Schultern, als wollte er sagen »wenn's doch stimmt«. »Nicht mal Kaiba könnte mich davon abhalten«, brummte ich. Ein amüsiertes Lachen waberte durch den Raum, das unter dem Blick von Kaiba schnell erstickte. Yugis Lächeln fing die Aufmerksamkeit erneut auf und ich fand endlich die verdammte Datei. »Wir spielen gemeinsam DuelMonsters, seitdem wir Freunde sind und sind vielleicht Freunde geworden, weil wir es spielen«, erläuterte Yugi. »Und das hier ist unsere Freundschaft«, hängte Thea an mit einem Lächeln, das Yugis kaum nachstand. Kaiba schnaubte. »Ich habe noch andere –« »Hey, wart mal. Ich war noch nicht fertig, Kaiba«, fiel ich ihm ins Wort und klickte auf unser Video. Schweiß auf der Stirn und hoffte, dass sich die Datei abspielte, dass einmal – nur dieses eine Mal – in meinem Leben alles gut gehen würde. Wenigsten die nächsten drei Minuten. Stille drückte auf jeden Zentimeter meiner Haut. In diesem Moment – meine Augen glitten über Tris, der breitbeinig dastand, über Yugi, dessen Wangen rot vor Aufregung waren, zu Thea, deren Augen funkelten – fiel mein Blick auf Kaiba und die Zeit dehnte sich, die Menschen im Raum rückten in die Ferne, als er ihn erwiderte. Im Hintergrund ertönte das Video. Das Gewicht in meinem Magen schwebte davon wie eine Feder. Bilder und Szenen, Musik spielte, ab und zu waren unsere Gespräche darüber zu hören. Nur ganz normale Jungs, die beste Freunde waren. Das Video zeigte einen animierten Weißen Drachen, der sich um ein Schild schlängelte, das wir vier in den Händen hielten. Sei der, der du sein willst, nicht der, den die anderen in dir sehen, stand drauf. Das Video endete. »Jetzt«, meinte ich etwas kleinlauter und grinste schief, »bin ich fertig.« Kaibas Blick brannte sich in meinen. Als bohrten sich Eiszapfen in Haut, die ein Brennen hinterließen. Er würde die Security rufen und mich rausschmeißen und die anderen hinterher. Wahrscheinlich hätten wir lebenslanges Zutrittsverbot. Noch die Kinder der Kinder meiner Kinder – und all deren Freunde. Kaibas Fingerknöchel berührten immer wieder die Tischoberfläche und es sammelte sich zu einem Klopfen, bis alle Anwesenden mit einfielen. Ich starrte ihn an und dann spürte ich, wie sich meine Mundwinkel zu einem breiten Grinsen formten.   Ich schritt zu meinem Platz, glaubte zu schweben, alles war viel kleiner und ich thronte über ihnen. Meine Freunde folgten mir und in diesen Minuten wusste ich, wie sich Unbesiegbarkeit anfühlte. »Wer für Herrn Les Projektversion stimmt, hebt jetzt die Hand«, wies Kaiba distanziert an. Um sofort wieder in die Wirklichkeit katapultiert zu werden. Mein Grinsen erstarrte. Hände streckten sich in die Luft und mit jeder weiteren sank mein Magen Richtung Boden. »Und für Herrn Wheelers Version.« Hände fielen nach unten. Das Adrenalin rauschte in meinen Ohren und stieg in meinen Kopf, wo es sich mit meinen Gedanken vermischte. Ich versuchte zu zählen, aber die Hände verschwammen vor meinen Augen. Fühlte sich so die endgültige Niederlage an? »Damit gewinnt mein Projekt mit einer Stimme Vorsprung«, erklärte Herr Le und die Selbstzufriedenheit in seiner Mimik drückte auf meinen Magen. Ich bezwang meinen Würgereiz mit einem gedämpften Ächzen. Eine Stimme. Eine verdammte scheiß Stimme. Ich fuhr mir durchs Haar und wich den Blicken meiner Freunde aus. Vielleicht wäre eine vernichtende Niederlage besser gewesen. So eine, bei der man denken konnte »Egal, wir haben's versucht, aber der Erfolg war einfach außerhalb jeder Möglichkeit«. Jetzt fühlte es sich doppelt so scheiße an. Jetzt fühlte ich mich an wie zweite Wahl. »Bildet euch nichts darauf ein«, behauptete Herr Le und ich schaute auf. Seinen Mund umspielte Herablassung, ein Lächeln, das mich Galle schmecken ließ. »Du hast unzuverlässig gearbeitet und die Kampagne gefährdet. Warum sollte die Mehrheit hier heute daran glauben, dass die Kampagne mit dir ein Erfolg werden könnte?« Ja, warum? Warum saßen wir überhaupt heute hier? Warum hatten wir uns die Nächte und Tage dran gesetzt? Warum sollten Menschen an mich glauben? Ich reckte mein Kinn und ein Lächeln kroch auf meine Lippen. Ich sah, wie Herr Le zurückzuckte, als hätte er sich verbrannt. »Weil ich trotzdem hier bin«, erwiderte ich und legte meinen Arm um Tris Hals, den anderen um Yugi. »Weil wir hier sind!« Ich spürte die Blicke auf mir, aber es machte mir nichts aus. Es klang vielleicht lächerlich. Aber wir hatten gekämpft und verloren. Nächstes Mal würden wir gewinnen. »Ich kämpfe, auch, wenn ich weiß, dass meine Chancen zu verlieren verdammt hoch sind«, sagte ich mit einem Schulterzucken. »Aber ich habe keine Angst davor. Ein Joey Wheeler gibt nicht auf!« Ich streckte Herr Le meinen Daumen entgegen. Die Angestellten um uns herum begannen zu tuscheln, warfen Blicke von uns zu Herr Le, zu Kaiba und zurück. »Entgegen Herr Les Zählung«, durchschnitt Kaibas Stimme unser Gespräch und unsere Aufmerksamkeit sprang zu ihm, »liegt kein Stimmunterschied zwischen beiden Versionen vor.« »Aber, aber –«, stammelte Herr Le ungläubig. Ich ließ meine Arme schlaff nach unten sinken und starrte Kaiba an. »Sicherlich würden Sie es sich nicht erlauben und meine Stimme übersehen, Herr Le?«, fragte Kaiba und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, seine Finger aneinander gelehnt. Herr Le erwiderte etwas, das in dem Rauschen in meinen Ohren unterging. Yugi legte seine Hand auf meine Schulter. Tris murmelte etwas. Thea starrte mich von der Seite an – oder Yugi. Mein Blick kletterte an der Wand nach oben und irgendwo da vorne tauchte Kaiba in mein Sichtfeld, als würde ich durch einen Tunnel sehen. »Aber das bedeutet ja –«, hauchte Thea und Tristan starrte fassungslos zwischen Herrn Le und Kaiba hin und her. »Das – das macht er nicht«, murmelte ich und fuhr mir durchs Haar. Dann sprang mir Kaibas Präsenz mit voller Wucht in den Blick und er erwiderte ihn. Als zöge er Spreißel aus Eis aus meiner Haut. Adrenalin löste sich in Unglaube und Unglaube hinterließ das Gefühl, in einem Traum gefangen zu sein, als ich das Zucken seines Mundwinkels wahrnahm und in meinem Kopf lief ein Gedanke auf Dauerschleife. Seto Kaiba stimmte für uns.   Es heißt, dass der erste Eindruck nach drei Sekunden feststeht. In dieser Zeit bilden sich Menschen eine Meinung übereinander und glauben zu wissen, mit wem sie es zu tun haben. Manchmal schockiert es uns im Nachhinein, wie falsch wir lagen.   Am Abend saßen wir alle in Herrn Mutos Garten hinter dem Spielladen, wo Lampions an den Bäumen hingen und über dem Grill der Duft von frisch Gegrilltem hing. Salate standen auf der Bierzeltgarnitur neben frisch gebackenem Baguette. Meine Geschwister saßen mit Tris und Thea bei dem alten Mann und lauschten seinen Geschichten aus Ägypten. Ich hörte nur mit halben Ohr zu und starrte in den Himmel, den die Abendsonne in ein Orangerot pinselte. Grillen zirpten im Gras und Frösche quakten um den Teich herum. »Hey, Leute!« Mokuba kam von der Hintertür auf uns zu gerannt, wo Kaiba Yugi in den Garten folgte. Kaiba sah aus, als hätte er mehr als zehn Gründe parat, warum er besser woanders sein sollte. Aber einer der Gründe, warum diese Gründe kein Gewicht hatten, stürmte auf mich zu. »Herzlichen Glückwunsch, Joey! Du bist so genial!«, rief er und fiel in meine Arme. »Ich mein, ihr seid alle supergenial!« Er schaute in die Runde und grinste. Tris grinste zurück, Thea strahlte und selbst Yugi schien um ein paar Zentimeter größer als gewöhnlich. »Super-super-super-genial! Sarah spricht von nichts Anderem mehr und sogar mein Bruder hat gemeint, dass –« »Mokuba, das reicht«, schnitt Besagter ihm das Wort ab. Mokuba schaute kein bisschen verlegen drein – im Gegenteil. Der Abend war eine Mischung aus Lachen und Geplänkel, Essen und Geschichten und dem Gefühl, hoch über Domino zu thronen, ohne auch nur einen Zentimeter über der Erde zu schweben.   Ich stand am Grill und fischte nach Würstchen, als er zu mir trat. Ich spürte seine Nähe, als elektrisierte er meine Haut mit jedem Schritt, den er sich mir näherte. Als fokussierten sich meine Sinne auf jede seiner Bewegungen. Als wüssten meine Instinkte nicht, ob er eine Gefahr darstellte oder Sicherheit. Als er neben mir stand, berührte sein Ellbogen meinen Arm. Es war wie ein Schlag, wie ein Streicheln. Ich wich nicht zurück. Eigentlich wollte ich ihm etwas an den Kopf werfen. »Haben Aliens Seto Kaibas Hirn jetzt also doch ausgetauscht?« »Ist bei dir irgendwas in der Schaltzentrale verbrannt?« »Bist du völlig durchgedreht?« »Ist das irgendein sadistischer Scherz?« Aber dann schaute ich hoch und er schaute zurück mit diesem fast höhnischen Lächeln um den Mundwinkel, aber sein Blick war frei von jedem Spott. Und alles, was von meinen Kommentaren übrig blieb, war ein Wort. »Danke«, flüsterte ich und senkte meinen Blick zurück auf den Grill. Seine Nähe prickelte über mein Gesicht, über meine Arme. »Werd nicht sentimental, Wheeler«, raunzte er mich an und nahm sich ein Grillwürstchen, dabei berührte sein Finger meinen Arm. »Senti-« »Das bedeutet, dass –« »Ach, halt die Klappe, Kaiba.« Das Grinsen auf meinen Lippen widersprach meinen Worten.   Kapitel 47: … bin ein Angestellter ---------------------------------- __________________________________________   Auch unter Lügnern gibt es angestellte und selbständige. © Art van Rheyn    __________________________________________           Ich wusste, wie ich die Wahrheit so auslegte, dass ich damit leben konnte. Wahrheit war sowieso nichts Objektives. Wahrheit lag im Auge des Betrachters. Ich verdrängte das, was ich nicht sehen wollte und betonte das, was mir passte. Ich war ein Lügner. Aber sind wir das nicht alle?   Eins. »Eine Zusammenarbeit. Sie profitieren von Joey Wheelers«, hier machte er eine Pause, »Enthusiasmus und er von Ihrem Professionalismus.« Zwei. Tiefer Atemzug. Drei. Wir saßen in Kaiba Büros und ich zählte innerlich bis zehn. Zum dreizehnten Mal. Um ja nicht zu explodieren. Vier. Herr Le saß links von mir, die Hände im Schoß gefaltet, als würde er beten. Wahrscheinlich ging es ihm nicht viel anders als mir. Und ich sagte mir gedanklich all die super Chancen auf, die ich durch dieses Projekt bekam, während Kaiba und Sarah abwechselnd das Vorgehen erklärten. Fünf. Raus aus meinem Viertel. Sechs. Mit den reichsten Personen der Stadt diskutieren. Sieben. Anerkennung. Lob. Geld. Acht. Mich und mein Talent beweisen. Neun. Diese Blicke. Die sich von »Gossenkind« in »begabter Angestellter« wandelten. Zehn. »Mit allem Respekt, aber –«, wandte Herr Le ein und Sarah runzelte ihre Stirn. Aussagen, die so begannen waren normalerweise alles andere als respektvoll. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Herr Wheelers Skizzen sind –«, er räusperte sich, »speziell. Sicherlich findet sich Verwendung für seine Ergebnisse bisher in der Kampagne, aber seine Mitarbeit ist dafür nicht zwingend er-« »Das Animation Studio hat deutlich gemacht, dass seine Mitarbeit sehr wertvoll ist«, widersprach Sarah und ihre Armketten klirrten wütend. Herr Le schnaubte. Er erinnerte mich an ein beleidigtes Kind. Es wäre lustig gewesen, wäre ich nicht so angepisst. »Glauben Sie mir«, scharrte ich und verschränkte meine Arme hinterm Kopf, »ich hab Besseres zu tun, als hier den ganzen Tag zu streiten ob und was ich hier zu suchen hab.« Herr Le warf mir einen Blick zu, der ganz deutlich machte, dass er das bezweifelte. Kaibas Blick war nicht feindselig, aber im Kern schaute er genauso. Ich verdrehte die Augen und sprang vom Stuhl. »Ich bin dann unten im Studio. Mailo meinte, er wollte mir gern noch was zeigen.« »Wheeler, setz dich wieder hin.« Kaibas Ton dudelte keine Widerworte und Herr Le warf mir einen selbstzufriedenen Blick zu, bei dem ich ihm am liebsten auf die Schuhe gespuckt hätte. »Aber –«, widersprach ich trotzdem. »Herr Wheeler, setzen Sie sich hin und vergessen Sie nicht, in wessen Büro Sie sich gerade befinden.« Ich starrte Kaiba an und öffnete den Mund, aber er fuhr fort, ohne mir die Gelegenheit zu geben, etwas zu antworten. »In dem Ihres Vorgesetzten, verstanden?« Mein Blick hüpfte zu Sarah, die mich mit ausdrucksloser Miene musterte. Ich zuckte die Schultern und warf mich zurück auf den Stuhl. Es folgte eine halbe Stunde Vortrag über Zusammenarbeit und Ziele und die Werte der Kaiba Corporation. Innerlich zähle ich dreiundvierzig Mal bis zehn und verfluchte Kaiba jedes Mal, wenn er mich siezte.    Die nächsten Tage wanderte ich zwischen den Animation Studios und der Marketing-Abteilung hin und her. Miller – Herr Les Scherge, blond, groß und immer mit Fliege – führte mich in das Online-Marketing ein und erzählte etwas von Clips und Reichweite und Social Media. »Visuell, verstehen Sie?« Ich nickte mit gehobenen Augenbrauen, dann schüttelte ich langsam den Kopf. »Bilder, Videos, GIFs. Die Menschen sind visuelle Stimulation in unserer modernen Welt gewohnt! Farben! Dynamik! Andernfalls geht die Werbung in einer Flut anderer Reize unter. Das Angebot ist überwältigend!« Ich wünschte mir, es wäre schon Mittagspause. Ich hatte nämlich überwältigenden Hunger. Herr Millers Redeschwall nahm nicht ab, obwohl seine Mimik ausdrückte, wie wenig er annahm, dass ich verstand, was er da laberte. Ganz Unrecht hatte er nicht. »Natürlich ist das Timing ebenfalls entscheidend und die Frequenz. Social Media sind schnelllebig. Neues veraltete innerhalb von Minuten. Neuer Input ist daher –« Input war vielversprechend. Ich hoffte, es gäbe Burger in der Kantine.   »Joey! Hey! Setz dich zu uns!« Mailo wedelte mit seiner Hand, als ich mit meinem Tablett planlos da stand und mich nach einem Platz umschaute in der gut besuchten Kantine, die von Anzügen und Krawatten besetzt war. Tische standen an der Glasfront, die Ausblick auf den Vorplatz bot, oder an brusthohen Trennwänden, die aus Milchglas und Aquarien bestanden. Ich ignorierte die Blicke, die an meinen Shorts und meinem T-Shirt mit Aufdruck hängen blieben und stapfte an den langen Tisch, an dem als einziger niemand einen Anzug trug. Mailo und die ganze Truppe grinsten mich an. Ich zurück. »Das sieht sehr gesund aus«, behauptete Maya mit hochgezogenen Brauen. »Hast du Reis und Gemüse genommen? Ich hab Nudeln und Gemüse mit Bolognese.« »Ja, Reis und Gemüse. Zumindest glaube ich, dass das Grüne Gemüse ist. Und Hühnchen. Oder sind das Pilze?« Wir schauten uns einen Augenblick lang an, dann brachen wir in Gelächter aus. Uns trafen abschätzige Blicke, die ich mir von der Schulter schüttelte.   Kaiba konnte überall arbeiten. Er aß nie in der Kantine – entweder er aß in seinem Büro oder er war tatsächlich ein Roboter, der sich nur an die Steckdose anschließen musste, beides denkbar – aber ab und zu saß er mit irgendwelchen Vorstandsmitgliedern oder Abteilungsleitern oder wem auch immer dort an einem der Tische und besprach sicherlich super wichtige Dinge. Dinge, die ich nie verstehen würde, nicht einmal dann, wenn er es mir persönlich erklärt hätte. Dabei hatte er immer seinen Laptop oder ein Tablet. Ab und zu saß er dort so versunken in seiner Arbeit, dass es schien, als existierte er in einer Parallelwelt, in der er das Geräusch des Geschirrs und das Geplauder in der Mensa nicht wahrnahm – oder mich. Ich zwang mich, Kaiba nicht anzuglotzen, während er ganz woanders war. In den Animation Studios lenkten mich schon Mayas Witze ab oder wenn jemand an mir vorbei ging. Kaiba war da ganz anders. Oder mich aus Versehen anblinzelte. Kaiba war ganz woanders. Und die Erinnerung, seine Lippen auf meinen, schien wie ein Witz, den jemand erzählte, um mich zu verspotten. Wie ein Unfall, den ich nicht vergessen konnte, aber an den ich mich nicht erinnern wollte. Hatte ich mir die Nähe nur eingebildet? War das alles nur ein Missverständnis? Ein Zufall? Ein Unfall? In meinem Magen krochen Raupen. Mit einem Seufzen stand ich auf. »Hey, Joey! Alles klar?«, hakte Maya nach und ich nickte. »Jopp, ich brauch nur gerade ein ruhiges Plätzchen oder so. Meine Aufmerksamkeit –« Ich verzog den Mund. Sie kicherte. »Naja, kann nicht jeder ein Büro haben wie Herr Kaiba persönlich«, stichelte sie und kolorierte weiter digital an einem der Poster. Ich starrte sie an, dann packte ich meine Papiere und Stifte und das Tablet, das ich nur für meine Arbeit in der KC verwendete, und wandte mich zum Gehen. »Bis später!«, rief sie mir hinterher und ich hob die Hand.   Kaibas Büro war in einem der obersten Stockwerke, wo sich kaum jemand hin verirrte. Was natürlich nicht am Standort lag, sondern ganz einfach an dem Geldsack selbst, den niemand – wie ein wildes, unberechenbares Tier im Gehege – provozieren wollte. Ohne anzuklopfen, riss ich die Tür auf. Außer mir natürlich. Kaiba massierte seine Nase, dann die Schläfen. »Ich arbeite hier, Wheeler«, knurrte er, ohne aufzusehen. »Ja, ich doch auch«, erwiderte ich verärgert. Jetzt blickte er mich über die Bildschirme hinweg an. Seine Augenbrauen verschwanden in feinen Bögen unter seinem Pony. An seinem Mundwinkel zupfte Zorn und Hohn. Aber das irritierte mich kein bisschen. Ich lud meine Papiere und Stifte und das Tablet auf dem Couchtisch ab und ließ mich daneben nieder. »Wheeler«, begann er und seine Stimme klang wie ein drohendes Gewitter. Ich wedelte mit der Hand, als verscheuchte ich eine lästige Fliege. »Ich hab kein Büro und in den Animation Studios ist es so hektisch zur Zeit, tausend Fragen und alles und ich kann da einfach nicht denken.« Ich deutete mit meinem Finger auf meinen Kopf, um meine Notlage zu verdeutlichen. »Wofür müsstest du denken?«, hakte er nach, aber sein Blick sagte ganz deutlich, dass es ihn nicht interessierte, dass er nur aus Gewohnheit spöttelte. Das hielt mich natürlich nicht von einer Erklärung ab. »Ist doch klar. Wie ich das«, ich zeigte wieder auf meinen Kopf, »und das«, mein Zeigefinger rutschte auf Brusthöhe, »hier drauf bekomme.« Ich wedelte mit einem Papier. Kaiba atmete tief ein. Und aus. Dann lehnte er sich langsam in seinem Bürosessel zurück und starrte an die gegenüberliegende Wand, als stünde dort, wie er es schaffte, mich nicht durch die Fensterfront zu kicken. Oder wie er es schaffte, ohne dass es jemand mitbekam. »Wenn du nur ein Wort sprichst, lass ich dich rauswerfen«, knurrte er und das Klackern der Tastatur füllte wieder das Büro. »Jopp, kein Problem«, erwiderte ich mit einem breiten Grinsen und breitete mein Zeug aus, dann sah ich auf. »Sag mal. Krieg ich was zu trinken?« Ich sah, wie sich sein Blick verdüsterte. »Nein«, scharrte er, aber mein Grinsen schmälerte das um kein Stück. »Und hör auf zu summen!«   Die Tage vergingen und irgendwann war es Alltag. Kaibas Sekretärin grüßte mich freundlich und seine Berater nickten mir zu. Wenn ich die Kaiba Corporation betrat, grüßten mich immer mal wieder Mitarbeiter der Animation Studios und ab und zu sogar welche der Marketing-Abteilung. Herr Le sprach mit mir nur mit zusammengekniffenen Lippen, aber er kannte meinen Namen. Jeder in der Kaiba Corporation kannte meinen verdammten Namen. Ich musste grinsen bei dem Gedanken und badete in dem Gefühl, so etwas wie berühmt zu sein. »Natürlich kennen die deinen Namen«, behauptete Maya und stocherte in ihren Nudeln herum, »du bist der, den Kaiba angeschleppt hat!« »Was? Er hat mich nicht –« »Er hat sogar für dich gestimmt!« Ich versuchte das Flattern in meinem Magen zu ignorieren. Es war lächerlich. »Er hat für mein Video gestimmt. Für unser Video!«, verbesserte ich. »Du bist das Gesicht der Werbekampagne«, entgegnete sie. »Bald wird jeder in der Stadt dein Gesicht kennen. Und viele deinen Namen.« In meinem Bauch explodierten kleine Raketen, während wir zurück zu den Studios schlenderten.   »Und dann haben wir eine ganze Sequenz digital animiert! Das ist so megacool!«, brüstete ich mich vor Sarah, die Skizzen auf dem Boden ihres Büros hin und her schob, daran vorbei balancierte und kolorierte Versionen an Stellwände pinnte. »Wärmer oder kühler?«, fragte sie ab und zu oder: »Heller? Besser mit Zoom auf euch? Ich denke, das in den Hintergrund und dieses werden wir darüber legen.« Ich nickte, antwortete ja oder nein oder vielleicht mit zusammengekniffenen Augen und schiefgelegtem Kopf. In meinem Bauch tanzte das Gefühl, ernst genommen zu werden und ich gewöhnte mich daran, wenn mich Leute nach meiner Meinung fragten – und sich dafür bedankten. Ich glaubte, mit jedem Tag Kaiba einen Schritt näher zu kommen. Und dann klingelte irgendwann mein Phone und der Anruf katapultierte mich zurück in die Gosse.   Ich saß im Schneidersitz in Kaibas Büro auf dem Boden – so wie jeden Nachmittag – und starrte auf meine Papiere und fluchte leise vor mich her. Manchmal spürte ich seinen Blick auf mir oder glaubte zu fühlen, wie seine Augen durch den Raum wanderten und über mich. »Wheeler«, knurrte Kaiba und ich schnaubte. Stille. Ich spürte die Blicke auf mir, obwohl nur Kaiba und ich hier waren. Das Getuschel und die Komplimente. Die Worte meiner Mutter dröhnten in meinem Kopf, obwohl ich sie durch die Arbeit hier ertränken wollte. Ich verfluchte meine Skizze und meinen Stift und dass ich vergessen hatte, meinen Radiergummi mitzubringen. Etwas traf mich am Kopf. »Hey! Spinnst –« In meinem Schoß lag ein Radiergummi. »Halt endlich die Klappe«, brummte Kaiba, während er am PC tippte. »Oder verschwinde. Am besten beides. Ich kann nicht denken, wenn deine Präsenz –« Ich verengte meine Augen, schnappte mein Zeug und polterte aus dem Büro. Wir spielten das Spiel in den nächsten Tagen auf ähnliche Weise. Jeden verdammten Tag. Die Worte bohrten sich in meinen Schädel und die Blicke in meinen Rücken.   Es war so ruhig, dass ich die Grillen zirpen hörte und das Plätschern des Teichs. Der Wind strich durch die Baumkrone über mir. Mein Nacken war schon ganz steif durch die unbequeme Position gegen den Baumstamm, aber gleichzeitig spürte ich so eine Ruhe in mir, dass ich mich nicht bewegte. Als könnte ich sie dadurch zerbrechen. Wie einen Traum, der für immer verflog, wenn man erst einmal aufwachte. Man konnte nicht zurück. Niemals. Die Blicke würden mich weiterhin verfolgen. Mit jedem Tag fühlte ich mehr Augenpaare auf mir ruhen, das Getuschel hinter meinem Rücken war längst kein Flüstern mehr. Stattdessen hörte ich Gerüchte und Behauptungen, es wäre alles wahr. Mit einem Quietschen schreckte ich hoch, als etwas auf meine Beine fiel und riss die Augen auf. Kaiba ragte über mir, ein Wassereis zwischen den Lippen. Für einen Augenblick war ich davon überzeugt, ich würde halluzinieren. Dann kniff ich die Augen zu. Er war immer noch da. »Ich bin krank, Geldsack, einen Magen-Darm-irgendwas«, maulte ich, aber schnappte mir das Wassereis, das er mir zugeworfen hatte, und lehnte mich wieder zurück. Mein Schädel brummte etwas, doch ich hätte trotzdem in der KC auftauchen können. Ich wusste das, Kaiba wusste das. Wahrscheinlich hatte sogar Yugi meine scheinheilige Entschuldigung durchschaut. Aber gleichzeitig stieg das Gefühl in mir hoch, ich würde kotzen, wenn ich heute dorthin gegangen wäre. Als hätte es sich alles in meinem Magen und meinen Lungen angesammelt und wartete nur darauf hervorzubrechen. »Wie ich sehe«, spöttelte er und ließ sich neben mir im Gras nieder. »Ich hab mich bei Sarah gemeldet. Ich schwänz nicht, Eisschrank«, knurrte ich, ehe er mir so etwas hätte vorwerfen können, aber er schwieg, als hätte ich nicht das passende Passwort genannt. »Was machst du hier?«, drängte ich, weil er einfach neben mir saß, sein Wassereis lutschte und schwieg. »Schaust du bei allen deinen Angestellten vorbei, wenn sie krank sind?«, höhnte ich, doch er klatschte mir keine spöttische Bemerkung an die Stirn. Stattdessen lehnte er sich zurück, stützte sich mit seinen Armen hinter dem Rücken ab und schaute in den Himmel, als wollte er ihm etwas erklären. Mein Blick wanderte über sein Gesicht, seinen Hals, sein Kinn, seine Lippen. Ich wandte mich ab, als hätte ich mich verbrannt. »Es ist ganz normal«, behauptete er plötzlich und ich runzelte die Stirn. Ich bezweifelte, dass irgendetwas, was mit ihm zu tun hatte, normal war. »Hä?«, machte ich und mied seinen Anblick. Ich hatte das Gefühl, er sprach Koreanisch mit mir – oder ich war inzwischen so gut dabei, seine Anordnungen und Aussagen selektiv zu ignorieren, dass ich ein Teil unseres Gesprächs total verpasst hatte. Beides möglich. »Aber du gewöhnst dich daran, Wheeler. Du musst sie lediglich übertreffen und den Rest ignorieren.« Ich legte meinen Kopf schief, während ich am Wassereis saugte. »Woran?«, hakte ich nach. »Ich hab echt keinen Plan, was –« »Die Erwartungen«, schnitt er mir das Wort ab, »und die Blicke.« Jetzt schaute ich ihn doch an. Der Wind spielte mit seinem Haar, während er stur in den Himmel stierte. Es waren nur fünf Worte, aber es war so, als hätte er gerade eine Karte hervorgekramt, die er sonst niemandem zeigte. Die er sonst nicht einmal selbst anschaute. Ich schwieg. Erwartungen. Waren die das, die mir die Übelkeit in den Magen und die Lungen hoch trieb? Blicke. Ich fuhr mir durchs Haar und seufzte. Es war anstrengend. Es war, als wäre ich unter Dauerbeobachtung – von allen Seiten. Meinen Freunden, meiner Familie, Fremden. Und vor allem mir selbst. »Ich brauch Geld«, begann ich langsam und atmete tief durch. Das vor Kaiba zuzugeben war, als würde ich Yugi gestehen, ich wäre in Thea verknallt. Nein, es war anders. Denn Yugi würde eine Schwäche nie gegen einen ausnutzen. Ich sah, wie Kaibas Brauen seine Stirn nach oben kletterten. »Wer braucht das nicht«, entgegnete er. Ich betrachtete ihn mit gestützten Lippen, aber er korrigierte nichts. »Ich mein, ich brauch viel mehr Geld, als ich grade hab.« »Offensichtlich.« Ich plusterte meine Wangen auf, aber noch ehe, ich hätte explodieren können, fuhr er fort. »Mit der Kampagne wirst du –« »Bis vor Ende der Sommerferien. Ich brauch's, bevor die Schule wieder anfängt.« Kaiba schnaubte. »Dann such dir einen Job«, erwiderte er und in diesem Moment ploppte etwas in meinem Hirn und mein Blick weitete sich. Natürlich. Das war die Idee. Naheliegend und doch genial. Ich bräuchte einen Ferienjob – nicht wie im Spielladen unregelmäßig, sondern jeden Tag – sofort, bei dem ich ein paar hundert Scheine verdiente, in einer Zeitspanne von ein paar Wochen. Meine Begeisterung machte eine Crashlandung. Wo sollte ich jetzt noch einen Ferienjob herbekommen? Am besten noch gestern. Ich schwieg und Kaiba schaute auf und mein Blick fiel auf ihn und ich schlug mir an die Stirn. »Kaiba!«, fing ich an und er schlug seine Augenlider auf und zu, als wüsste er, was kommen würde. »Du leitest eine Firma!« Ich war noch nie in meinem Leben so begeistert von dieser Tatsache gewesen. Durch Kaibas Mimik zuckte Spott, Unglaube und etwas, das mich an jemanden erinnerte, der auf seine Zunge gebissen hatte. Jeder andere hätte in seinem Gesicht wahrscheinlich nur den Hohn erkannt. »Wheeler. Nachdem deine Hirnaktivität jetzt offensichtlich völlig auf dem Nullpunkt –« »Ich brauch Geld!«, schnitt ich ihm seine Beleidigung ab, für die ich nicht mehr als ein Gesichtszucken übrig hatte. »Fragst du mich gerade ernsthaft nach einem Job? Während du blau machst?« Er musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen, während ich mich zwang, seinem Blick nicht auszuweichen. »Ich bin krank«, erwiderte ich mit einem Zucken um meinen Mundwinkel. Er schnaubte. »Spar, Wheeler. Dann kannst du dir deine nächsten Boosterpacks eben erst nächste Woche kaufen. Du wirst es überleben.« Ich sprang auf, schritt hin und her, während ich wild mit den Händen wedelte. »Es geht nicht um –« Mein Atem ging schwer, als wäre ich stundenlang gerannt. Ich versuchte mich zu beruhigen, aber mit jeder Minute, in der seine Worte in der Luft hingen und ich nicht die passenden fand, zog sich meine Lunge mehr und mehr zusammen, bis sich alles in einem Schrei entlud. »Wenn ich mir kein eigenes Zimmer leisten kann, dann muss ich zu meiner Mutter ziehen«, brüllte ich und vergrub meine Finger in meinem Haar. Stille. Erwartungen. Blicke. Alles hing zusammen. Ich hörte die Worte meiner Mutter in meinem Kopf und sah ihren Blick vor meinen Augen. Der Anruf, der ankündigte, dass ich packen sollte – ich fragte mich, was, ich besaß kaum etwas – und dass sie erwartete, dass ich einsähe, dass es so nicht weiterginge. Ihren Blick, den ich nicht sah, als sie ging – verschwand mit Serenity an der Hand. Stille. Ich sank zurück ins Gras, stützte meine Schläfen mit beiden Händen, als würde mein Kopf andernfalls zerspringen, meine Knie angezogen. »Lass mich bei dir arbeiten, Kaiba. Ich mein, mehr«, murmelte ich gegen meine Beine. Es war keine Bitte, es war eine sture Herausforderung. Er schnaubte. Schon wieder. »Und als was möchtest du arbeiten? Als Briefbeschwerer?« »Was zur Hölle ist ein –« Er wischte meinen Kommentar mit seine Hand zur Seite und massierte seine Nasenwurzel. »Ich kann – Sachen abtippen«, schlug ich lahm vor. »Oder putzen! Ich kann –« Ich schaute mich hilfesuchend in Garten um, als stünde irgendwo in einem der Büsche, was ich arbeiten könnte. »Ich mach alles. Echt.« Kaiba hob die Augenbrauen. »Fast alles«, verbesserte ich schnell. Immerhin sprach ich hier mit Kaiba. »Bitte«, presste ich zwischen meinen Lippen hervor, als würde es mir Schmerzen verursachen. Und irgendwie tat es das auch – ich spürte die Kopfschmerzen schon durch mein Gehirn preschen wie ein Tornado. All die Diskussionen, die auf mich zukommen würden, all die Blicke, die mir Kaiba zuwerfen würde und die mir den letzten Nerv raubten. Auf die schlechte Art, nicht die gute. »Wie viel brauchst du?«, fragte er über die Silben meines Wortes hinweg und es klang so, wie er im Konferenzsaal sprach. Nüchtern. Kalkulierend. Aufmerksam. Als durchleuchte er sein Gegenüber, während er gleichzeitig seine eigenen Worte verschloss. »Miete für drei Monate, die Kaution halt und – die Miete«, schloss ich leise. »Hast du schon ein Zimmer in Aussicht?« Ich schaute ihn lange an, dann schüttelte ich den Kopf. Er seufzte und wandte sein Gesicht gen Himmel, als zählte er innerlich bis zehn. Gut, ich war also am Arsch. Schon klar. »Mokuba macht morgen diese Spielenacht«, er sagte es, als würde er seine Erlaubnis dazu jetzt schon bereuen und mein Blick schoss zu ihm, »mit Freunden.« Es klang, als handelte es sich um eine Unterart besonders ekliger Nacktschnecken. Diese roten mit dem orangenen Schleim zum Beispiel. »Seine soziale Entwicklung ist immerhin von absoluter Bedeutung. Ich erwarte dich morgen zurück in der KC. Sei pünktlich.« Er erhob sich und ich öffnete den Mund, starrte ihm aber nur stumm nach, als könnte ich die Buchstaben auf meiner Zunge nicht zu Wörtern zusammenfädeln. Wie war das Gespräch von meiner Situation zu Mokubas Spielenacht mit Freunden abgebogen? »Hey, Kaiba! Was zur –« Er verschwand durch die Hintertür und ich zuckte die Achseln. Aus dem würde ich sowieso nichts Sinnvolles mehr herauskriegen. Mit einem Plumps ließ ich mich zurück ins Gras fallen.   »Und dann ist er einfach gegangen?« »Jopp. Ich mein. Ich wollte ihm erst nach, aber – dann hätte ich ihn nur angemeckert und er mich und dann hätte er gesagt Köter, hör auf deine Flöhe aufzuregen und ich Geldsack, lass dir mal dein Roboterhirn untersuchen und ich wäre auch nicht schlauer als vorher gewesen.« Ich zuckte die Schultern, soweit ich das konnte, während ich meine Arme hinter meinem Kopf verschränkt hatte und auf Yugis Bett lag, den Blick starr an die Decke, dann schaute ich ihn an. Auf Yugis Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Was?«, hakte ich nach. »Nichts, nichts.« Ich verengte meine Augen. »Was?«, beharrte ich, aber Yugi brach nur ein Kichern aus, schnappte sich einen Manga und steckte seine Nase zwischen die Seiten. Und damit schien die Sache für ihn abgehakt. Es wäre vielleicht glaubwürdig gewesen, hätte er nicht immer wieder scheinbar grundlos angefangen zu lachen. »Yugi«, brummte ich. »Ich glaube nur«, begann er langsam, »dass sich alles zum Guten wenden wird.« Ich starrte ihn an. So etwas übertrieben Optimistisches hatte ich selbst aus seinem Mund schon lange nicht mehr gehört. Erst als ich im dunklen Zimmer lag und mich von der einen auf die andere Seite drehte, kam mir der Gedanke, dass Yugi wohl nicht alle Karten auf den Tisch gelegt hatte. Denn das machte er nie unbedacht.   Wenn man Kaibas Villa von außen betrachtete, raubte es einem den Atem. Da waren natürlich der Garten und der Pool und das Gebäude selbst, die Garage und die Autos die ab und an davor parkten. Aber erst, wenn man sich innen umsah und die Fassade hinter sich ließ, erkannte man die wahre Pracht. Die Fresken und die Detailliebe, die niemals altbacken oder übertrieben wirkte. Weiß, Beige und Blau – in allen möglichen Tönen – herrschten vor und trotz der Anonymität, die Kaiba in den weniger intimen Räumen seines Hauses aufrecht erhielt, könnte man seine Leidenschaften durchschauen, wenn man ihn kannte. Der Weiße Drache mit Eiskalten Blick war ein wiederkehrendes Element, ebenso Fotografien von Mokuba – aber niemals zusammen mit Kaiba. Kaibas Villa beeindruckte, während ich nicht einmal ein eigenes Zimmer hatte. Eiskalte Finger griffen in meine Gedärme. Jemand riss die Eingangstür auf, bevor ich sie auch nur hätte berühren können und Mokuba fiel mir in die Arme. »Du bist da! Du bist die Rettung!«, rief er und ich tätschelte seinen Rücken und fragte mich, ob Yugi vielleicht doch irgendwie Recht haben könnte. »Ähm, ja?« Er zerrte mich mit beiden Händen in die Küche, wo Kaiba mit dem Rücken zu uns stand, eine Packung und eine Dose haltend, abwechselnd blickte er sie an. Seine Hemdärmel waren nach oben gekrempelt, aber trotzdem wirkte er mit seiner schwarzen Stoffhose, den Lederschuhen und dem blütenweißen Oberteil völlig fehl am Platz. Völlig perfekt. »Ich habe das Kino vorbereiten und Mais kaufen lassen. Mokuba, ich bezweifele, dass Spaghetti mit –«, er las es von dem Glas ab, als sähe er es zum ersten Mal, »Tomatensoße das höchste Maß darstellt, das wir bieten sollten. Aber wir könnten etwas weitaus – Angemesseneres zubereiten lassen.« Dann drehte er sich um und schaute mich an, als wäre das alles meine Schuld. Sein Blick raubte mir den Atem – vor Ärger. Ich krempelte gedanklich schon meine Ärmel hoch, um meinen Zorn loszulassen, als Mokuba heftig den Kopf schüttelte. Seine Locken flogen wild umher und auf seinen Wangen breiteten sich gleichzeitig eine Röte und ein Lächeln aus. »Keine Angestellten«, erinnerte ihn Mokuba streng, »ich will einfach nur normal sein. Ohne irgendwelche Bodyguards oder Hausangestellte! Spaghetti mit Tomatensoße sind perfekt.« Mein Blick schweifte durch die offene Küche, die größer war als die Wohnung, in der ich aufgewachsen war, an den Statuen von Drachen und den Fresken der Decken entlang, in den Garten mit Teich und Pool und Springbrunnen, Bäumen und Bänken, zu Seto Kaiba, an dem alles absolut nicht durchschnittlich war. Und dann zurück zu Mokubas entschlossenem Gesicht, als wäre sein oberstes Ziel, heute Abend alles verschwinden zu lassen, das ihn unnormal erscheinen ließ. Ich fragte mich, ob er irgendwo tief drinnen einsah, dass das in Gegenwart von Kaiba unmöglich war. »Als erstes benötigen wir einen Topf, Wasser und etwas Salz«, erklärte Kaiba mit gehobenem Kinn und klang, als spräche er von einem neuen Business-Projekt, während er ein paar Küchenschränke öffnete, dann noch ein paar weitere. Und noch mehr. Er ignorierte, als sein Phone vibrierte, ignorierte es, als es wieder vibrierte und legte statt abzuheben, seine Stirn in Falten und blieb dann mitten in der Küche stehen, als würde er sich erst jetzt klar darüber, wo er war. »Mokuba, wo stehen die Töpfe?«, fragte er mit zusammengepressten Lippen und Mokuba und ich wechselten einen Blick, dann wandte sich Mokuba an mich, schaute mich von unten mit seinen großen, blauen Augen und ich wusste, ich hatte verloren. »Joey, du kannst Spaghetti und Popcorn machen, oder?«, fragte er und ich hielt ihm grinsend meinen Daumen entgegen.   »Popcorn, Nachos, Cola«, zählte ich auf, »und – am wichtigsten – Eis. Alles da!« Die Leinwand im Keller war nicht so groß wie die eines richtigen Kinos, aber groß genug, um meine Augen beinahe herausfallen zu lassen. Die Sitze waren gepolstert und großzügiger als die im örtlichen Kino, man konnte sie verstellen und sich bequem in eine halb-liegende Position bringen. Ich stellte Schüsseln voller Popcorn auf die Klapptische der Sitze, Nachos, Cola und allerlei Süßigkeiten. Mokubas Augen strahlten, während Kaibas Augen ihn anstrahlten. Und mir wurde klar – nicht zum ersten Mal – dass Kaiba alles versuchen würde, um Mokuba glücklich zu machen. Dass er dafür über seinen eigenen Schatten sprang, dass er Spaghetti kochen würde. Dass er sogar Hilfe zulassen würde, um Mokuba einen perfekten, einen ganz normalen Abend mit Freunden zu ermöglichen. Als Kaiba meinen Blick bemerkte, verengte er seinen, dann klingelte sein Handy und er schritt eilig nach oben. »Joey«, murmelte Mokuba und trat von einem Bein aufs andere, während er Popcorn aus der Schüssel stibitze. »Ich will gern, dass meine Freunde nicht denken, ich wäre – irgendwie –« – verwöhnt. – ein reiches Balg. – der kleine Bruder vom Geldsack. Mir fielen auf der Stelle dutzende Möglichkeiten ein, die Mokuba vermeiden wollte. Aber nicht das, was er dann hervorbrachte. »Anders.« Manchmal wirkte er so durchdacht, so erwachsen, dass ich vergaß, wie jung Mokuba eigentlich war. »Als Kind hab ich mir manchmal gewünscht, dass die KC abbrennt und Seto deswegen nicht mehr dorthin geht.« Seine Worte klangen in meinem Gedächtnis und mir wurde bewusst, dass nicht nur Kaiba Opfer gebracht hatte für das Leben, das sie führten. Dass jeder Opfer im Leben brachte. Aber war es überhaupt für die beiden möglich so etwas wie Normalität zu haben? Ich legte meine Hand auf seinen Kopf. »Weißte, ich glaub, deine Freunde mögen dich, genauso, wie du bist. Mach dir keinen Stress.« Das Lächeln, das sich daraufhin auf seinen Lippen ausbreitete, ließ mich schwören, jeden kleinen Penner, der es wagen sollte, Mokuba den heutigen Abend zu vermiesen, mir eigenhändig vorzuknöpfen. Er hängte sich um meine Hüfte und ich schwor, ihn nicht zu enttäuschen. Niemals.   Wenn man Kaiba betrachtete, verlor man sich in seinem Charisma, seinen verdammt blauen Augen und den bescheuerten Kommentaren, die er machte. Seine Arroganz stank bis zum Himmel und sein Reichtum katapultierte ihn manchmal an den Rand des gesunden Menschenverstandes. »Lass uns auch eine Runde zocken«, rollte irgendwann über meine Lippen, während wir von hinten beobachteten, wie Mokuba und seine Freunde auf dem riesen Bildschirm eines der neuesten Spiele der Kaiba Corporation spielten. Es war einer dieser Kommentare, die man am liebsten sofort wieder zurücknehmen würde. Ich lehnte an der Wand, Kaiba stand rechts von mir. Unsere Schultern berührten sich fast, aber auch nur fast. Seine Hände steckten in den Hosentaschen, sein Blick starr auf die Jungs und das Mädchen gerichtet. Sie johlten und kicherten und dazwischen raschelten immer wieder die Packungen voller Süßigkeiten. Ich konzentrierte mich auf das Game auf der Leinwand, aber all meine Sinne richteten sich auf diese zehn Zentimeter, die Kaiba und mich trennten. Kaiba schnaubte nur und ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass das alles an Antwort war, was ich bekommen würde. »Ich dachte, das ist eine Spielenacht«, murrte ich. »Nicht für dich«, widersprach er und zog sein Phone aus der Hosentasche. »Du arbeitest. Oder wofür möchtest du bezahlt werden?« Hitze stieg mir den Nacken entlang. »Moment, hast du mich als Mokubas Babysitter eingestellt? Wann?« »Was dachtest du? Dass ich dich dazu einlade? Du bist nichts weiter als ein Angestellter, Wheeler.« Damit wandte er sich um und ließ mich stehen, während er sein Handy ans Ohr hob. Ich starrte ihm nach. Natürlich nicht. Es war mir egal, ob unsere Beziehung rein beruflich war – nur auf Verträgen basierte. Es war absolut okay für mich, für ihn nur ein weiterer Angestellter zu sein. »Joey, Joey! Haben wir noch Popcorn. Hey, was –« Ich straffte meine Schultern, winkte ab und grinste Mokuba zu, aber es fühlte sich an, wie eine Maske.   Fünf Stunden später lag ich halb-tot auf einem der Sitze und stopfte mir die Popcorn-Reste in die Wangen, während Mokuba mit geröteten, aber glänzenden Augen plapperte. »So genial! Du bist richtig cool, Joey! Meine Freunde fanden den Abend genial und dich und alles!« Nach dem Hoch, auf dem ich wegen Mokubas Worten trieb, rammte mir Kaiba ein Tief in den Magen, als er mir einen Scheck ausfüllte. Wir standen in der Eingangshalle, Mokubas Freunde waren gegangen und Mokuba lag im Bett, als Kaiba sein Scheckbuch aus der Brusttasche kramte und ohne ein Wort begann zu schreiben. Seine Finger umklammerten den Füller, als suchte er Halt, aber er zitterte nicht. Die Ärmel waren noch immer – oder wieder? – hochgekrempelt und seine Adern hoben sich bläulich gegen die helle Haut seiner Unterarme ab. Sie wirkte so weich, so ein krasser Gegensatz zu der Härte in seinen Augen. Wenn man Kaiba betrachtete, haute einen seine Distanz und Kälte in den Magen. Er führte so weit vorne, dass ihn niemand einholen konnte. Niemand, der normal war. Alles an ihm war überdurchschnittlich. Auch, wenn Mokuba für einen Abend so tun konnte, als wäre er ein normales Kind. Die Wirklichkeit sah anders aus. Genauso, wie ich für eine Weile so tun konnte, als spielte ich in Kaibas Liga. Es war nichts als eine Lüge, wenn man sich sagte, man könnte Kaiba erreichen, man könnte die zehn Zentimeter überbrücken, ihm in die Augen sehen und nicht das Gefühl haben, dass er auf einen hinab sah. »Lass stecken«, presste ich hervor und griff nach der Türklinke. So oder so ähnlich – das hatte ich schon immer mal zu Kaiba sagen wollen. Und so ließ ich den Geldsack einfach mit dem Scheckbuch in der Hand stehen – wollte es so sehr. »Deine Anwesenheit in meinem Büro – stört mich beim Arbeiten.« Ich erstarrte und mein cooler Abgang zerplatzte wie ein Glas, das auf den Boden donnerte. »Warum kommst du ständig in mein Büro, Wheeler?« Weil ich einen ruhigen Platz zum Arbeiten brauchte, weil ich meine Gedanken dort am besten zusammenkriegte, weil ich – »Warum lässt du mich?«, presste ich zwischen den Zähnen hervor, ohne mich umzudrehen, starrte auf meine Hand an der Klinke und versuchte mit reiner Gedankenkraft, die Tür zu öffnen. Meine Muskeln versagten ihren Dienst, mein Wille blieb irgendwo zwischen Hirn und Nerven stecken. »Ich weiß es nicht«, gab Kaiba zu und meine Augen weiteten sich, dann presste ich die Klinke nach unten und verschwand. Das Gefühl, ich würde fallen, ließ mich nicht los. Er hielt mich nicht auf.   »Du hast falsch gelegen, Kumpel«, murrte ich am Abend, als wir beide schon lange im Bett lagen und Yugi schon schlief. »Wendet sich nichts zum Guten. Kaiba ist ein Arsch. Und bleibt einer.« »Ach, Joey«, murmelte Yugi und ich bekam einen halben Herzinfarkt, »wann hat dich das abgehalten, zu tun, was du für richtig hältst?« Ich starrte an die Decke und hörte zu, wie sich mein Herz beruhigte. »Was meinst du?« »Vertrau dir selbst, Joey.« Natürlich beantwortete das weniger Fragen, als neue durch meinen Kopf wirbelten.   In Kaibas Büro durchzog der Alltag unsere Arbeit. Ich verlief mich nicht mehr, wenn ich aufs Klo musste und die Sekretärinnen begrüßten mich mit meinem Namen und einem Lächeln auf den Lippen. Aber sobald ich die Tür wieder schloss, war ich mir sicher, dass die Gerüchteküche brodelte. Was sah Seto Kaiba in so einem wie mir? »– aus der Gosse«, hörte ich Herrn Le eines Tages zu einem Kollegen sagen. Ich hielt mitten in der Bewegung, ballte meine Finger zu Fäusten. In meinem rechten Ohr klang Yugis Stimme, Herrn Le zu ignorieren, den Kommentar zu schlucken und mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Mich überhaupt auf das Projekt zu stürzen und mich auf konstruktive Kritik zu beschränken, mir selbst zu vertrauen, was auch immer das hieß – nicht solchen stechenden Bemerkungen. Aber da war auch diese Stimme in meinem linken Ohr. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und schritt zu Herr Le und seinem Kollegen, hielt kurz vor seiner Nase. Ich war ihm so nah, dass ich seinen Atem auf der Wange spürte und meine Wut leckte an meinen Fäusten. Ich verdrängte das, was ich nicht sehen wollte und betonte das, was mir passte. Am liebsten hätte ich ihm meine Faust ins Gesicht gerammt. Wie oft hatte ich so meine Probleme gelöst? Und vervielfacht. »Vielleicht«, flüsterte ich, »aber ich trau mich wenigstens Leuten meine Meinung ins Gesicht zu sagen.« Ich senkte meine Fäuste und redete mir ein, dass ich nicht mehr derjenige war, der Probleme mit Schlägen löste. Dass ich hierher gehörte. Ich war ein Lügner, aber ich reckte mein Kinn, drückte ihn zur Seite und stolzierte an ihm vorbei.   Die nächsten Tage verliefen unspektakulär, zu unspektakulär. Natürlich hatte sich die Geschichte von der Begegnung mit Herrn Le verbreitet wie der Gestank von Fisch. Jeder Blick, jedes Getuschel, jeder, einfach verdammt jeder pisste mich an. Aber niemand sagte ein Wort. Ihre Augen sagten genug. Die Stimme in meinem linken Ohr stimmte ihnen zu. Ich hatte hier nichts verloren, ich war nur ein Kind aus der Gosse, wie sollte ich der Verantwortung gewachsen sein? Wie sollte ich hier überhaupt irgendetwas hinkriegen? Wie sollte ich Kaibas Erwartungen erfüllen? Es war still in mir. Als hätte ich mit der groben Behandlung gegen Herrn Le, alle Kraft verloren. Ich arbeitete leise vor mich hin, während ich die Leere in meinem Magen ignorierte, nicht einmal Maya oder Mailo störten mich mit Witzen oder einer Aufforderung, gemeinsam in der Mensa zu essen. Ich mied sie, genauso wie ich Kaiba mied. Bis der mich am Nachmittag in sein Büro bestellte. Maya machte große Augen und Mailo wünschte mir alles Gute, als müsste er sich auf längere Zeit von mir verabschieden. Mein Herz rutschte mir zwischen die Lungen und ich versuchte ruhig zu atmen. So schlimm würde es schon nicht sein. Kaiba saß hinter seinen Bildschirmen und tippte. In seinem Rücken Domino. Einen Moment fragte ich mich, ob ich mich jemals an den Anblick gewöhnen würde. An Dominos natürlich – nicht an Kaibas. »Herr Wheeler, setzen Sie sich.« Er sah mich nicht an, tippte nur weiter und ich schob den Mund vor. Seit wann würde ich mich einfach setzen, nur weil er es wollte? Warum siezte er mich? Warum verdammt siezte er mich? »Ich hab auch Zeug zu tun«, brummte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn ich meine Sachen packen soll, dann sag es mir einfach und –« »Wheeler, halt die Klappe und setz dich verdammt nochmal!« Ich starrte ihn an, meine Arme fielen zu beiden Seiten hinunter und ich blinzelte, während ich mich auf den Stuhl im gegenüber fallen ließ. Kaiba fluchte nicht, Kaiba hatte sich immer voll unter Kontrolle, Kaiba würde nie – »Was zur Hölle geht in deinem unterentwickelten Hirn vor sich?«, brüllte er plötzlich, als hätte sich alles hinter seiner eisernen Maske aufgestaut, und ich schrumpfte auf knapp fünf Zentimeter. »Erst verweigerst du deine Zusammenarbeit, dann drohst du einem leitenden Mitarbeiter? Dein Ruf in der Firma dringt bis zu meinen Ohren vor und –« »Wow! Tut mir echt leid, dass du dich mit mir abgeben musst!«, keifte ich zurück und sprang vom Stuhl auf. »Ich glaub, du begreifst nicht, was auf dem Spiel steht, aber dein Hundehirn –« Jetzt standen wir uns gegenüber, nur der Schreibtisch, der uns trennte. »Halt dein Maul! Wag es nicht, mich mit einem –« »– kann jede Information, die über Essen und Schlafen hinausgeht anscheinend nicht –« »Was weißt du schon? Du sitzt hier und über allen und –« »Deine Unzuverlässigkeit und deine Respektlosigkeit! Dann tauchst du einfach immer wieder in meinem Büro auf –« »Deine Ignoranz toppt doch alles, Kaiba!« »Ich hab dir jede Chance gegeben, um dich als Angestellter zu etablieren und –« »Du kapierst's einfach nicht! Ich will nicht nur dein bekackter Angestellter sein! Ich bin nicht nur ein Angestellter! Du hast mich geküsst, verdammte Scheiße! Hör auf mich zu ignorieren!« Stille. Eins. Meine Atemstöße durchbrachen die Stille, die in meinen Ohren dröhnte. Kaibas blaue Augen stierten mich an, als versuchte er, ein wildes Tier einzuschätzen, dann ließ er sich langsam zurück in seinen Bürosessel gleiten. Zwei. »Oh, bitte, und das fällt dir erst jetzt auf, Wheeler?«, spöttelte er und massierte seine Nasenwurzel. Entgegen der Ruhe in seinen Worten, der Distanz und des Hohns, überquollen in seinen Augen Ärger, Unglaube und etwas, das ich noch nie zuvor in seinem Blick gesehen hatte. Ich stand da, wie bestellt, und starrte auf ihn hinab und fühlte mich doch viel kleiner als er. Drei. Ich zählte innerlich und versuchte mich auf die Nummern zu konzentrieren. Um ja nicht zu explodieren. Vier. Oder auseinander zu fallen. Ich wusste, wie ich die Wahrheit so auslegte, dass ich damit leben konnte. Wahrheit war sowieso nichts Objektives. Wahrheit lag im Auge des Betrachters. Das Blau seiner Augen durchbohrte mich wie Dolche. Fünf. Raus aus meinem Viertel. Sechs. Mit den reichsten Personen der Stadt diskutieren. Sieben. Anerkennung. Lob. Geld. Acht. Mich und mein Talent beweisen. Neun. Diese Blicke. Die sich von »Gossenkind« in »begabter Angestellter« wandelten. Zehn. Ihn. Kapitel 48: … bin nicht einfach ------------------------------- __________________________________________   es wäre ja so einfach wenn es einfach wäre © Anke Maggauer-Kirsche    __________________________________________           Ich war – das sagte Tris – einfach willensstark. Thea bezeichnete es als einfach stur. Serenitys Ansicht nach war ich einfach, wie ich war. Yugi meinte, dass ich mich eben einfach nicht unterkriegen ließ. Keiner von ihnen hatte Unrecht. Aber sie vergaßen zwei Dinge. Erstens. Ich war nicht einfach. Zweitens. Ich war komplizierter.   »Also was willst du, Wheeler?« »Ich – ich will«, verdammte Scheiße, warum benahm ich mich immer wie ein Trottel, wenn er mich so ansah? Ich fuhr mir durchs Haar und schaute aus dem Panoramafenster. An die Aussicht von hier oben würde ich mich nie gewöhnen, es würde mir immer und immer wieder vor Augen führen, wo ich herkam und dass ich jederzeit wieder nach unten fallen könnte, während er hier oben thronte. Ich atmete tief durch, steckte beide Hände in meine Hosentaschen und schaute ihn an. Wie er hinter seinen Computern und Bildschirmen saß und seine Finger aneinander lehnte. »Was willst du, Kaiba?«, wollte ich wissen. Er schwieg. »Du weißt es selbst nicht, oder?«, fuhr ich fort und wusste nicht, ob das Brodeln in meinem Bauch Wut oder Enttäuschung war. Er schaute als erstes weg. Aber es fühlte sich nicht wie ein Sieg an. Ich wollte einfach nur weg. Egal, was ich mir eingebildet hatte, es war lächerlich. Dann schaute er mir direkt in die Augen. »Ich weiß immer, was ich möchte.« Er kam mir näher. Wann war er aufgestanden? Seine Schritte erinnerten mich an einen Panther und ich schluckte, obwohl ich ihm entgegen schleudern wollte, dass er sich seine Sprüche mal seinen – Er stand mir gegenüber, sein Blick wanderte mein Gesicht entlang, über meine Lippen – ich schluckte schon wieder – und dann schnaubte er. »Aber nicht immer ist das, was man sich wünscht, das, was man braucht. Oder was einem guttun würde.« Meine Gedanken wirbelten in meinem Kopf. Wann hatte mir jemals etwas nicht gutgetan, was ich mir gewünscht hatte? Das war doch totaler Unsinn. Dann blitzten Erinnerungen auf. Yugi, dem ich seine Karten abnahm, während Tris und ich lachten. Yugi, der mich anbettelte, sie nicht zu zerreißen. Yugi, dem ich seinen Geldbeutel aus dem Rucksack riss. Tris, den ich schlug. Thea, die ich anschrie. Hatte ich das wirklich gewollt? Damals hatte es sich gut angefühlt. Was, wenn dieses gute Gefühl verflog? Was blieb übrig? Eine Ruine. War das mit Kaiba dasselbe? Nur anders? Ich starrte ihn an, dann drehte ich mich um und ging. Er hielt mich nicht auf.   In meinem Kopf lauerte eine Stille. Als stünde ich inmitten eines Orkans und wartete darauf, dass der Sturm losbrach. Aber nichts. Ich arbeitete in der KC und abends lag ich neben Yugi und ich traf ab und zu Tris und Thea und meine Geschwister und dann saßen wir im Garten hinter dem Spielladen und alles war okay. In meinem Bauch herrschte Stille. Als stünde ich an einem Ufer und sah von weitem die meterhohen Wellen und wartete darauf, dass sie einschlugen, aber sie näherten sich nicht. Ich traf meine Eltern ab und zu im Krankenhaus, wo ich Serenity und Jacob abholte und wieder hinbrachte und meine Mutter schaute mich an, aber ich tat so, als bemerkte ich ihre Blicke nicht. Und es war alles okay. In meiner Brust hauste eine Stille. Als hörte ich den Donnern in der Ferne, sähe die Blitze am Horizont, aber es regnete nicht einmal. Die Sonne schien und ich tat so, als hörte ich das Geflüster hinter meinem Rücken nicht und die Blicke und die Erwartung, die sich auf meinen Schultern türmte, während ich auf den Dächern der KC balancierte und darauf wartete, dass der Blitz mich erschlug.   Ich stand hinter dem Tresen in Spielladen und blätterte durch ein Magazin, daneben lagen mein Skizzenbuch und ein Bleistift und ein Tablet der KC, aber ich brachte nichts zustande. An dem Tisch neben dem Tresen saßen Yugi und mein Bruder und spielten eine Runde mit Karten. Serenity lachte mit Thea irgendwo hinten im Garten und Tris hing bestimmt neben meiner Schwester herum. Dann klingelte das Glöckchen an der Tür und ich sah auf. Mokuba stapfte durch den Verkaufsraum und ich hob die Augenbrauen, als ich seine Mimik sah. Roland folgte mit einigem Abstand. »Hey«, brummte er und sein Tonfall passte gar nicht zu dem enthusiastischen Jungen, der er sonst war. »Alles okay?«, fragte ich und legte das Magazin zur Seite. Ich bemerkte, dass Yugi uns beobachtete, während er Karten austeilte. Mein Blick sprang zu Roland, der wie sonst auch nichts preisgab. »Ja«, behauptete Mokuba und lächelte, aber es sah mehr aus, als hätte er in eine überreife Banane gebissen. »Also eigentlich nein«, widersprach er sich auch sofort und schnaubte. »Sagt mal. Kann ich – kann ich hier übernachten?« Mein Blick schnellte zu Yugi, der ihn erwiderte. »Ist was passiert?«, wollte er wissen und hielt inmitten seines Zuges inne. Mokuba schüttelte den Kopf, während er auf seine Schuhe schielte. »Was hat Kaiba zu dir gesagt?«, fragte ich. »Nichts«, murmelte Mokuba. Ich schnaubte, aber er schaute auf und wiederholte, dass sein großer Bruder nichts gesagt hätte. »Und eigentlich ist das auch das Problem. Ich habe ihn die letzten Tage kaum gesehen. Er ist so gut wie immer in seinem Büro und kommt erst nach Hause, wenn ich schon eingeschlafen bin. Und steht so früh auf, dass ich es manchmal gar nicht mitbekomme. Ich könnte schwören, dass er an manchen Tagen einfach in der KC übernachtet.« »Was? Er lässt dich alleine?« Ich sprang hinter dem Tresen hervor, legte beide Hände auf die Schultern des Jungen und in meinem Kopf braute sich ein Gewitter zusammen. »Nein, nein. Roland ist immer für mich da.« Mokuba warf dem Mann im Anzug und mit Sonnenbrille einen Blick zu, zu dem nur Mokuba fähig war. Dankbarkeit und Zuneigung und das mit einer Aufrichtigkeit, die auch den Geldsack schmelzen ließ. Roland nickte knapp, hielt sich aber weiterhin im Hintergrund. »Aber«, Mokuba lehnte sich zu mir, als vertraute er mir geheime Informationen an, »ganz ehrlich, der braucht auch mal eine Pause. Und ich dachte, ich könnte – bei euch – bleiben?« Gegen Ende seines Satzes schaute er unsicher zwischen mir und Yugi hin und her und fingerte an dem Saum seines T-Shirts herum. »Ohja!«, rief Jacob und schien ganz aus dem Häuschen, als wäre in dem Moment ein Plan in seinem Kopf hochgegangen. Bevor Yugi seinen Mund aufmachen konnte oder ich protestieren – nicht, dass ich es vorgehabt hätte – stand Jacob schon bei Mokuba und zog ihn hinter sich her in den Garten. »Wasserschlacht!«, hörte ich ihn rufen und danach Thea quietschen. Roland stand weiter einfach da und ich wechselte einen Blick mit Yugi, der seine Schulter zuckte. »Haben Sie Durst?«, fragte ich höflichkeitshalber und ich rechnete mit einer ebenso höflichen Ablehnung, stattdessen seufzte Roland – oder ich bildete es mir ein – und nickte. Das bildete ich mir nicht ein. Drei Minuten später stand er mit einem Glas Wasser in der Hand auf der Terrasse, beobachtete, wie Mokuba mit meinem Bruder durch den Garten tollte und dabei Tris und Thea hinter ihnen mit dem Gartenschlauch her hetzten, während Yugi versuchte dem Wasser auszuweichen und dabei schändlich versagte. Sein Haar fiel ihm wie ein Mob in die Augen. »Weiß Kaiba eigentlich Bescheid?«, fragte ich und schlurfte meine Cola, in der Eiswürfel klirrten. »Ich habe ihn nicht persönlich erreichen können, aber ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen.« Ich glaubte, so viele Worte hintereinander, hatte Roland noch nie mit mir gesprochen. »Wenn Sie wollen, dann können Sie Mokuba uns überlassen. Ich mein, Sie haben doch auch mal Feierabend.« Es klang mehr nach Frage als Feststellung. Hatte Roland offiziell Feierabend? Und wenn ja, wann? Hatte er ein Privatleben oder gab er alles für diese beiden Brüder auf? Gehörte das dazu, wenn man mit den Kaiba-Brüdern zu tun hatte? Trat man automatisch irgendwann in den Schatten? »Es macht mir nichts aus – im Gegenteil. Es ist mir eine Ehre, bei Herrn Kaiba und seiner Familie angestellt zu sein«, erwiderte Roland, ließ Mokuba nicht aus den Augen, als erwartete er jeden Augenblick einen Angriff aus dem Verborgenen. Ich wollte ihn gerne fragen, warum. Was hatte Kaiba getan, dass Roland ohne zu zögern, ohne Fragen zu stellen, sein Privatleben hintenanstellte? Und was würde für ihn übrigbleiben, wenn seine Arbeit für sie getan war? Ich hatte mir nie Gedanken darum gemacht. »Es macht mir auch nichts. Im Gegenteil«, erwiderte ich und in diesem Moment wandte er sich mir zu und löste seinen Blick von Mokuba, um mich anzuschauen. Ich erstarrte. Trotz der Sonnenbrille versenkte sich sein Blick in meinem. »Bei Herrn Kaiba angestellt zu sein, bedeutet, Teil seines Lebens zu sein. Seine Arbeit bedeutet sein Leben. Es gibt nur eine Sache, die ihm mehr bedeutet. Wenn Ihnen das nichts ausmacht, dann erst können Sie wirklich ein Teil seines Lebens werden.« Ich starrte ihn an, öffnete meinen Mund, aber ich wusste nicht, was es darauf zu antworten gab. Was es bedeutete. Außer, dass Mokuba diese eine Sache war. Dann verbeugte er sich leicht vor mir und nickte mir zu. »Ich überlasse Mokuba Ihrer Aufsicht. Einen guten Abend wünsche ich Ihnen.« Ich sah ihm nach, so lange, bis er gar nicht mehr dort war, wo ich hinstarrte. Dann erwischte mich ein Strahl eiskalten Wassers und ich quietschte. Mokuba und mein Bruder brachen in Lachen aus und ich stürzte ihnen hinterher, während ich ihnen zurief, was sie erwarten würde, sobald ich sie in meine Finger kriegte. Natürlich lachten sie nur noch mehr. Und in meinem Bauch kribbelte das Gefühl von Sommer und Unendlichkeit in diesem winzigen Augenblick.   Am Abend lagen wir alle auf Isomatten und in Schlafsacken im Garten unter einem sternenklaren Himmel. Großvater Muto saß auf der Hollywoodschaukel und erzählte von seinen Abenteuern in Ägypten, während ab und zu abwechselnd Yugi und ich seine Stories leise mitsprachen, was Jacob und Mokuba zum Kichern brachte. Theas Hand lag in Yugis und ich warf Tris einen mahnenden Blick zu, als seine Finger auffällig nahe an Serenitys rutschten. Er zog sie sofort zurück und ich starrte zufrieden in den Himmel, zählte Sterne, während ich die Pyramiden vor mir sah. »Wow! Eine Sternschnuppe! Hast du die gesehen, Joey? Habt ihr die gesehen?«, rief mein Bruder aufgeregt und Mokuba sah schon gleich die nächste. »Ihr müsst euch was wünschen«, erklärte Thea, »aber ihr dürft es niemanden verraten!« Ich sah zur Seite, wo Mokuba zu meiner Rechten lag und die Augen zusammenpetzte und zu meiner Linken, wo Jacob konzentriert in den Himmel starrte. »Was eigentlich absoluter Unsinn ist, denn die Wahrscheinlichkeit, dass Wünsche erfüllt werden wächst, wenn man sie mit Freunden teilt«, fuhr Thea fort und klang wie meine Englischlehrerin. »Ich hab mir gewünscht, dass wir für immer zusammen sind!«, rief Jacob sofort und ich zuckte zusammen, als seine Finger sich in meine gruben, aber ich zog sie nicht zurück, sondern umfasste seine Hand und ließ nicht los. »Und dass wir eine glückliche Familie werden«, fügte er leise hinzu. Mir stockte der Atem. »Oh, Mist!«, rief er dann, klatschte seine Hand gegen die Stirn und fuhr hoch, so dass er in seinem Schlafsack saß und sein Blick wanderte über uns und dann blieb seiner in meinem hängen. Ich versuchte, seinen Augen nicht auszuweichen, die Zufriedenheit in seiner Mimik, nicht davonfliegen zu sehen, wie die Sternschnuppen, auf die er so viel Hoffnung setzte. »Das sind ja zwei Wünsche, oder?«, murmelte er und Verzweiflung zog sich durch seine Stimmlage. »Du kannst meine Sternschnuppe haben«, bot ihm Mokuba an und lächelte. »Echt? Geht das?« Jacob sah zu Thea, als wäre sie die Richterin in Sachen Sternschnuppen-Gesetze. Sie nickte mit ernster Miene und ein schiefes Lächeln zupfte an meinen Lippen. Innerlich dankte ich ihr, dann schaue sie zu mir und grinste und ich erwiderte es und wusste, in diesem Augenblick dachten wir dasselbe. Jacob machte ein freudiges Geräusch, plumpste zurück auf die Isomatte und streckte seine Arme gen Himmel, als versuchte er, die Sterne zu greifen. »Dann wird alles gut«, behauptete er mit einer Zuversicht, die mein Lächeln von den Lippen bröckeln ließ und in meinem Bauch wuchs dieses Etwas, das meine Kehle austrocknete und meinen Kopf leerfegte. »Aber, Mokuba –« Jacob stützte sich auf seine Ellenbogen, um über mich hinweg zu Mokuba zu linsen. »Was ist jetzt mit deinem Wunsch?« Er klang ehrlich besorgt, aber Mokuba lächelte nur und sagte: »Das ist schon okay. Deine Wünsche waren dringender.« Mein Blick klebte an Mokuba, der in den Himmel schaute und so tat, als bemerkte er es nicht. Und ich fragte mich, was er sich gewünscht hatte.   Ich streckte meine Hand aus und schreckte zurück, als meine Fingerspitzen etwas Kühles, Feuchtes ertasteten. Etwas sprang auf meinen Rücken, presste die Luft aus meinem Brustkorb und legte sein Gesicht in meinen Nacken. Ich wälzte mich hin und her, aber davon ließ sich dieses Etwas nicht beirren. »Joey, wach auf!« Jacob pustete gegen meine Haut und eine Gänsehaut breitete sich in meinem Nacken aus. »Joey!« Das war Mokuba, der sich hinter Jacob auf meinen Rücken setzte. Ich hörte Serenity kichern. Licht schien durch meine Augenlider und ich grummelte, dass es zu hell und zu früh war. »Dann gibt's mehr Brötchen für uns«, behauptete Jacob und klettere von meinem Rücken und ich wusste ich hatte verloren, als ich Thea und Tris plappern hörte und der Duft von Kaffee aus der Küche zu uns wehte. Ich drehte mich um und Mokuba landete neben mir und lachte, während ich Jacob über die Terrasse in das Haus flitzen sah. Yugi und Thea schlenderten Hand in Hand über den Rasen und Tris belagerte meine Schwester, die einen Korb Brötchen auf den Tisch auf der Terrasse brachte. »Was wünschst du dir?«, flüsterte ich und legte meinen Kopf auf meine Arme, nutzte diesen Moment von Zweisamkeit, um meine Neugierde zu befriedigen. Mokuba verstummte und damit verflog die Leichtigkeit von dem Augenblick zuvor. »Was meinst du?« Wäre er nicht ein kleiner Kaiba gewesen, hätte ich ihm vielleicht seine Ahnungslosigkeit abgenommen. »Die Sternschnuppe – was hätte sie dir –« »Ich glaube da nicht mehr dran«, unterbrach er mich trotzig und setzte sich auf, aber ich packte seinen Ärmel und sein Blick flog zu mir. »Sag es ihm einfach, Mokuba. Er will, dass du glücklich bist.« Mokuba stierte mich an. Sein Blick in meinem, als suchte er etwas in ihm. »Das ist nicht so einfach«, behauptete er dann. Und ich widersprach ihm nicht, denn wer wusste das besser, als ich? »Das hab ich nie gesagt«, gab ich zu und setzte mich selbst auf, so dass wir für einen Moment Seite an Seite zwischen Schlafsäcken und Isomatten saßen. »Warum sagst du es ihm nicht einfach?« In seinem Ton lag so etwas wie Herausforderung und als ich ihn fragend anschaute, sah ich es in seinen Augen, bevor er die nächsten Worte sagte. »Du magst meinen Bruder.« Es war keine Frage. Ich wartete darauf, dass mich der Blitz traf. »Wie sehr?« Das hingegen schon. Ich wartete darauf, dass mich der Orkan hinwegfegte. Aber stattdessen stierte mich Mokuba an und nichts schien mich von seinem Blick erlösen zu wollen. »Ich – ich. Quatsch«, entgegnete ich. Es gab wirklich plausible Gegenargumente. Leider fielen sie mir in diesem Moment nicht ein. Dann tröpfelten Begriffe wie Geldsack und Eisschrank und arroganter Schleimbeutel und halt einfach Kaiba durch meine Gedanken. Ich war verflucht. Dass mein Mund nie die Worte produzierte, die mein Hirn bildete. Ich erwiderte Mokubas Blick mit offenem Mund. »Du solltest es ihm einfach sagen«, meinte er und ich riss mich von seinen Augen los, die wie die seines Bruders waren – nur ohne diesen ganzen Groll. »Da gibt es nichts einfach zu sagen«, behauptete ich. »Es würde eh nichts. Er ist – er. Und ich«, hier atmete ich tief ein und versagte hoffnungslos bei dem Versuch meine Gedanken zu entwirren, »ich bin eben ich. Da gibt's nichts weiter.« Hatte ich gerade wirklich ein Gespräch über – über was eigentlich? Mokuba beobachtete mich, ich sah es aus den Augenwinkeln. »Ich glaub, du machst dir zu viel Stress. Er mag dich so, wie du bist.« Mein Kiefer fiel mir auf die Füße. »Das ist doch –« Ich wollte sagen, dass es darum gar nicht ging. Aber seine blauen Augen brachten mich zum Schweigen. »Joey, du bist total chaotisch und stur und manchmal verstehst du Sachen erst beim dritten Mal –« »Danke«, raunte ich beleidigt. Er grinste. »Aber eins bist du nicht«, sagte er und ich runzelte die Stirn. Er verdrehte die Augen. »Feige«, behauptete er und hob die Brauen. Dann stand er auf und ich ließ ihn. Mit einem Seufzen ließ ich mich zurück auf die Isomatte fallen und wünschte mir, es wäre nicht so kompliziert.   Vögel zwitscherten und in der Luft lag diese Mischung aus Kaffee und frischen Brötchen. Wir saßen auf der Terrasse um einen vollbepackten Tisch und das Gefühl von Sommerferien tänzelte zwischen uns. Mein Blick glitt über meine Freunde, meine Geschwister und ich wünschte mir, dass dieser Morgen stillstünde. Irgendwann zwischen meinem fünften Brötchen und zweiten Kaffee, trat Kaiba durch die Hintertür – und damit zerplatzte die Illusion. Wir verstummten. Und mein Herz stolperte. Wahrscheinlich war das ein Herzinfarkt. Wenigstens starb ich, während ich aß. Kaibas Anwesenheit unterbrach das Geklapper des Geschirrs und Tristans Versuch, einen Witz zu erzählen, dessen Pointe er ausnahmsweise nicht vermasselte. Herr Mutos Bemühung, Kaiba an den Frühstückstisch zu bugsieren, war natürlich so erfolgsversprechend, wie einen Veganer auf eine Tasse Milchkaffee mit Sahnekuchen einzuladen. Statt mit sarkastischen Bemerkungen und Spott um sich zu schmeißen, schwieg Kaiba, nachdem er Mokuba verkündet hatte, es wäre Zeit nach Hause zu gehen. Mein Blick blieb an ihm hängen, obwohl ich ihn ignorieren wollte. Das alles war einfach lächerlich. Und sicherlich gab es dafür sogar einen schlauen psychologischen Namen. Er sah irgendwie kränklich aus. Seine Haut fahl und unter seinen Augen hingen schwarze Ringe. Was ließ ihn nicht schlafen? Hatte er sich Sorgen um Mokuba gemacht? Mokubas Blick huschte von seinem Bruder zu mir und wieder zurück, dann seufzte er und zog sich seine Schuhe an, schob seine Unterlippe vor und murmelte etwas von »überhaupt noch meinen Namen weiß« und »kapieren gar nichts«. Kaibas Blick streifte mich und in meinem Kopf schrien Stimmen. Er strich seinen Pony zurück, stand da im Anzug, sein Hemd zerknittert, die Krawatte schief. In meinem Bauch brodelte Hitze. Dann wandte er sich um, während Mokuba sich von allen verabschiedete. In meiner Brust hämmerte es. Und ging. Er verschwand durch die Tür im Spielladen. Ich schnappte mir ein Brötchen, obwohl ich keines mehr essen wollte. Dann bemerkte ich Yugis Blick und Theas und Tristans und Serenitys und Jacobs, der verwirrt zwischen allen hin und her sah. »Ich glaube, ich muss – ich mein, ich will«, sagte ich gedehnt und starrte das Brötchen an, legte es auf meinen Teller und sprang von meinem Stuhl auf, ohne den Satz jemals zu beenden.   Kaiba stieg in die Limousine ein, als ich an die Tür stürzte und sie weiter aufriss. Ich straffte meine Schultern, hob mein Kinn und schaute ihm in die Augen. »Ich will – eine echte Chance. Nicht in der KC mein ich. Nicht – als Angestellter. Also auch, nicht, dass du mich rausschmeißt. Ich mein«, es war zum Verrücktwerden, dass mein Mund nicht die Worte produzierte, die sich in meinem Hirn bildeten. Seine Haut fahl und seine Augen gerötet, als hätte er tagelang in Bildschirme gestarrt. Mein Blick wanderte zu Mokuba, dessen Augen so groß und rund wie Untertassen wirkten. Es wäre zum Lachen gewesen, hätte ich nicht das Gefühl gehabt, jeden Moment in die Tiefe zu stürzen. »Ich will essen – also gehen. Mit dir. Kapiert?« Ich lehnte mich vor und war ihm so nah, dass ich sah, wie sich seine Pupillen weiteten. Und ich hielt den Atem an. Erstens. Ich war nicht einfach. Aber das hielt mich nicht davon ab. »Also. Was willst du, Kaiba?«, presste ich zwischen meinen Lippen hervor, während er mich einfach nur anschaute, als würde er sich erst jetzt klar darüber, dass ich gesprochen hatte. Also, dass ich gesprochen hatte. Zweitens. Ich war komplizierter. Aber manchmal, war es gar nicht schwer. Er zog seine Augenbrauen zusammen, erwiderte meinen Blick, suchte etwas und ich wusste nicht was oder ob er es fand, also schluckte ich. Der spannendste Augenblick im Spiel? Dann, wenn alles vom nächsten Zug abhing. Als stünde ich inmitten eines Orkans und wartete darauf, dass der Sturm losbrach. In meinem Bauch herrschte Stille. Als stünde ich an einem Ufer und sah von weitem die meterhohen Wellen und wartete darauf, dass sie einschlugen. In meiner Brust hauste eine Stille. Als hörte ich den Donnern in der Ferne, sähe die Blitze am Horizont. Ich balancierte auf den Dächern der KC und darauf wartete, dass der Blitz mich erschlug. Und er würde einschlagen. Aber in jedem Moment davor eben nicht und in diesem Augenblick war nichts kompliziert. Die Welt war so federleicht und ich flog über die Köpfe hinweg, den Blicken davon, tanzte über allen Erwartungen. »Freitag, 19 Uhr«, fuhr ich fort. »Mir ist egal, ob du eine blöde Firma zu leiten hast. Kapiert? Ich hol dich ab.« Damit warf ich die Autotür zu und drehte mich auf den Achsen um. Kapitel 49: … bin versunken --------------------------- __________________________________________   In deinen Augen ertrunken. In deinen Armen versunken. Und dabei mißachtet der Worte Klang, denn beides verhieß meinen Untergang. © Sarah Razak  (*1975), Nachdenkerin   __________________________________________           Ich hatte von ziemlich wenig eine Ahnung. Ich war nicht dumm. Aber meine Ideen erstaunten gewöhnlich weder gestandene Geschäftsmänner, noch war meine Umsetzung von Plänen beispiellos. Was man darüber leicht vergaß: Ich war kein Trottel. Ich kannte nicht nur Games und Spaß. Auch, wenn ich gerne so tat. Ich wusste um so viel mehr. Aber manchmal vergaß ich es.   »Und?«, wollte Tristan als erstes wissen, als ich mich auf den Stuhl fallen ließ und mein Brötchen anstarrte. »Ich glaube«, murmelte ich, »ich habe so etwas, wie«, das Wort wollte mir nicht über die Lippen. Ich stammelte etwas von Essen und Freitag. Thea dagegen hatte damit kein Problem. »Das klingt doch nach einem tollen Date. Gemeinsames Essen, Kerzen, romantische Musik.« Ich glaubte, mir wurde schlecht. Tristan kriegte sich nicht mehr ein. Selbst Yugis Lippen zuckten. Ich hatte fast die Panikattacke überwunden, als mich mein Bruder ernst anschaute. »Wenn du ihn heiratest, wird Mokuba dann mein Bruder oder was?« Ich spürte, wie sich Entsetzen auf meinem Gesicht ausbreitete. In dem Augenblick ahnte ich, in was für eine Situation ich mich gebracht hatte und vergrub mein Gesicht in meinen Armen. »Die jungen Leute«, summte Yugis Großvater lachend und schlenderte in den Laden, während mein Bruder mit Tris philosophierte, ob es normal war, wenn ein Junge einen Jungen mochte. Also sehr mochte. Mir stellten sie die Nackenhaare hoch. »Wohin willst du gehen? Hast du ein Lieblingsrestaurant?«, klang Theas Stimme in meinem Ohr. »Und was ziehst du an?« Als wäre das das Dringlichste. Als würde meine Welt nicht zusammenklappen und ich darin versinken. Wenn interessierte, was ich bei der Apokalypse trug? »Und du hast echt gesagt, du holst ihn ab? Wie? Mit dem Fahrrad?« Tristans Grinsen hörte ich durch seine Worte. »Wie hat er eigentlich reagiert?«, wollte Yugi wissen und damit landete ich wieder auf dem Boden. Langsam hob ich meinen Kopf und schielte in den Himmel – und wenn nur, um Tristans Feixen zu entgehen. »Äh –« Keine Reaktion war manchmal doch eine gute Reaktion, oder? Besser als eine negative. Aber schlechter als eine positive. Wobei bei Kaiba manchmal keine Reaktion eine positive Reaktion war. »Na, er muss doch irgendwas gesagt haben. Oder irgendwie – irgendeine Reaktion?«, hakte Tris nach. Mein Blick wanderte ihre Gesichter entlang, dann zuckte ich die Schultern.   Am Abend saß ich auf Yugis Bett, starrte auf meine Matratze und kramte in meinem Geldbeutel. Etwas klirrte verheißungsvoll – aber Scheine klangen so nicht und mit Zehner-Münzen konnte ich nicht einmal das Trinken bezahlen. Ich ließ mich mit einem Seufzen auf den Rücken fallen und starrte die Decke an. Was war das alles überhaupt? Irgendwie hatte es sich in dem Moment richtig angefühlt, aber jetzt hatte ich das Gefühl, ich stünde im Treibsand und würde langsam versinken. Yugi schlurfte ins Zimmer und runzelte die Stirn, als er meine Miene sah. »Joey«, begann er, aber ich wusste schon, was er sagen würde. »Wenn du es nicht willst, dann sag ihm ab.« Mein Blick schoss zu ihm. Das war jedenfalls nicht, was ich von ihm erwartete hatte. Yugis Kommentare beinhalteten doch normalerweise mindestens eine Aufmunterung – irgendeine Art von Zuversicht. Aber ich verstand absolut, wenn selbst er gerade keine aufbringen konnte. »Ich hab kein Geld, ich weiß nicht, was ich anziehen soll, ich weiß nicht, wie ich ihn abholen soll – ich mein, was für eine bescheuerte Idee! Und ich weiß nicht einmal, wohin wir gehen sollten. In den McDonald's? Wie beknackt.« Was hatte ich mir dabei gedacht? Offensichtlich nicht viel. Ich konnte ihn ja schlecht zum Essen einladen und ihn dann bezahlen lassen. Oder? »Du hast Recht, ich sollte ihm absagen«, murmelte ich. Und ich hatte keine Ahnung, was ich eigentlich wollte. »Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Yugi und ein Lächeln zupfte an seinen Lippen. »Frag dich nur eins.« Ich horchte auf. »Würdest du es bereuen, wenn du es nicht tun würdest?« Würde ich? Ich verschränkte die Arme im Nacken, lag mit meinem Kopf auf der Matratze und petzte die Augen zusammen. Müsste ich mir in den Arsch beißen, wenn ich meine Ankündigung zurückziehen würde? Würde ich es bereuen, ihm irgendwann nur als Angestellter, als Mitschüler, als ehemaliger Bekannter gegenüberzutreten? War er das nicht schon lange nicht mehr? In meinen Kopf schossen Bilder, als er hinter dem Spielladen im Garten aufgetaucht war – mir ein Wassereis in den Schoß schmiss, als er im Anzug im Gras saß, neben mir. Seine Lippen auf meinen. Es war wie ein Schwall heißen Wassers – und danach das Gefühl von Eiswürfeln im Magen. Als ich meine Augen wieder öffnete, grinste ich. »Siehst du«, meinte Yugi nur und lachte. »Du wirst es schon überleben.« Wir schmiedeten die halbe Nacht Pläne und am nächsten Morgen bemerkte ich, dass ich fast eine ganze Woche in der KC überleben musste, um überhaupt das Ding mit Kaiba überleben zu können.   Relativität bedeutet, dass einem eine Woche, in der man Nächte durchzockt, vorkommt wie wenige Tage. Und eine Woche, in der man versucht, sein Leben auf die Reihe zu bekommen, wie verdammt viele Tage. In der KC scheuchte mich Herr Le in der Marketingabteilung umher und ich maulte nicht einmal. Ich war ganz woanders. In den Animation Studios bastelten wir an Werbefilmchen und mit Sarah bekamen die Plakate ihr endgültiges Layout. Hinter mir tuschelte das Personal und ich schüttelte es von meinen Schultern wie Staub. Mein Leben war okay.   Ich lag unter dem Apfelbaum hinter dem Spielladen. Die Blätter zeichneten Schatten auf unsere Gesichter, während wir in den Himmel starrten. »Ich sag ihm ab. Ich mein – ist es wirklich absagen, wenn er nicht einmal zugesagt hat? Ich glaub, er geht mir aus dem Weg. So ein Idiot. So ein Feigling!« Serenity kicherte und ich verstummte, schob meinen Mund vor. »Bruderherz«, trällerte sie. »Ich glaube, du wirst es schon hinbekommen. Was kann im schlimmsten Fall passieren?« »Er feuert mich, heuert so Mafiatypen an und wird meine Überreste über das Land verteilt los?« Ich war mir sicher, dass normale Menschen auf solche Kommentare nicht mit einem herzhaften Lachen reagierten. Aber wer in meinem näheren Umfeld war schon normal? »Das Schlimmste wäre wohl eher, wenn er gar keinen Bock hat«, murmelte ich und riss entsetzt meine Augen auf. Seit wann war das das Schlimmste? Serenitys Finger drückten meine Hand. »Ich bin mir sicher, ihm geht es nicht viel anders als dir.« Mein Kopf fuhr zur Seite und ich starrte sie an. »Dir ist aber klar, über wen wir hier reden, oder? Kaiba, ich meine den Seto Kaiba! Uns könnte es nicht unterschiedlicher gehen. Wir sind so unterschiedlich wie – wie –« Natürlich fiel mir kein passender Vergleich ein – aber vielleicht sprach das auch für sich. »Ich mein, er ist reich und ich – und er leitet seine verdammte Firma und ich – ich –« Ich wedelte mit meiner Hand vor meinem Gesicht, als versuchte ich, Gestank zu vertreiben. Serenity seufzte. »Es hört sich vielleicht blöd an, weil man es so oft sagt, ohne es zu meinen. Aber es gibt wirklich Wichtigeres als Geld.« Ich wollte es gerne glauben. »Genau das sag ich ihm dann, wenn ich ihm nicht einmal die Cola im Restaurant bezahlen kann«, murrte ich. »Wer sagt, dass ihr ins Restaurant gehen müsst?« »Wo sollen wir sonst hin? Wir könnten uns zwischen die ganzen Rowdies in den Park setzen«, murrte ich sarkastisch. In dem Moment, in dem die Worte meine Lippen verließen, bereute ich die Herablassung. Immerhin war ich doch einer von ihnen – von den Jugendlichen, die ihre Sommerferien im Park verbrachten, während sie grölend Wasserschlachten gegeneinander führten und damit anderen Besuchern auf den Geist gingen. Zumindest war ich so einer gewesen. War ich es immer noch? »Wenn ihr euch eine Decke und ein bisschen Essen mitnehmt«, fügte Serenity mit einem Grinsen hinzu, »dann nennt man das Picknick.« Ich neigte mein Gesicht zur Seite und schaute sie an. Sie sah aus wie meine Mutter. Dasselbe Haar, dieselbe Augenfarbe. Und sie sah so anders aus. Vielleicht, weil in ihrem Blick, wenn sie meinen erwiderte, Freude lag. »Ein Picknick«, murmelte ich, schüttelte langsam den Kopf und ein Lächeln zuckte an meinen Lippen.   Das nicht-lustig Amüsante bei bestimmten Bereichen des Lebens ist, dass plötzlich jeder Experte wird. »In meiner Jugend«, begann Yugis Großvater, »hat man eine rote Rose geschenkt. Eine simple Geste, die mehr als Worte ausdrückt.« Ich stellte mir vor, wie Kaiba die rote Rose mit einem Blick entflammte. Oder vereiste. »Am besten du beschimpfst ihn und gehst ihm auf die Nerven«, empfahl Tristan grinsend und zuckte mit den Achseln, »hat bisher doch auch funktioniert.« »Setz auf eure gemeinsamen Interessen«, behauptete Thea, »das ist die Grundlage jeder positiven Beziehung.« Mir fiel kein einziges gemeinsames Interesse ein. »Joey, sei einfach du selbst,« ermutigte mich Yugi und klopfte mir auf die Schulter. Natürlich durchspülte ein Blackout meine Gedanken. Wer verdammt war ich eigentlich?   In der KC steckte ich meine Nase zwischen Skizzen, vergrub mich zwischen Sarahs Vorschlägen, Korrekturen und den Ideen der Animation Studios, spielte Laufbursche für die Marketing-Abteilung und regte mich über Herr Le auf – einfach weil das einfacher war, als all die anderen Dinge, die durch meinen Kopf geisterten. »Hey, Joey.« Ich schreckte hoch und sah einen Wuschelkopf und einen verärgerten Blick, der mich verwirrt die Augen verengen ließ. »Mokuba? Was machst du denn hier?« Natürlich stromerte er ab und zu durch die KC, aber eigentlich immer Richtung Kaiba – und der saß einige Etagen weiter oben und nicht hier in den Animation Studios. Maya beobachtete uns neugierig. »Hast du kurz Zeit? Ich habe gehört, du hast gleich Mittagspause?«, fragte er statt einer Antwort und schaute sich wie nebenbei um. Sein Blick wanderte über unsere Schreibtische, die Bildschirme, die Glasfronten, durch die Domino blinzelte. »Äh, ja. Was gibt’s denn?« Er sah mich einen Augenblick lang abwägend an. »Ich meine, unter vier Augen.« Ich zuckte die Schultern, als Maya mich mit ihren Blicken auszuquetschen versuchte und erhob mich. Ich wusste, wie es war, wenn Seto Kaiba genervt oder verärgert reagierte – oft genug mit mir als Anlass – aber Mokubas Zorn erlebte ich zum ersten Mal. Keine fünf Minuten später zog Mokuba mich durch den Gang zum Lift. Ein paar Mitarbeiter fuhren mit nach oben, Mokuba bewegte sich nicht, als sich die Fahrstuhltür im nächsten, übernächsten und dem Stock danach öffnete. Als ich ihn fragen wollte, was er vorhatte, meinte er nur, er würde es mir gleich sagen, aber schwieg. Sein Blick glühende Lava. Erst auf der obersten Ebene trat er hinaus und ich folgte ihm mit einem Brummen im Kopf, an Gemälden vorbei, die ich mir noch nie angesehen hatte, Türen ignorierend, die sich aneinanderreihten. »Mein Bruder ist ein Arsch«, erklärte er mir mit einem Blick über die Schultern, während wir ein Treppenhaus hinaufgingen, das ich noch nie gesehen hatte. Da konnte ich ihm nicht widersprechen. »Und es macht mich wahnsinnig!«, fuhr er verärgert fort. Es war eher die Frage, wen Seto Kaiba nicht in den Wahnsinn trieb. Also machte ich nur eine vage Geste. »Ich weiß, dass er viel arbeiten muss, gerade jetzt mit dem Turnier und allem«, erklärte er. »Aber warum müsst ihr jetzt auch noch Freitagabend arbeiten? Warum könnt ihr das nicht montags oder dienstags oder sonst wann machen?« Ich erstarrte im Gehen und hätte fast die Treppe rückwärts nach unten genommen. »Hä? Was zur –« Als Mokuba bemerkte, dass ich nicht nur einen Schritt hinter ihm war, trottete er zurück und schnappte meinen Arm, an dem er mich weiterzog. »Dauernd quatscht er davon, dass er momentan freitags keine Zeit für so einen Unsinn wie Freizeit hat, weil er wichtige Termine hat, die sich nicht aufschieben lassen. Und dann im nächsten Moment cancelled er seine Termine mit der Marketing-Abteilung an dem Abend. Ich hoffe schon ewig, dass wir endlich mal wieder einfach einen Abend zusammen verbringen, dachte, endlich wird es was – aber nein.« Jetzt funkelte mich Mokuba an, als wäre es meine Schuld. Ich öffnete den Mund. »Ich habe keine Ahnung, was in seinem Kopf abgeht«, murmelte er und schnaubte. Wer hatte das auch schon? Kaibas Kopf war wie eine Festplatte mit tausenden virtuellen Dateiordnern, auf denen nur Nullen und Einser standen. Wir standen vor einer schweren Tür, an deren Seite eine Art Codeeingabegerät hing. Mokuba drückte die Tasten mit mehr Nachdruck, als nötig gewesen wäre, es machte Klick und er stieß die Tür auf. Als ich durch sie hindurchtrat und sah, wo wir uns befanden, verschlug es mir einen Moment lang den Atem. Vom Dach der Kaiba Corporation sah Domino aus wie eine Spielzeugstadt. Weit hinten sah man die dunklen Berge, deren Spitzen die Sonne bestrahlte. Die Hochhäuser des Stadtkerns ragten in das Sommerhimmelblau und all die Fragen in meinem Kopf wirkten hier so klein. »Wenn mir alles zu schnell und laut oder zu langsam und ruhig wird, komme ich oft hierher«, flüsterte Mokuba, als hätte ich gefragt. Und sofort wirkte seine Haltung nicht mehr ganz so wütend, als besänftigte allein der Ort. »Kann ich verstehen«, erwiderte ich mit einem schiefen Lächeln. Wir schwiegen einen Moment und genossen diese seltsame Abgeschiedenheit mitten im Zentrum. Dann blinzelte ich und betrachtete Mokubas Profil. »Woher weißt du eigentlich, dass Kaiba Termine abgesagt hat?« Sofort kaute er sich verlegen auf der Unterlippe, trat von einem Bein aufs andere. »Ähm – ich«, begann er, »habe in seinem Kalender nachgesehen. Also auf seinem PC. Dort aktualisiert er dauernd seine –« »Moment. Du hast dich in Kaibas PC gehackt?«, rief ich und wusste nicht, ob ich entsetzt, amüsiert oder beeindruckt sein sollte. Mokuba grinste verlegen, aber dann verwandelte es sich zu einem bitteren Lächeln. »Weißt du, was er in seinen Kalender geschrieben hat? Warum er mal wieder keine Zeit hat?« Natürlich nicht. Immerhin hackte ich mich nicht in die privaten Dateien des Gründers einer Hightech-Firma. Mokuba wartete auch gar keine Antwort ab. »Statt Besprechung Marketing 18.30 steht da jetzt 19 Uhr Wheeler.« In meinem Magen explodierte etwas. Da war diese Wärme, die sich ausbreitete bis in meine Fingerspitzen und ein Kribbeln, als hätte sich elektrische Ladung aufgestaut, um sich beim nächsten Kontakt zu entladen. »Ja, das – also –«, nuschelte ich und brachte keinen Satz zustande, weil die Gedanken sich überschlugen. »Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich fast glauben, ihr hättet so etwas wie ein Date.« Mokuba lachte und es war, als hätte er mir einen Eimer Eiswasser über den dröhnenden Kopf geschüttet. Alleine diese absurde Vorstellung schien ihn zu amüsieren und gleichzeitig mit Bitterkeit zu füllen. Er sah mich an und ich ihn und dann zuckte etwas durch seine Augen, als hätte er mich zum ersten Mal erkannt. Sein Lachen verstummte schlagartig und sein Zorn verpufft. »Oh«, machte er nur und seine Augen wirkten plötzlich riesig. Ich wandte mich von ihm ab, weil ich nicht wusste, was er in meinem Blick gesehen hatte, starrte stattdessen über die Stadt und versuchte Argumente zusammenzukratzen, die widerlegten, dass es sich um ein Date handelte. »Natürlich«, sagte er langsam, als verarbeitete er eine völlig neue Information und schlug sich sacht gegen die Stirn. »Ihr wollt gar nicht an dem Projekt arbeiten, oder?« Ich lehnte mich an das Geländer, schaute nach unten und hatte das Gefühl, die Tiefe verschlang mich. »Ehrlich gesagt«, murmelte ich, »weiß wahrscheinlich keiner, was wir wollen.« Mokuba kicherte und ich sah mich irritiert zu ihm um. »Quatsch«, behauptete er, »ich glaube eher, das wisst ihr ganz genau, aber mein Bruder ist zu stolz. Und du zu stur.« Ich widersprach vehement. Aber dann breitete sich dieses wölfische Grinsen auf seinen Lippen aus. »Keine Sorge. Ich habe einen Plan«, versicherte er mir. Es beruhigte mich kein bisschen.   Von Donnerstag auf Freitag träumte ich von Skizzen, die sich in Drachen verwandelten, um mich mit Kaibas Stimme daran zu erinnern, dass es nie wieder Wassereis gäbe. Nie wieder. Während ich in einem Berg aus Hemden und Krawatten versank. Ich wachte auf, durchgeschwitzt, stützte mich auf meine Ellenbogen und schaute mich verwirrt um. Yugi atmete leise ein und aus. Ich wälzte mich hin und her. Als es dämmerte, gab ich es auf, wieder einzuschlafen und ging duschen. Ich war am Arsch. In der Firma tuschelten die Mitarbeiter, sobald ich ihnen den Rücken zudrehte. Meine Augenbraue zuckte, aber ich ignorierte ihre Blicke und dieses Wispern. Vielleicht bildete ich es mir nur ein. Das war wie mit der Sache mit den blauen Autos: Wenn man eines hatte, sah man sie plötzlich überall. Vielleicht war der Vergleich aber auch einfach nur grottenschlecht.   »Oh, Gott«, fiepte Maya. »Das Gerücht ist wahr, oder?« Sie starrte mich mit ihren großen, grünen Augen an und ich sah, wie sich auf ihren Lippen in Zeitlupe ein Grinsen ausbreitete. Sie lehnte über ihrem Tisch, der an meinen stieß, beugte sich über ihre Skizzen und das Graphic Tablet, um mich zu mustern, als stünde die Antwort auf ihre Frage in meinen Poren. »Was für ein Gerücht?«, fragte ich widerwillig und war mir zu achtzig Prozent sicher, dass ich es lieber gar nicht wissen wollte. »Dass du mit dem Chef ausgehst«, wisperte sie und schaute danach über ihre Schulter, um zu prüfen, ob jemand lauschte. Ich riss meine Augen auf. »Was zur – wer – wie?«, polterte ich, fuhr von meinem Stuhl und bemerkte einige Blicke. Maya zog mich zurück auf meinen Hintern. »Ich hab's ja selbst erst nicht geglaubt, aber wie du dich verhältst und wie er sich verhält! Es ist zum Schießen. Total ver-« Seto Kaiba und ich – er war – und ich war – aber doch nicht – »Er – er ignoriert mich!«, platzte aus mir hervor, als würde das jedem Gerücht die Wurzeln herausreißen, »und ich –« Sie winkte meine Worte mit ihrer Hand ab. Es war unglaublich, wie jeder mehr zu wissen glaubte über diese ganze Sache als ich – aber ich war doch derjenige, der die meiste Ahnung haben müsste. Es betraf immerhin um mich. »Er fragt Mailo jeden Abend nach dir, nach deiner Arbeit, klar. Aber auch, wie das Team zu dir ist und alles.« Ich wollte sie am liebsten erwürgen oder verbal in den Boden stampfen oder beides. Aber ihre Aussage überrumpelte mich und die Worte kamen nur wie ein Gurgeln aus meiner Kehle. »Ist das nicht seine Aufgabe oder so?«, krächzte ich. Sie zog ihre Augenbrauen hoch, also zuckte ich die Schultern. »Ich meine, als Chef und so?« Ich fragte mich ja eh, was Kaiba den ganzen Tag in der Firma trieb. Wahrscheinlich saß er nur an seinem Schreibtisch, die Finger aneinander gelehnt und schaute auf Domino herab, während er ab und zu seine Karten streichelte. Maya verdrehte die Augen. »Ich glaube, er weiß nicht einmal, dass ich hier bin, Joey. Und ich arbeite hier schon seit meiner Ausbildung.« Ihre Augen funkelten trotz ihrer Worte, als wäre es ihr egal, was Seto Kaiba von ihr dachte – oder eben auch nicht. Wahrscheinlich spielte es in ihrem Leben keine große Rolle und ich wunderte mich, als ich mich nicht daran erinnern konnte, wie sich das anfühlte. »Ich glaube, du bewertest das alles über«, murmelte ich und verkramte mich wieder in meine Skizzen, doch mein Herz schlug mir in den Ohren. Sie bewerteten das alle total über. Ich versuchte, Mayas Grinsen zu ignorieren und zeichnete extra konzentriert auf dem Graphic Tablet.   Um 16.36 Uhr schaute ich innerhalb von einer Viertelstunde zum elften Mal auf die Uhr. An mir wäre das natürlich total vorbeigegangen, hätte mich Maya nicht mit einem Wackeln ihrer Augenbrauen darauf hingewiesen. »Erwartest du irgendeine Nachricht?«, wollte sie schon wieder wissen. Ich schüttelte den Kopf. Um 17.19 Uhr verabschiedete ich mich von den Kollegen und schüttelte Mayas neugierige Blicke mit einem Zucken um die Lippen ab.   »Du solltest etwas Ordentliches anziehen, dann merkt er gleich, dass es ein besonderes Treffen ist«, hatte Thea behauptet. Ich stand vor dem Spiegel, die Augenbrauen hochgezogen. Yugi saß hinter mir auf dem Bett, einen Manga in den Händen. Mein Blick schwankte von meinem Spiegelbild zu ihm. »Yugi«, murmelte ich. »Am besten du bringst ihm etwas mit. Eine kleine Aufmerksamkeit«, hatte Thea weiter ihre Ratschläge herumposaunt. Jetzt stand ich in einem Hemd, das mir Sarah geliehen hatte, und mit einer Schachtel Pralinen vor dem Spiegel und kratzte meinen Hinterkopf, dann drehte ich mich zu Yugi um. »So ein Schwachsinn«, murrte ich und zog mir das Hemd wieder über den Kopf, schnappte mir ein T-Shirt mit dem Aufdruck von Figuren aus diversen Games und warf die Pralinen Yugi in den Schoß. »Er mag am liebsten eh Kinderschokolade – nicht, dass er's zugeben würde«, erklärte ich auf seinen verwunderten Blick zu. Yugis Mundwinkel wanderten nach oben. »Viel Spaß und einen lieben Gruß an Seto«, meinte er, als ich mit einer gemurmelten Verabschiedung die Tür öffnete. In meinem Bauch kämpften zwei Gefühle. Als ginge ich zu meiner Hinrichtung und könnte gleichzeitig die Welt erobern.   Um 18.48 Uhr stand ich vor der KC. Ganz oben brannte noch Licht – nicht nur bei Kaiba im Büro, wobei ich nicht genau wusste, welche Fenster zu seinem dazugehörten. Ich zählte die Etagen und wog ab, aber ich verzählte mich bestimmt und schaute irgendwann nur noch hoch. Von hier unten sah es so weit entfernt aus. Ich wanderte unentschlossen vor dem Eingang hin und her, bis der Wachmann mich beäugte und ich mit einem verlegenen Grinsen an ihm vorbei schlenderte. Sein Blick wanderte über mein T-Shirt und die Furche zwischen seinen Augenbrauen grub sich tiefer, dann blieb er an meiner Frisur hängen. Als müsste jeder, der durch diese Tür wollte um diese Uhrzeit mindestens ein Hemd und eine Krawatte tragen, aber er hielt mich nicht auf. In diesem Moment hätte mich nichts aufhalten können.   Es war fast unheimlich, wie anders die Firma wirkte, wenn der Abend die ganze Hektik aus ihr saugte und nur die oberen Etagen den Anschein von Betriebsamkeit erweckten. Statt Blicke und Getuschel, die mich auf dem Weg zu Kaibas Büro begleiteten, schlenderte ich durch stille Gänge, die mir inzwischen so vertraut waren, dass ich nicht einmal die Raumnummern beachten musste. Portraits von berühmten Gamern, Fotografien von Turnieren und Erfindungen der KC schmückten die weißen Wände. Milchig-gläserne Türen weckten den Eindruck, die Firma hätte endlos viele Zimmer. Und dann stand ich vor seinem. Seto Kaiba, verkündete das Schild neben der Tür, Vorstandsvorsitzender. Meine Füße klebten am Boden, während meine Augen die Buchstaben verschlangen. Was machte ich hier eigentlich? Immer noch, immer wieder. Ich versank in dem Gefühl, am falschen Ort zu sein. Oder einfach der falsche Mensch. Ich wusste nicht, was schlimmer war. Keine Ahnung zu haben von dieser ganzen Welt, Vorstandsvorsitzender, Verträge und Meetings, aus denen wichtige Menschen in Anzügen mit wichtigen Mienen herauskamen und wichtige Entscheidungen über Dinge fällten, die ich nicht einmal verstand. Oder der Versuch, Teil dieser Welt zu sein, die sich hinter vorgehaltener Hand über mich kaputtlachte, die Gerüchte und die Blicke. Wie schaffte Kaiba das nur? Ich war ein Trottel. Mit einem Seufzen fuhr ich mir durchs Haar, hätte sie am liebsten gerauft, aber stattdessen schob ich meine Hände in meine Hosentasche. Mokubas Grinsen schwebte vor meinem inneren Auge, sein Blick, das Funkeln und das Vertrauen, das darin schwamm. Aber da war auch sein Zorn, der in meinen Gedanken aufblitzte. Die Erkenntnis, die seine Wut geschluckt hatte. Was hatte er erkannt? Yugis Lächeln und Theas nervige – aber auch gutmütige – Ratschläge und Tristans Nicken, als würde ich das alles schon schaukeln und die Worte meiner Schwester. Und ich fragte mich, wann meine Schwester so erwachsen geworden war. Der Gedanke, der mich als nächstes befiel, schmeckte bitter. Eines war klar: Ich war nicht dabei gewesen. Es tat weh, etwas zu bereuen, woran man keine Schuld trug. Wie sehr musste es erst schmerzen, wenn man schuldig war? Mein Blick wanderte den Türrahmen entlang.   Ich hatte von ziemlich wenig eine Ahnung. Ich war nicht dumm. Aber meine Ideen erstaunten gewöhnlich weder gestandene Geschäftsmänner, noch war meine Umsetzung von Plänen beispiellos. Aber ich war kein Trottel. Wenn Geld nicht das Wichtigste im Leben war, was war es dann? Familie? Freunde? Liebe? Ich wischte meine Hände an den Shorts ab. Schwitzten meine Finger immer so? Ich hob meine Hand, um zu klopfen, hielt inne und kniff die Augen zusammen, fuhr mir stattdessen mit den Fingern durch das Chaos auf meinem Kopf. Was war das Wichtigste im Leben? Zurückzuschauen und nicht zu bereuen? Wenn Geld nicht das Wichtigste im Leben war, was war es dann? Ich hob meine Faust. Wenn das einer wusste, dann Kaiba.   Mein Herz hämmerte in meinen Ohren, als ich an die Tür klopfte. Es war genau 19 Uhr, als ich sie öffnete und in Kaibas Büro trat. Er saß an seinem Schreibtisch und schaute auf. Alles wie schon hundert Mal davor. Fast. Seit wann, sah ich, wenn ich ihn ansah, nicht diesen arroganten Jungen, der mich von oben herab anschaute, von Blitzlicht umgeben? Sein Blick erwiderte meinen. In diesem Augenblick versank ich. Und wann war es passiert, dass Kaiba derjenige geworden war, der mein verdammtes Herz zum Rasen brachte? Kapitel 50: … bin oben angekommen --------------------------------- __________________________________________   Bei dir angekommen sein bedeutet nicht das Ende meiner Reise sondern den Beginn einer neuen. Zu zweit. © Sarah Razak  (*1975), Nachdenkerin   __________________________________________           Ich machte meine eigenen Regeln. Meine Strategie war eine Mischung aus Glück und großer Klappe mit einer Portion Vertrauen. Wenn ich etwas tat, dann nicht, um anderen zu gefallen, sondern weil ich es für richtig hielt. Ich stand damit nicht nur auf meiner eigenen Seite. Ich stand auf seiner – auch, wenn wir uns fetzten. Deswegen und wegen hundert anderer Gründe, hätte ich niemals nur ein Angestellter sein können.   Kaiba saß in seinem Büro. Anders als sonst in der KC gab es hier niemanden, der hinterm Rücken tuschelte. Es waren nur er und ich. Als ich eintrat, betrachtete er mich argwöhnisch. »Seit wann klopfst du?«, fragte er statt einer Begrüßung und der Moment war gebrochen. Ich zuckte nur die Achseln, schlenderte durch sein Büro, um mich vor ihn an den Schreibtisch zu lehnen. Stille. Sein Tippen auf dem PC. Ich trat von einem Fuß auf den anderen. Stille. »Komm schon. Beweg deinen Arsch«, durchbrach ich sie mit einem Grinsen, »wir erobern die Stadt!« Er zog die Augenbrauen hoch, betrachtete meine Faust, die ich in die Luft streckte, lehnte sich zurück, als ob er abwöge, mich sofort oder erst später einweisen zu lassen. »Wheeler, dafür müsste ich nicht einmal diesen Raum verlassen«, entgegnete er trocken und tippte weiter auf seinem Laptop. Ich schnappte mir einen Kugelschreiber, weiß mit blauem KC-Logo, und spielte damit zwischen meinen Fingern. Sein Blick zuckte zu ihnen. »Genau das ist dein Problem«, murrte ich und verdrehte die Augen. Nicht, dass es sein einziges Problem gewesen wäre. Stille. Mir fiel der Kugelschreiber aus den Händen. Er schnaubte, aber tippte weiter. »Ich hab Hunger«, maulte ich nach einigen Augenblicken, in denen nur das Klicken der Tastatur den Raum erfüllte – und seine Gegenwart. Wenn Kaiba irgendwo war, dann füllte sich der Raum. Er musste nicht einmal etwas dafür tun. Ihn würde niemand übersehen oder beiseiteschieben. »Und das ist dein Problem«, erwiderte er ohne ein Zögern. »Und leg den Stift zurück.« Ich spielte natürlich weiter mit dem Kugelschreiber. »Du hast doch eh deine Termine abgesagt«, bemerkte ich, seinen letzten Kommentar ignorierend und sah auf und sah wie er erstarrte. »Woher –« Ich legte den Stift zurück auf den Schreibtisch. Das Klacken ließ seine Augen von mir zum Stift springen. Dann packte ich seinen Ärmel und sein Blick durchbohrte mich. »Los jetzt oder wovor hast du Angst?« Seine Augen funkelten, in seinem Mundwinkel zuckte eine höhnische Bemerkung, aber er schwieg und noch bevor er sich erhob, wusste ich, ich hatte gewonnen. Ich wusste nur nicht, wie hoch der Preis war.   Als wir gemeinsam das Gebäude verließen, beobachtete uns der Wachmann mit Argwohn. So als wüsste er nicht, ob ich gerade Seto Kaiba entführte. Wahrscheinlich fiel ihm sonst keine Erklärung ein, warum jemand wie Kaiba jemanden wie mich begleiten sollte. Kaiba ignorierte den Mann. Stattdessen tastete sein Blick mein Profil ab. Ich spürte ihn fast körperlich – wie wenn man barfuß über Kieselsteine tapste. »Wir laufen«, sagte ich nur. »Ist nicht weit.« Eine warme Brise strich um meine nackten Beine und die Arme. Menschen mit Eistüten und Sonnenbrillen schlenderten an uns vorbei. Mein Kopf steckte irgendwo in den Wolken, während Kaiba neben mir her schritt. Die Sonne strahlte, das Licht verfing sich in seinem Haar, leuchtete auf seinen Wangen, dem Hals. Er hatte so einen hellen Teint – bestimmt bekam er sofort Sonnenbrand. Bei dem Gedanken, wie er mit roten Wangen und Nase in einer Konferenz saß und die Bürotypen anfunkelte, musste ich grinsen. »Wheeler, wohin –« Er stockte und ich sah auf, meine Arme hinterm Kopf verschränkt, dann bog ich in den Supermarkt. Kaiba betrachtete mich, als hätte ich ihm erzählt, wir würden Hundefutter einkaufen gehen. »Guck nicht so«, meinte ich nur und zog ihn in den kleinen Laden.   Die Tüten voller Baguette, Käse, Trauben, Säfte, Aufstrich, Wurst, Bananen, Erdbeeren und Schokolade trottete Kaiba hinter mir her. »Ich verstehe immer noch nicht, was –« »Bitte sag das nochmal«, unterbrach ich ihn mit einem breiten Grinsen und tänzelte vor ihm her, lief rückwärts, um ihm direkt ins Gesicht schauen zu können, eine Einkaufstüte in der Hand. Er verzog keine Miene. »Was hast du vor, Wheeler?«, fragte er. Natürlich wollte ich ihm nicht sagen, dass mein Plan nur bis hierher ausgereift gewesen war. Ein Picknick. Dafür brauchte man etwas zum Essen, etwas zum Trinken. Fertig. In meinen Gedanken hatten wir uns auf eine Decke gesetzt und unter Bäumen im Schatten auf einer Wiese gelegen. Jetzt standen wir an der Straßenecke, hupende Autos im Stadtverkehr, verschwitzte Menschen auf den Gehwegen. Keine Wiese, keine Bäume, kein Schatten. Nur Hochhäuser, Asphalt und Lärm. »Keine Ahnung. Ich bin nicht so der, der plant«, behauptete ich und blies mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich bekam langsam Kopfschmerzen. Nicht einmal eine Decke hatte ich dabei. Mein Kopfkino platzte. »Chaotisch, unorganisiert und unzuverlässig trifft es besser«, meinte Kaiba mit einem Schnauben und schritt an mir vorbei. Als hätte er einen Plan. »Offen und spontan«, hielt ich dagegen und schloss zu ihm auf. »Das eine schließt das andere nicht aus.« Es klang, als rückte er keinen Zentimeter von seinem Standpunkt, aber für Kaiba war ein Kompromiss so etwas wie ein Friedensangebot. Und ich war mir sicher, dass ich einen Sonnenstich hatte. Ein Kaiba ging keine Kompromisse ein. Kaiba verlangte niemals weniger als das Beste, forderte Perfektion, jagte Zielen nach, die für andere unerreichbar waren. Kompromisse waren ein Eingeständnis von Schwäche. Inakzeptabel. Die Straße breitete sich vor uns aus und einige Leute warfen uns Blicke zu. Sicherlich, weil sie Seto Kaiba – den Seto Kaiba – erkannten. Wie er so neben mir herging, konnte ich nicht anders, als denken, dass die Menschen Recht hatten. Er war etwas Besonderes. Aber nicht wegen seines Geldes oder wegen seines Einflusses oder wegen seines Ruhmes. Von hier stob die Zentrale der KC wie ein warnender Zeigefinger in den Himmel. Sein Name überragte die Stadt, während er neben mir zwei Einkaufstüten aus Plastik trug – wie ein ganz normaler Teenager. »Wann warst du das letzte Mal auf dem Dach?«, fragte ich. Er sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an. »Ich meine auf dem der KC? Wusstest du, dass Mokuba öfters dort ist?« Kaiba betrachtete mich, als hätte ich ihm erklärt, dass ich ab und zu mit Mokuba nackt auf den Tischen im Konferenzsaal tanzte. »Was sollte er auf dem Dach der KC machen? Dort ist nichts als der Hubschrauberlandeplatz.« »Du hast echt keine Ahnung, oder?«, erwiderte ich und obwohl ich ihm schon immer so etwas an den Kopf werfen wollte, konnte ich es nicht genießen. Mokuba und Kaiba standen sich so nahe, dass ich gerne glauben wollte, dass sie keine Geheimnisse voreinander hatten. Aber dieser Wunsch versank nach und nach, als Kaiba weiter schwieg. Er sah an mir vorbei, als überlegte er, wie hämisch eine Antwort sein müsste, um mein Genick zu brechen. Aber als er trotzdem nichts sagte, wusste ich, wohin wir mussten.   Der Wachmann schaute uns an, als versuchte ich einzubrechen – während Seto Kaiba dabei zusah. Sein Blick blieb an mir hängen und den Plastiktüten in unseren Händen. Ich grinste den Mann an und er ignorierte mich plötzlich, als hätte er seine Augen an mir verbrannt. Als Kaiba und ich im Außenlift standen, betrachtete ich die Stadt durch das Glas, während ich immer höher stieg. Wie ein Traum, in dem man wusste, dass man träumte und trotzdem nicht aufwachte. Wusste, dass die Zeit begrenzt war und mit dem Morgengrauen, diese Welt zerplatzte. Aber jetzt in diesem Moment war es Wirklichkeit. Kein Spiel, keine Lüge, keine Sorgen. »Das ist lächerlich«, murmelte Kaiba, während er den Code eingab. »Vielleicht. Aber das macht es nicht weniger richtig.« Kaiba verdrehte die Augen, aber drückte die Tür auf und wir schwebten über der Stadt. In meinen Ohren rauschte der Wind, zerzauste mein Haar und ließ seines tanzen. Wir standen da – Schulter an Schulter. Ich ließ die Tüte zu Boden gleiten und breitete die Arme aus, als wollte ich im nächsten Moment losfliegen, berührte ihn wie nebenbei. »Guck mal! Man sieht die ganze Stadt! Das ist so krass!« »Das ist nicht die ganze Stadt«, wandte er ein und ich stieß ihn mit meiner Schulter an. Ich sah, wie sein Mundwinkel zuckte, während der blaue Himmel in seinen blauen Augen reflektierte, über die Häuser tastete, als suchte er etwas. Ich wollte ihn fragen, was – aber vielleicht fürchtete ich mich vor der Antwort und ließ es bleiben, ließ ich mich auf dem Boden nieder, packte Baguette aus, das Obst, den Käse, die Wurst, und breitete es vor mir aus. Da war keine Decke, keine Wiese, nur der Schatten vom Durchgang zur Treppe. Und Kaiba. »Filschtauwasch?« Er riss sich von dem Ausblick los, um auf mich mit hochgezogener Braue herabzusehen. Im wahrsten Sinne. Ich schluckte das Brot und den Käse hinunter. »Ob du auch was willst.« Aber ich wartete nicht auf seine Ablehnung, sondern zog an seinem Ärmel, bis er sich endlich hinsetzte – natürlich nicht ohne einen Kommentar über mangelnde Tischmanieren und meine Erwiderung, es gäbe hier keinen Tisch, worauf er behauptete, das hieße nicht, man müsste auch die Manieren vergessen – und drückte ihm unsere Mitbringsel in die Finger. Ich wollte jetzt nicht daran denken, dass das Geld mir durch die Hände rann und dieses Essen vor uns in Anbetracht dessen wie Luxus wirkte. Ich würde nicht verhungern, aber Armut hier begann doch schon bei der Frage, ob man sich den Käse wirklich gönnen sollte – oder die Kinderschokolade. »Warum hast du mich nicht bezahlen lassen?« Ich zuckte mit den Achseln. »Wollte dich halt einladen.« »Wir sitzen auf dem Dach meiner Firma.« »Dachte, das wäre cool – mit dem Ausblick und so. Wenn’s dich stört, warum hast du nichts gesagt?« Er sah mich an, als wäre ich ein kleines Äffchen, das nicht begriff, was er sagte. »Ich habe es nicht nötig, eingeladen zu werden, Wheeler.« Er aß trotzdem von dem Baguette, dem Käse, den Trauben und natürlich der Schokolade. Auch wenn er letzteres abgestritten hätte. »Darum geht’s ja auch nicht.« »Seit wann?«, spöttelte er, als ginge es immer nur darum. »Um was geht es dann?« Ich machte meine eigenen Regeln. Wenn ich etwas tat, dann nicht, um anderen zu gefallen, sondern weil ich es für richtig hielt. »Keine Ahnung«, erwiderte ich ärgerlich. Warum musste ich alles erklären? Warum ich wissen, was hier ablief? Es war einfach richtig so. »Aber ich sitze nicht hier wegen deinem blöden Geld, Geldsack. Wenn du jemanden brauchst, um vor dem seiner Nase mit deinen Scheinen herum zu wedeln, dann such dir jemand anderen.« Es war seltsam. Ich hätte schwören können, dass Kaiba zum ersten Mal an diesem Abend so etwas wie zufrieden wirkte. Zumindest schob er sich einen Riegel Schokolade in den Mund und schwieg.   Wir aßen und lagen da und starrten in den Himmel oder den Horizont entlang, der von hier so weit entfernt wirkte. Mit ein bisschen Phantasie klang das Rauschen des Windes und der Autos unten wie das Meer. »Es ist hier so – mh – so wie mitten im Sturm, wo es windstill ist. Man sieht alles, aber man ist trotzdem sicher – für eine bestimmte Zeit zumindest«, sagte ich in den Himmel und hatte das Gefühl, ich hätte nur meinen Arm auszustrecken brauchen, um mit meiner Fingerspitze die Schäfchenwolken zu berühren. »Nichts weiter als eine Illusion«, erwiderte er nüchtern. »Die Welt gönnt niemandem eine Pause. Das ist kein Spiel, wo man eben mal unterbrechen kann.« Natürlich war Kaiba der Arsch, der meine Träumerei zerschlug – mit jedem Wort, bekam sie Risse. Seine Nähe war wie die Flamme einer Kerze. Verführerisch, zu berühren, das wilde Flackern zu bändigen. Aber man verbrannte sich, wenn man den Finger zu lange hineinhielt. Ich fragte mich, wann ich die Grenze überschritt und alles zusammenbrach. Und trotzdem drehte ich mein Gesicht zu ihm um, betrachtete sein Profil. Er hatte seinen Nacken auf die Arme gebettet, starrte zum Horizont. Die Krawatte gelockert, die Hemdärmel hochgekrempelt und das Jackett lag auf dem Boden neben seinen Beinen. Die Abendsonne besprühte die Dächer mit Rotorange und Kaibas Gesichtszüge mit einem warmen Licht, das der Distanz in seinem Blick entgegenstand. »Wer ist schon die Welt?«, sagte ich leichthin. Mussten wir die Dinge so sehen, wie wir sie kannten? Müsste er für immer dieses unerreichbare Genie, dieser arrogante Arsch bleiben? Und ich der Versager? Ich war zu alt dafür, um ihm zu widersprechen. Denn es stimmte. Aber ich würde für immer zu jung sein, um meine Hoffnungen aufzugeben. »Manchmal reichen schon ein paar Leute, die viel wichtiger sind als die Welt.« Ich würde niemals aufhören, davon zu träumen, was sein könnte. Wer wusste schon, wie viel Zeit wir hatten? Aber jetzt waren wir hier. In diesem Moment war die Welt ganz weit weg, doch Kaiba ganz nah. Ich spürte seinen Arm neben meinem, hörte seine Atemzüge und hätte ihn berühren können mit nur einer kleinen Bewegung. Mein Herz trommelte in meiner Brust bei dem Gedanken. Das war das Lied meines Sommers – jeder Herzschlag brummte seinen verdammten Namen, während ich versuchte es zu ignorieren. Wir umkreisten uns wie Satelliten, kamen uns nie zu nahe, aber loslassen konnte ich nicht. Ein Wheeler gab nicht nach. »Warum bist du hier?« Seine Frage jagte eine Gänsehaut meine Arme entlang. »Keine Ahnung.« Kaibas Blick erdolchte mich. »Du bist ein erbärmlicher Lügner, Wheeler«, spöttelte er. »Warum bist du hier?«, erwiderte ich und ballte meine Fäuste. Vielleicht hatten wir uns verrannt. Vielleicht hatte nur keiner von uns gewusst, wo er abbiegen sollte, wann er mit seinem Zug am Ende angekommen war, wo es aufhörte. Vielleicht hatten wir uns verirrt und jetzt wussten wir nicht mehr, wo wir eigentlich hingewollt hatten. »Willst du deiner Mutter beweisen, dass du es bis ganz nach oben schaffst? Bist du deswegen hier?« Kaibas Ton durchdrang eine Härte, die keine Ausflüchte duldete. »Keine Panikattacke, keine Familienscheiße, das hat nichts damit zu tun«, schnappte ich. »Und das weißt du.« Nur Seto Kaiba konnte mich mit nur einem Blick berühren und meine Welt auf ihn verengen. Worauf warteten wir? Warteten wir auf den richtigen Zeitpunkt? Denn der würde nie kommen. Wir saßen hier, das Baguette war leer, die Trauben gegessen, der Käse lag unbeachtet irgendwo zwischen uns. Über uns der Abendhimmel, lila Wolken auf Weinrot. Kaibas Atem und seine Körperwärme, die ich neben mir spürte, seine Gegenwart, die auf meiner Haut tanzte wie Elektrizität. Jeder Blick ein Stromstoß. Ein leichter Schmerz und doch bekam ich nicht genug. Seine Präsenz bezeugte meine Unzulänglichkeiten, meine Stärke, meine Hoffnungen, meine zerplatzten Träume. »Hast du Angst, Wheeler?« Es war wie ein Déjà-Vu. Ich schmeckte seine Nähe. »Hast du?« Wenn ich wüsste, was er dachte, was er sich wünschte, wovor er sich fürchtete. »Wovor sollte ich Angst haben?« Am liebsten hätte ich gelacht, aber es blieb mir im Magen stecken, wo es flatterte. »Dass das hier nicht nur ein Spiel ist?« »Mach dich nicht lächerlich«, erwiderte er. »Ich fürchte mich weder vor dem einen, noch vor dem anderen.« »Beweis es«, forderte ich ihn heraus. Kaiba würde nie zurückstecken, seine Worte zurücknehmen oder zugeben, dass er falsch lag. Und ich wusste, dass wir dieses Spiel schon lange spielten, aber die Regeln verschwammen und das Ziel verrutschte. Seine Finger lagen plötzlich auf meinem Arm. Von dort aus breitete sich die Hitze aus wie eine Welle, die mich mitriss, als ich seinen Atem auf meinen Wangen spürte. Seine Körperwärme verbrannte mich und alles um uns herum verfiel zu Asche. Nur wir erhoben uns. Blitze zwischen meinen Schenkeln. Seine Lippen wanderten über meine. Statt zu versinken, wuchs ich über uns hinaus. Da war keine Furcht, keine Fehler, keine Schwäche. Kein Gedanke an Verlust oder Panik. Kein Bedürfnis nach einer Stütze oder der Antwort auf Fragen. Manchmal musste man sich im Leben fallen lassen, ohne zu sehen, wo der Grund lag. Meine Finger wanderten über sein Hemd, unter sein Hemd, über seine Haut. Sein Atem ging schnell, stoßweise und ich keuchte. Es war unbequem, der Boden viel zu hart, aber es störte mich nicht. »Warum –«, ein Atemstoß, »bist«, ein unverständliches Flüstern, »du«, ein scharfes Lufteinziehen, »hier?« »Weißt«, ein scharfes Lufteinziehen, »du«, ein unverständliches Flüstern, »genau«, ein Atemstoß. Und das Gefühl, die Welt unter uns könnte untergehen – ohne uns. Denn ich war ganz oben angekommen.   Wir starrten in den Himmel, wo neben dem letzten Abendlicht der Mond stand. Ab und zu strich mein Finger über sein Handgelenk, wie zufällig, wie nebenbei. Nur, um mich zu versichern, dass er wirklich dort lag. Keine Illusion. Hier auf dem Dach der KC. Und in dem Moment musste ich an Mokubas Geständnis denken. Wenn alles zu schnell und laut oder zu langsam und ruhig wurde. Ich konnte dieses Gefühl so gut nachspüren. Wenn man glaubte, die Welt verschwor sich gegen einen, wenn Menschen, die einem viel bedeuteten, unerreichbar schienen. Hier oben war die Welt winzig und Probleme plötzlich klein. »Verstehst du es jetzt?«, flüsterte ich. »Warum Mokuba hierherkommt, mein ich.« Es war so naheliegend. »Ich hoffe gerade wirklich, dass mein Bruder nicht wegen ähnlicher Tätigkeiten hierherkommt.« Ich verdrehte die Augen. Dass Mokuba kein kleines Kind mehr war und früher oder später mehr als nur herumknutschen würde, schluckte ich für den Moment herunter. »Ich meine –« »Ich weiß. Und nein«, presste Kaiba zwischen seinen Lippen hervor, als bereite es ihm körperliche Schmerzen, das zuzugeben, »ich verstehe es nicht.« Seine Antwort ließ meinen Blick zu ihm schnellen. »Hä?«, machte ich, meine Augenbrauen zuckten nach oben, meine Stirn gerunzelt. »Echt jetzt?« »Welchen großartigen Geistesblitz durfte dein Hundehirn denn erleben?«, fragte er und der Hohn zerrte an meiner Selbstkontrolle. Ich schnaubte, hielt mich aber zurück, ihn anzukeifen. Nicht jetzt, nicht während meine Finger über seine strichen. Die Menschen hatten Recht. Er war besonders – und oft war er besonders arschig. Er manipulierte, spielte Menschen aus und wusste, wo er sie traf, so dass es wehtat. Bei ihm spürte ich diesen Schmerz, der mir alle meine Unzulänglichkeiten bewusstmachte. Während ich neben ihm lag, Domino unter uns, konnte ich fühlen, wie weit voraus er mir war. Wie viel mehr er an Einfluss hatte, Macht, Geld, die Bewunderung der Menschen. Warum ich Angestellter und er Vorstandsvorsitzender war. Angestellte führten aus, taten, wie ihnen gesagt. Aber ich sah auch all meine Stärken und wie weit ich gekommen war. Und wie wenig Angestellter ich hier war. Ich stand schon lange nicht mehr dort unten. »Mokuba hat es mir gesagt.« Und ich wusste, wie ich Kaibas Augen öffnete. Umso näher ich ihm war, umso mehr lebte ich, während ich jeden Moment damit rechnete in den Abgrund zu stürzen. »Warum sollte er das tun?«, fragte er und sein Tonfall war eine einzige Drohung, eine Mahnung, zu überlegen, was ich behauptete. Es hatte mich noch nie davon abgehalten, die Dinge beim Namen zu nennen. Deswegen und wegen hundert anderer Gründe, hätte ich niemals nur ein Angestellter sein können. »Anscheinend warst du nicht da.« »Ich bin immer für Mokuba da«, erwiderte er, zuckte vor meiner Berührung zurück und er brauchte nicht zu brüllen, um seine Worte diese Note zu verleihen. Er stieß mich allein mit seinem Tonfall weg. »Kaiba, du hast auf mich runtergesehen, mich dumm angemacht mit irgendwelchen scheiß Hundekommentaren, aber eins hast du noch nie gemacht«, entgegnete ich und hielt seinem Blick stand, der mich durchbohrte, wie Nadelspitzen, »mich angelogen.« Kapitel 51: ... bin trotzdem da -------------------------------   __________________________________________   Zu fragen bin ich da, nicht zu antworten!   Henrik Ibsen  (1828 - 1906), norwegischer Dramatiker   __________________________________________         Ich lag mit vielen meiner Meinungen falsch. Ich erwartete zu wenig von mir und meistens auch von meinen Mitmenschen. Aber wenn ich eine Ansicht vertrat, dann zog ich die Konsequenzen mit durch. Ich beugte mich nicht der Mehrheit, wenn ich anders dachte und zog mich nicht zurück, wenn ich glaubte, kämpfen zu müssen. Ich gab nicht auf, nur weil mich Hindernisse zurückwarfen. Und vor allem strebte ich danach, nichts zu bereuen.   Er erhob sich, strich sein Hemd glatt, funkelte mich an mit seinem eiskalten Blick, öffnete den Mund, als wollte er mich verbal zerstören, aber dann klappte sein Unterkiefer einfach zu. Er fuhr herum, um mich hier so stehen zu lassen. »Seit wann haust du einfach ab?« Eigentlich könnten wir jetzt dort liegen, wie unter dem Apfelbaum, die Blätter zählen, das Gras an den Beinen spüren. »Ich habe keine Zeit für deine infantilen Anfälle.« »Infantile –« »Das bedeutet –« »Ich weiß, was es bedeutet«, geiferte ich und sprang auf. Zumindest hatte ich eine ungefähre Ahnung. Was ich aber ganz genau wusste war, dass er Müll laberte. Und dass es mich trotzdem traf. Und ich es niemals zugeben würde. Meine Finger geballt und die Wut im Bauch, die meine Gedanken vernebelte, stand ich ihm gegenüber und verfluchte jeden Zentimeter, den er mich überragte. Eigentlich könnten wir jetzt dort sitzen, Eis essen, in den Himmel starren. »Ich weiß nicht, was das hier ist«, begann er und es hörte sich an, als biss er seine Zähne aufeinander, um mich nicht anzuschreien. Sein Haar zerwühlt, das Hemd zerknittert, seine Krawatte lag irgendwo auf dem Boden. »Und ich weiß nicht, was du fürn Problem hast«, knurrte ich. Es hätte die beste Zeit meines Lebens sein sollen. Sommerferien, kurz vor dem Abschluss eines Riesenprojekts, auf dem Dach der KC mit Seto Kaiba. Aber ich hatte das Gefühl, dabei zuzusehen, wie alles den Bach runterging. Mit einem Pochen in meinem Kopf, als drückte jemand meine Schläfen zusammen, um meinen Schädel zu zerquetschen. Eigentlich könnten wir jetzt einander Dinge ins Ohr flüstern, die wir morgen wahrscheinlich abstreiten würden, die Haut des anderen spüren, seine Wärme. »Was hat Mokuba zu dir gesagt?«, fragte er mit einer Härte in der Stimme, die jedes Gefühl von Nähe auslöschte. »Warum fragst du ihn das nicht selbst?« Eigentlich könnten wir jetzt dort stehen, Hand in Hand und die Welt vergessen. Seine Augen wechselten von der Farbe des Himmels zu Eis. »Du bekommst dein Gehalt diese Woche«, informierte er mich und er hätte mir auch einfach gleiche eine reinschlagen können. Ich starrte ihn an, wie er mir gegenübertrat, als stünde sein Haar nicht meinetwegen so ab, als hätte er nicht so schwer geatmet, während meine Finger unter sein Hemd wanderten. »Ist das dein Ernst? Glaubst du, damit ist alles gelöst?«, zischte ich. »Ein Teil deiner Probleme wahrscheinlich.« »Vergiss es«, schnaubte ich. »Ich schaff das auch ohne dein Geld.« »Das hat sich vor ein paar Tagen noch anders angehört. « »Lenk nicht ab!« »Danach kann endlich jeder von uns wieder wie gehabt seinen Weg gehen.« »Es geht grade um –« »Worum, Wheeler?« »Du kapierst's einfach nicht! Ich will nicht dein Geld! Ich brauch den bekackten Ruhm nicht! Ich will nur –« »Was, Köter? Was war das hier? Da war nur ab und zu die Sehnsucht. Das Gefühl von Nähe, um sich dann doch zu verpassen. Manchmal das Gefühl von Endlosigkeit, bevor wir wieder in die Enge der Realität prallten. Ich wäre in diesem Moment explodiert – hätte mich nicht der Schmerz umgriffen, der mich davon abhielt, auseinanderzufallen. Ein Schmerz, der mir wie Nägel in die Seiten stachen und trotzdem so vage war, dass ich nicht wusste, woher er kam. »Du hast mal zu mir gesagt«, flüsterte ich, »ich hätt‘ Angst davor, nicht anzukommen. Ich glaub‘ du hast Angst davor, schon längst angekommen zu sein, Alter. Du weißt nicht, wohin, wenn nicht höher, schneller, besser. Wenn du dich nicht beweisen kannst. Du kannst das Leben nicht genießen, so wie es ist. Mal stehen zu bleiben und dich umzusehen, was du hast. Nicht immer nur das, was du nicht hast. Und jetzt bist du hier und hast keinen Plan, wie‘s weitergehen soll.« »Woher willst du wissen, was –« »Weil es mir so geht, Geldsack! Aber ich habe keinen Bock mehr darauf wegzurennen, zu hoffen, dass es irgendwann irgendwie besser wird. Ich scheiße drauf. Ich will –« »Oh, bitte. Erspar mir dein –« Ich wollte nicht, dass er ging. Und ich würde ihn nicht gehen lassen. Nicht jetzt. Ich griff nach seinem Ärmel. »Erspar du mir dein – Scheiße«, rief ich und ließ ihn los, als hätte ich mich verbrannt, fuhr herum und griff mir ins Haar, meinen Rücken ihm zugewandt. Mein Blick schweifte über die Silhouette Dominos, die Abendsonne, das Licht, das Rot und Lila an die Bäuche der Wolken malte. Kaiba hinter mir, nur wenige Schritte und so viel mehr entfernt. Da war sie wieder – diese Distanz, die man nicht in Meter messen konnte. »Wenn du das alles hier nicht willst«, brachte ich über meine Lippen und verstummte dann, starrte in den Himmel und fragte mich, ob ich das hier wollte. Woran misst man Glück? Am Einfluss? Vermögen? An den Chancen, die man im Leben bekommen hat? An der Anzahl der Freunde? An der Tiefe der Verbundenheit? »Warum bist du dann hergekommen?« Oder am Gefühl der Unendlichkeit? Wann war es so etwas Dummes wie Zuneigung? Und wann nur die Sehnsucht danach? Als er nichts antwortete, drehte ich mich zu ihm um. Ich glaubte schon, er wäre einfach verschwunden, hätte mich meinen Fragen überlassen ohne eine einzige Antwort. Wenn Kaiba da war, verlor ich mich in seiner Wärme, die nicht einmal die Kühle in seinem Blick erkalten konnte. Aber wenn ich allein war, war ich einfach nur verloren. »Ich weiß es nicht.« Ich wusste, was ich fühlen müsste, sollte, würde. Aber ich fühlte es nicht. Als würde ich mir von außen zusehen. Als versuchte mein Hirn eine Nachricht zu übermitteln, aber bei mir kam nur fehlgeschlagen an. Alles war so falsch, obwohl wir das Richtige taten. Oder? Ich atmete tief durch, begann die Verpackungen zusammen zu räumen – ohne ihn anzusehen. Es würde hier aufhören. All diese Gedanken und Hoffnungen, die ich vor niemandem zugab, manchmal nicht einmal vor mir selbst. Ich würde mich verabschieden und zu Yugi gehen und ich würde mich meiner Zukunft stellen. Ohne Kaiba. Ich würde das alles durchziehen. Alles in dieses Projekt der KC stecken, einfach, weil ein Joey Wheeler nicht aufgab. Normalerweise. Aber das hier würde jetzt enden. Die Kommentare und die Zankereien und dieses ungesunde Dings. Eine Hand lag auf meiner Schulter und ich schreckte zusammen und fuhr herum und sah in diese blauen Augen. »Aber ich bin hier.« Ich blinzelte und bildete mir dieses ungesagte »Bei dir« ein. Seine Worte sickerten in mein Bewusstsein, wo sie langsam Bedeutung annahmen. Seine Finger strichen über meinen Arm – wie nebenbei – und die Kälte, die sich vorhin noch in seinen Augen festgekrallt hatte, verflog. Stattdessen überwog eine Sanftheit, die er mit Sicherheit verleugnet hätte. Die Frage »Warum?« lag auf meiner Zunge, aber ich schluckte sie herunter. »Idiot«, flüsterte ich und hätte mich an ihn gelehnt – wäre er nicht er und ich nicht ich gewesen.   »Erzähl!«, forderte Tris wie ein quengelndes Kind und zeigte mit seiner Gabel auf mich. Ich verdrehte die Augen. »Gibt nicht viel zu erzählen«, entgegnete ich mit vollem Mund, schlurfte meine Nudeln weiter. »Kaibas Butler hat dich um zwei Uhr nachts nach Hause gefahren – mit Kaiba. Ihr wart verdammte sieben Stunden zusammen und du behauptest, es gäbe nichts zu erzählen?« »Nicht viel«, wiederholte ich mit einem Schulterzucken, warf aber Yugi einen finsteren Blick zu. Woher sollte Tristan sonst davon wissen? Yugi rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. »Lass ihn«, sagte Thea und ich nickte heftig, »ein Gentleman genießt und schweigt.« Mein Nicken erlahmte, als Tris mir ein anzügliches Grinsen über den Tisch zuwarf und ich ihm die Zunge herausstreckte. Jetzt verdrehte Thea ihre Augen. Yugi hatte sich erbarmt und für uns alle Nudelsuppe gemacht. Mehr wollte an diesem heißen Tag eh nicht hinunter. Also saßen wir im Garten hinter dem Spielladen und ich schlurfte meine Nudeln, während Tristan versuchte etwas aus mir herauszubekommen. Yugi errötete bei manchen Fragen und ich hätte zu gern in seinen Kopf gesehen, als ich gegen zwei Uhr nachts mit Kaibas Limousine vorfuhr. Im Badspiegel hatte mein Haar noch chaotischer gewirkt als sonst, meine Wangen noch immer gerötet und meine Augen gefunkelt. Yugi hatte nichts gesagt, nur leise gesummt und gelächelt. »Habt ihr euch –« Ich hörte nur noch mit einem Ohr zu und zuckte regelmäßig mit einer Schulter. »Seid ihr zusammen?« Ich sah langsam auf, blickte in die Runde und dann in den Himmel. »Null Ahnung«, murmelte ich. Kaibas Worte flogen durch meine Gedanken und ich grinste schief.   Wochenenden gingen viel zu schnell vorüber. Normalerweise waren Freitage okay, Samstage zu kurz und statt Sonntag war es plötzlich Montag. Dieses Wochenende war es umgekehrt. Der Freitag war verwirrend und trotzdem flogen Bienen von innen gegen meinen Magen, wenn ich daran dachte. Der Samstag dehnte sich unter Tristans Fragen und der Sonntag war viel zu lang. Kaiba meldete sich nicht. Natürlich hatte ich auch nicht erwartet, dass er es täte oder darauf gewartet. Ich käme nie auf die Idee, alle halbe Stunde auf mein Handy zu schauen, um zu checken, ob es etwas Neues gab – oder irgendein verdammtes Zeichen, dass nicht alles nur ein virtuelles Spiel war, mit dem jemand richtig Scheiße gedreht hatte. Ich war ja keine Jungfrau in Nöten. Ich wartete nicht. Vor allem nicht auf Kaiba.   Am Montag klebten alle Blicke an mir, in dem Moment, in dem ich die Animation Studios betrat. Oder bildete ich mir das nur ein? Stand auf meiner Stirn: hat mit eurem Boss rumgemacht? Maya begrüßte mich mit einem Grinsen und einer wilden Umarmung. »Der Boss wird ausrasten!«, flüsterte sie in mein Ohr und mein Herz hämmerte. Durch meinen Kopf schossen Gedanken, die ich nicht fassen konnte. Kaiba? Ausrasten? Wieso? »Ich mein natürlich im positiven Sinne. Wir haben es fast geschafft!«, rief sie und zog mich zu unseren Plätzen. Natürlich. Das Projekt. Ich plumpste auf meinen Stuhl wie ein nasser Sack. »Die Werbevideos sind fast fertig, die Plakate gehen in den Druck und du hast es geschafft, Joey! Deine Zeichnungen waren der Ursprung von all dem. Überall sind sozusagen deine Finger im Spiel. Ich mein, deine Zeichnungen würde ich aus hunderten, ach was, aus tausenden wiedererkennen! Das ist eine riesige Sache! Du wirst schon sehen! Das wird der Knaller! Du wirst bestimmt total berühmt!« Sie hörte gar nicht mehr auf, kibbelte mit ihrem Schreibtischstuhl, als müsste sie ihre Energie loswerden. Das Gefühl blieb, ich stünde mitten auf einer Bühne, Scheinwerfer auf mich gerichtet und alle Blicke, die mich durchdrangen. Viel zu viele blaue Augen. »Joey, alles klar?« Maya sah mich an, plötzlich ganz still und ihr Blick wanderte über mein Gesicht, als suchte sie etwas. Ich zuckte die Achseln, fuhr mir über meinen Hinterkopf. »Jopp. Ich bin nur’n bisschen nervös.« Mayas Blick wurde ganz sanft. Sie stieß mich mit der Schulter von der Seite an und lächelte. »Mach dir keine Sorgen! Seto Kaiba persönlich steht hinter dir!« Manche Bilder würde ich nie wieder aus meinem Kopf bekommen. Am liebsten hätte ich meine Stirn gegen die nächste Wand geschlagen.   Am Nachmittag rief Mailo zu uns rüber, ich sollte mich oben melden, Kaibas Büro. Ich schlenderte durch die Gänge, Mitarbeiter begrüßten mich und ich erwiderte, dann stand ich vor der dieser Tür und hielt inne, trat von einem Fuß auf den anderen. Es war nur Kaiba. Nur der Geldsack, nur dieser arrogante Arsch. Es hatte sich nichts geändert. Sarah tauchte hinter mir auf, zog die Augenbrauen hoch, als sie mich bemerkte »Ich muss nur –« »Schon in Ordnung, Joey«, sagte sie, klopfte und schob sich mit einem Lächeln an mir vorbei ins Büro. Es war nur Kaiba, Mann! Genau. Kaiba. Wie immer. Nur Kaiba. Ich atmete tief ein und wischte meine Hände an meinen Hosen ab. Schwitzten die immer so? Dann trat ich mit gerecktem Kinn ein.   Kaiba saß hinter dem Schreibtisch, vor der Kulisse der Stadt. Er tippte und sah nicht einmal auf. Sein Haar nicht zerwühlt, das Hemd nicht zerknittert, seine Krawatte straff gebunden. Es hatte sich nichts geändert. Dann schaute er auf und blaue Augen, die mich fixierten. Ein Blick, der über mein Gesicht wanderte. Wie eine Berührung. Er war mir so nah. Ich hätte um den Schreibtisch herumgehen können, um seine Haut auf meiner zu spüren. Eiskalte Wellen spülten durch meinen Bauch. Aber ich blieb hier stehen wie angewurzelt, weil er so weit weg war. Hier könnte ich ihn nie erreichen. »Herr, Wheeler.« Die Stimme riss mich zurück in die Gegenwart. Der Ton, als hätte jemand zu viel Essig in den Salat geschüttet. »Wie ich hörte geht das Projekt gut voran.« Herr Le saß selbstgefällig neben Sarah auf dem Sofa, so dass er den gesamten Raum im Blick hatte, während ich Kaiba den Rücken zudrehen musste, um Le in die Augen zu sehen. Er brauchte das »Trotz Ihnen« nicht auszusprechen, damit ich es hörte. Er nippte an einer Tasse – meine Hoffnung, dass er sich dabei verschluckte und erstickte, aber zumindest sich die Zunge verbrühte, blieb unerfüllt. »Joar«, erwiderte ich. »Kann nicht klagen.« Ich wusste, dass ich das »Trotz Ihnen« nicht aussprechen musste. Sarah lächelte, setzte ihre Tasse nicht ab, obwohl sie mit großen Gesten ihre Worte untermalte. »Oh ja«, stimmte sie ein. »Joey ist ein ausgezeichneter Mitarbeiter. Seine Kreativität! Er beeindruckt Seto ständig auf völlig neuen Wegen.« Sie zwinkerte mir zu und ich spürte, wie sich Hitze auf meinen Wangen ausbreitete. »Also – das – ja – also –«, stammelte ich. Es war warm. Und dann fühlte ich ihn. Er stand vielleicht eine Armlänge von mir weg und ich hätte mich umdrehen können und irgendwie sagen, dass wir reden mussten oder eben nicht, aber dass wir hier nicht einfach so stehen bleiben konnten, nicht nur hier in seinem blöden Büro, sondern überhaupt – aber ich tat es nicht. Weil er Kaiba war, der arrogante Geldsack, ich eben ich. Und wir hier in seiner Welt standen, in der er unerreichbar war. »Wheeler ist eine Bereicherung für das Projekt«, sagte er. Lob, aber sein Ton war so nüchtern, dass sich mein Magen zusammenzog. »Hier sind die aktuellen Werbevideos«, fuhr er fort und platzierte vor Herr Le und Sarah ein Tablet, während er sich ihnen seitlich gegenüber in ein Sofa sinken ließ. Das Video war mir so vertraut wie alle Zeichnungen und Bilder, die auf meinen Mist gewachsen waren. Und ich redete mir ein, dass ich deswegen nicht die Animation anschaute. Es war lächerlich, denn natürlich war er distanziert. »Willst du einen Kaffee?« Hier über allem und jedem und so nah und so weit weg. Es war bekloppt. Und ich hatte etwas mit dem Boss, der sicher früher oder später ausrasten würde – sollte davon irgendetwas an irgendjemand dringen. Aber nicht im positiven Sinne. Ich war bekloppt. »Joey –« Und was sollte das eigentlich heißen, er wäre da? Da im Sinne von anwesend? Im Sinne von nicht weg? Im Sinne von »zum Rummachen bereit«? Mein Magen hüpfte. Und ich wünschte mir, er würde abhauen. Unwahrscheinlich, weil ich in seinem verdammten Büro seiner verdammten milliardenschweren Firma stand. Oder meinte er damit, dass das alles kein Unfall war, bei dem man nicht hinschauen sollte – aber auch nicht wegsehen konnte? Und warum wusste er nicht, was er wollte? War Seto Geldsack Kaiba nicht das Symbol für »Ich-weiß-was-ich-will«, obwohl ich erst sechzehn bin? Herr »Ich-leite-meine-eigene-Firma«, bevor ich volljährig bin, das verdammte Genie, der arrogante Arsch. »Joey, willst du auch einen Kaffee?« Mein Blick schnellte von Kaibas Händen, die gefaltet in seinem Schoß lagen, zu Sarah. Ihre Augen funkelten. Als wüsste sie etwas, das ich nicht wusste, obwohl ich es wissen müsste. »Äh, nein, danke.« Hatte Kaiba ihr etwas gesagt? Verdammte Scheiße. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. »Dann setz dich doch bitte. Am besten fasst du kurz zusammen, woran du gerade arbeitest.« Mit wem hatte Kaiba darüber geredet? Mokuba? Sarah? Roland? Redete Seto Kaiba überhaupt mit jemandem über – über was auch immer das war? »Ähm, klar, also – wobei. Ich glaub, das könnte Mailo besser als ich. Vielleicht sollte er –« »Wheeler.« Es war der erste Moment, seit ich das Büro betreten hatte, dass Kaiba meine Gegenwart nicht nur tolerierte. »Gut, also wir – das Team der Animation Studios –« Ich fasste zusammen, was wir bisher gemacht hatten, was noch ausstand und wie der Zeitplan aussah – beziehungsweise letzteres fügte Sarah jeweils hinzu, weil ich natürlich meine Notizen vergessen hatte, was Herrn Le ein herablassendes Lächeln entlockte. Ich hätte ihm am liebsten seine Tasse hineingerammt. Aber ich tat es nicht. Weil ich besser war. Weil ich wusste, dass ihn mein Erfolg viel mehr zusetzte als körperliche Schmerzen. Und weil mir gerade Kaibas volle Aufmerksamkeit galt. Nur das zählte. Sarahs und mein Blick trafen sich, während ich von animierten Drachen und Videos über Freunde berichtete, und in diesem Moment glaubte ich zu wissen, dass sie wusste, dass ich wusste, dass sie etwas wusste. Sie nippte an ihrem Kaffee, aber ich sah ihr Lächeln trotzdem.   »Sie können gehen.« Nachdem Herr Le und Sarah diskutiert und ich nur mit halben Ohr zugehört hatte, setzte sich Kaiba an seinen Schreibtisch. Herr Le war als erster aus dem Büro, schaute dabei extra lange auf seine Smartwatch und wirkte wie ein überbezahlter Mann im Anzug, der glaubte, unersetzbar zu sein. Ich sah ihm nach und bemerkte Sarahs Aufmerksamkeit erst, als sie mit ihrer Hand meine Schulter berührte. »Frag es ihn«, flüsterte sie und ich erstarrte, doch sie lächelte und schritt an mir vorbei. Ich sah ihr nach und wollte nichts lieber, als ihr folgen, aber meine Beine gehorchten nicht. Vielleicht arbeitete ein Teil meines Hirns gegen mich. »Wheeler, du auch.« Ich drehte mich mit einem »Hä?« zu ihm um Er massierte sich die Schläfen. »Ich weiß durch jahrelange Bestätigungen deinerseits, dass deine kognitive Aufnahmefähigkeit zeitlich begrenzt ist, vor allem, wenn dich etwas ablenkt – wie Nahrung, Spielzeuge oder –« »Ich war schon bei durch jahrelange raus«, unterbrach ich ihn und lehnte gegen den Schreibtisch. »Ich könnte wetten, ich hätte dich nach dem ersten ich verloren«, spöttelte er. »Und warum lässt du‘s dann nicht einfach bleiben?«, fragte ich trotzig und verschränkte die Arme vor der Brust. Zorn rammte mir von innen dagegen. Natürlich. Natürlich war er der Seto Kaiba und ich – ich war eben nur ich. Warum konnte ich nicht mit einem Kerl herummachen, der mich nicht so in seinem eigenen Büro ansehen konnte. Mit nur sechzehn! Und mit diesen verdammten Augen! Und diesem – wich er gerade meinem Blick aus? Nur dieser Penner konnte mich so wütend machen, in dem er mich anschaute – und dann nicht mehr. »Wheeler, es –« »Oh, verdammte Scheiße«, rief ich und raufte mir das Haar. »Ich schwöre, wenn du jetzt sagst, dass es ein Fehler war, ich –« Ich wollte mir in die Faust beißen, bis dieser Druck in meinem Kopf verpuffte. Da war es – das Thema, das zwischen uns brodelte. Und vor allem in mir. Diese Wut und der Unglaube, wie lächerlich das alles war. Ich wusste nicht, worauf ich zorniger war: ihn und sein scheiß »Ich bin da« oder mich, dass ich trotzdem hier war. Immer wieder bei ihm. Dass ich wusste, wie alles ausgehen würde – und jetzt trotzdem von seinen Augen auf seine Lippen starrte und versuchte, ihn nicht zu mir zu ziehen. »Ich wollte sagen«, begann er kühl, »dass das alles vorbeigehen wird. Du wirst schnell bemerken, dass nicht alles Gold ist, was glänzt und dann wirst du erleichtert sein, wenn diese – Sache möglichst, ohne große Wellen zu schlagen, vorübergeht.« Ich starrte ihn an. Das konnte er nicht ernst meinen. Ich war doch kein dreizehnjähriges Mädel, das ihn vorgestern kennen gelernt hatte. Ich war doch nicht so verblendet zu glauben, sein Leben wäre einfach oder sein beschissenes Geld so erstrebenswert. »Hör auf damit. Echt jetzt«, knurrte ich. Er konnte nicht wissen, was ich wann bemerken oder wie und was ich empfinden würde. Ich wusste ja gerade selbst nicht einmal, was ich in diesem Moment fühlte. Zorn? Enttäuschung? Angst? Trauer? Abneigung? Eine Mischung aus allem? »Du hast doch keine Ahnung, wie es ist – wenn man denkt, dass egal, was man tut, es nie gut genug sein wird!«, zischte ich. Ich lag mit vielen meiner Meinungen falsch. In diesem Moment änderte sich etwas in seinem Blick. Als bekäme das Eis Risse. »Absolut. Woher sollte ich das auch wissen. Ich habe in meinem Leben auch noch nie an allen Ecken gleichzeitig gekämpft«, entgegnete Kaiba höhnisch. Ich blinzelte, stierte ihn an. Kaiba konnte nicht wissen, wie es war, wenn man irgendwann der festen Überzeugung war, dass sich alles gegen einen verschwor. Jemand wie ich, aber er? Ich erwartete zu wenig von mir und meistens auch von meinen Mitmenschen. »Wenn alles, was du gekannt hast, mit wenigen Worten und Blicken vernichtet wird«, fuhr er fort, schnaubte und verschränkte die Finger ineinander. »Und keiner gibt dir die Chance, dich zu beweisen.« Er lehnte sich vor, sah mir in die Augen, seine Lippen formten Worte, die erst einige Sekunden später auch mein Hirn verarbeitete. »Bis du sie dir nimmst.« Ich glaubte, ihn zu kennen. »Du meinst – Gozaburo?« Aber es gab so viel, das ich nicht wusste. Kaiba antwortete nicht, starrte stattdessen aus dem Fenster, um die Mundwinkel ein Ausdruck von Härte. Aber das war auch nicht nötig. Jeder kannte die Geschichte. Die offizielle, die, die wochenlang durch die Medien gegangen war. Waisenjunge. Fordert den amtierenden Schachmeister heraus. Erspielt sich seine Adoption. Aber ich wollte nicht die offizielle Story kennen, nicht die Fassade, die für irgendwelche Menschen da draußen errichtet worden war. Ich wollte seine kennen. Ich öffnete den Mund, um ihm genau das zu sagen. Hatte er es je bereut? »Wheeler, du brauchst mich nicht, um dein Leben auf die Reihe zu bekommen«, sprach er und in diesem Moment wirkte er so erschöpft, wie ein Teenager in seiner Position eigentlich immer aussehen müsste. »Ich weiß«, behauptete ich. »Voll im Gegenteil – du machst alles verdammt kompliziert. Ist nur nichts Neues. War so von Anfang an.« »Genau deswegen sollte –« Aber wenn ich eine Ansicht vertrat, dann zog ich die Konsequenzen mit durch. Ich beugte mich nicht der Mehrheit, wenn ich anders dachte und zog mich nicht zurück, wenn ich glaubte, kämpfen zu müssen. »Aber ich bin trotzdem hier«, fiel ich ihm ins Wort. »Und ich bleib nochn bisschen – wenn das okay ist.« Er sagte nicht, dass es das war. Aber er sagte auch nicht, dass es das nicht war. Also blieb ich.   Spätabends standen wir auf dem Dach der KC. Die Dämmerung besprenkelte die Dächer mit Rot und Orange und die Bäuche der Wolken mit Lila. Kaiba stand neben mir, gerade entfernt genug, dass er mich nicht berührte. Aber so nah, dass ich es geradezu spürte. »Sind wir eigentlich – also du und ich – sind wir –« Kaiba unterbrach mich nicht, er half mir nicht, den Satz zu beenden, er beantwortete die ungefragte Frage nicht – nicht einmal mit einem Wort. Er sah mich nur von der Seite her an mit gehobenen Augenbrauen und einem Schmunzeln im Blick. Wir schwebten über der Stadt, ich balancierte vorbei an Abgründen, hin zu seiner Nähe. Ich gab nicht auf, nur weil mich Hindernisse zurückwarfen. Uns konnte niemand etwas anhaben. Hier und jetzt gab es uns und zu unseren Füßen lag Domino und all die kleinen Menschen mit ihren Problemen und Sorgen und ihren Blicken und ihrem Gerede. Sie waren so weit weg und wir waren uns so nah.   Was ich wirklich sein wollte? Glücklich. Und vor allem strebte ich danach, nichts zu bereuen. Aber in diesem Moment wurde mir klar, dass er mir vielleicht nie eine Antwort geben würde. Seine Hand streifte über meinen Rücken, ich sah in die Abendsonne, meine Finger wanderten über sein Handgelenk, er blickte Richtung Mond, der der Sonne gegenüberstand. Seine Finger verhakten sich mit meinen. Seine Lippen streiften meine. In diesem Moment bereute ich nichts. Aber die Frage war, ob das genügte. Oder ob wir es bereuen würden, dass er nicht ging und ich nicht.   Und wie viel Schmerz war ein Augenblick Glück eigentlich wert?       Kapitel 52: Bonuskapitel | … ist kein Spieler --------------------------------------------- __________________________________________ Und wenn ein Spiel total am Abgrund steht, mit Re und Kontra in die Hose geht, dann sagt ein guter Spieler ganz spontan: »Jetzt fängt das Leben doch erst richtig an.« © Horst Rehmann  __________________________________________         Mein Beruf drehte sich um Spiele, aber ich war kein Spieler. Ich war die Jury. Und alle anderen spielten nach meinen Regeln.   »Du hast gesagt, heute. Vor –«, er sah demonstrativ auf die Uhr an der Wand, die ich sonst ignorierte, »eineinhalb Stunden.« Ich wusste nicht mehr, wie oft ich ihn vertröstet hatte. Aber irgendwie wurde es leichter mit jedem Mal, denn ich sagte mir, dass ich es für ihn tat. »Mokuba«, begann ich und massierte meine Nasenwurzel, tippte dann weiter. »Schon gut«, murrte er. »Nächstes Wochenende können wir –« Erst als die Tür zuknallte, sah ich vom Laptop auf.   Alles, was ich erreicht hatte, war für ihn. Zumindest redete ich es mir ein, entschuldigte damit die Stunden, die ich zu lange im Büro saß, die Augenblicke, wenn ich ihn enttäuschte, weil ich keine Zeit für seinen Alltag, seine Witze, seine Wünsche hatte. Alles, wofür ich kämpfte, war für sein Wohlergehen. Er sollte es besser haben als ich. Wenn ich nachts an seinem Zimmer vorbeischritt, innehielt und die Tür öffnete, ihn beim Schlafen beobachtete, dann regte sich dieser Druck in meiner Brust. Fragen, die ich versuchte zu ersticken. War es wirklich für ihn?   Wir aßen zusammen, so oft ich es einrichten konnte. Aber ich sagte häufiger ab, als zu. »Es tut mir leid, aber morgen –« Mokuba protestierte immer leiser und irgendwann zuckte er nur noch mit den Achseln. »Schon klar«, antwortete er. Ich bemerkte erst, dass er nicht mehr im Büro war, als er mir auf meine nächste Frage nicht antwortete und ich aufsah. Alles, woran ich mich festhielt, war er. Seine Möglichkeiten, sein Lachen, sein Glück. Oder das, was ich dafür hielt.   Ich stieg in die Limousine. Mokuba stierte von mir abgewandt aus dem Autofenster. Es war einer dieser Tage, an denen ich mir vornahm, ihm zu versprechen, dass ich es ändern würde. Dass ich Termine verschieben, notfalls canceln würde. Dass er aber verstehen müsste, dass es nicht immer ginge und möglicherweise nicht sofort – aber bestimmt morgen. Als ich den Mund öffnete, ließ Wheeler nicht locker. Er stand vor der Limousine, viel zu laut. »Ich will – eine echte Chance. Nicht in der KC mein ich. Nicht – als Angestellter. Also auch, nicht, dass du mich rausschmeißt. Ich mein«, es war zum Verrücktwerden, dass sein Mund Worte produzierte. Meine Augen brannten, mein Kopf dröhnte. Am liebsten wäre ich ins Bett gefallen und hätte alles ausgeschaltet, wodurch ich erreichbar war. Mokubas Blick wanderte zu Joey, dann zu mir, dann wieder zu Joey. »Ich will essen – also gehen. Mit dir. Kapiert?« Er lehnte sich vor und war mir so nah, dass ich ihn wegstoßen wollte. Er hielt den Atem an. Erstens. Ich tat es nicht, ich ließ ihn. »Also. Was willst du, Kaiba?«, presste er zwischen seinen Lippen hervor, während ich ihn stumm anschaute. Wheeler hatte keine außergewöhnlichen Talente. Er brachte sich in Schwierigkeiten und riss alle um ihn mit sich. Zweitens. Ich ließ ihn trotzdem. Ich zog meine Augenbrauen zusammen, erwiderte seinen Blick, suchte etwas und fand es. Die Erkenntnis, wie viel für ihn von diesem Augenblick abhing. Und trotzdem der Wille, alles auf eine Karte zu setzen. »Freitag, 19 Uhr«, fuhr Wheeler fort. »Mir ist egal, ob du eine blöde Firma zu leiten hast. Kapiert? Ich hol dich ab.« Damit warf er die Autotür zu und drehte sich auf den Achsen um. Joey Wheeler war die einzige Person, die sich anmaßte, meine Türen zuzuwerfen – oder aufzureißen. Natürlich ohne anzuklopfen. Ich schnaubte, obwohl er es nicht mehr hören konnte, während Roland losfuhr. Und dann schlug eine Bemerkung bei mir durch, die mich fast zum Lachen gebracht hätte. Wheeler hatte wirklich gesagt, er würde mich abholen. »So ein Schwachsinn«, schnaubte ich und packte meinen Laptop aus der Tasche. »Ich habe keine Zeit für so einen Unsinn wie Freizeit.« »Du könntest aber mal –«, murmelte Mokuba. »Ich muss freitags arbeiten. Daran ändert auch Wheeler nichts.«  Ich sah nur im Augenwinkel, wie Mokuba seine Achseln zuckte und seine Nase wieder gen Fensterscheibe drehte. Meine Ambition war, dass mein kleiner Bruder das Gefühl von Schmerz niemals kennen lernte. Ich starrte die Strähnen seines schwarzen Haares an, die von seinem Hinterkopf abstanden. Es wäre so einfach gewesen, meine Hand auszustrecken, seine Schulter zu berühren und Roland anzuweisen, uns am nächsten Weiher abzusetzen. Wir hätten den Abend dort grillen können und Mokuba hätte mir irgendwelche Fakten erzählt, die ich niemals brauchen würde. Er hätte gelacht und mich angesehen, wie früher. Als könnte nichts etwas zwischen uns bringen. Ich sah zurück auf den Bildschirm und schwieg.   Relativität bedeutet, dass einem eine Woche, in der man Nächte durcharbeitet, vorkommt wie wenige Tage. Und eine Woche, in der man versucht, sein Leben zu ordnen, während Joey Wheeler darin herumpfuscht, wie verdammt viele. Ich saß im Büro und starrte auf meinen virtuellen Kalender. Mit den Fingern der Rechten klopfte ich auf dem Schreibtisch herum, während Roland auf meine Anweisung wartete. Er schwieg, so wie immer, wenn ich ihn nicht direkt nach seiner Meinung befragte. »Sagen Sie Joey Wheeler für Freitagabend ab.« »Natürlich, Herr Kaiba.« Er nickte und wandte sich zum Gehen. »Nein, warten Sie«, ich bereute die Worte schon fast, als ich sie ausgesprochen hatte. »Lassen Sie den Termin stehen. Sagen Sie Herr Le, sein Termin wurde aus organisatorischen Gründen von Freitag auf Montag verschoben.« Roland schaute mich einen Moment länger an als sonst. »Natürlich, Herr Kaiba.« Dann verschwand er aus meinem Büro.   In der KC scheuchte ich Herr Le in der Marketingabteilung umher. Sarah stellte mir die endgültigen Layouts der Plakate vor und aus den Animation Studios bekam ich Updates bezüglich des Fortschritts der Kurzwerbefilme. Er war einfach überall. Seine verdammte Gegenwart eingraviert in jeder verdammten Zeichnung, jeder verdammten Animation, jedem verdammten Plakat. Mokuba kicherte, was mich vom Bildschirm meines Laptops in die Gegenwart holte. »Was ist?«, brachte ich über meine Lippen und es bereitete mir förmlich Kopfschmerzen, denn dieses ungute Gefühl zog in meinem Bauch. »Du fluchst die ganze Zeit leise vor dich her. Wegen Joey?« »Wie kommst du denn da drauf?«, wollte ich wissen, ohne es wissen zu wollen. Mokuba war schon immer klug gewesen, manches Mal zu klug für sein eigenes Wohl. Er antwortete nichts, sondern grinste nur. Er wirkte wie ausgewechselt. Die gesamte letzte Woche ignorierte er mich, aber seitdem er heute Mittag in der Firma gewesen war – »Vielleicht wegen deinem Terminkalender.« »Wegen deines Terminkalenders.« Ich sah, wie Mokuba die Augen verdrehte, dann erst begriff ich nicht nur wie, sondern was er gesagt hatte. »Mokuba«, knurrte ich. »Du musst zugeben, dass die Verschlüsselung wie eine Einladung war. Das war echt zu leicht.« Ich wusste, dass Stolz in diesem Kontext kein angemessenes Gefühl war. Also öffnete ich den Mund, um ihm wenigstens eine empört-pädagogisch wertvolle Rüge zu erteilen. Er kam mir zuvor. »Du magst ihn.« Mein Kiefer klappte zu. Ich ignorierte Mokubas Glucksen, aber es trieb das Gefühl, Wheeler bei der nächsten Begegnung verbal in den Boden zu stampfen, nur noch mehr in die Höhe. Es wäre zum Lachen gewesen, hätte ich nicht das Gefühl gehabt, Wheeler erwürgen zu wollen. »Lächerlich«, entgegnete ich, wandte mich wieder meinem Bildschirm zu und begann zu tippen. »Das ist keine Verneinung«, trällerte Mokuba und ich spürte die Kopfschmerzen in meine Schläfen schießen. »Aber mach dir keine Sorgen«, behauptete er, »ich habe gestern mit Joey geredet.« Alarmiert schnellte mein Blick zu ihm. Mokubas Lippen zogen sich zu einem Grinsen. »Was hast du ihm gesagt?«, fragte ich und versuchte völlig desinteressiert zu klingen. Seiner Mimik nach zu urteilen, gelang es mir nur unzureichend. Er pfiff leise vor sich her, zog sein Smartphone aus der Tasche und begann irgendetwas zu tippen. »Mokuba«, knurrte ich. »Du lächelst dabei. Ich mein, wenn du über ihn fluchst.« Ich zog die Augenbrauen hoch. »Unsinn«, erwiderte ich und als ihn mein Blick traf, klappte sein Mund zu. Sein Widerspruch starb auf seinen Lippen, aber dieses Funkeln in den Augen verriet mehr, als Worte. Er zuckte die Schultern, den Blick starr auf das Smartphone und schlenderte Richtung Sitzgruppe, wo er sich auf die Couch fallen ließ. »Mokuba. Was hast du –« Jemand klopfte. »Nicht jetzt«, knurrte ich, aber die Tür öffnete sich trotzdem. Mokuba grinste sein Smartphone an, ich war ihm einen düsteren Blick zu. Sarah betrat mein Büro und runzelte die Stirn. »Huch. Was ist denn bei euch los?« Während ich mit einem nüchternen »Nichts« antwortete, posaunte Mokuba: »Er hat ein Date mit Joey Wheeler.« Meine Mimik versteinerte. »So ein Unsinn. Lediglich ein informelles Treffen, um –« Sarahs Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. Und ich begriff, dass egal, was ich jetzt noch sagen würde, ihr Urteil feststand. Ich atmete tief durch und verfluchte Joey Wheeler. Ohne zu lächeln.   Menschen neigen dazu, sich Urteile zu bilden, ohne alle Fakten zu kennen. Sie geben Ratschläge, obwohl ihnen der Kontext nicht bekannt ist, sie glauben zu wissen, um was es sich handelt. Aber sie lagen falsch. Nicht einmal ich wusste, um was es ging. »Was kann schon passieren?«, hatte Mokuba gesagt und seine Nudeln in den Mund geschaufelt. »Ihr steht seltsam nebeneinander rum oder ihr streitet. Schlimmer wird es schon nicht werden.« Dass in meinen Gedanken noch ganz andere Möglichkeiten herumwirbelten, verkniff ich mir. »Außerdem –«, begann er, wedelte mit der Gabel vor seinem Gesicht, schluckte und grinste. »habe ich einen Plan.« Es beruhigte mich kein bisschen. »Du solltest etwas Legeres anziehen, du gehst ja nicht zu einer Konferenz«, hatte Sarah behauptet, während sie mir das Design für Flyer präsentierte. »Außerdem würde es Joey sicher zusagen.« Freitags stand ich vor dem Panoramafenster meines Büros. Ich erahnte in meinem Spiegelbild die dunkelblaue Stoffhose, das hellblaue Hemd und die dunkelblaue Krawatte. »Mir ist völlig gleich, was ihm zusagt«, hatte ich sie unwirsch unterbrochen. »Am besten du schenkst ihm was«, hatte Sarah weiter ihre Ratschläge herumposaunt. »Eine kleine Aufmerksamkeit, um –« »So ein Schwachsinn«, murrte ich, schüttelte die Erinnerung ab und wandte mich um. In meiner Brust kämpften ein Engegefühl gegen den Impuls, Wheeler Hausverbot zu erteilen.   Meine Ideen erstaunten gewöhnlich gestandene Geschäftsmänner, meine Umsetzung von Plänen war beispiellos. Ich war als Wunderkind verschrien, als Genie bekannt. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, starrte Dokumente an mit Plänen, die Millionen wert waren. Aber es bedeutete mir nichts. Nicht, ohne Mokuba. Wenn Geld nicht das Wichtigste im Leben war, was war es dann? Familie? Freunde? Liebe? Ich fuhr mir durchs Haar, blickte auf die Uhr und schwor mir, auf niemanden zu warten. Was war das Wichtigste im Leben? Zurückzuschauen und nicht zu bereuen? Ich schnaubte, tippte auf meinem Laptop herum, löschte die Zeile sofort wieder und starrte zur Tür, nur um meinen Blick wieder loszureißen. Ich bereute so einiges in meinem Leben. Auf die meisten Dinge hatte ich wenig oder keinen Einfluss gehabt, aber manche Sachen hatte ich zu verantworten. Und es war ein naiver Trottel, der all diese Fassaden durchschaute, sich nichts daraus machte und trotz allem in mein Büro trampelte. Es war genau 19 Uhr. »Seit wann klopfst du?«, fragte ich. Wheeler stand da in abgetragenen Shorts und einem verwaschenen Shirt mit dem Aufdruck von Figuren aus diversen Games, die meisten davon lizensiert von der Kaiba Corporation.   Wenn Geld nicht das Wichtigste im Leben war, was war es dann? Wenn das einer wusste, dann Wheeler. Er erwiderte meinen Blick, was nur Wenige in meinem Büro wagten. Er grinste schief, eine Hand in der Hosentasche. Bemerkte er überhaupt, wie fehl am Platze er hier war? In diesem Augenblick stockte ich. Wann war es passiert, dass Wheeler trotzdem derjenige geworden war, der meinen verdammten Tagesablauf ins Chaos stürzte? »Komm schon. Beweg deinen Arsch«, durchbrach er die Stille mit einem Grinsen in der Stimme, »wir erobern die Stadt!« In diesem Moment wusste ich, dass ich diese Runde verloren hatte. Und dass es sich nicht so anfühlte. Ich zog die Augenbrauen hoch, betrachtete seine Faust, die er in die Luft streckte, lehnte mich zurück, und wog ab, in wie viel Unsinn er mich verwickeln würde, wie sehr er meinen Alltag noch über den Haufen werfen würde. Und ob es sich lohnen würde. Mein Beruf drehte sich um Spiele, aber ich war kein Spieler. Ich war die Jury. Ich warf dem Chaoten in meinem Büro einen Blick zu, der gerade meine Kugelschreiber zwischen seinen Fingern balancierte, nahm mir vor innerlich bis zehn zu zählen, kam aber nur bis sieben, ehe er maulte, er hätte Hunger. Und alle anderen spielten nach meinen Regeln. Alle außer mein Bruder. Und Joey Wheeler.   © 2016 Jaelaki Kapitel 53: … bin fast frei --------------------------- __________________________________________   Keine Bewunderung ist frei von Neid. Jacques Normand  (1848 - 1931), französischer Autor   __________________________________________       Ich weinte niemals. Es war einfach unvorstellbar. Stattdessen lachte ich. Ich war immer gut drauf und lockerte die Situation mit meinen Scherzen auf. Ich zeigte nur diese Gefühle und ließ mich von den anderen nicht beeinflussen. Aber mal ehrlich. So ein Blödsinn.   Eine Woche später.   Es war ein ganz normaler Linienbus, der am Tag bestimmt hundertmal durch die Straßen tuckerte. Der Bus fuhr an mir vorbei und meine Eistüte klatschte vor meine Füße auf den Gehweg. Tristan machte einen Spruch, den ich nicht mitbekam, weil meine ganze Welt auf diesen einen Bus zusammenschrumpfte. Und die Zeichnung. Meine Zeichnung, die dort verkündete: »Welcher wird dein nächster Zug sein?« Ich öffnete den Mund, zeigte mit meinem Finger auf den Bus und kämpfte gegen das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen. Das war zu krass. Das passierte keinem Joey Wheeler. »Herzlichen Glückwunsch«, drang Yugis Stimme zu mir durch. Mein Blick wanderte zu ihm und sein Lächeln steckte mich an. Dann starrte ich in den Himmel, drehte mich um und kaufte mir mit einem breiten Grinsen einfach noch ein Eis.   Manchmal leben Menschen ihr Leben, jeden Tag, Woche für Woche und glauben, ihr Leben würde ständig so weitergehen. Wie ein Rad, das sich dreht – ohne voranzukommen. Viele Menschen träumen davon, dieses Rad zu verlassen und endlich einen Schritt zu machen. Sie vergessen, dass dieser Schritt gefährlich ist, denn dadurch kann alles zusammenbrechen.   Egal, wo ich hinkam, ich sah sie. Als Plakate an den Straßenrändern. »Wer entscheidet, wer du bist?« An Gebäudekomplexen. »Es ist Zeit!« In Magazinen über Games und News. »Glaubst du an dich?« In den sozialen Netzwerken. »Du entscheidest!« Als animierte Werbevideos. Und den Countdown, bis die Website schrie: »Anmeldungen offen!«   Es war die letzte Woche der Sommerferien, in der plötzlich jeder in der Stadt, der etwas mit der Kaiba Corporation zu tun hatte, plötzlich mein Gesicht kannte, meinen Namen, aber das Wichtigste war: meine Zeichnungen, meine Arbeit. In diesem Moment war ich unbesiegbar. Es war ein Rausch, der mir vorgaukelte, alles in meinem Leben hätte sich geändert. Die Blicke, das Getuschel, die Erwartungen und Pläne – als wären sie mit diesem Augenblick alle auf meiner Seite. Und dann stand ich meiner Mutter gegenüber. »Es ist das Beste«, behauptete sie und mir drehte sich mein Magen um.   * * *   »Wir können alle eine WG aufmachen!«, schlug Tristan vor und für einen Moment blitze eine Vision durch meine Gedanken, wie es sein könnte. Wir tollten lachend durch eine Wohnung, zockten die Nacht durch, stritten uns, wer mit dem Abwasch dran war. Dann holte mich die Realität wieder ein und es war wie ein Schlag in den Magen. »Genau, am besten in Kaibas Villa«, spöttelte ich, weil es so absurd war und wünschte mir für einen verdammten Augenblick, es wäre es nicht. Tris verzog den Mund. Yugi lächelte schief und wäre es nicht so zum Schreien gewesen, hätte ich mich in Tristans Vorschlag sicherlich mit weiteren wahnwitzigen Ideen gesuhlt. Aber ich hatte das Gefühl, dass in dieser Woche alles zu Ende ging. Nicht nur die Sommerferien. Alles. Ich hatte keine Kraft für irrwitzige Ideen (»Wir könnten dich entführen lassen!«, »Du könntest auswandern!«, »Wir könnten dich alle abwechselnd bei uns zu Hause verstecken!«), die an der Realität abprallten. Thea seufzte, aber bevor sie einen dämlichen Vorschlag wie Tris unterbreitete schwieg sie lieber, was ich ihr irgendwie zu Gute hielt. Wir saßen im Gras hinter dem Spielladen. Ich lehnte am Apfelbaum und starrte hoch in seine Äste. Er trug schon kleine Äpfel, die aber noch nicht süß und saftig, sondern verdammt sauer schmeckten – was ich dank einer verlorenen Wette gegen Tris aus eigener Erfahrung wusste. Die anderen saßen um mich herum. Tris lag halb im Gras, stützte sich auf seine Ellenbogen und sprang jedes Mal, wenn er eine Idee hatte auf, um sie uns mit großen Gesten zu verkünden. Thea lehnte an Yugis Schulter – was nicht ganz bequem aussah bei ihrem Größenunterschied. Wir hielten Wassereis in unseren Händen und taten so, als wären es nicht die letzten Sommertage während der Ferien. Es hätte ein Nachmittag voller Gelächter und alberner Ideen sein können oder voller prahlerischer Sprüche, weil ich es geschafft hatte. Ich war angekommen – und gleichzeitig begann mein Weg erst. Ich hatte das Gefühl, sie zwangen mich über brennende Kohlen, barfuß und ohne klares Ziel. Als hätten sie mich im Wald ausgesetzt und mich mit Versprechungen gelockt. Jetzt stand ich auf der Lichtung, von der ich gedacht hatte, es wäre der Waldrand und wusste nicht weiter. »Vielleicht«, begann Yugi und schaute mich lange an. Ich blinzelte. »Es könnte doch sein, dass –« »Vergiss es«, entgegnete ich so heftig, dass er zusammenzuckte. Wut schoss mir in den Bauch. Er würde es nicht wagen. Er würde nicht ernsthaft behaupten, dass – »Joey, warte!«, rief er, aber ich sah nicht zurück. Ich sprach den ganzen Abend über kein Wort mehr mit ihm.   Als wir im dunklen Zimmer lagen, starrte ich an die Decke. Ich wollte ihm sagen, dass es mir leidtat, aber das tat es nicht wirklich. Höchstens die ganze Situation. Suhl dich doch im Selbstmitleid, höhnte eine Stimme in meinem Kopf, die nach Kaiba klang, aber ich ignorierte sie, genauso wie ich das Bedürfnis beiseiteschob, meine Hand nach Yugis Silhouette auszustrecken und mich zu entschuldigen.   * * *   Am nächsten Tag erwachte ich mit dem Gefühl, in der Nacht hätte mich jemand verkloppt. Ich rieb mir meine Schläfen, um das Pochen zu unterdrücken. Natürlich half es nicht. Yugis Bett war leer. Großvater Muto meinte, er wäre bei Thea. Total gefrustet warf ich mir meinen Rucksack um die Schulter – der eigentlich Yugi gehörte, so wie neunzig Prozent aller Sachen, die ich benutzte. Am liebsten hätte ich meinen Kopf gegen die nächste Wand geschlagen.   * * *   Es war, als atmete ich andere Luft. Kopfnicken, anerkennende Blicke, ab und zu vielleicht sogar etwas Neid? Jeder erkannte mich, Geflüster hinter meinem Rücken. Ich stolzierte durch die Flure der KC. Das Team der Animation Studios begrüßte mich, wie einen Helden. Ich tänzelte wie auf einem Seil. Mit dem Gefühl, jeden Moment abzustürzen. Aber hier oben war der Blick so atemberaubend. Vielleicht war den Sturz es wert.   * * *   »Auf keinen Fall!« Ich stapfte von einer Seite seines Wohnzimmers zur anderen, nur um dann wieder umzudrehen und dasselbe in die andere Richtung zu wiederholen. Ich kam an Gemälden vorbei, die als Fotos von Mokuba und dem Weißen entpuppten, sogar Roland und Sarah waren auf einigen dabei. Nur Kaiba selbst nie. Aber ich hatte kaum einen Blick dafür übrig oder für den Gedanken: Warum? Es war Freitagabend und Mokuba hatte es geschafft, Kaiba nach Hause zu zwingen. Es war mir schleierhaft wie. Ich starrte auf den Boden, dunkler Holzboden, dann an die weißen Wände, die Decke. Über uns thronte ein Kronleuchter, der dem Raum klassische Eleganz verlieh, aber ich machte einen Bogen um die Stelle, wo er hinfallen würde, würden die Ketten brechen, an denen er hing. Mein Blick wanderte durch das Zimmer, als suchte ich etwas, woran ich mich klammern könnte – oder das ich im Zweifelsfall zertrümmern konnte. Die Wut rauschte in meinen Adern. Kaiba saß mit dem Rücken zu mir auf der Couch und las irgendetwas. Vor ihm ein Kamin, der um diese Jahreszeit natürlich nicht befeuert wurde. Mokuba lehnte an der Tür, als wüsste er nicht, ob er wirklich hier sein wollte. »Ich ziehe nicht zu ihr«, knurrte ich erneut und war kurz davor, mit dem Fuß aufzustampfen. »Mit der Kampagne und allem hab‘ ich das auch nicht nötig«, fuhr ich fort und blieb direkt hinter Kaiba stehen. »Ich such mir einfach was Eigenes. Ich mein, von dem Geld, was ich –« »Es geht nicht um das Geld.« Kaiba schaffte es immer, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen. »Hä? Natürlich geht’s –« Er schüttelte den Kopf und blätterte eine Seite weiter. »Es geht um das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Deine Mutter ist deine Erziehungsberechtigte«, ich holte tief Luft, aber er ließ mich erst gar nicht zu Wort kommen, »und damit darf sie bis zu deinem achtzehnten Geburtstag entscheiden, wo du wohnst.« »Ja, aber – aber –« Der Zorn drückte auf meine Kehle und raubte mir die Worte. »Deine Argumente bestehen aus emotionales Ausbrüchen und der Abneigung bei deiner Mutter zu wohnen, die –« »Sich jahrelang einen Scheiß um mich gekümmert hat! Was ist schlimmer als so eine verdammte – verdammt!« Erst in der plötzlichen Stille danach bemerkte ich, dass ich gebrüllt hatte. Ich stand inmitten Kaibas Wohnzimmer, starrte auf einen der Teppiche, der wahrscheinlich mehr wert war, als alles, was ich derzeit besaß – was zugegeben auch nicht besonders viel war – und spürte, wie meine Augen zu brennen begannen. Mokuba regte sich. Ich sah es im Augenwinkel. Und ich wünschte, ich wäre mehr ein Vorbild und weniger – was auch immer ich war. Ich verfluchte das verworrene Gefühl in meinem Magen – und meine Augen. »Ich heiße das nicht gut«, erwiderte Kaiba und als ich irritiert aufschaute, sah er mir direkt ins Gesicht. »Das Verhalten deiner Mutter. Aber womöglich solltest du auch ihre Seite der Geschichte betrachten.« Ich machte einen großen Schritt und stand vor ihm, am liebsten hätte ich ihn geschüttelt. »Ihre Seite der – ihre – hast du sie noch alle?«, keifte ich und raufte mir die Haare. »Sie ist eine dumme selbstsüchtige Kuh, die meinen Vater und mich im Stich gelassen hat, mich von meiner Schwester getrennt und mir meinen kleinen Bruder ganz vorenthalten hat und sie – sie hat kein Mitleid verdient! Kapiert? Sie ist –« »Die Böse?« Kaibas Mimik war viel zu ruhig für meinen Geschmack. Als hätte er alles unter Kontrolle, als stünde ich nicht kurz vor der Explosion. »Ja! Nein! Verdammt! Darum geht es nicht!«, zischte ich und schaute zu ihm herunter, während er unberührt sitzen blieb. »Hast du sie mal gefragt, warum sie damals ging?« Er hatte die Nerven, eine Seite seines Buches weiterzublättern. »Ja, natürlich!«, knurrte ich. Oder? Hatte ich das? Hatte ich jemals mit meiner Mutter darüber gesprochen? Ohne meinen Vater im Nacken? Ohne Zorn im Bauch und die Vorwürfe, die schon mit der Frage aus meinem Mund sprühten? Ich erinnerte mich nicht und obwohl ich stand und er saß, hatte ich das Gefühl viel kleiner zu sein als er. Mit einem Seufzen ließ ich mich neben Kaiba auf das Sofa fallen. »Egal, was damals passiert ist. Sie hat mich alleine gelassen – mit meinem Vater. Dafür gibt es keine Rechtfertigung«, flüsterte ich. Vielleicht stimmte es sogar. Vielleicht gab es keine Entschuldigung. Aber vielleicht schrie in mir auch nur der kleine Junge, den sie damals zurückgelassen hatte. Um uns herum war es ganz still. Nur das Ticken der Uhr und ab und zu das Rascheln, wenn Kaiba eine Seite weiterblätterte. Ich saß da, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, die Hände vorm Gesicht und saß sie – wieder und wieder. Meine Mutter, meine Schwester, meinen Vater. Hatte ich sie wirklich zu der Bösen gemacht? War sie das nicht? »Was würde dir mehr zusetzen?«, begann Kaiba langsam, als dächte er selbst über die Worte nach, die noch folgen sollten. »Wenn sie dich zurücklassen würde? Erneut. Oder dass sie dich aufnehmen möchte?« Ich starrte durch meine Finger hindurch auf den Teppich. Es war nicht so ein alter Orientteppich, wie man vielleicht vermutet hätte, Hauptsache teuer und so. Es war ein beigefarbener, weich, richtig wohnlich, als wäre er dafür gemacht, barfuß darüber zu schlendern oder sich darauf im Winter vor das knisternde Kaminfeuer zu legen. Ich konnte mir Kaiba weder barfuß im Wohnzimmer noch vor dem Kaminfeuer auf dem Teppich liegend vorstellen. »Ich weiß es nicht«, murmelte ich. War es nicht ihre Schuld, dass alles so falsch gelaufen war? Dafür, dass ich mich am Boden fühlte, selbst wenn ich lachend vor meinen Freunden stand? »Wahrscheinlich wäre es einfacher, sie zu hassen, würde sie dich erneut im Stich lassen«, bemerkte Kaiba und blätterte eine Seite weiter. Ich sah langsam auf, schaute ihn von der Seite an. Es war immer noch seltsam, ihm nicht in Hemd und Krawatte zu sehen, aber er besaß tatsächlich auch einfache Shirts, so wie dieses. Noch seltsamer war es nur mit ihm zu reden – ohne Spott, ohne Befürchtung, was er über mich denken würde. »Vielleicht«, nuschelte ich. Ging es darum? Andere zu hassen, damit man selbst den Schmerz nicht mehr spürte, den sie verursachten? Ich legte meinen Kopf auf die Sofalehne und wollte einfach nur nichts tun. Nichts denken. Nichts fühlen. Ich war plötzlich so müde. Als hätte die Wut meine Kraft verbrannt. Rechts spürte ich eine Bewegung und dann Kaibas Hand auf meiner. In dem Moment knurrte mein Magen. Müde und leer und verdammt hungrig. »Du hast Hunger.« »Nein.« »Das war keine Frage, Wheeler.« »Ich ess‘ heute Abend bei Yugi was.« »Bestellt euch eine Pizza«, fuhr er fort, als hätte ich nichts gesagt und Mokuba machte ein Geräusch, das absolute Zustimmung ausdrückte. »Ich hab‘ doch grade –« »Ich lade dich ein«, erwiderte er und nickte Mokuba zu, »bis später bist du verhungert und am Ende ich verantwortlich, wenn deine abgemagerte Leiche in meinem Haus gefunden wird.« Es war immer wieder seltsam zu bemerken, dass Kaiba so etwas wie einen Humor besaß. »Nein, danke«, brummte ich. »Zu der genannten Zukunftsvision?«, spöttelte er und ich verdrehte die Augen, während ich meine Arme vor der Brust verschränkte. Kaiba seufze. »Es ist schlicht dumm, ein Angebot auszuschlagen, dass einem lediglich Vorteile bringt.« »Du bist doch der erste, der Hilfe nicht annehmen würde. Erzähl mir nichts.« »Ohne die Hilfe von anderen, hätte ich es nicht bis in den Vorstand der Kaiba Corporation geschafft.« »Vergleichst du gerade echt eine Pizza zu bestellen oder eben nicht mit deiner krassen Karriere?« »Es kommt auf die Grundhaltung an, Wheeler. Stolz zu sein ist nicht schlimm, aber zu stur, um Hilfe anzunehmen ist dumm.« Natürlich. Für ihn war ich nie mehr. Ich ballte die Finger zur Faust, schluckte um den Knoten im Hals loszuwerden. Was bildete ich mir ein? Jetzt war es okay. Hier, wo uns keiner von außen beobachtete. Aber da draußen. Und dann – wie würde das alles in einer Woche aussehen? In einem Monat? In einem Jahr? Würde er mich dann überhaupt noch anschauen? Ich wollte jetzt nicht an die Zukunft denken, an all die Fragen und Entscheidungen und Möglichkeiten und Zweifel und Befürchtungen. Eigentlich wollte ich überhaupt nicht daran denken. Für immer im Hier und Jetzt leben. Von Tag und Tag. Aber natürlich interessierte das alle anderen einen Scheiß. »Pizza mit allem?«, fragte Mokuba, ohne dass es nach einer Frage klang.   * * *   Bisher hatte ich mein Leben gelebt, als würde sich nie etwas ändern, jeden Tag, Woche für Woche und glaubte, ich würde immer derselbe sein. Wie ein Rad, das sich dreht – ohne voranzukommen. Wie viele Menschen hatte ich davon geträumt, dieses Rad zu verlassen und endlich einen Schritt zu machen. Ich hatte vergessen, dass dieser Schritt gefährlich ist. Dass man sich womöglich irgendwann umschaut und nichts wiedererkennt.   Ich stopfte alles in einen Karton – sozusagen mein Leben, alles, was ich besaß. Ein paar Klamotten, ein paar DVDs und Spiele, vielleicht sogar das ein oder andere Buch (Thea hätte sicherlich behauptet, Mangas wäre keine richtigen Bücher). Yugi saß auf seinem Bett und ich spürte seinen Blick in meinem Hinterkopf. »Joey«, begann er, aber ich hob die Hand. Rührselige Worte oder gutgemeinte Ratschläge konnte ich jetzt wirklich nicht gebrauchen. Ich würde sonst auseinanderbrechen. Wahrscheinlich sollte ich auch noch dankbar sein. Manche Menschen hatten keine Mütter mehr oder keinen Ort, wo sie wohnen konnten. Manche Menschen waren schwerkrank, hatten Schmerzen oder waren am Verhungern. Es gab bestimmt zigtausend schlimmere Szenarien. Aber ich hatte das Gefühl, auf Scherben zu laufen. Barfüßig. Yugi verfiel wieder in Schweigen und ich ließ mich auf die Matratze neben seinem Bett fallen. Natürlich war es eng. Es gab keine Privatsphäre zu zweit in einem Zimmer, das für einen Teenager schon knapp bemessen war. Kein wirklicher Platz für meine Sachen, aber was besaß ich schon? Kein Platz am Schreibtisch, um Hausaufgaben zu machen – aber die konnte ich auch im Bett erledigen. Kein Platz, um sich aus dem Weg zu gehen. Kein Platz für Einsamkeit. Kein Platz für Selbstzweifel im Dunkeln, wenn man alleine im Bett lag und glaubte, ersticken zu müssen. Yugi war immer da, seine Zuversicht, sein Mut, seine Freundlichkeit. Wer brauchte schon Platz? Aber plötzlich war es die letzte Nacht. »Wahrscheinlich ist es besser so«, murmelte er, als wir hier im Zimmer lagen. Jetzt hatte es Yugi also doch gesagt. Zorn strömte durch meine Gedanken, Sorge, was morgen sein würde – oder nächste Woche oder nächsten Monat. Aber vor allem Zorn. »Warum glaubt jede verfickte Person, dass es so besser wäre?«, presste ich zwischen meinen Lippen hervor. Stille. Nur Schatten, die über die Decke krochen und mein eigener Atem. »Warum glaubst du es nicht?«, fragte Yugi und ich wunderte mich, wann Yugi so verdammt wagemutig geworden war – oder ob er das schon immer in sich gehabt hatte. Es gab so viele Gründe, warum ich einfach wusste, dass es beschissen werden würde. Schon der Gedanke daran, ließ meine Kehle austrocknen und dann diesen ekligen Geschmack in meinem Mund zurück. »Es gibt viel zu viele Gründe«, behauptete ich. »Sag mir nur einen.« »Sie –« Ich wollte sagen, dass sie mich hasste. Aber dann schluckte ich es hinunter. Klang es kindisch? War der Gedanke albern, dass einen die eigene Mutter hasste? War das nur diese angestaute Wut in mir? »Du weißt, dass wir für dich da sind«, flüsterte Yugi. Ich nickte, weil ich kein Wort herausbekam.   * * *   Es war das letzte Wochenende der Sommerferien, als mich meine Mutter aus meinem bisherigen Leben riss und in ein Zimmer setzte, das überhaupt nicht zu mir passte. Die Wände waren weiß. Es gab ein Doppelfenster, das bis zum Boden reichte und einen kleinen Balkon davor. In dem Zimmer gab es ein Bett, das bereits bezogen war, einen Schrank mit diversen Büchern, einen Fernseher und einen Schreibtisch mit einer Schreibtischlampe. Ich sah mich um und wollte am liebsten wieder gehen. »Es wird supergenial!«, rief Jacob. Ich wandte mich zu ihm und er strahlte, wie er da auf dem Bett saß. »Wir können jeden Abend zocken und du kannst mir echt coole Sachen zeigen und wir essen alle zusammen und dann fahren wir zusammen zur Schule und danach machen wir zusammen Hausaufgaben und –« Wie hätte ich ihm sagen können, dass ich mich fühlte, als würde mir jemand meine Innereien verknoten? Er freute sich darauf, zusammen mit mir Hausaufgaben zu machen. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. »Ja, hm.« Selbst in meinen Ohren hörte ich mich an, als würde ich kurz davorstehen, abzuhauen. »Hey, Jacob«, Serenity stand im Türrahmen, »ich glaube, du hast Joey für heute genug belagert. Es ist schon spät und –« »Ja, ja«, murmelte er und schob seinen Mund vor. »Ich bin morgen auch noch da«, erwiderte ich und hoffte, dass niemand das Wahrscheinlich hörte, das ich nicht aussprach und dass ich nicht ganz so am Arsch aussah, wie ich befürchtete. Serenity bugsierte unseren kleinen Bruder aus dem Zimmer, das meine Mutter für mich freigemacht hatte.   Als ich alleine war, öffnete ich den Kleiderschrank und starrte eine Menge Pullover und Shirt an. Alle waren gebügelt. Sie dufteten. Ich schmiss die Tür zu und atmete tief durch. »Ich wusste nicht genau, ob du M oder L trägst.« Ich fuhr herum. Meine Mutter stand in der Tür und schaute zum Fenster, dann zum Bett, dann den Schrank an, knapp an mir vorbei. Ärger sprudelte in mir. Schaffte sie es nicht einmal, mich anzublicken? »Sollte die Kleidung nicht passen, gehen wir einfach gemeinsam einkaufen. Oder – ich gebe dir das Geld. Du kannst natürlich auch mit deinen Freunden – vielleicht wäre das besser. Ich habe auch einige Schulsachen besorgt, ich hoffe –« Ich bemerkte in diesem Moment, dass ich meine eigene Mutter nicht mehr kannte. Vielleicht hatte ich sie nie gekannt. Wahrscheinlich waren meine Erinnerungen vermischt mit den Anschuldigungen meines Vaters. Und alles, was ich zu wissen glaubte, nur ein Mix aus getrübten Gedanken. Meine Gefühle ein Knäul, das aus dem Zorn bestand, den ich als Kind empfunden hatte und der Verwirrung und der Frage, ob es meine Schuld war. Dass sie gingen. Dass meine Mutter mich verließ und meine Schwester mitnahm – aber nicht mich. Ob ich es nicht verdient hatte. »Ja«, begann ich, den Rücken durchgestreckt, doch ich konnte mich nicht zu einem Danke durchringen. »Dein –« Sie schluckte und beendete ihren Kommentar nicht. »Das Essen ist gleich fertig«, sagte sie stattdessen und ich nickte. Wir standen uns gegenüber wie Fremde, weil – wenn man mal ehrlich war – wir nicht viel mehr waren. Nur Erinnerung und Gefühle, die einen zu ertränken versuchten.   * * *   Wahrscheinlich war ich verdammt naiv gewesen, als ich gedacht hatte, alles würde besser, wenn die Schule wieder anfing. Mal ehrlich. Allein der Gedanke war schon ein Hinweis, dass in meinem Kopf etwas ordentlich falsch lief. »Ich schwör‘, ich halt‘ das nicht mehr lange aus«, knurrte ich, als wir zusammen in der Mensa saßen und an den Nebentischen die Leute ihre Köpfe zusammensteckten. »Wieso?«, schmatzte Tris. »Deine Mutter hat dich sogar hergefahren! Wahrscheinlich warst du deswegen auch nicht zu –« Ich verdrehte die Augen und wischte seinen Kommentar mit einer Handbewegung zur Seite. »Das mein‘ ich nicht.« Aber in diesem Moment rückte mir meine neue Schuluniform unerträglich ins Bewusstsein. Und der neue Ranzen und die neuen Stifte in einem Mäppchen. Einem Mäppchen! Thea seufzte, aber dann zuckte sie ihre Achseln. »Sie werden nicht lange darüber reden. Spätestens nächste Woche hat ein anderer das Pech ins Visier des allgemeinen Schulgossips zu treten und du bist außen vor, Joey«, versicherte sie mir. Yugi sah nicht ganz so optimistisch aus, wie ich es gewohnt war, aber ich hoffte, Thea würde Recht behalten. Ich beäugte die Gruppe um den Tisch uns gegenüber, die ihre Blicke sofort abwandten, als sie meinen bemerkten. »Wie hält Kaiba das nur die ganze Zeit aus?«, murmelte ich und legte mein Kinn auf meine überkreuzten Arme auf den Tisch. »Die sind doch nur neidisch«, behauptete Thea und warf jemandem über meine Schulter einen beeindruckend bösen Blick zu. »Ja, auf jeden Fall«, stimmte Tris zu, »und wahrscheinlich raffen sie nicht, wie jemand wie du ausgerechnet Kaiba überzeugen konnte.« Yugi bedeckte seine Augen mit der Rechten. Thea schnaubte, aber Tris starrte die beiden nur an. »Was? Ist doch so«, erwiderte er mit vollem Mund und schluckte dann, während er mit der Gabel gestikulierte, »nicht, dass ich nicht wüsste, dass Joey voll was auf dem Kasten hat. Aber nicht jeder blickt da so durch wie wir, nicht?« Dagegen konnte niemand wirklich argumentieren. Ich schaufelte die Bratkartoffeln in meinen Mund, ehe ich nachdenklich innehielt. »Ich weiß nur nicht, ob es in der KC so ist wie in der Schule oder in der Schule wie in der KC. Sollte man doch denken, dass sich die ganzen Anzugsträger nicht so benehmen wie die Kids hier in der Schule. So lächerlich.« Wir starrten jeder eine Weile auf einen anderen Punkt, dann legte Yugi seine Hand auf meine Schulter. »Wir stehen auf deiner Seite, Kaiba steht auf deiner Seite. Natürlich nervt das Getuschel, aber du bist schon mit ganz anderen Sachen fertig geworden.« Diesmal lächelte Yugi mich mit einem seiner Es-wird-alles-gut-Lächeln an. Und ich wusste, er meinte, was er sagte. Tris hatte Recht. Thea hatte Recht und Yugi auch. Mein Blick schweifte zu dem Tisch, an dem Kaiba alleine saß und gerade ein Essen auspackte, das offensichtlich seine Haushälterin zubereitet hatte. Er erwiderte meinen Blick und ich senkte meinen, um in meine Bratkartoffeln zu grinsen. Zusammen würden wir die Zeit schon rumkriegen.   * * *   Ich lebte mein Leben, als wäre ich frei. Ich lachte, wenn es anderen zum Heulen zumute war. Ich spaßte am lautesten, wenn die Situation verflucht war. Ich ging immer weiter. Balancierte dort oben, ohne hinunterzuschauen und fürchtete mich nicht vor dem freien Fall, der drohte. Denn ohne das Risiko, wäre es keine Freiheit, oder?   Wir lagen hinten im Garten. Es gab keinen großen Baum dort, nur Blumen – vor allem Sonnenblumen – und Wiese. Ich betrachtete das Haus vor mir, das ich nicht mal in meinen Gedanken als mein Zuhause bezeichnen konnte. Die Fassade war weiß, die Fensterrahmen in einem dunklen Holzton. Die Blumenbeete waren zwischen den Blüten bedeckt mit Rindenmulch und von weißen Ziersteinen umrandet. Obwohl die Sonne schien, war es nicht mehr sommerlich. Die ersten Blätter änderten ihre Farben. »Wie – geht es dir, Joey?« »Gut.« Ich grinste. »Ich hab‘ neue Hosen und Shirts und ein Mäppchen. Ich glaub‘, ich hatte noch nie ein Mäppchen. Vielleicht in der Grundschule irgendwann. Wie sollte es mir anders gehen? Wir essen jeden Abend zusammen. Sie fragt nach meinen Hausaufgaben. Verdammt. Es ist wie in so einem Film.« Ich lachte, als hätte ich einen verdammt guten Witz gemacht. Yugi wusste immer, wenn ich ihm etwas vormachte. Wenn ich lachte, obwohl ich schreien wollte. Wenn ich Witze machte, weil es weh tat. Er sah mich von der Seite an, während er tief durchatmete und ich wich seinem Blick aus. »So ein verdammt schlechter Film«, fügte ich hinzu. Ich verabscheute es. »Warum –«, begann ich, doch dann schüttelte ich den Kopf. Manche Antworten wollte man nicht hören, weil sie zu schmerzhaft waren. Deshalb sollte man manche Fragen nicht stellen, wenn man ehrlich zu sich selbst sein wollte. Ich spürte Yugis Blick und den Druck in meiner Brust. Dann seine Hand auf meinem Arm. »Was ist, Joey?« Ich schüttelte den Kopf heftiger. Ich hörte Jacob drinnen nach Serenity rufen. »Es ist nur – warum ist sie jetzt da? Warum hat sie –«, ich brach ab, als ich spürte, dass es anfing zu regnen. Auf dem Stoff meiner Hose sammelten sich Tropfen, die einsogen und dunkle Flecken hinterließen. »Ich weiß es nicht«, murmelte Yugi. Er war schon immer so knallhart ehrlich gewesen. »Es – regnet«, schniefte ich und starrte in den Himmel. »Mhm«, murmelte Yugi. Am Himmel drängte sich keine einzige Wolke.   * * *   Wenn man arm ist, zahlt man einen Preis. Das wusste ich, seit ich ein Kind war. Offensichtliche Dinge wie abgetragene Kleidung, keine Kinobesuche oder auch mal nur Nudeln mit Ketchup. Aber es gibt auch die Sachen, die niemand ausspricht. Die Scham, die Ausgrenzung, die Blicke. All die Vorurteile.   »Hey, Wheeler! Stimmt es, dass du für Kaiba arbeitest?« Ich atmete tief durch, wandte mich um zu meinem Mitschüler und zuckte mit der Schulter. »Und wenn’s so wär‘?« Tris verlangsamte seine Schritte, Yugi und Thea schauten zu uns zurück. Im Gang drängten sich die Schüler, um von einem Klassensaal zum anderen zu kommen. Die meisten quatschten, lachten mal auf oder kicherten, bissen in Butterbrote oder tranken einen Schluck aus der Flasche. Einige unterbrachen ihre Gespräche, stierten uns an und schlenderten statt geschäftig ihren Weg hinter sich zu bringen. »Na, ist doch eine gute Frage, oder? Was muss ich machen, dass Kaiba mich anstellt?«, fragte er und seine Augenbrauen schossen nach oben. »Wie wäre es mit Talent zeigen?«, erwiderte Tris und verdrehte die Augen. »Und verdammt viel Glück haben?«, fügte unser Mitschüler hinzu. Tristan schnaubte und gab mir einen leichten Stoß, damit ich weiterging. Er hatte Recht. Mit solchen Typen verschwendeten wir nur Zeit. Wer war der überhaupt? Ich erinnerte mich nicht mal an seinen Namen. Musste eine Stufe unter uns sein. Wir waren ein paar Schritte weiter, als er uns etwas nachrief. »Oder hast du deinem Glück auf die Sprünge geholfen? Ich habe gelesen, dass Kaiba auf Blondinen steht!« Ich erstarrte, zog meine Schultern nach oben, sah Yugi und Thea vor mir. Ersterer schaute mich an und schüttelte den Kopf. Ich wollte mich umdrehen und die verdammte Visage von dem Typen gegen die Wand pressen, ihm zeigen, dass ich Kaiba nicht brauchte, um irgendwo anzukommen. Mit solchen Versagern lasse ich mich nicht ein, höhnte eine Stimme in meinem Kopf, die sich verdammt nach Kaiba anhörte. Ich biss meine Zähne zusammen. Yugis Lippen formten Worte, die ich nicht ausmachte, aber ich begriff. Natürlich hatte er Recht. Es lohnte sich nicht. Thea warf dem Typen hinter mir einen verdammt guten bösen Blick zu und ich spürte, wie der Druck in meiner Faust nachließ. Ich straffte meinen Rücken und wir ließen ihn stehen.   * * *   Die erste Woche nach den Ferien ignorierte ich die blöden Kommentare und die Blicke in der Schule. Insgeheim fragte ich mich, ob Kaiba auch etwas davon mitbekam – ob er sie schlicht in seiner perfektionierten Ignoranz abprallen ließ oder ob sich keiner wagte, ihm damit nahe zu kommen. Also erzählte ich ihm davon. »Oh, bitte«, war alles, was er dazu sagte und verdrehte seine Augen. Ich starrte ihn an. »Echt jetzt? Das ist alles?« Wir saßen in seinem Büro. Er hinter dem Schreibtisch, ich halb darauf und schlenkerte mit meinen Beinen, ein Tablet auf dem Schoß. Draußen dämmerte es. Natürlich tippte Kaiba, schaute von einem Bildschirm zum nächsten und verglich irgendwelche Daten in einer Art Liste. Nicht, dass es mich interessiert hätte. »Da macht mich so ein Idiot in der Schule an und –« »Gewöhn dich dran. Du wirst von solchen Idioten umringt sein. Niemand gönnt jemandem Erfolg.« Kaibas Ton besaß etwas Abschließendes. Als gäbe es nichts mehr dazu zu sagen. »Doch«, widersprach ich und er sah von seinen Bildschirmen auf. »Meine Freunde«, erklärte ich auf seinen dunklen Blick. »Wir werden sehen«, murmelte er. »Hast du die Auswertung der Social Media durchgelesen?« Nur Kaiba konnte solche Themensprünge klingen lassen, als wären es keine. »Natürlich«, erwiderte ich und er hob die Augenbrauen. »Überflogen«, fügte ich hinzu und grinste schief. In der Stille klang das Klackern der Tastatur. Ich betrachtete Kaiba, der wie immer die Stirn kräuselte, wenn er irgendwelche Daten überprüfte. Er saß fünf Tage die Woche in der Schule – zumindest, wenn er sich keine Entschuldigung schrieb wegen irgendwelcher Konferenzen oder was auch immer. Dazu organisierte er solche Events wie das Turnier und musste mit Typen wie Le klarkommen. Er machte alles, was er anpackte, auf einem überdurchschnittlichen Niveau. Er duldete keine Fehler, keine Schwäche, keine Mängel. »Wie schaffst du das alles?«, brummte ich. Er schaute nicht auf, grummelte nur etwas. Und ich schnaufte. »Ich mein‘, das alles. Hier und die Schule und Mokuba und dein Leben und –« Jetzt sah er auf. »Prioritäten«, antwortete er knapp. »Aber –«, warf ich ein und fuhr mir mit einer Hand durchs Haar. Wie erklärte man jemandem, der das Unmögliche schaffte, dass es unmöglich war? »Wheeler, jeder hat dieselbe Zeit. Die Mehrheit vergeudet sie lediglich.« Ich öffnete den Mund, doch er schnaubte. »Wir haben die Nacht noch viel vor. Also verschwende du keine Zeit.« Nur Kaiba schaffte es, so einen Kommentar nicht zweideutig klingen zu lassen. »Echt die ganze Nacht? Ich dachte, das wird irgendwie irgendwann eine Pyjamaparty. Mit Musik und Games und Pizza und so.« Er warf mir einen Blick zu, bei dem ich nicht wusste, ob er sich nicht auch fragte, wie ausgerechnet ich es geschafft hatte, hier zu landen. Aber ich grinste ihn an, spürte kein bisschen Unsicherheit – im Gegenteil. Wenn ich hier saß, dann wusste ich ganz genau, dass ich hierhergehörte. Vielleicht lag es an seinem Büro. Mit einem resignierten Atemzug zückte er sein Handy. »Welche Pizza?«, fragte er betont gelangweilt. Auf Kaibanisch war das so etwas wie eine Liebeserklärung.   * * *   Gegen sieben Uhr morgens schlenderte ich durch die Tür, zog meine Stoffjacke aus, schritt zum Kühlschrank und trank Milch aus der Tüte. Roland hatte mich gefahren und ich sah gerade durchs Fenster, wie der Sportwagen die Einfahrt verließ, als meine Mutter plötzlich in der Küche stand und mich fragte, wo ich gewesen war, was ich mir gedacht hätte, ob ich wüsste, wie verantwortungslos es war, eine gesamte Nacht einfach zu verschwinden. Sie hätte sich Sorgen gemacht. »Zu spät«, erwiderte ich spöttisch, drehte mich um und ließ sie stehen. Sie hielt mich nicht auf.   Woher wusste man, dass man angekommen war? Viele Menschen jagen ihren Träumen nach. Sie stellen sich vor, wie es wäre reich zu sein oder berühmt oder endlich anerkannt für ihre Intelligenz oder ihr Geschick, ihre Worte und Taten. Anerkennung für ihre harte Arbeit. Wenn man ehrlich ist, ist doch jeder auf der Suche nach etwas oder jemandem. Das ist okay, das ist eben das Leben. Aber woher wusste man, dass man es geschafft hatte? Dass man reich genug war? Oder berühmt genug? Oder was auch immer man ersehnte. Wann kam man endlich an? Manchmal streifte ich nachts durch das Haus, dann, wenn ich plötzlich aufwachte und in einem Bett lag, das ich nicht erkannte im ersten Moment, wenn die Wände in dem Zimmer, in dem ich hier schlief, näherkamen und ich glaubte, ersticken zu müssen. Tris war begeistert von dem Haus, in dem jeder ein eigenes Zimmer hatte. Vom Garten mit dem Gras, das aussah, als hätte es jemand mit einer Nagelschere geschnitten. Ich konnte es vom Fenster aus sehen. Als erstes hatte er sich auf das Bett geschmissen, in dem locker zwei Leute Platz hatten, hatte sich beschwert, dass er keinen neuen Laptop bekam, aber unbedingt einen brauchte, dass er sich auch so einen Ausblick wünschte. Am liebsten hätte ich ihm alles in den Arsch geschoben, aber als ich es ihm vor die Füße spucken wollte, kam Jacob ins Zimmer gepoltert. »Guck mal! Ich habe den Weißen Drachen gemalt! Für dich!«, hatte er stolz verkündet und fragte mich weiter über DuelMonsters aus. Ich versank in den Gefühlen, es nicht verdient zu haben.   Wenn ich meine Geschwister ansah, wie sie lachten – so völlig unbekümmert, so frei – dann wurde mir bewusst, wie wenig ich es war. Nur ein bisschen. Als hätte mir jemand die Tür von meinem Gefängnis geöffnet und ich schaute hinaus und ich spürte schon fast, wie es sein könnte. Aber ich machte nicht den entscheidenden Schritt. Ich stand dazwischen. Jeden Abend beim Essen, wenn sie scherzten oder von ihrem Tag erzählten und mich nach meiner Meinung fragten, als versuchten sie, diese Stille zu überbrücken, die mich dauernd in diesem Haus überkam. Und meine Mutter mich anblickte, als würde ich jeden Moment explodieren. Woher wusste man, dass man am richtigen Ort war? Spürte man das? Oder gehörte es zum Leben, nach immer Höherem zu streben? Wann war es genug?   »Wohin gehst du?«, fragte mich meine Mutter an so einem Abend, an dem ich glaubte, die Decke würde über mir zusammenbrechen. Nach dem Essen zog ich mein Sweatshirt drüber. Sie lehnte im Türrahmen und betrachtete mich, als wäre ich ein wildes Tier, das sie versuchte zu bändigen. Serenity war in ihrem Zimmer, wahrscheinlich las sie ein Buch. Aus Jacobs Raum dröhnten die Sounds eines Games. Was war schon ein Zuhause? »Ich muss nochmal weg«, erwiderte ich, ohne sie anzusehen. Woran erkannte man es? »Es ist schon spät«, sagte sie und ich runzelte die Stirn, schnappte meinen Rucksack. »Es ist erst acht«, entgegnete ich mit einem Schulterzucken. »Du hast morgen Schule, Joey«, meinte sie, als wäre ich sieben Jahre. Aber dafür kam sie etwas zu spät. Wut summte in meinem Bauch wie wütende Wespen. Ich schluckte, um nicht auszurasten, um nicht anzufangen, herumzuschreien. Stattdessen wandte ich mich langsam zum Ausgang. »Seit wann interessiert’s dich?«, fragte ich, warf ihr einen Blick zu und zog die Tür hinter mir zu.   Ich wanderte durch halbfremde Straßen mit dem Gefühl, ich würde nie ankommen. Ein Problem war möglicherweise, dass ich nicht wusste, wo. Ich zog mein Handy aus der Hosentasche und tippte auf Kontakte. Ich wollte nicht reden, mich nicht erklären. Mein Finger zog an Yugis Nummer vorbei. Ich wollte keine Belehrung, aber Thea klammerte ich ohnehin um diese Uhrzeit aus – und ohne Yugo sowieso. Ich brauchte keine Feststellung, wie gut es mir doch gehen müsste, jetzt, wo ich endlich so wohnte, in einem eigenen Zimmer mit eigenem Fernseher, mit neuen Games und einem Laptop und einem Mäppchen in meinem neuen Schulranzen. Also übersprang ich Tristans Nummer. »Holst du mich ab?«, flüsterte ich, ohne eine Begrüßung. »Wo bist du?«, wollte Kaiba wissen, ohne zu fragen, warum.   Genau dreiundzwanzig Minuten später bog ein Sportwagen um die Ecke. Roland saß am Steuer, Kaiba saß auf einem der hinteren Sitze. Da Licht eines Screens erleuchtete sein Gesicht bläulich. Als ich in das Auto einstieg, betrachtete Kaiba mich, als würde er sich dadurch Fragen beantworten, die er gar nicht gestellt hatte. »Roland, fahren Sie uns nach Hause.« Also fuhren wir los. In meinem Magen lagen Gefühle wie ein Knäul, aber ich weinte niemals. Es war einfach unvorstellbar. Stattdessen lachte ich. Kaiba warf mir einen irritierten Blick zu, als ich wieder losprustete, obwohl ich versuchte, mein Gelächter zu unterdrücken. »Warum lachst du, Wheeler?« Anders als all meine Freunde, war Kaiba bisher kein einziges Mal in dem Haus gewesen. »Ich hab‘ ein eigenes Zimmer«, gluckste ich, »verdammt ich hab‘ sogar einen eigenen Fernseher im Zimmer!« Wir schossen an Häusern vorbei, die auf keinen Fall so beeindruckend waren wie die in Kaibas Wohngegend, aber die mein altes Viertel verspotteten. Mein Blick blieb an einzelnen Gebäuden hängen, dann schaute ich Kaiba an, der seinen Laptop geschlossen hatte. Ich wünschte, er würde wie sonst darauf herumtippen. »Wheeler«, begann er leise. »Nein, du verstehst’s nicht«, würgte ich ihn ab. »Ich hab‘ alles Mögliche. Neu! Ich hab‘ neue Games, ich glaub’s sind sechs. Muss ein kleines Vermögen gekostet haben. Neuen Ranzen, neue Comics und Mangas und – ich hab‘ ein Mäppchen! Kaiba, ein Mäppchen!« Er studierte mein Gesicht, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Wirklich Unrecht hatte er nicht. Das Problem war, es war nicht einmal mein Schrank, dachte ich. Es ergab keinen Sinn, oder? »Es ist echt zum Totlachen«, griente ich ihn an. »Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich alles«, schnaufte ich und spürte wieder, wie das Lachen meinen Brustkorb schüttelte. »Also fast. Ich mein, klar. Es geht immer mehr. Grade du müsstest das ja wissen. Aber hey, ich könnte echt zufrieden sein. Happy. Frei.« Aber mal ehrlich. So ein Blödsinn. »Wer entscheidet, wer du bist?« »Es ist Zeit!« »Glaubst du an dich?« »Du entscheidest!« »Und ich ruf‘ ausgerechnet dich an! Ich Penner«, murmelte ich. Ich hielt eine Hand auf meinen Bauch, meine Muskeln taten langsam weh vor Lachen.  Ich fing wieder an zu kichern, spürte Kaibas Blick auf mir und wandte mein Gesicht zum Fenster. Mir liefen Tränen über die Wangen. Wir fuhren die Einfahrt entlang, das Tor öffnete automatisch und die Villa stand dort, als müsste sie den Reichtum ihres Besitzers beweisen. Ich rührte mich nicht, als Roland den Motor abstellte. Ich starrte aus dem Fenster und spürte, wie die Müdigkeit über meine Glieder rollte. Gleichzeitig wusste ich, ich würde nicht schlafen können. »Roland, gehen Sie vor.« Dann spürte ich den leichten Druck an meinem Oberarm, eine federleichte Berührung. Mein Kopf fuhr mit einem Ruck herum und ich starrte in Kaibas Augen. Stille breitete sich zwischen uns aus. Ich hörte nur meinen Herzschlag und seine Atemzüge. »Ich hab‘ kein Zuhause«, flüsterte ich, schüttelte den Kopf. »Ich mein‘, ich wohne im Haus meiner Mutter, aber –« Ich wusste nicht, wie ich es in Worte fassen konnte. Das Gefühl, zum ersten Mal in meinem Leben seit so langer Zeit, jeden Abend mit einer Familie zusammen zu essen, ein Zimmer zu haben mit einem Schrank voll gebügelter Wäsche und einer Mutter, die wissen wollte, wo ich war. Das Gefühl, dankbar sein zu müssen. »Es ist nicht mein Zuhause«, murmelte ich. Der Gedanke, zum ersten Mal im Leben alles haben zu können, anerkannt in einem Büro, dessen Namen international bekannt war. Kollegen, die mich wertschätzten und ein Job, der verdammt genial war. Ich hatte alles, um frei zu sein. Und war es nicht. Nur fast. »Ich verstehe«, erwiderte Kaiba langsam. Ich schnaubte, wollte aus dem Wagen verschwinden, doch seine Hand schoss vor und hielt mich am Handgelenk. Ich erstarrte. Kaiba legte seinen Kopf an die Lehne und starrte an die Decke des Wagens. Das eine Bein über das andere geschlagen und seine Hand, die noch immer mein Handgelenk fasste. Nicht mehr so fest, als wollte er mich am Gehen hindern, sondern so leicht, als wäre er sich der Berührung kaum bewusst. »Mir erging es in meiner Kindheit ähnlich«, durchbrach er die Stille. »Ich wollte Mokuba ein Zuhause kaufen. Ich habe die Firma umstrukturiert, habe Geld angelegt, um mehr Geld anzuhäufen, um damit ein großes Haus zu kaufen. Aber keines genügte meinen Vorstellungen. Also kaufte ich ein Grundstück, ließ Architekten ein Gebäude nach unseren Wünschen konzipieren, beauftragte Ingenieure und –« Er machte eine ausladende Geste zur Villa. »Und?«, murmelte ich. An Kaibas Lippen zupfte ein Lächeln, als erinnerte er sich an eine bittere Erkenntnis. Er wandte mir sein Gesicht zu und verdrehte die Augen. »Was wohl, Wheeler?«, er drehte sich wieder der Villa zu, als er weitersprach. »Wir zogen in dieses Haus dort und am ersten Abend, als er schon im Bett lag, fragte Mokuba mich, ob ich mit dem Haus glücklich wäre. Es war geradezu lächerlich, denn ich hatte das Haus nicht für mich gebaut, sondern für ihn. Ich wollte ihm das schönste Zuhause bieten, das möglich war. Genau das sagte ich ihm. Weißt du, was er darauf erwiderte?« Ich betrachtete Kaiba von der Seite. Die Szene spielte in meinem Kopf ab und ich konnte mir Mokubas riesige Augen vorstellen, diesen kleinen Jungen, der Kaiba zum Lächeln brachte – aufrichtig. Und offensichtlich auch zum Nachdenken. »Er meinte, er bräuchte kein so riesiges Haus.« Kaibas Finger strichen über meine, als er seine Hand zurückzog und mit einem leisen Schnauben weitersprach. Wann fühlte es sich richtig an? Wann wurde ein Haus zu einem Zuhause? »Sein Zuhause wäre dort, wo ich war«, schloss er leise. Ich öffnete den Mund, aber was gab es dazu noch zu sagen? Wir schwiegen eine ganze Weile. Draußen zirpten Grillen für eines der letzten Male in diesem Jahr. Die ersten Blätter lagen auf der Wiese. Und ich glaubte zu erahnen, was Mokuba gemeint hatte.   Als ich die Villa an diesem Abend betrat, sah ich sie zum ersten Mal wirklich. Nicht die Fassade, den offensichtlichen Wohlstand, den sie ausdrückte, sondern Kaibas Versuch, ein Zuhause zu bauen.   Er führte mich zu einem der Gästezimmer, dann fuhr er sich durchs Haar, über die Augen, als wäre er müde. Als hätte er keine Kraft und Nerven für Diskussionen, obwohl ich nicht einmal etwas gesagt hatte. Er griff meinen Arm, zog mich weiter, bis wir in seinem Schlafzimmer standen. »Machen wir uns nichts vor«, murmelte er, als spräche er mit sich selbst, während er seine Krawatte lockerte, dann wandte er mir sein Gesicht zu. »Diese Nacht kannst du hierbleiben. Aber –« Er atmete tief durch und ließ den Satz unbeendet im Raum hängen, knöpfte stattdessen sein Hemd auf. Ich starrte seine Finger an, die von einem Knopf zum nächsten glitten. »Wheeler«, brummte er und ich grinste, schlenderte Richtung Bett, blieb dann stehen und drehte mich halb zu ihm um. Als schüttelte sein Blick diese ganze Schwere von mir ab, als balancierte ich frei über seinem Kopf mit dem Wissen, er würde mich notfalls auffangen. »Achso. Gibst du mir ein Shirt oder schlafen wir nackt?« Kapitel 54: … bin berühmt ------------------------- __________________________________________   Ich erwachte eines Morgens und fand mich berühmt. Lord George Gordon Noel Byron   __________________________________________           Ich brauchte nur ein bisschen Glück. Ich schaffte alles ohne fremde Hilfe, machte meinen Job in der Firma, überlebte meine Familie, zog die Schule irgendwie durch. Von außen betrachtet war ich ein Glückspilz. Von außen war immer so eine Sache.   Wir lagen im Bett. Die Wände waren hoch und weit und ich zählte Kaibas Atemzüge. Kein Platz für Einsamkeit. Kein Platz für Selbstzweifel im Dunkeln. Ich spürte die Wärme um mich herum, von seiner Haut direkt auf meine. Obwohl wir uns nicht berührten. »Wheeler, schlaf endlich«, flüsterte er plötzlich. »Mach ich doch«, behauptete ich. Ich konnte quasi hören, wie er seine Augen verdrehte. Die Bettdecke raschelte, als mir Kaiba seinen Rücken zudrehte und ich zuckte zusammen, als sein Fuß plötzlich meinen berührte. Aber ich zog ihn nicht weg. Alles konzentrierte sich auf diese eine Berührung. Und ich fragte mich, ob das immer so sein würde mit Kaiba. Dass seine Gegenwart alles andere in den Schatten stellte. Seine Berührung meine Sorgen übertünchte. Ob es auch mit anderen Menschen so sein könnte und ob es anderen möglicherweise auch so erging – mit anderen. Oder ob es etwas Besonderes war. »Hey, Kaiba –«, flüsterte ich. »Schläfst du schon?« Aber vielleicht ging es auch gar nicht darum, etwas Besonderes zu sein. »Ja«, grummelte er und ich schwieg. Vielleicht ging es darum, dass der andere das Besondere sah. Kaiba seufzte. »Was ist?« Ich spürte, wie meine Mundwinkel nach oben kletterten. »Ich wollte nur –« Fragen, ob es dir mit mir auch so ergeht. »Gute Nacht sagen.« »Gute Nacht«, erwiderte er mit einem Schnauben. Aber ich hörte ein schiefes Lächeln.   ***   »– lasse dich hier.« Ich blinzelte, das Licht strahlte durch die Fenster und ich drehte mich um. »Wheeler, ich schwöre, ich werde –« »Joey!«, rief eine zweite Stimme viel zu überschwänglich am Morgen und etwas sprang neben mir ins Bett. »Mokuba, geh unten frühstücken. Ich möchte nicht, dass du ohne –« »Wir könnten alle im Bett frühstücken!«, unterbrach Mokuba ihn eifrig und ich öffnete meine Augen einen Spalt weit. Mokuba saß noch im Schlafanzug und wurschtelte sich gerade unter Kaibas Bettdecke, während sein großer Bruder bereits in Schuluniform dastand und finster schaute. »Es ist kein Wochenende«, entgegnete Kaiba, als würde das dem Vorschlag jede Grundlage entziehen. »Aber Joey ist hier!«, erwiderte Mokuba euphorisch. Ich bezweifelte, dass das ein Argument war, welches Kaiba umstimmen könnte. Aber für einen Moment sah ich uns nebeneinander im Bett mit diesen coolen Tischchen, die man in der Werbung sah und Brötchen und Marmelade und Butter in kleinen Glasschälchen. »Mokuba, geh unten frühstücken. Ich wiederhole es nicht noch einmal.« Natürlich musste Kaiba meine Vision zerstören. Mokuba trottete mit einem letzten Blick hinaus und knallte die Tür zu. Ich wusste nicht, ob er gekränkt oder sauer war. »Mokuba!«, rügte Kaiba durch die geschlossene Tür. Er hingegen war eindeutig genervt. Ich pellte mich aus der Bettdecke, streckte mich, als sähe Kaiba mich nicht so an, als würde er mich jeden Moment aus dem Zimmer kicken und bemerkte, dass ich keine Schuluniform parat hatte. »Wir fahren bei dir vorbei, damit du deine Sachen holen kannst. Und wegen dieses Umwegs bewegst du dich jetzt sofort aus dem Bett –« »Oder?«, forderte ich ihn heraus mit einem Grinsen, das selbst seinem bösen Blick standhielt. »Oder ich entschuldige dich vor der Klasse –« »Wow, wie bitterböse«, witzelte ich. »Mit den Fakt, dass du es nicht rechtzeitig aus meinem Bett geschafft hast.« Kaiba wusste eben immer, wie er mich motivieren konnte.   ***   Sportwagen oder Limousine, Konferenz oder Schule, KC oder Klassenzimmer. Kaiba musste sich jeden Morgen entscheiden, welche Priorität er setzte und mit den Konsequenzen leben. »Du hast aber versprochen, dass wir diesen Freitag –« »Es tut mir leid, Mokuba, aber die Organisation des Turniers ist –« Mokuba drehte sich zum Fenster, starrte hinaus und machte den Eindruck die Erklärungen seines Bruders nicht mehr wahrzunehmen. An uns schossen Bäume und Häuser vorbei und die Chance, die richtigen Prioritäten zu setzen. Wenn man Kaiba aus Zeitungen und öffentlichen Auftritten kannte, dann musste man sich fragen, was in seinem Leben schon schiefgehen konnte. Er war reich, gesund und konnte alles tun und lassen, was er wollte. Mein Blick wanderte von Mokuba, der stur nach draußen starrte, zu Kaiba, der irgendetwas in seine Laptoptastatur hackte. Manche behaupteten, ihm gehöre die Welt. Kaiba sah trotzdem nicht glücklich aus.   Ich war es nicht gewohnt, aus einem fetten Sportwagen auszusteigen, der den Wert meines gesamten Eigentums um mindestens das Tausendfache überstieg. Aber daran hätte ich mich noch gewöhnen können. Was aber überhaupt nicht ging, waren diese verdammten Blicke. Mitschüler, die aufgeregt tuschelten, sobald sie mich erblickten und verstummten, wenn ich in Hörweite war. Lehrer, deren Augenbrauen schneller nach oben schossen, als der Sportwagen von null auf hundert beschleunigen konnte, wenn ich neben Kaiba schlenderte. Ich stellte mir vor, wie sie glotzen würden, würde ich Kaibas Hand halten. Oder ihm so nahekommen, dass keine Zweifel mehr bestünden, wie nahe wir uns schon gekommen waren. Und dann starrte ich auf mein Handy und bemerkte die dreizehn unbeantworteten Anrufe und die fünfundzwanzig Nachrichten. Mutter, stand beim Absender. Ich hätte kotzen können. Mokuba bummelte neben mir her – nicht neben seinem Bruder – und seine Mimik sagte mir mehr, als Worte im Stande gewesen wären. Kaiba schritt mit seinem Aktenkoffer in der Hand und schaute weder nach links noch nach rechts. Wahrscheinlich ätzten ihn die Blicke auch an. Aber vielleicht hatte er sich daran schon längst gewöhnt. »Mokuba«, Kaiba blinzelte auf sein Smartphone, während er seinem kleinen Bruder einen erfolgreichen Schultag wünschte.   Wir schritten den Gang hinunter zum Klassensaal, Schulter an Schulter. Obwohl Kaiba mir keine Aufmerksamkeit gönnte, war ich mir seiner Gegenwart mehr als bewusst. Als brannte sie Löcher in die Luft zwischen uns. Der Gedanke an letzte Nacht erschien mir wie ein verworrener Traum. Manchmal glaubte ich, ihm so nah zu sein. Und dann war er mir plötzlich wieder so fremd. Ob es Mokuba genauso ging? »Weißt du, er ist keiner deiner Angestellten«, sagte ich, ohne Kaiba anzuschauen. Als keine Reaktion kam, blickte ich auf und bemerkte, wie er mich anstarrte, dann seinen Blick abwandte. »Kümmer dich um deine eigene Familie«, ätzte er und stob an mir vorbei ins Klassenzimmer.   ***   »Vielleicht hat er Recht«, murmelte Tris. Auf meinen anklagenden Blick hin, hob er die Hände. »Ich mein doch nur. Ich glaub, du würdest nicht viel anders reagieren, wär’s umgekehrt.« Wir standen auf dem Pausenhof. Am Himmel drängten sich dichte Wolken, aber es regnete nicht. Nicht, dass es die Lehrer interessiert hätte, ob wir hier draußen im Wolkenbruch ersauften. Ich legte meinen Kopf schief und dachte tatsächlich einen Moment über Tristans Kommentar nach. Würde sich Kaiba in meinen Familienkram einmischen – aber hatte er das nicht schon genug? »Ich glaub‘, Kaiba würde es einen Scheiß interessieren, was ich zu sagen würde, wäre es anders herum«, erwiderte ich. »Er macht eh immer, was er sich in den Kopf setzt.« Über Yugis Lippen waberte ein Lächeln. »Eine Sache, in der ihr euch außerordentlich ähnelt«, behauptete er und drückte meinen Arm. Ich starrte ihn ungläubig an. »So ein Unsinn«, erwiderte ich und wollte ausholen, wie sehr totaler Quatsch das war, als Thea zu uns stieß und statt – wie sonst – über Yugi herzufallen, ihren Blick auf mich heftete. Sie hielt mir eine Zeitung hin, was mir nur wieder zeigte, wie wenig sie in unsere Truppe passte. Wäre es wenigstens ein Magazin über Games oder Animes – aber es war eine richtige Zeitung. Ich verdrehte die Augen. »Was zur Hölle soll ich damit? Ist doch –« Ich erstarrte, als ich das Bild erkannte und riss ihr die Zeitung aus der Hand. Meine Augen weiteten sich. Tristan drängelte sich näher, um zu sehen, was meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Yugi linste halb über meinen Oberarm. Da war ein Bild von mir. Als ich die KC verließ. Darüber stand in fetten Buchstaben: Ausnahmetalent erobert Kaiba Corporation. In meinem Bauch verknoteten sich Gefühle. »Das ist – das ist –«, stammelte ich und sah in die Gesichter meiner Freunde. »Das ist absolut wundervoll. Du kannst stolz auf dich sein, Joey«, erwiderte Thea und sie lächelte. Ich blinzelte und nickte langsam, als begriff ich immer noch nicht, was eigentlich abging. Mein Blick rutschte wieder auf die Schlagzeile. Die Medien rühmten mein Talent. In meinem Bauch platzte der Knoten und ich schwebte.   ***   Es war verdammt einfach, die Schule zu überstehen und dumme Sprüche an mir abprallen zu lassen, wenn die Welt das Talent, das in einem schlummerte, wertschätzte. Es würde immer Menschen geben, die es einem nicht gönnten, Dummschwätzer, die neidisch waren. Aber das berührte mich nicht. Ich flog über ihnen, konnte alles erreichen, wenn ich es wollte. Nicht einmal meine Mutter machte mir das zunichte. Niemand.   »– sein außerordentliches Talent überzeugte auch den Vorstandsvorsitzenden der Kaiba Corporation, Seto Kaiba. Auf Anfrage bestätigte seine Sekretärin Joseph Wheelers immensen Beitrag zur aktuellen Werbekampagne der Firma. Seine –« »Wheeler, wenn du noch einen weiteren Satz dieses Artikels vorliest, werde ich dich aus meinem Haus werfen lassen.« »Warte! Seine erstaunlichen zeichnerischen Fähigkeiten setzte er mit einem Team der KC Animation Studios in – hey, warum erstaunlich?« »Wheeler«, knurrte Kaiba und ich ließ mich noch einen Moment in dem Gefühl treiben, gerechtfertigt bewundert zu werden, bevor ich die Zeitung zur Seite legte. Wir lagen auf Kaibas Couch im Wohnzimmer – das heißt, ich lag halb auf der Couch, meine Beine über seinem Schoß, während er dasaß, als würde ihn jederzeit jemand für eine krumme Haltung bestrafen. Es war Samstag und wie jeden Samstag hatte ich ihn aus der Firma gezerrt. Ich hatte keine Lust, mein gesamtes Wochenende in der Firma zu verbringen. Kaibas genervter Kommentar, ich könnte meine Zeit verbringen, wo ich wollte, vornehmlich weitab seiner Präsenz, prallte an meinem Grinsen ab. »Vielleicht fang ich an, Zeitung zu lesen«, überlegte ich laut und starrte auf den riesigen Fernseher, ohne dem Film zu folgen. Kaiba schnaubte und es klang fast ein wenig verzweifelt.   Es war verdammt einfach, den Alltag zu mögen und Lob einzuheimsen, wenn die Leute nur das Talent, das in einem schlummerte, zu bemerken schienen. Es würde immer Leute geben, die nach Fehlern suchten, Dummschwätzer, die einem den Erfolg streitig machen wollten. Aber das interessierte mich nicht. Ich flog über ihnen, konnte alles erreichen, wenn ich es wollte. Nicht einmal mein Vater machte mir das zunichte. Niemand.   »Seine Kreativität schafft eine neue Intensität bezüglich der Impulsivität der –« »Joey, raffst du eigentlich, was die da schreiben?« Ich senkte die Zeitung ein wenig und sah ihn drüber hinweg an. Tris schaute mich verwirrt an. Wir saßen in meinem Zimmer nach der Schule und warteten darauf, dass das Abendessen fertig wurde. »Natürlich«, erwiderte ich mit einem breiten Grinsen, »sie finden mich verdammt genial.« Thea verdrehte ihre Augen und ich streckte ihr die Zunge raus. »Ich gönne dir deinen Ruhm, Joey. Genieß ihn.« Yugi war einer der seltenen Menschen, der einem alles Schöne der Welt wünschte und es nicht beneidetet, wenn es Realität wurde. Er zwinkerte mir zu und ich fuhr fort, die besten Stellen des Artikels vorzulesen. Tristan seufzte und sprang als erster auf, als Serenity rief, das Essen wäre soweit.   Es war verdammt einfach, Menschen entgegenzukommen und anzuerkennen, wenn die Leute selbst einem Respekt zollten. Es würde immer Personen geben, die nach den Schwächen gruben, Wichtigtuer, die ihre eigene Schwäche durch die Schwäche anderer verschleiern wollten. Ich glaubte, ich wäre darüber hinweg, dass ich alles erreichen könnte, wenn ich es wollte.   Ich ließ die Tür meines Zimmers hinter mir ins Schloss fallen, pfiff, während ich die Treppen hinunterschlenderte. Ich hörte Jacob zögerlich antworten. Ich runzelte die Stirn und verstummte. Das war so untypisch für ihn. Serenity erwiderte etwas, so leise, dass ich es nicht verstand. »Es ist das Beste«, sagte meine Mutter und in mir zuckte etwas zusammen. Ich zögerte einen Moment, doch dann gab ich mir einen Ruck und betrat das Wohnzimmer. »Was zur Hölle machst du hier?«, knurrte ich. »Joey«, ermahnte mich meine Mutter, aber ich wischte es mit einer Handbewegung davon. »Was machen die beiden hier? Bei ihm?«, wollte ich von ihr wissen. Jacob sah mich mit großen Augen an und ich wollte ihn packen und wegbringen, weit weg, wo ihn niemand Schmerzen zufügen könnte oder ihn enttäuschen. »Ich bin ihr Vater«, antwortete mein Erzeuger lahm, doch ich ignorierte ihn. Dabei brannte seine Gegenwart in jedem Nerv, den ich besaß. Als würde er alle Erinnerungen in mir wachrütteln mit körperlicher Gewalt. »Jake, Seri«, wandte sich meine Mutter an meine Geschwister, »lasst uns bitte mal einen Moment.« Serenity machte sich sofort daran, das Wohnzimmer zu verlassen – mit so sicheren Bewegungen, dass ich an ihrer Blindheit zweifelte. Jacob hingegen starrte abwechselnd von mir zu unserer Mutter und ihm. Serenity bemerkte sein Zögern und nahm in an der Hand. Ich lauschte ihren Schritten, den Flur entlang, dann die Treppe hoch. Erst dann senkte ich meinen Blick auf meine Eltern. Ich fühlte mich verraten, obwohl ich nicht den Finger drauflegen konnte, warum. »Du hast mich nicht mehr besucht«, begann mein Vater und er klang müde, aber das war mir egal. Mein Blick wanderte über seinen sauberen Pullover, seine Frisur – er musste beim Friseur gewesen sein. Er hatte Verbände am Hals, die ich sehen konnte, weil der Kragen nicht so weit nach oben reichte. Ob er Schmerzen hatte? Es interessierte mich nicht. Ich wollte niemals in seiner Position enden. Ich schwor mir, nie zu werden wie er. »Deine Mutter und ich haben miteinander gesprochen.« Und bei der Gelegenheit, auch niemals wie sie. Wunderbar.  Ich schnaubte und wollte einfach gehen, aber zögerte. Was ging es mich an? Doch meine Füße gehorchten mir nicht. Hoffte ich immer noch, es gäbe ein happy end? »Und wir denken beide – also – deine Mutter und ich – es wäre gut, wenn ich Hilfe bekomme.« Seit wann waren die einer Meinung? »Gut, schön«, verkündete ich, lehnte mich zurück und dann sah ich sie beide direkt an, »für dich. Es ist mir egal.« »Joey, ich weiß, es ist viel passiert und –« Würde er sich entschuldigen, würde ich ihm eine reinhauen. Dann würde er sehen, wie viel wert eine Entschuldigung war. »Es ist nicht leicht. Im Gegenteil. Ich habe viele – ich wollte nicht –« Er schaffte es nicht einmal, es auszusprechen. »Aber ich bin dein Vater. Ich werde immer dein Vater –« »Oh, bitte«, unterbrach ich sein Geschwätz, »was willst du hier? Auch die Kindheit meines Bruders ruinieren?« Er schaute mich mit großen Augen an und auf eine irritierende Art und Weise erinnerten sie mich an Jacobs. Würden sie jemanden auch an meine erinnern? »Ich sehe, du hast es gut hier. Ich wollte nur –« Mit jedem seiner Worte pulsierte Wut durch meine Muskeln, zuckten, als wären sie bereit für den ersten Schlag. Ich schmeckte schon den Triumph, die Furcht in seinen Augen, sollte ich auf ihn losgehen. Ohne Hemmungen. Ohne Reue. Aber da war etwas, das mich meine Fäuste in meine Hosentaschen stecken ließ. Als könnten sie so keine Fehler begehen. Und ich wollte nicht so werden. Ich schnaubte und sein Satz schwebte unbeendet in der Luft. Er schaute hilfesuchend zu meiner Mutter. Seit wann konnte er von der Hilfe erwarten? Ohne ein weiteres Wort wandte ich mich um, schnappte mir meine Jacke und verschwand durch die Tür. Sicherlich wäre es ein Fehler. Ich streifte durch die Straßen der Nachbarschaft und eine innere Stimme höhnte, ob es eines meiner neuen Hobbies werden würde. Seit wann ich so ein Feigling geworden war, den Dingen so aus dem Weg zu gehen. Nicht mehr meine Kämpfe kämpfte. Aber vielleicht war das auch eine Art zu kämpfen. Vielleicht sogar eine schwierigere als mit Fäusten. Ich wusste es nicht, aber ich wollte es gerne glauben. Erst als es dämmerte, schlich ich mich zurück ins Haus, in mein Zimmer, das nicht wirklich meines war und zog mir die Decke über den Kopf.   Licht drang durch den Türspalt, jemand huschte hindurch, das Geräusch nackter Füße auf dem Laminat, dann rüttelte jemand an meiner Schulter. »Joey«, flüsterte Jacob, »schläfst du schon?« Statt zu antworten, schlug ich die Bettdecke zurück und Jacob schlüpfte zu mir und wir lauschten der Ruhe eine ganze Weile, obwohl wir hätten schlafen sollen. Am nächsten Tag war Schule. »Er ist dein Papa, stimmt’s?«, fragte er in die Stille. Ich hätte es am liebsten verneint. »Ja.« »Und meiner?« Ich nickte, wusste aber nicht, ob er es mitbekam in der dämmrigen Dunkelheit. »Ja«, wiederholte ich. »Warum hat er dann mich nicht mal besucht? Nicht mal zu meinen Geburtstagen?« Mein Gesicht fuhr zu ihm herum und er erwiderte meinen Blick. Ich hatte mich geirrt. Seine Augen waren ganz anders als die unseres Vaters. Mir war nie in den Sinn gekommen, dass Jacob das Gefühl haben könnte, etwas verpasst zu haben – niemals in Bezug auf unseren Vater. Dass er ihn womöglich vermisst hatte, sich fragte, ob ihn sein Vater liebte und wenn ja, warum alles so war, wie es war. Und ob die Antwort nein, nicht viel plausibler war. Was machte so eine Antwort mit einem Kinderherz? »Es ist nicht so einfach«, erwiderte ich, weil es die einzige Antwort war, die ich mir zutraute – oder vielleicht auch ihm. »Du hörst dich an wie Mama«, nörgelte er und ich seufzte. Da öffnete sich die Tür erneut und jemand schlich zu uns. »Ich wusste es«, flüsterte Serenity und ich schlug die Bettdecke zurück. Obwohl sie das unmöglich sehen konnte, lächelte sie und kletterte zu uns ins Bett. Aber anders als Jacob, fragte sie nichts.   ***   »Aber ist das nicht ein gutes Zeichen?«, fragte Yugi, als wir im Spielladen standen, den um die späte Stunde niemand mehr aufsuchte. »Dein Vater hat eingesehen, dass er Hilfe braucht und deine Mutter scheint mit ihm einer Meinung zu sein.« Ich nickte knapp, aber in meinem Kopf stolperten Gedanken übereinander. »Soll er doch glücklich werden«, brummte ich. »Am besten weit weg.« Dazu sagte Yugi nichts mehr. Als ich an dem Abend mit Bus und Bahn zum Haus meiner Mutter fuhr, hatte ich das Gefühl beobachtet zu werden. Ich linste über meine Schulter, aber dort war niemand. Meine Schritte beschleunigten sich wie von selbst. Es war nervig, dauernd unter Beobachtung zu stehen. Es gab mir das Gefühl. Jede Schwäche, jeder Fehler würde dokumentiert. Und es war verdammt creepy. Wie schaffte Kaiba das nur? Dann erinnerte ich mich an das sonnige Gemüt des arroganten Eisblocks. Jeder hatte wohl seine eigene Strategie.   ***   »Ich ignorier‘ es einfach«, behauptete ich in der Pause und Tris schoss mir einen zweifelnden Blick zu. »Was soll ich sonst machen? Denen eine reinhauen?« Tristan schien es wirklich einen Augenblick lang in Betracht zu ziehen. Ich saß auf der Banklehne und er stand mir gegenüber, seine Arme überkreuz. Yugi lehnte an meinen Beinen, irgendein Schulbuch aufgeschlagen. »Vergesst das ganz schnell«, mahnte Thea giftig und setzte sich neben uns. »Am besten du sprichst Kaiba nochmals drauf an und redest auch mit deiner Mutter darüber.« In diesen Momenten fragte ich mich, ob Thea mir ab und zu zuhörte. »Immerhin ist sie deine Erziehungsberechtigte«, fuhr sie fort, als sie meinen Blick bemerkte. »Und?«, fragte ich gedehnt. »Sollte das mit den Fotografen erneut auf dem Schulhof passieren, dann sollte sie ein ernstes Wort mit der Schulleitung reden.« Ja, wunderbar. Weil meine Mutter und die Schulleitung meine besten Verbündeten waren. Ich legte missmutig mein Gesicht in meine Hände. »Außerdem solltest du dich mehr auf die Schule konzentrieren«, behauptete sie und schlug ein Schulbuch auf. Sie und Yugi passten auf eine bizarre Art und Weise eben doch zusammen.   Es war kompliziert, so zu tun, als wäre alles normal, wenn der Alltag wankte. Wenn Fotografen hinter Ecken lauerten und irgendwelche Fremden Interviewfragen stellten, während man mit seinen Freunden von der Schule nach Hause ging. Wenigstens folgten sie mir nicht bis in den Bus. Ich hätte nicht gewusst, wie ich es meiner Mutter erkläre. Nicht, dass mir ihre Meinung etwas wert gewesen wäre. Kaiba meinte, ich sollte alles über die KC laufen lassen, keine Antworten geben, sondern an die Pressestelle der Firma verweisen. Wenn er das sagte, hörte es sich so einfach an. Es war kompliziert, Bilder von sich in der Zeitung zu sehen, wenn die Schlagzeilen vom Talent zur Privatsphäre kippten. Es war, als lechzten die Zeitungen nach einer modernen Aschenputtelgeschichte. Zumindest behauptete Thea das.   Die Medien rühmten mein Talent. Und sie kramten in meiner Gegenwart. »Wer ist dieser junge Mann, der den distanzierten Jungunternehmer Seto Kaiba zum Schmelzen bringt?«, las Tristan mit einem breiten Grinsen in der Pause vor und ich stierte ihn düster an. »Sein charismatisches Lächeln scheint verborgen hinter dem Schock seines plötzlichen Ruhms. ›Ich zeichne halt‹, erwidert Joseph Wheeler (16) auf die Frage unserer Reporterin, wie sich die Leser die Arbeit in dem international renommierten Unternehmen vorstellen müssen. Er wirkt wie ein junger Mann, dem eine gewaltige Chance durch rohes Talent –« »Tristan«, knurrte ich und riss ihm den Wisch aus der Hand, irgend so ein Magazin. Die spektakuläre Trennung von – und Stimmen die Gerüchte um – waren noch Themen, auf die eine viel zu große Schrift und schlecht editierte Bilder verwiesen. »Hey, da wird es doch erst spannend!«, erwiderte er mit einem übertriebenen Zwinkern. »Wie ist Kaiba denn auf dein rohes Talent aufmerksam geworden, Joey?« »Ich mach dich gleich aufmerksam auf meine Faust«, brummte ich, aber Tris klopfte mir nur auf den Rücken und lachte. Ich zuckte mit der Schulter. Vielleicht hatte er Recht. Vielleicht hätte ich einfach darüber lachen sollen. Aber es war kompliziert. Kaiba ignorierte solche Artikel grundsätzlich, Mokuba grinste höchstens ab und zu, Thea verdrehte ihre Augen, Tris zog mich damit auf und Yugi drückte meine Schulter, als könnte er mir dadurch von seiner Geduld und Beharrlichkeit abgeben. Ich selbst wusste, wie es war, wenn Menschen glaubten einen zu kennen – obwohl sie einen nur kurz angesehen hatten. Und irgendwann hatte ich mich daran gewöhnt. Aber ich hatte keine Ahnung, wie es richtig war, damit umzugehen, wenn Menschen glaubten einen zu kennen und das in der Öffentlichkeit publizierten.   Die Medien rühmten mein Talent. Und sie kramten in meiner Vergangenheit. »Hey, Wheeler! Stimmt es, dass sein Vater Alkoholiker ist? Dass er dich geschlagen hat?«, fragte ein Mitschüler und irgendwelche Mädchen hinter ihm kicherten verlegen. Es war nur eine kurze Pause zwischen den Stunden, die man – in Yugis Fall – hauptsächlich damit verbrachte, Bücher ein- und auszupacken, in Tristans Fall mit dem hoffnungslosen Flirten irgendwelcher Tussen und in meinem – Ich drehte mich langsam um. War das nicht dieser Typ? Mein Magen verknotete sich. »Was ist eigentlich dein Problem?«, knurrte ich. Tristan trat neben mich, schaute von dem Mitschüler zu mir und zurück. »Kennst du den?«, murmelte er und ich verneinte. »Verschwinde«, warf ihm Tris am den Kopf, doch der Typ begann nur zu grinsen. »Also ist es wahr? Mann, du hast es echt von der Gosse nach oben geschafft, oder? Ich hab’s in diesem Magazin gelesen. Deine Eltern müssen ja wirklich –« Ich ballte die Hände und machte den ersten Schritt in seine Richtung, um ihm dieses Grinsen von den Wangen zu wischen, als eine Hand meine Schulter griff. »Tris«, begann ich, doch erstarrte mitten im Satz, als nicht seine Stimme hinter mir erklang, drehte halb meinen Kopf. »An deiner Stelle würde ich mich um meine kognitive Limitation bezüglich der Auswahl meiner Quellen sorgen.« Kaiba schaffte es, mit nur einem Blick Menschen verstummen zu lassen. Und mit einem Satz eine Argumentation zu gewinnen. Es war eine kleine Sensation, dabei zu sein – ohne, dass es mir galt. »Deine Aussagen beziehen sich auf Gerüchte und Regenbogenpresse«, fuhr er ungerührt fort, aber ließ ihn nicht aus den Augen. »Sollte ich mitbekommen, dass du weiter Gerüchte streust, wird sich die Rechtsabteilung der Kaiba Corporation näher mit dir befassen. Das gilt für jeden hier.« Sein Blick wanderte über unsere Mitschüler. Keiner wagte, sich zu bewegen. Als fürchteten sie, seinen Ärger durch eine unbedachte Bewegung auf sich zu ziehen. Mit einem Schnaufen zog er an uns allen vorbei.   Die Medien rühmten mein Talent. Und sie kramten in meiner Zukunft. Vielleicht war das das Schlimmste, denn ich hatte keine Ahnung, was ich deswegen fühlen sollte. Es war kurz vor den Herbstferien. Die letzte Woche, dann endete die Anmeldephase. Ich würde meinen Anteil bekommen und hätte nichts mehr mit diesem ganzen Trubel zu tun. Klar, es war cool, die eigenen Bilder auf Bussen zu sehen und Plakaten und in den Social Media und ab und zu einen Artikel über einen selbst in einer angesehenen Zeitung zu lesen. Die Blicke meiner Mutter nervten, aber meine Geschwister wiederholten immer, wie stolz sie auf mich waren. Es war der Rest, der mich nicht schlafen ließ.   Thea versteckte es hinter ihrem Rücken, aber zu spät. Auf den letzten Metern zur Schule riss ich ihr das Magazin aus der Hand und starrte Kaibas Bild auf dem Umschlag an – und meines. Beides offensichtlich aus dem Zusammenhang gerissen und irgendwie nebeneinander geklatscht. Würde ich mir selbst vor ein paar Jahren begegnen, was würde ich denken? Dass wir uns niemals mögen würden? Würde ich glauben, ihn – mich – zu kennen? Solche, wie er. Berühmte Menschen, die dachten, über allen und allem zu stehen. Die keine Ahnung hatten, wie es war übersehen zu werden. Oder sich zu wünschen, man könnte rennen, rennen und niemals aufhören, bis man woanders ankam? Aber wo? Oder war das hier das Ziel? Aber ich wusste trotzdem, dass das nicht alles war. Da war ein ätzendes Gefühl in meinem Magen.   Ich gewöhnte mich an die fetten Wagen, mit denen ich ab und zu zur Schule fuhr und die mich vor der Tür meiner Mutter ablieferten. Ich gewöhnte mich an Kaibas Atem, wenn wir nachts nebeneinanderlagen. Ich gewöhnte mich an seine Wärme, wenn er mich berührte, sobald wir nur zu zweit waren, als wäre es nichts Ungewöhnliches. Ich gewöhnte mich daran, nicht zu hinterfragen, ob das zutraf. Vielleicht traf mich die Frage deswegen, wie ein Pfeil mitten in den Magen.   Kaiba verließ das Auto als erster, sah man von Roland ab, ich folgte ihm. Da stand ich inmitten eines Blitzhagels, der mich blendete. »So viel dazu, beim Hintereingang wird es ruhiger sein«, griente Mokuba, als wäre das alles ein großes Spiel. »Stimmt es?«, rief ein Reporter und drängte zu uns. »Herr Kaiba wünscht, dass Sie seine Privatsphäre respektieren«, ertönte Roland über die Fragen der Journalisten hinweg. Security-Kräfte schirmten uns von ihnen ab. »Herr Wheeler, Herr Wheeler! Verbringen Sie regelmäßig die Nächte in Herr Kaibas Privatsitz?« Etwas in mir gefror. Warum klang es so anrüchig, wenn die das sagten? Mokuba schritt knapp hinter, Kaiba vor mir. Es war als stachen die Journalisten wie Wespen mit ihren Fragen in meine gleichmütige Fassade und nur die Ruhe der beiden ließ mich nicht ausrasten. Wenn Kaiba dieses Schauspiel vortrug, sah es so leicht aus. Ich wollte am liebsten auf meinen Fersen umkehren und diese Reporter so lange schütteln, bis sie ihre Fragen vergaßen. »Bei Fragen wenden Sie sich an die Pressestelle der Kaiba Corporation«, betonte Roland und dann verschwanden wir durch den Eingang und die Wände der Firma verschluckten die Fragen der Journalisten, deren Antworten wir sicherlich morgen in diversen Ausschmückungen würden lesen können. Antworten, die nicht einmal ich kannte.   »Ich hab‘ das Gefühl, ich werde nie wieder ein normales Leben haben«, seufzte ich und schlurfte an einem heißen Kakao, die mir Kaibas Sekretärin gebracht hatte. »Ich dachte, das wäre dein Ziel«, erwiderte Kaiba, während er vor seinen Bildschirmen saß und Mokuba und mich ansonsten kaum beachtete. Wir zockten eine Runde Karten. »Dein so banales Leben hinter dir lassen und allen beweisen, wie großartig du bist.« Ich legte den Kopf zur Seite, sank tiefer in die Couch, von der aus man Domino überblickte – und auch Kaiba an seinem Schreibtisch gut beobachten konnte. Obwohl es aus seinem Mund höhnisch klang, hatte er nicht Unrecht. Oder? War das mein Ziel? »Ruhm und Reichtum bis ans Ende deiner Tage«, spöttelte Kaiba und nippte an seinem Kaffee. »So ein Bullshit«, brummte ich. »Wie oft soll ich’s noch sagen? Ich will nicht deinen bescheuerten Ruhm oder dein Geld oder –« »Ich weiß.« Damit brachte er mich aus dem Konzept. Ich glotzte ihn an und hielt in meinem Zug inne. Mokuba versuchte in mein Blatt zu linsten, ich hielt es bedeckt. »Und genau das ist das Problem«, erklärte Kaiba. »Ich werde niemals ein einfacher Junge von nebenan sein, Joey.« Ich machte den Mund auf, aber er bedeutete mir, die Klappe zu halten und ihn sprechen zu lassen. »Reporter werden sich immer auf Details in meinem Leben stürzen, Menschen werden schadenfroh über vermeintliche Niederlagen berichten, es wird immer wieder Gerüchte geben und ich kann mich nicht davor verstecken. Wir können nicht für immer in diesem Büro bleiben.« Mein Blick senkte sich auf meine Hände und den Kartenstapel vor mir. Ich spürte Mokubas Blick, der abwechselnd auf mir und seinem Bruder ruhte. »Es ist ein schönes Büro«, murmelte ich trotzig. Mokuba schnaufte und Kaiba verdrehte die Augen, aber das Schmunzeln in ihren Winkeln machte seine Mimik sanft. Nicht, dass es sonst jemand bemerken würde. Vielleicht bildete ich es mir auch nur ein. »Ja, ja. Schon kapiert«, schnaufte ich, obwohl ich mir gar nicht so sicher war, dass ich es wirklich begriff. Ich hatte nur so eine Ahnung. »Seto«, maulte Mokuba. »Du hast es versprochen!« Kaibas Blick schnellte von seinen Bildschirmen zu uns. »Später«, erwiderte er und Mokuba biss seine Lippen aufeinander, legte seine Karte, sprang auf und rauschte aus dem Büro. Ich starrte ihm nach, dann auf den Tisch. Er hatte gewonnen.   Ich brauchte eine Menge Glück und die Mehrheit der Zeitungsleser hätte bescheinigt, dass ich ein Glückspilz war. Die Medien rühmten mein Talent und Seto Kaiba schuf die Plattform, meine Begabung auszuleben, während er mich gleichzeitig abschirmte vor all den Fragen, die nach und nach auftauchten. Ich dachte eine ganze Weile, dass ich es ohne fremde Hilfe schaffen müsste. Aber wenn man genau hinsah, dann konnte das niemand. Nicht einmal Seto Kaiba. Wenn ich früher solche reichen Kids im Fernsehen sah, dann war ich neidisch. Ich dachte, sie könnten ein Leben ohne Probleme leben. Hätten keine Sorgen und würden die pure Freiheit genießen. Dann traf ich Kaiba. Und Mokuba.   Es war das Wochenende vor Anmeldeschluss. Das Turnier war Thema Nummer Eins in der Schule und in der Presse. Thema Nummer Zwei, wenn es nach Theas Einschätzung gegangen wäre. In der Firma brach euphorischer Stress aus. Und dann knallten Korken. Die Anmeldung übertraf jede Erwartung. Die Kampagne war ein Erfolg, der mir in die Knie rauschte und alles ganz wabbelig machte. Als versuchte ich über Wolken zu spazieren, die wie Trampoline federten. Glückwünsche und Rufe und Lachen drang durch die Animation Studios und selbst Herr Le aus der Marketing-Abteilung wirkte nicht wie Graf Dracula kurz bevor er sich über seine Opfer hermachte. Hände streckten sich mir entgegen und ich schüttelte so viele, dass die Gesichter an mir vorbeizogen, ohne dass ich sie wirklich zur Kenntnis nahm. »Sie zeigten sich letztlich als nicht so unfähig wie die Mehrheit befürchtet hatte«, waren Herr Lees Gratulationsworte. Ob er Recht hatte und es die Mehrheit gewesen war? Ich erinnerte mich kaum, wie es hier anfangs gewesen war. Man gewöhnte sich doch so schnell an den Erfolg. Es war beängstigend. Mailo zog mich in eine knappe Umarmung und das Team von den Animation Studios sammelte sich um mich. Ich genoss die Aufmerksamkeit. Hatte ich anfangs nicht bei jedem Schritt befürchtet, ich würde etwas falsch machen? Mein Blick fiel auf Kaiba, der an der Wand lehnte. Er stand abseits seiner Mitarbeiter und trotz seines jüngeren Alters, könnte man seine Führungsposition nicht übersehen. Seine Mimik sprach Bände. Er passte nicht hinein in diese Meute von gelösten und schwatzenden Geschäftsleuten, obwohl er selbst einer davon war. Erst als es allmählich ruhiger um mich wurde, trat Kaiba an mich heran. Er neigte seinen Kopf und flüsterte die Worte in mein Ohr. Sein Atem streifte meine Haut. »Herzlichen Glückwunsch, Wheeler.« Die Zeit stolperte. Um uns herrschte freudiges Chaos, aber wir beide bewegten uns wie in Zeitlupe. Er überreichte mir den Scheck und die Nullen verschwammen vor meinen Augen. Er fing meinen Blick ein, ehe er seinen über die Abteilung schweifen ließ, all die Mitarbeiter, die euphorisch anstießen und nicht einmal vor ihm haltmachten. »Du hast deinen Auftrag hier erfolgreich beendet. Damit werden dir einige Türen offen stehen in Zukunft. Du wirst beispielsweise die Möglichkeit haben, dich mit deinem Fachabitur bei guten Firmen für ein duales Studium zu bewerben.« Ich starrte ihn an und dann ganz langsam spürte ich, wie sich ein Lächeln auf meinen Lippen ausbreitete. Die Zukunft. Es gab so viele Möglichkeiten. Offene Türen. Von außen betrachtet war ich ein Glückspilz. »Was ist –«, begann ich leise, während ich den Scheck zusammenfaltete und in meine Hosentasche steckte, »wenn ich hier bleiben will?« Ich sah auf und er runzelte die Stirn. »Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist«, flüsterte er steif und wandte sich zum Gehen. Einige Mitarbeiter kamen auf mich zu und stießen mit mir an, während ich das Gefühl hatte, mein Lächeln würde aus meinem Gesicht bröckeln. Ich sah ihm nach und spürte, wie mir jemand auf die Schulter klopfte. Ich erwiderte das Lächeln. Von außen war immer so eine Sache.   Ich hatte geglaubt, ich bräuchte nur ein bisschen Glück und eine Chance. Aber irgendwann kapierte ich, dass ein Mensch nie genug vom Glück bekam und mit jeder Chance gierte er nach einer größeren. Und dabei vergaß er, wen er mit jeder weiteren ein Stückchen mehr zurückließ.   Spät am Abend, als nur noch wenige Mitarbeiter um freie Getränke und Fingerfood standen, trottete Mokuba herein. Sein Blick glitt über die Anwesenden, als suchte er jemanden, dann entdeckte er mich, zögerte, schritt auf mich zu. »Mokuba, es ist schon ziemlich spät. Wo warst du denn? Ich hab‘ dich gar nicht –« »Auf dem Dach«, erwiderte er kurzangebunden. Er wich meinem Blick aus, aber ich sah trotzdem die geröteten Ränder. Seine blauen Augen glänzten. »Mokuba, hast du –« Ich unterbrach mich, schaute über meine Schulter und verabschiedete mich kurzerhand, legte meinen Arm um Mokubas Schultern und führte ihn aus den Animation Studios. »Du suchst bestimmt deinen Bruder, der ist jetzt –« »Im Büro«, schnappte er, »wo sonst?« Ich blieb stehen und Mokuba nuschelte eine Entschuldigung, drängte, weiterzugehen, aber ich hielt ihn am Ärmel und er blieb stehen. Er starrte auf seine Schuhe und ich fragte mich, was ich übersehen hatte. Oder ob ich es gesehen hatte, aber nie für wirklich ernst genommen. Ob ich gedacht hatte, es würde schon alles wieder in Ordnung gehen. Bevor ich meine erste Frage formulieren konnte, zog Mokuba mir den Boden weg. »Liebst du ihn?« Ich starrte ihn an, öffnete meinen Mund und schloss ihn wieder. »Ich meine, meinen Bruder?«, spezifizierte er und trat von einem Bein aufs andere, verknotete seine Finger ineinander. Ich schluckte. Da waren viele Gefühle. Wärme, Anspannung, Erwartung, Vertrauen, auch ein bisschen Neid, der manchmal in meinen Magen biss. Aber vor allem waren da viele Fragen und das Gefühl, ihn zu vermissen, wenn er nicht da war. War das schon Liebe? »Wenn nein, dann solltest du dich schnell aus dem Staub machen«, fuhr er fort und ich glaubte, ein Zittern in den Worten zu hören. »Und wenn ja«, sein Satz verlor sich, dann schaute er auf, fing meinen Blick auf, starrte mich an mit seinen blauen Augen, die die seines Bruders so verdammt ähnlich sahen und so total anders waren. Tränen sammelten sich in seinen Augenwinkeln, als er sich abwandte. »Dann solltest du gehen, solange du kannst. Solange du noch glücklich bist.« Von außen betrachtet waren wir Glückspilze. Von außen war immer so eine Sache.   Kapitel 55: … bin keine Familie -------------------------------       __________________________________________   Behandele deine Freunde wie Familie und deine Familie wie deine Freunde. © Michael Slung   __________________________________________       Ich entwickelte keine Spiele und war kein erfolgreicher Unternehmer. Ich verstand trotzdem – oder gerade deswegen – wie man Spaß hatte. So einen Abend mit Freunden zum Beispiel. Anders als Seto Kaiba. Spiele waren für ihn Arbeit, sie waren für ihn Kapitalanlagen, Projekte und Produkte. Vielleicht war er deswegen so ein Spielverderber.   »Du hast es versprochen«, erinnerte Mokuba ihn und ich sah, wie Kaiba kurz innehielt, nur um dann wieder schneller zu tippen. Wir saßen im Wohnzimmer. Kaiba halb hinter seinem Laptop, ich mit Mokuba vor dem Fernseher, die Controller in den Händen. Irgendwo draußen erfanden Journalisten bestimmt irgendwelche Geschichten, was hier drinnen passierte. Aber das interessierte mich nicht. Nicht solange ich in diesem Zimmer war. Hier gab es nur Kaiba und Mokuba und mich. Wie eine Seifenblase. »Joey, du bist doch noch dabei, oder? Das wird richtig cool! Alle zusammen und ein richtig cooler Spielabend!« Mokubas Vorfreude gab mir gar keine andere Möglichkeit als dabei zu sein, also nickte ich und grinste ihn an. Aber dann fiel mein Blick auf Kaiba, der weder nickte noch grinste. Er seufzte. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, aber wie er seine Stirn in Falten legte und Mokubas Blick mied – vielleicht war er genervt, vielleicht arbeitete er zu viel. Vielleicht beides. Bei Kaiba wusste man nie, wann zu viel zu viel war. Er selbst behauptete ja, das gäbe es nicht. Dann schaute er seinen kleinen Bruder an und sagte zu. Einen Augenblick lang war ich mir sicher, er hätte seine Meinung in der Sekunde geändert, aber das behielt ich für mich. Mokuba fischte sein Handy aus der Hosentasche und begann wild herumzutelefonieren. »Hey, ich bin’s, Mokuba! Ja, Yugi, ich wollte nur Bescheid geben, dass –« Mein Blick wanderte zu Kaiba, der schon wieder auf sein Smartphone schaute.   Vielleicht redeten wir uns ein, dass wir Sachen auch noch später regeln konnten, weil wir das wirklich glaubten. Weil wir nicht daran dachten, dass es irgendwann zu spät sein könnte oder dass es vielleicht kein später gab. Wir versanken im Alltag und unseren Verpflichtungen und verloren die wirklich wichtigen Dinge aus den Augen. Und manchmal bemerkten wir nicht einmal, wann das später vorbei war.   Wochenenden waren zum Chillen da, zum Trash-TV schauen und zum Ausschlafen. Zumindest meine Wochenenden. Seto Kaibas Wochenenden unterschieden sich von den restlichen Tagen darin, dass er nicht zur Schule musste und den ganzen Tag in der Firma verbringen konnte. Ich hing auf der Couch und legte ein Magazin weg, welches das nahende Turnier anpries, schaute zu Kaiba, der aus dem Fenster starrte. »Morgen Abend ist Mokubas Spielabend.« Er reagierte nicht. »Er hat die Gang eingeladen, aber eigentlich freut er sich nur auf dich.« Kaiba zeigte mit keiner Regung, ob er mir zuhörte. »Vielleicht fliegt er aber auch nach Vegas und heiratet einen Riesenplüschbär.« Kaiba schnaubte. »Wheeler, ich höre dir zu, auch, wenn ich mich in solchen Momenten frage, wieso.« Ich grinste, sprang von dem Sofa und schlenderte zum Schreibtisch, wo er seinen Laptop ignorierte. Ich betrachtete ihn eine Weile. Sein Kinn hatte er auf beide Hände gestützt, während er nach draußen schaute. Der Laptop sirrte leise und ging dann in den Ruhemodus. Plötzlich war es still. »Ist alles okay?« Er blinzelte und schaute mich an, als bemerkte erst jetzt, dass ich vor ihm stand. »Ich meine nur, weil du voll abgelenkt bist.« »Ja, alles okay.« Auf Kaibaisch bedeutete das so viel wie, nein, aber solltest du weiterbohren, lasse ich dich aus dem Zimmer werfen. Also seufzte ich, ließ ihn in Ruhe – ausnahmsweise – und zog meinen Rucksack über die Schulter. »Ich bin bei Yugi. Wir sehen uns morgen Abend.« Er antwortete nicht.   »Vielleicht hat er einfach vor dem Turnier viel zu tun«, sagte Yugi und ich schnaubte. »Kaiba hat immer viel zu tun. Er lebt dafür, viel zu tun zu haben. Sollte er irgendwann einmal nicht voll im Stress stehen, fällt er womöglich auseinander und wir müssen ihn ans Stromnetz anschließen, um ihn wiederaufzuladen.« Wir saßen auf der Terrasse, obwohl es noch zu frisch war, um ohne Jacke die Luft draußen zu genießen. Einige lila Blüten durchbrachen das Braun und das Gras wirkte nicht mehr so farblos wie noch vor ein paar Wochen. »Wie geht es eigentlich dir, Joey?« »Gut. Der Ruhm steigt mir nicht in den Kopf, falls du das meinst.« Ich grinste schief und Yugi schüttelte langsam den Kopf, lächelte. »Und mit deiner Familie?« Ich lehnte mich zurück, spürte die Sonne in meinem Gesicht, ehe die Wolken sich davorschoben. »Ja, alles okay.« Ich glaubte mir fast selbst.   Am nächsten Abend schlenderte ich mit Yugi durch den Kaibaschen Vorgarten. Vom Eingang hingen bunte Girlanden, auf denen Figuren aus verschiedenen Videospielen zu sehen waren. Natürlich fehlte auch nicht der Weiße Drache mit Eiskaltem Blick. Mokuba öffnete die Tür, bevor wir klingeln konnten und er quatschte uns zu, ohne einen Atemzug zu nehmen. Tris, Thea und Mokubas engste Schulfreunde begrüßten uns in einem Zimmer, von dem ich bisher gedachte hatte, es könnte nur in meinen Träumen existieren. Chips und Gummibärchen und Schokolade und die neuesten Videospiele und Kartenspiele und – so viele Spiele hatte ich noch nie in einem Raum gesehen. Selbst der Spielladen von Yugis Großvater wirkte dagegen nur wie eine kleine Vorratskammer. Alle möglichen Konsolen und ich hätte schwören können, dass einige Versionen noch nicht auf dem offiziellen Markt waren. Girlanden und Käsespieße und flimmernde Bildschirme. »Hast du das alles selbst gemacht?« Thea stand der Mund offen. »Ich hatte Hilfe«, winkte Mokuba ab. Anders als sein Bruder haftete Bescheidenheit an seinen Worten. »Aber ich habe es organisiert.« Er grinste stolz, dann bröckelte es. »Aber was soll’s. Ist nichts Besonderes.« »So ein Unsinn«, widersprach Thea. »Das ist großartig!« Yugi stimmte zu und Mokubas Freunde waren hin und weg. »In meinem Alter hat Seto schon internationale Meetings organisiert«, murmelte Mokuba und ich warf einen Blick in unsere Runde. Thea trat von einem Fuß auf den anderen. Yugi schwieg und Tris erwiderte meinen Blick beklemmt. In Mokubas Alter hatte Kaiba auch schon einen Schaden, da war ich mir sicher. Aber das behielt ich für mich. »Komm schon, Alter. Das wird genial«, zerrüttete ich die Stille und klatschte in die Hände.     Mokubas Freunde stürzten sich auf die Videospiele, Yugi blieb bei einigen Karten hängen und ich konnte mich gar nicht entscheiden. Tris nahm mir die Qual der Wahl ab und zog mich zu einer Konsole. »Wo ist eigentlich Kaiba?«, raunte Tris, während ich ihn total abzog und schaute mich an. »Hey, woher soll ich das wissen?« Bevor er antworten konnte, seine Mundwinkel zu einem Grinsen verschoben, verdrehte ich die Augen und winkte ab. »Behalt’s besser für dich«, warnte ich und boxte ihn gegen den Oberarm, dann schaute ich über meine Schulter. »Sag mal, Mokuba, hat Kaiba dir –« Als ich seinen Blick sah, verstummte ich. »Er verspätet sich bestimmt nur«, sprang Thea ein und lächelte ihn an, aber Mokubas Mimik entspannte sich nur oberflächlich. Ich hoffte für Kaiba, dass er sich nur etwas verspätete. Ich hoffte es wirklich. Der Abend verflog zwischen Gesellschafts- und Videospielen (»Du weißt schon, dass das Spiel hier nicht FSK 18 ist?« »Das Wort war Schokobanane, verdammt!«) und den Versuchen, Mokuba von der Abwesenheit seines Bruders abzulenken (»Mokuba, du bist dran!« »Ich war eben schon dran, Joey.« »Egal, Tris kapiert das Spiel eh nicht.«). Ich war mir fast sicher, dass wir es irgendwie geschafft hatten, als jemand die Tür aufschob und Seto Kaiba hindurchtrat. Wir verstummten. Er schaute in die Runde, sein Blick blieb an Mokuba hängen, dann an mir, dann an der Uhr an der Wand. Es war gut halb zwölf durch. »Ihr seid noch hier«, sagte er und öffnete den Mund, um noch mehr zu sagen. Mokuba sprang auf und stürmte aus dem Zimmer. Die Stille, die folgte, wog schwer in meinem Magen. Als hätte ich all die Videospiele verschluckt. Ich räusperte mich, kämpfte mit dem Drang, Kaiba in seine nüchterne Mimik zu schlagen und petzte die Augen zusammen. »Wo zur Hölle warst du die ganze Zeit?«, zischte ich. »Nicht, dass es dich etwas angeht, Wheeler, aber ich hatte wichtige –« Ich riss die Augen auf und stach mit meinem Zeigefinger in seine Brust. »Dein Bruder wartet hier die halbe Nacht auf dich, du Arsch!«, geiferte ich. »Sag das nicht mir, sondern ihm. Verdammter Geldsack!« Er atmete tief aus und als ich ihn ansah, wirklich ansah, bemerkte ich, wie müde er ausschaute. Nein, nicht müde. Es war anders. Wie jemand, der von Gedanken überrollt wurde, sogar dann, wenn er schlief. Alpträume oder das Gefühl, am Morgen immer noch darin gefangen zu sein. Vielleicht interpretierte ich aber zu viel in die roten Äderchen in seinen Augen. »Was ist denn –« Kaibas Blick schweifte über die Anwesenden, dann wandte er sich mit einem Ruck um und verschwand aus dem Zimmer. »Was zur Hölle war denn das?«, fragte Tristan. Dann, wenn ich glaubte, Kaiba zu verstehen, passierte etwas und ich verstand nur, dass ich ihn nicht verstand. Wie eine Seifenblase, kurz vorm Platzen. »Keine Ahnung«, murmelte ich.   Roland kümmerte sich darum, Mokubas Freunde sicher nach Hause zu bringen. Yugi, Thea und Tris warteten mit mir im Wohnzimmer. Ich starrte auf den Zeiger der Uhr. Am liebsten wollte ich zu Kaiba stürmen und ihn jede Minute seiner Verspätung bereuen lassen, aber Yugis Hand auf meinem Arm hielt mich davon ab. Wir saßen auf der Couch, als hätte uns der Postbote hier vergessen. Und der Empfänger. »Er spricht sich bestimmt mit Mokuba aus. Das ist gut«, versicherte Yugi mir. »Vielleicht sollten wir die beiden jetzt erst einmal in Ruhe lassen.« Vielleicht. Vielleicht sollte ich Kaiba anbrüllen und ihm sagen, was für ein riesen – wahrscheinlich hatte Yugi Recht. Widerstrebend erhob ich mich vom Sofa. »Wir sollten uns ein Taxi nehmen«, schlug Thea vor und griff nach ihrem Handy. »Wir schauen später nach den beiden. Oder du gehst heute Abend nochmal bei ihnen vorbei«, sagte Yugi in meine Richtung. Ich seufzte. Ganz toll. Nach so einem Abend wieder bei meiner Mutter im Haus zu landen. Überall besser als dort. Aber hier zu bleiben war momentan keine wirklich angenehme Alternative. »Ja, lass uns später –« Vielleicht redeten wir uns ein, dass wir Sachen auch noch später regeln konnten, weil wir das wirklich glaubten. Weil wir nicht daran dachten, dass es irgendwann zu spät sein könnte oder dass es vielleicht kein später gab. Wir versanken im Alltag und unseren Verpflichtungen und verloren die wirklich wichtigen Dinge aus den Augen. Und manchmal bemerkten wir nicht einmal, wann das später vorbei war. In dem Moment stand Kaiba in der Tür. Er war leicht außer Atem, auch wenn er das überspielen wollte. Sein Haar stand an der einen Seite unordentlich von seinem Kopf, als wäre er mit seinen Fingern durch die Strähnen gefahren, ohne darüber nachzudenken, was das für seine Frisur bedeutete. »Wir wollten gerade –«, begann Yugi, doch Kaibas Worte durchschnitten seinen Satz. »Er ist nicht hier.« Die Stille im Raum schwoll an, wie ein Luftballon kurz vorm Platzen. Ich starrte Kaiba an, dann Yugi, dann Kaiba. »Wer? Wo?«, fragte Tris irritiert. »Kaiba, beruhig dich«, sagte ich, als mir die Situation langsam dämmerte und mein Blick Kaiba folgte, der hin und her schritt, wie jemand dessen Wut nur durch Bewegung zurückgehalten werden konnte. Aber es war keine Wut. »Ich bin ruhig«, knurrte er. Ich zog meine Augenbrauen hoch und er erwiderte meinen Blick. Ich hielt ihm stand und Kaiba hielt inne. Dann ließ er sich mit einem Geräusch, das einem Seufzen glich, auf das Sofa fallen. Er stützte die Stirn mit einer Hand. »Er ist nicht in seinem Zimmer. Er ist nicht in meinem. Nicht im Büro, in keinem der Spielzimmer, nicht im Musikzimmer, nicht im Sportstudio.« Ich schluckte die Anmerkung, dass ich nicht einmal gewusst hatte, dass es mehrere Spielzimmer gab oder ein Musikzimmer oder ein Sportstudio. »Vielleicht ist er in den Garten, um sich abzuregen«, gab Thea zu bedenken und zuckte nicht einmal zusammen, als Kaibas eisiger Blick sie traf. »Er würde um diese Uhrzeit nicht alleine –« »Er ist enttäuscht und wütend, sicherlich sollten wir es in Betracht ziehen, dass er nach draußen gerannt ist«, unterbrach Thea ihn und ich konnte nicht anders als etwas Ehrfurcht für ihre Kühnheit zu empfinden. Und Ärger auf Kaiba. Der zog sein Smartphone aus der Tasche. »Haben Sie ihn?«, raunte er ohne Begrüßung hinein, hörte zu und legte dann ohne Verabschiedung auf. »Er ist nicht im Garten.« Ich fragte nicht nach, woher Kaiba das wusste. Wahrscheinlich Drohnen oder Videoüberwachung. Oder ein Mikrochip, den er Mokuba eingepflanzt hatte. Oder eine Mischung. »Die Sicherheitskräfte der Kaiba Corporation durchsuchen das Haus und das umliegende Gebiet. Er befindet sich wahrscheinlich nicht auf diesem Gelände«, fuhr er fort. Oder Sicherheitskräfte. »Ganz ehrlich. Er will wahrscheinlich nur etwas Ruhe vor dir. Da würde ich mich auch nicht hier verstecken«, brummte ich und ließ mich neben Kaiba auf der Couch nieder. Als die Atmosphäre gegen meine Schläfen drückte, sah ich auf. »Was? Ich meine ja nur, dass er clever ist«, erwiderte ich auf die ganzen Blicke. Den Kommentar, dass das wohl in der Familie lag, schluckte ich. Immerhin war Kaiba an der ganzen Sache irgendwie schuld. »Wahrscheinlich ist er zu Freunden und taucht morgen früh wieder auf.« »Roland hat die engsten Freunde erst nach Hause gebracht und die anderen wurden telefonisch verständigt«, erwiderte Kaiba tonlos. »Oder vielleicht in die KC?«, schlug Tris vor und ich starrte ihn an. »Keine dumme Idee«, erwiderte ich. »Hey, warum hörst du dich so überrascht an?«, ätzte er, ich klopfte ihm mit einem schiefen Grinsen auf die Schulter. »Wäre er dort, hätten mir die Securitykräfte bereits Bescheid gegeben«, widersprach Kaiba. »Also doch eine dumme Idee«, meinte ich und Tris verdrehte die Augen. »Aber das wäre Mokuba klar. Ich an seiner Stelle würde mich nicht dort verstecken, wo man mich erwarten würde.« »Erstaunlich clever«, höhnte Kaiba. Ich öffnete den Mund, aber dann schloss ich ihn wieder. Das war Hohn, aber der verpackte etwas ganz Anderes. »Wir finden ihn«, sagte ich und erhob mich, streckte die Faust in die Höhe und wollte losspazieren, als Kaiba schnaubte. »Er hat sein Handy hiergelassen, ich kann ich nicht einmal orten.« Mir klappte der Mund auf. »Du kannst Leute mit ihren Handys orten?« Er warf mir einen Blick zu und ließ sich nicht einmal zu einer Antwort herab. Also Kaiba konnte – wie in einem schlechten Spionagefilm – Menschen anhand ihrer Handys ausfindig machen. Aber Mokuba war clever. Verdammt. »Vielleicht kann Mokuba dann auch deine Security-Typen überlisten«, überlegte ich laut. »Er könnte sich in das System hacken und alles ausschalten und –« Kaiba sah mich mit dem Welchen-Müll-labert-er-schon-wieder?-Blick an, auch, wenn er es sicherlich anders ausgedrückt hätte. »Wahrscheinlich könnte er das.« Ich blinzelte überrascht. »Aber warum sollte er das tun?«, mischte sich Thea ein. »Er ist sicherlich aufgewühlt und will ein bisschen Ruhe – nicht irgendein Sicherheitssystem seines Bruders knacken. Warum –« Und dann fiel mir etwas ein. Ich riss meine Augen auf. »Außer er will es«, entfuhr es mir und ich presste meine Hände auf die Augen, bis die bunten Pünktchen davor tanzten. Wie wütend war Mokuba? Wie sehr von seinem Bruder enttäuscht? Würde er seine eigene Sicherheit riskieren? »Glaubst du, Mokuba würde der KC ernsthaft schaden wollen?«, fragte ich und legte mein Genick in den Nacken. »Wovon sprichst du?« Ich neigte mein Gesicht und schaute ihn an, wog ab, was realistisch war und was zu drastisch. Wie oft hatte Kaiba Mokuba verletzt? Ihn zurückstecken lassen – hinter der Firma? Wie wichtig behauptete Kaiba, wäre ihm Mokuba und wie oft hat er ihn für die KC vertröstet? Was war schon Familie? Menschen, die glaubten, besser zu wissen, was gut für dich ist? Menschen, die dich zurückließen? Menschen, die dich prägen, ob du sie kennst oder nicht. Die dich begleiten, selbst, wenn sie nicht da sind. Ob positiv oder negativ. Familie war keineswegs perfekt. Aber Mokuba hatte einen Plan gehegt. Oder? »Wir müssen unbedingt zur KC«, drängte ich und sah in die Runde. Oder war es nur ein Hirngespinst? Kaiba sah mich entgeistert an, aber Yugi trat sofort an meine Seite. »Wir helfen. Was können wir tun?«, fragte Yugi. »Geht nach Hause«, antwortete Kaiba Noch bevor die drei protestieren konnten, wiederholte er sich. »Geht nach Hause. Sollte Mokuba bei euch auftauchen, gebt mir sofort Bescheid.« »Ist vielleicht nicht dumm. Ihr haltet zu Hause Stellung und wir –« »Wheeler, du auch.« Er erhob sich. »Was? Nein. Auf keinen Fall!« »Meine Leute kümmern sich um die Situation hier. Ihr steht dabei nur im Weg.« Es klang nach einem Du in meinen Ohren. »Ich gehe nicht.« Kaiba musste sich jeden Morgen entscheiden, welche Priorität er setzte und mit den Konsequenzen leben. »Wheeler, ich wiederhole mich nicht noch einmal. Deine konsequente Inkompetenz –« Aber wer von uns musste das nicht? »Wenn es dir hilft, deine Nerven zu behalten, beschimpf mich, mach mich runter! Ist mir egal. Aber ich werde dich jetzt nicht einfach alleine lassen, kapiert?«, rief ich und dann herrschte Stille. Alle starrten mich an. Wahrscheinlich hätte ich mich auch so angestarrt. Kaiba atmete tief durch, als versuchte er sich so zu beherrschen. Aber es war mir egal. Sollte er ausrasten. Das war unwichtig. Viel wichtiger war jetzt Mokuba. »Warum?«, fragte Kaiba nach einer kleinen Ewigkeit und bewegte kaum seine Lippen, als wäre er eingefroren. Ich öffnete den Mund. Weil er auch für mich da gewesen war? Weil ich mich um Mokuba sorgte? Weil ich Freunde nicht im Stich ließ? Weil es keinen Grund brauchte? Ich seufzte, legte meine Hand auf seine Schulter. Er sah nicht auf. Ich war nicht Familie. An meinen guten Tagen wusste ich nicht einmal, wie es sich anfühlte, eine intakte Familie zu haben. Vielleicht waren wir nicht einmal wirklich Freunde, sondern etwas dazwischen. Etwas, was niemand benannte, weil es vielleicht sonst zerriss. Aber das interessierte mich nicht. Nicht solange ich in diesem Zimmer war. Hier gab es nur uns. Wie eine Seifenblase. Nicht, solange ich bei ihm war. Solange dieses Etwas zwischen uns nicht zerplatzte. »Wir finden ihn, Seto.« Er reckte sein Gesicht und erwiderte meinen Blick, erhob sich von dem Sofa, so dass wir uns gegenüberstanden. Sein Brustkorb bewegte sich schneller als normal, vielleicht war es Zorn, vielleicht das Gefühl, nicht genug atmen zu können. Ich kannte das. Manchmal fühlte es sich gleich an. Als würde man rennen, ohne zu wissen wohin und innerlich explodieren, weil die Welt Kopf stand. Dann ging er los und ließ mich stehen und ich sah ihm nach. »Ich warte nicht auf dich, Wheeler«, sagte er, während er durch die Tür trat und ein schiefes Lächeln sprang auf meine Lippen. Ich folgte ihm. Kapitel 56: … bin nicht auf deiner Seite ---------------------------------------- __________________________________________   An der einen Seite zieht mich die Liebe, an der anderen die Logik. Ovid    __________________________________________           Ich war der Typ, bei dem Freunde einfach vorbeikamen, einen gemütlichen Abend zu verbringen und mit mir abzuhängen. Ich hatte nicht viele Freunde, aber gute. Ich hätte Erfolg, Reichtum und Ruhm jederzeit für sie eingetauscht. Aber Kaiba? Mit Kaiba abonnierte man Erfolg, Reichtum und Ruhm und holte sich die Presse quasi ins Haus. Und einen Lastwagen voller Schuldgefühle. Und wer war schon so bescheuert?   Nachts wirkte das Gebäude der Kaiba Corporation von unten wie ein endloser Turm, der in die Dunkelheit ragte. Ich konnte nicht erkennen, wo die Wände endeten und der Himmel begann. Drinnen war alles finster, nur die Notbeleuchtung erhellte die Gänge, bis Kaiba einen Schalter drückte und die Horrorfilm-Atmosphäre verpuffte. Wir betraten Kaibas Büro. Mokuba war hier irgendwie mit aufgewachsen. Vielleicht hatte er hier mehr Zeit mit seinem Bruder verbracht als in der Villa. Meinen Magen durchzog ein bitteres Gefühl. Die Räume waren leer und ich wandte mich um, dann packte mich der Ausblick. Die Stadt schlief nicht. Die Lichter vertrieben die Ruhe der Nacht, Werbeschilder erleuchteten in bunten Farben, jemand hupte. Ein Bus fuhr vorbei, trug die Reklame für das anstehende Turnier. Meine Zeichnungen kleideten ihn in Drachen und Magier. Kein Glücksgefühl. Was bedeutete es schon? Die Anerkennung von Fremden war nichts wert, wenn sie nicht die richtigen Leute erreichte. »Du machst dir was vor«, erklärte ich ruhig, ohne mich umzuschauen. Ich wusste, Kaiba stand irgendwo hinter mir. Ich hörte seine Atemzüge. »Du glaubst, du könntest Mokuba glücklich machen – mit dem ganzen Geld, mit deinen ganzen Sachen, die du machst, die Konferenzen und der ganze Scheiß. Aber in Wirklichkeit –« »Ja, du hast mich durchschaut«, spottete er leise. Meine Nackenhaare stellten sich auf. Er war viel näher, als ich erwartet hatte. Ich spürte seine Bewegung, als er neben mich trat. Den Lufthauch, als er sich mit einem Arm an der Glasscheibe abstützte und hinausstarrte. »Glaubst du wirklich, du hättest die leiseste Ahnung davon, was ich mache? Was ich getan habe, um hier stehen zu können?« Ich seufzte. Natürlich nicht. Aber das war gerade unwichtig. Er wusste auch so vieles nicht, was ich durchgemacht hatte, um jetzt hier zu sein. »Und was bringt’s schon? In Wirklichkeit versteckst du dich hier doch nur. Tust so, als wäre dir alles egal, aber in Wirklichkeit hast du Angst, dass du es einfach nicht richtig hinkriegst.« »Was, Wheeler?« Sein Ton warnte mich. Als wollte er gar nicht wissen, was ich dachte. Aber das war mir egal. Ich war nie der Typ gewesen, der schwieg, nur weil er es wollte. »Das mit Mokuba«, flüsterte ich. Er bewegte sich so plötzlich, dass mein Atem stockte, packte mich am Kragen, drückte meinen Rücken gegen die Glasscheibe. Sein Gesicht erstrahlte in den künstlichen Lichtern. Ich sah zu ihm hoch. Seine Augen funkelten. Jetzt war es Wut. Ich kannte diese Art von Wut. Die, die dich überrollte und sich ganz tief in deinen Bauch fraß, bis du vor Übelkeit umkippst. »Ich würde ihn nie, niemals zurücklassen«, zischte er und zog mein Gesicht näher an seines. Weil du einer Wahrheit nicht entkommen konntest. Obwohl du dir eingeredet hattest, es wäre so. »Niemals.« Seine Finger zitterten um meinen Kragen, wie sein Atem. »Hör doch auf, dich anzulügen«, erwiderte ich leise. »Du tust es jedes Mal, wenn du zu lange arbeitest, wenn du am Wochenende mal wieder nicht nach Hause kommst, wenn du die Nacht in der KC durchmachst.« »Ich sorge dafür, dass Mokuba das beste Leben führt, das er führen kann.« Sportwagen oder Limousine, Konferenz oder Schule, KC oder Klassenzimmer. Kaiba musste sich jeden Morgen entscheiden, welche Priorität er setzte und mit den Konsequenzen leben. »Wirklich?«, fragte ich. »Mokuba will gar nicht hier stehen, wie du. Und du solltest dir Zeit für ihn nehmen. So macht man das in einer Familie.« »Und diese Annahme stützt du auf deine beispielhafte Erfahrung mit gesunden Familienstrukturen?«, spottete er. »Auf meinen gesunden Menschenverstand, du Penner, damit kennst du dich halt nicht so aus«, ätzte ich zurück, stierte in seine Augen und legte meine Hände auf seine, löste sie von meiner Jacke. Er ließ es geschehen. Ich berührte sie länger, als es nötig gewesen wäre. Er sagte nichts. »Ich bin mir sicher, dass er das ganze Geld, das du während deiner Überstunden in der KC machst, ohne zu zögern gegen Zeit mit dir tauschen würde«, flüsterte ich. All die Wut war weg, seine Körperhaltung verriet es. Da war nicht mehr das Raubtier, das einen jeden Moment verschlang. »Es geht nicht um Geld«, sagte Kaiba. »Oder um die Firma.« Da war ein Teenager, der versuchte, alles zu erreichen, um seinem Bruder das Beste zu bieten. Ein Junge, der so viel geopfert hatte und wusste, wie es war, nichts zu haben. Es irritierte mich. Das Bild eines Jungen mit blauen Augen blitzte in meinem Gedächtnis auf. Kaiba wandte sich um, den Rücken zu mir, unterbrach unseren Körperkontakt, doch ich schnappte nach seinem Ärmel und er hielt inne. Einen Moment standen wir einfach so da. Fast Schulter an Schulter, starrten in verschiedene Richtungen und waren uns doch so nah, dass wir uns fast berührten. Es war so verdammt typisch für uns. Im Hintergrund die Stadt und der Gedanke, wo Mokuba steckte. Und wir, die wir irgendwie zwischen drinnen und draußen strauchelten und versuchten, das Richtige zu tun. »Kaiba«, sagte ich langsam, »warum warst du nicht da?« Und wahrscheinlich dabei scheiterten. Die Worte hingen im Raum, schwer wie die Stille dazwischen. In meinem Kopf wiederholte sich die Frage, aber ich bekam keine Antwort. Als hätte ich aus Versehen auf Repeat gedrückt. Ich musterte ihn, streifte mit meinem Blick seinen Kiefer. Er biss die Zähne zusammen, mahlte mit ihnen, als wollte er auf keinen Fall sprechen. Er stand da wie erstarrt, als wäre die Zeit stehen geblieben, obwohl ich das Ticken der Uhr hörte und seine Atemzüge. Ich drückte sein Handgelenk. Vielleicht um mich zu versichern, dass er noch hier war. Dass ich hier war. Er schnaubte leise und ich schnaubte zurück. Das war keine Antwort. Aber wenn er die nicht geben wollte – ich wusste, ich würde ihn nicht dazu zwingen können. »Egal«, seufzte ich, obwohl es mir das Herz zusammenquetschte. Inzwischen wollte ich das nicht einmal mehr. Waren wir wirklich so zerbrechlich? War das sein Vertrauen? Warum musste ich mir immer wieder einreden, dass es zwischen uns gab, das mehr war als auf den ersten Blick? »Du bist mir keine Antwort schuldig. Ist ja deine Sache. Beziehungsweise eure.« Warum standen wir nie wirklich auf derselben Seite? Ich ließ meine Hand fallen, als hätte ich mich verbrannt, schob sie in meine Hosentasche und stampfte Richtung Tür. Und warum tat es weh? Seto Kaiba war eben ein Arsch, ein egoistischer, egozentrischer, Ego-Arsch. Vielleicht glaubte er wirklich, dass er alles für seinen Bruder tat, vielleicht hatte er seine Gründe. Aber er blieb ein Arsch, der seine Firma oder sonst eine lahme Ausrede hatte, um seinen Bruder dauernd hintenanzustellen – und dann auch noch behauptete, er würde alles für ihn machen. Als hätte er tatsächlich auch nur einen – »Gestern war der Todestag meiner Eltern.« Ich erstarrte mitten in der Bewegung, riss meinen Kopf herum und meinen Mund auf, um dann nichts herauszubekommen. Nur Seto Kaiba schaffte es, mit wenigen Worten, meine Perspektive auf den Kopf zu drehen. »Der Todes-« Ich verstummte. Kaiba war ein Arsch. Und Mokubas Familie. Was war schon Familie? Menschen, die glaubten, besser zu wissen, was gut für dich ist? Menschen, die dich zurückließen? Menschen, denen du niemals wirklich entkommen konntest? Menschen, die dich prägten, ob du sie kanntest oder nicht. Die dich begleiteten, selbst, wenn sie nicht da waren. Ob positiv oder negativ. Familie war keineswegs perfekt. Und manchmal glaubte ich, es wäre besser, sie nicht zu kennen. Aber dann gab es die anderen Augenblicke. »Ich – es –« Ich schluckte und fuhr mir mit der Hand durchs Gesicht. »Sorry, ich hatte echt keine Ahnung –« »Mokuba auch nicht. Und es wäre besser, wenn es so bliebe.« Kaiba wirkte gefasst. Als hätte er mir gerade gesagt, ich würde mein Gehalt wie üblich bekommen. Ich war es nicht. Wie schaffte er das? Wann hatte er diese Maske so perfektioniert, dass ich daran zweifelte, ob es eine Maske war? »Warum?« Ich hatte so viele Fragen. Ob er sich noch an seine Eltern erinnerte. Wieso sie tot waren. Ob er es bereute, gegen Gozaburo Kaiba jenes Schachspiel gewonnen zu haben. Wie er bei ihm aufgewachsen ist. Aber seine Mimik verschloss jede Antwort. Er wollte nicht darüber reden. Nicht mit mir. Warum er mit niemandem darüber sprechen wollte. Er verdrehte die Augen. Als hätte er jede einzelne Frage in meinen Augen gelesen. Aber er antwortete nur auf die eine. »Weil es ihn unnötig belasten würde. Er erinnert sich nicht mehr an unsere Eltern. Für ihn sind sie nur eine Geschichte.« Nicht mit mir und nicht mit Mokuba. Als wollte er heile Welt spielen, während die Welt um ihn herum zerbrach. Wie eine Seifenblase, die jeden Moment drohte zu platzen. »Aber –« »Nein, Wheeler.« Da war kein Raum für Widerworte. Kaiba wandte sich ab und ließ mich alleine im Büro zurück. Ich starrte ihm nach und rang mit mir. Das klang nach einem Nein, das ich akzeptieren musste. Ich biss meine Zähne auf die Unterlippe, atmete tief durch und verließ das Büro. »Er ist vielleicht auf dem Dach«, murmelte ich, als ich hinter ihm durch die Gänge schritt. Er betrachtete mich einen Moment über die Schulter, dann drehte er um Richtung Treppe gen Dach. Ich folgte ihm.   Mokuba war nicht auf dem Dach. Er war auch nicht bei seinen Freunden oder wieder in der Villa, wo wir im Wohnzimmer auf der Couch saßen, schwiegen und Kaiba versuchte, mit seinem Blick abwechselnd das Haustelefon, sein Handy und den Laptop in Flammen aufgehen zu lassen. Mich hätte es nicht verwundert. Kaibas Geduld tanzte einen immer dünner werdenden Faden entlang. Die Security-Kräfte berichteten keine Neuigkeiten, bei Yugi oder sonst wem meldete sich Mokuba auch nicht und als Kaiba sich in das öffentliche Überwachungsnetzwerk hacken wollte, sog ich scharf die Luft ein. »Vielleicht unterschätzt du ihn«, murmelte ich, lehnte mich zur Seite, zu ihm. Mein Arm berührte seinen und er zuckte nicht zurück. Ich beobachtete, wie seine Finger über die Tastatur flogen, irgendwelche Befehle auf einen dunklen Hintergrund seines Computers einhackten. Wenn ich seine Mimik nicht hätte einschätzen können, spätestens die Bewegungen seiner Finger über die Tasten hätten mir alles verraten. Da war Sorge, war das schon Verzweiflung? »Bist du sicher, dass du das machen willst? Ist das nicht – illegal?« Kaiba schnaubte, als würden ihn solche Beschränkungen schon lange nicht mehr kratzen. »Was hast du vorhin gemeint?«, fragte er. Ich sah ihn lange an, antwortete nicht. Er warf mir einen Seitenblick zu und ich zuckte zusammen. Ich verfluchte meinen Überlebensinstinkt. »Ob Mokuba der Firma schaden wollte«, pochte er auf meine Worte, die ich mit einer Handbewegung wegwischen wollte. »Er hat mir mal was erzählt. Vergiss es. Es war nur –« In dem Moment vibrierte mein Handy, ich zog es aus meiner Tasche und runzelte irritiert die Stirn, als das Display nicht Yugis oder Tristans, sondern eine unbekannte Nummer anzeigte. »Jo, hallo?« Ich dehnte das »o« über zwei Silben, was Kaiba die Augen rollen ließ. »Joey, ich bin‘s«, antwortete eine verlegene Stimme und ich schnappte nach Luft. »Mokuba?«, rief ich erstaunt. Neben mir erstarrte Kaiba mitten in der Bewegung und griff nach meinem Handy, ich lehnte mich weg, hob es außer Reichweite. »Ist alles gut?«, fragte ich und hätte mir gegen die Stirn klatschen können. Natürlich war nicht alles gut. »Ich meine, was ist los?« Sollte irgendwann einmal einer meiner Freunde gekidnappt werden und die Entführer bei uns anrufen, konnte ich nur beten, dass sie nicht mich an die Leitung bekamen. Mit dem einen Arm wehrte ich Kaibas Versuche ab, mir mein Handy aus der Hand zu reißen, mit der anderen hielt ich Mokubas Stimme an mein Ohr. Kaiba zischte etwas, das meinen möglichen, mehr oder weniger unbeabsichtigten Tod beinhaltete. Ich hörte ihm nicht weiter zu. »Was war das? Was hast du gemeint, Mokuba?« Kaiba klappte den Laptop zu, legte ihn auf den Kaffeetisch und ich sprang auf die Fußspitzen, während sich Kaiba erhob, als hätte er alle Zeit der Welt. Aber wahrscheinlich versuchte er nur, mich nicht doch bei seinem Angriff umzubringen. Irgendwie rechnete ich ihm den Versuch hoch an. Ich brachte das Sofa zwischen uns. Er funkelte mich an. Ich tat so, als sähe ich es nicht. »Warte mal, Mokuba. Einen klitzekleinen Moment.« Ich schaltete die Sprechfunktion kurzerhand aus, machte einen Satz auf Kaiba zu, sprang halb auf ihn und überrumpelte ihn so, dass er rückwärts stoplerte und beinahe mit mir auf den Boden gesegelt wäre. Ich griff mir Kaibas Shirt und zog ihn zu mir. »Halt jetzt endlich mal die Backen, Geldsack«, raunte ich. »Mokuba hat mich angerufen. Ich mach das schon, kapiert?« Kaibas Mimik erstarrte mit dem Namen seines Bruders, als hätte ich einen Knopf gedrückt. So standen wir mitten im Wohnzimmer. Ich hielt ihn fest am Shirt ließ nicht nach, ließ nicht los und er ließ mich. »Ja, Mokuba. Ich bin hier. Schieß los.« Ich betrachtete Kaiba abwesend. Was brauchte es, um Kaiba in den Kopf zu meißeln, dass man auf derselben Seite stand? Ich schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte mich auf die Stimme an meinem Ohr. »Mir geht’s gut. Sag meinem Bruder, dass ich morgen wieder zu Hause bin. Ich übernachte in der Sankt Marienstiftung.« »Wo?« »Mein Bruder weiß wo.« »Hä? Woher soll er –« »Bis dann. Macht euch keine Sorgen.« Ich starrte das Handy in meinen Händen an und zählte die Pieptöne. Es waren sechs, als Kaiba mich wegstieß und dann zu sich riss und ich in seine Augen stierte. Loderndes Eis. »Was – hat – er – gesagt?« Er würde sicherlich auffallen, wenn Kaiba meinen Körper verschwinden ließ. Yugi würde Fragen stellen, Tris würde nicht lockerlassen. Wahrscheinlich würde sogar Thea Untersuchungen anstellen. Meine Geschwister auf jeden Fall. Vielleicht sogar meine Mutter und mein Vater. »Es geht ihm gut«, brachte ich hervor. »Er hat gesagt, er ist morgen wieder –« »Wheeler.« Seine Stimme knirschte, wie meine Knochen, die er womöglich brechen würde, fiele mir nicht schnell eine gute Erklärung ein, warum das überflüssig war. »Hör zu, Kaiba«, begann ich. »Er meint, er ist morgen wieder hier. Er übernachtet in einer Sankt Mariadings und –« »Sankt Marienstiftung?«, unterbrach er mich und ließ mich los. Ich nickte heftig. »Jopp, genau! Das war’s, richtig. Kaiba, was –« Er hatte sich auf die Couch sinken lassen, das Gesicht in den Händen. Braune Strähnen hingen hinunter und verdeckten seine Mimik. Er wirkte, als würde er zusammenklappen, würde ich ihn berühren. Der Gedanke brannte bis in meinen Bauch. Eiskalt. Vor einem spottenden Kaiba würde ich mich nie fürchten, er könnte brüllen und fluchen. Es wäre mir egal, ich würde nicht mit der Wimper zucken. Ich würde zurückbrüllen und fluchen, aber jetzt war es so still. So scheiße still. Ich betrachtete ihn und wunderte mich, wie jung er plötzlich aussah. »Kaiba«, räusperte ich mich, stand mitten im Wohnzimmer und wollte mich weder setzen, noch gehen, obwohl hier zu stehen sich anfühlte, als wäre ich am falschen Ort. Als stünden wir auf verschiedenen Seiten. Dabei stand ich doch hinter ihm? »Was«, flüsterte ich, krächzte und versuchte es nochmals. »Was ist die Sankt Marienstiftung?« Kaiba fuhr hoch, ohne mich anzusehen, ohne einen Hinweis, dass er mich gehört hätte und verschwand aus dem Wohnzimmer. Ich hörte, wie er die Treppe nach oben jagte und sank in das Sofa. Ich wusste nicht, ob ich es aushalten könnte, ihm jetzt zu folgen. Vielleicht sollte ich das auch gar nicht. Sollte man nicht Grenzen respektieren und so? Und wenn ich auf der anderen Seite der Linie stand wie er? Sollte ich die nicht übertreten, um zu ihm zu gelangen? Ich zog mein Handy aus der Hosentasche, um Yugi anzurufen, aber dann tippte ich auf Google und suchte nach Sankt Marienstiftung. Als erstes sah ich das Bild eines Gebäudes mit vielen Fenstern, dann eine Karte. Es war hier in Domino? Dann las ich den ersten Eintrag und mein Mund wurde trocken. Natürlich. Ich schlug mit der Hand an meine Stirn, ließ den Arm über meine Augen sinken und lauschte einige Momente nur meinen Atemzügen. Dann warf ich einen Blick zur Tür. Mal ehrlich, seit wann respektierte ich Grenzen?  Kapitel 57: … bin ein Zuschauer -------------------------------   __________________________________________   Häufig betrachte ich das Leben so wie ein Zuschauer, gleichsam als hätte ich keinen Anteil daran. Und nur bei der Betrachtungsweise sieht man es richtig. Leo Nikolajewitsch Graf Tolstoi    __________________________________________           Ich war kein Geschäftsmann, Erfolgsmensch oder Genie. Für mich zählte nicht zuletzt der Weg, wenn ich das Ziel schon nicht schaffte. Und manchmal konnte mich das Ziel mal, wenn es zu viel verlangte. Kaiba war da anders. Für ihn zählte der Gewinn und nicht der Einsatz, also das Ziel und nicht der Weg. Zumindest dachte ich das eine ganze Zeit lang. Manchmal denke ich es noch immer. Aber er war nicht immer vorbereitet und manchmal hatte er einfach keine Ahnung – nicht, dass ich es besser gewusst hätte. Er arbeitete für das, was er erreichen wollte und erreichte das, was er wollte. Aber manchmal verlangte er zu viel. Manchmal riskierte er zu verlieren, wofür er arbeitete. Und manchmal begriff er zu spät, was der Weg zum Ziel kostete.   »Kaiba?« Das Zimmer war dunkel. Die Silhouette regte sich nicht, saß still auf dem Bett, den Rücken zu mir und ich erwog einen Moment, umzukehren, mich im Wohnzimmer zu verschanzen und so zu tun, als hätte ich nichts gesehen. »Ich habe allen Bescheid gegeben, dass sich Mokuba gemeldet hat. Dass sie nicht weitersuchen müssen«, sagte er und ich war erleichtert, als ich in seiner Stimme kein Zittern oder Schluchzen hörte. Könnte ich einen weinenden Kaiba ertragen? Kollidierte das nicht zu sehr mit meiner Weltvorstellung? »Ja, das ist gut. Denke ich mal.« Eigentlich hatte ich keine Ahnung, was das alles hieß. Vorhin hatte ich noch geglaubt, etwas zu verstehen. Hatte mir angemaßt, Kaibas Handeln zu beurteilen, ihn zu verurteilen. Wer tat seinem kleinen Bruder schon so etwas an? Immer seine scheiß Arbeit. Immer diese Ausreden. Immer die Prioritäten, die er so verdammt falsch setzte. Und jetzt stand ich hier, musterte Kaibas Rücken, die Schatten, die an den Wänden tanzten und stand vor einem Abgrund, der tief in die Vergangenheit reichte. Wer tat einem kleinen Jungen schon so etwas an? »Kaiba«, flüsterte ich, als befürchtete ich, etwas aufzuschrecken. »Nicht jetzt.« Seine Stimme klang nicht einmal abweisend oder kühl. Da war so viel Müdigkeit, die er in seinem Alter noch gar nicht kennen sollte. Mit einem unterdrückten Seufzen ging ich an seinen Schrank, zog eines seiner Shirts heraus (die ohne Kragen, die einfachen weißen mit dem KC-Print auf der linken Brustseite) und wechselte von meinem Zeug in mein quasi-Zeug. Dann warf ich ihm seinen Schlafanzug (dunkelblau, KC-Print auf der linken Brustseite, keine Krawatte) aufs Bett. Er zuckte nicht zusammen, knöpfte einfach sein Hemd auf. Ich sah es nicht, hörte nur das Rascheln von Kleidung, wandte mich ab und verschwand im Badezimmer, wo meine Zahnbürste stand (orange), neben seiner (dunkelblau). Mein Spiegelbild stierte mir mit gerunzelter Stirn entgegen und zu viel Zahnpasta im Mund, die mir über die Lippen lief. »Appetitlich, Wheeler«, hörte ich ihn hinter mich treten und ich holte mit meinem Ellenbogen aus. Er wich mir aus – das schaffte er zu neunzig Prozent. Wenn ich es zuließ. Er griff nach seiner Zahnbürste und erwiderte meinen Blick über den Spiegel. Ich wollte ihm sagen, dass alles wieder werden würde, dass es nur halb so schlimm war, wenn der kleine Bruder abhaute und erst am nächsten Tag wiederkommen wollte. Aber war es das? Woher sollte ich das wissen? Kaiba brauchte keine Halbwahrheiten hören. Er kannte sie selbst. Und die Wahrheit war, dass wir nicht wussten, wie schlecht es Mokuba wirklich ging. Nicht körperlich, sondern alles Andere. Also schwieg ich und spülte meinen Mund ohne ein weiteres Wort. Als ich im Bett lag – Kaiba duschte gerade, ich hörte das Prasseln des Wassers – schrieb ich Serenity schnell eine Nachricht, dass alles okay war (was war schon okay?), dass ich irgendwann morgen wieder zurückkommen würde (ich schaffte es nicht, nach Hause zu schreiben) und legte mein Handy dann auf den Nachttisch. Meine Arme hinter dem Kopf gefaltet, starrte ich an die Decke und lauschte, wie Kaiba das Wasser ausstellte und die Duschkabine öffnete. Seit wann war es so selbstverständlich, hier zu übernachten? Als er sich neben mich legte, roch ich das Duschgel und das Shampoo und schloss die Augen, tastete, bis ich seinen Arm fand. Ein Grinsen zupfte an meinen Mundwinkeln. »Wheeler, deine Hände sind kalt«, knurrte er. »Und deine Füße auch.« Er zuckte entgegen der Worte keinen Zentimeter zurück und ich verzichtete darauf, ihm zu erklären, dass das ein Grund war, warum ich an ihn heranrückte. Noch die Hitze der warmen Dusche spürte (Kaiba war ein echter Warmduscher) und das Gefühl, seine Haut auf meiner. »Für einen Kühlschrank bist du ziemlich – warm«, murmelte ich, balancierte zwischen wegstoßender Distanz und erdrückender Nähe und presste meine Nase an seinen Oberarm. Ich hörte, wie er schnaubte und ich gluckste gegen den Stoff seines Shirts. Für einen Augenblick war es so, als wäre es leicht. Als gäbe es da kein von innen und von außen, keine fremden Meinungen, keine Erwartungen. Kein Halbwissen und Vergangenheit und Zukunft. Nicht die Sorge, falsche Entscheidungen zu treffen, die nach und nach alles zusammenbrechen ließen. Aber das war eine Lüge. Ich atmete tief ein, atmete ihn und dann wand ich mich unter dem Gewicht der Frage. Da waren so viele Antworten auf Fragen, die ich nie gestellt hatte. Und vielleicht war es zu spät, jetzt damit anzufangen. Vielleicht wäre es immer zu früh gewesen, bis es dann zu spät gewesen war. Vielleicht würde er mich aus dem Bett stoßen, mich rauswerfen und nie wieder ansehen. Und wahrscheinlich musste ich mit dem Risiko leben. »Warum hast du ihn nicht abgeholt?«, flüsterte ich. Ich hatte immer mit dem Risiko gelebt. Innerlich zählte ich seine Atemzüge und sog die Wärme in mich auf, die er von sich gab, unterdrückte den Impuls eine seiner feuchten Strähnen aus seiner Stirn zu streichen. In seiner Mimik tanzten Schatten. »Mokuba wird seine Gründe haben, jetzt dort zu sein.« Nicht, dass ich auch nur einen verstand. Vielleicht war es für ihn so etwas wie ein Ort voller Vertrauen? Eine Erinnerung an seine Kindheit? Hatte Kaiba jemals davon gesprochen? Waren seine Erinnerungen an die Zeit gut oder eher schlecht? Wie war es Mokuba dort eigentlich ergangen? Und warum berichteten Zeitungen immer nur über Schwachsinn, wie Kaibas Lieblingsfarbe und wie toll er mit Technikzeugs war – und ließen das wirklich Wichtige einfach unbeachtet? »Es ist das Waisenhaus, in dem ihr aufgewachsen seid, oder?« Ich sah, wie seine Kiefer aufeinander mahlten und wusste, er würde nicht antworten. Die Lösung war zu offensichtlich. Kaiba antwortete nicht auf halb-rhetorische Fragen. »Du redest nie drüber«, fuhr ich leise fort. »Deswegen –« »Es gibt darüber nichts zu reden.« »Okay«, murmelte ich. »Ich dachte nur –« »Denk nicht zu viel, Wheeler.« Ich verdrehte die Augen. »Ich dachte nur, dass du ihn sofort abholen würdest. Vorhin warst du kurz davor dich in irgendwelche virtuellen Dingsdas zu hacken und jetzt, wo du weißt, wo er ist –« »Halt die Klappe, Wheeler. Ich gehe dort nicht hin. Und jetzt schlaf.« Er zog demonstrativ die Decke höher und ich hob die Augenbrauen. Was war das für eine schwachsinnige – und dann bröselte etwas von der fetten Mauer Unverständnis ab. Vielleicht ging es gar nicht um Mokubas Kindheit. Vielleicht war Mokuba nicht dorthin geflüchtet, weil er sich dort so wohl fühlte. »Aber –« »Ich habe bereits gesagt, dass Mokuba seine Gründe hat. Und ich respektiere sie. Für heute.« Ich wünschte mir, es würde sich nicht so sehr nach einer Warnung anhören. Mit einem gedämpften Seufzer presste ich die Augen zu und tat so, als stünde uns morgen keine Explosion bevor.   Von außen betrachtet wirkte Seto Kaiba stets beherrscht, als schwebte er über uns allen und würde niederen Instinkten nicht erlegen. Oder gar Gefühlen. Wenn man ihn genauer betrachtete und hinter die Maske schaute, die er jeden Tag der Welt präsentierte, dann bemerkte man nach und nach, dass es reine Show war. Wir saßen am Tisch, der für gefühlt vier Menschen mehr gedeckt war, als hierhockten. Ich biss in mein Nutella-Brot, während Kaiba in eine Zeitung starrte. Zu siebenundachtzig Prozent war ich mir sicher, dass er sie eigentlich gar nicht las, sondern sie sich nur vors Gesicht hielt, um meinen Smalltalk nicht frontal zu erleiden. Natürlich hielt mich das nicht ab. Die Stille war schlimmer als Kaibas höhnische Kommentare. »Und was machst du heute noch so?«, fragte ich. Schweigen, er blätterte die Seite um und ich verdrehte die Augen, rutschte auf dem Stuhl hin und her. »Arbeiten.« »Wie läuft das jetzt eigentlich mit dem Turnier und so?« Er machte ein Geräusch, was ich als »gut« interpretierte. »Wie geht’s dem Team in den Animation Studios?« Er zuckte die Schultern und ich unterdrückte den Impuls, ihm die Papiere aus den Händen zu reißen und ihn anzubrüllen, was wir jetzt tun wollten. Ob er den Sturm tatsächlich ignorieren würde oder wenigstens den Kopf einzog. Aber Kaiba würde das nie tun. »Wie geht es Sarah?« Er schaute über die Zeitung hinweg. »Du weißt, wo ihr Büro ist, Wheeler. Wenn dir so viel daran liegt, frag sie selbst. Ich engagiere mich nicht in Smalltalk.« Von außen betrachtet wirkte Seto Kaiba stets beherrscht, als trampelte er ohne eine Gefühlsregung über die Träume anderer hinweg, um seine eigenen Ziele zu verwirklichen. »Ich versuche nur, dich –« Er rieb sich die Nasenwurzel, warf mir einen Blick zu und vergrub sich wieder in den Artikeln. Er wusste es. Mit einem Seufzen betrachtete ich mein Brot. Ablenkung brachte auch nichts. Früher oder später würde der Sturm über uns hereinbrechen. Vielleicht war es besser, sich darauf vorzubereiten. »Warum glaubst du ist Mokuba ausgerechnet dorthin?«, murmelte ich. Kaiba interessierte sich nicht für andere, für die Ziele – wenn es nicht ihm selbst diente – oder die Sorgen anderer Menschen. Zumindest ließ er das die Öffentlichkeit glauben. Das Problem war, wenn es um die Träume seines Bruders ging. »Ich weiß es nicht.« Irritiert sah ich auf. Diesen Satz aus seinem Mund. Ich hob die Augenbrauen und öffnete den Mund, schluckte aber die erstbeste Bemerkung hinunter, setzte anders an. »Du musst doch irgendeine Vermutung haben, irgendwas –« »Nein«, behauptete er und stierte wieder in die Zeitung und ich nippte am frisch gepressten Orangensaft. Wenn man genauer darauf achtete, war Kaiba ein mieser Lügner. »Warum bist du eigentlich nicht –« »Wheeler«, knurrte er und es klang nach einem Sturm, aber dann hörten wir, wie jemand die Tür aufschob und Kaibas blitzende Augen drehten sich dorthin. Im ersten Moment wusste ich nicht, ob ich Mokuba schütteln oder fest in die Arme nehmen sollte, ob ich ihn anschreien oder vor Erleichterung lachen, ob ich glücklich oder traurig sein sollte. Er stand da, der Blick auf seine Schuhe gerichtet. Seine Locken standen vom Kopf ab, als wäre er aus dem Bett gefallen und seine Augenlider wirkten schwer. Ich entschied mich für eine Mischung und Mokuba verstummte, als ich ihn an mich drückte, während ich ihm drohte, ihn büßen zu lassen, uns so Sorgen zuzumuten. Kaiba beobachtete uns. Ich spürte seinen Blick meinen Hinterkopf verbrennen, als ich Mokuba umarmte und er die Umarmung zögerlich erwiderte. Nach einigen Augenblicken hörte ich, wie Papier raschelte, wandte mich um und sah, dass er die Zeitung zuklappte, seine Arme vor der Brust verschränkt. Mokuba löste sich aus meinen und stand da. »Hallo«, murmelte er. Als hätte ihm jemand befohlen, barfuß über Glasscherben zu gehen. Kaiba schwieg, zog seine Brauen zusammen und betrachtete seinen kleinen Bruder. In meinen Gedanken war Mokuba der kleine Junge, der um Kaibas Beine herumwedelte. Sein treuester Fan und engster Vertrauter. Niemand brachte die beiden auseinander. »Ich –«, begann Mokuba leise und Kaiba erhob sich. Ich war ein Zuschauer. Wie bei einem Unfall, bei dem man nicht hinschauen, aber auch nicht wegsehen konnte. Ich sah es in Zeitlupe geschehen und öffnete den Mund, aber Kaiba kam mir zuvor. »Du hast Hausarrest.« »Aber –« Kaibas Blick schweifte an Mokuba vorbei, als hätte er alle Aufmerksamkeit aufgebraucht für heute – oder auf unbestimmte Zeit – und er faltete die Zeitung und ging. Ich war Zuschauer. Ich wollte ihn am Ärmel festhalten und schütteln, was das alles sollte, aber mir fielen nicht einmal die richtigen Fragen ein. »Schön«, schnaufte Mokuba und starrte aus dem Fenster. Seine Schultern zitterten. »Als ob du den mitbekommen würdest«, schrie er ihm nach und das Knacksen in seiner Stimme zerschnitt etwas in meiner Brust. Es kam keine Antwort, keine Regung. Alles blieb still. Als stünden wir im Auge des Sturms. Niemand brachte die beiden auseinander. »Mokuba«, flüsterte ich und streckte meine Finger nach ihm aus. Er wirkte plötzlich zu zerbrechlich, als müsste ich Angst haben, er würde bei einer falschen Berührung auseinanderfallen. Aber Kaiba schaffte es ganz von selbst. »Das wird schon wieder. Hörst du? Er ist irgendwie nur sauer? Weil er sich Sorgen gemacht hat. Keine Ahnung.« Mokuba Strähnen fielen in sein Gesicht, er rührte sich nicht, aber widersprach auch nicht. Dabei konnte ich die Lüge auf meiner Zunge schmecken. Da war so viel mehr, was ich nicht sah, aber im Blickwinkel erahnte.   »Vielleicht solltest du es akzeptieren«, sagte Thea über das Magazin hinweg, das eine Frau in Tanzklamotten zeigte. »Jeder hat ein Recht auf Privatsphäre. Vor allem, wenn es um so etwas Delikates geht.« Niemand widersprach ihr, aber ich verzog das Gesicht. Wir saßen in meinem Zimmer. Yugi blätterte in einem Manga und Tristan schaute ab und an von seinem Gameboy auf und warf Serenity Blicke zu, die ich nicht guthieß. Ich schlug meine Hand gegen seinen Hinterkopf und er stieß mit seiner Faust gegen meinen Arm. Mit verengten Augen stierte ich unbeeindruckt zurück, dann senkte ich meine Schultern und atmete lang aus.   »Aber ihr hättet die beiden sehen müssen«, murmelte ich und ließ mich neben Yugi aufs Bett fallen. »Und ich wusste nicht einmal, wie das Waisenhaus hieß, wo sie aufgewachsen sind. Die Zeitungen schreiben doch jeden Scheiß über Kaiba. Warum weiß man so etwas nicht?« »Datenschutz?«, warf Tristan mit einem Schulterzucken ein, ehe sein Blick wieder zu Serenity wanderte und ich ihn am Kragen packen und ihm einen angemessenen Abstand von meiner Schwester vorführen wollte. »Aber haben damals nicht Zeitungen berichtet, als er Gozaburo Kaiba im Schach geschlagen hatte?«, überlegte Yugi laut und ich ließ von Tris ab. »Vielleicht findest du so etwas heraus.« Ich riss meine Augen auf und warf mich dann halb auf Yugi, wuschelte durch sein Haar, was er mit einem »Nicht, meine Frisur« quittierte und dann sprang ich vom Bett. »Sehr gut! Los geht’s!«, rief ich und streckte meine Faust in die Luft, spürte die Blicke meiner Freunde auf mir. Langsam ließ ich meine Hand sinken und kratzte mich am Hinterkopf, wandte mich zu ihnen um. »Äh – und wo finde ich so alte Zeitungen und so?« Thea verdrehte die Augen, Tris schnaubte, Yugi lächelte und Serenity kicherte. Ich zuckte die Schultern und grinste schief.   Für mich zählte nicht zuletzt der Weg, wenn ich das Ziel schon nicht schaffte. Und manchmal konnte mich das Ziel mal, wenn es zu viel verlangte. Für Kaiba machte ich eine Ausnahme. »Ich glaube echt, man findet alles dort. Alles!«, rief ich entzückt, blickte voller Begeisterung die Regale entlang, streifte durch die Gänge und öffnete den Mund, aber Tris klopfte mir auf meinen Kopf und ich verstummte. Die Bibliothekarin betrachtete mich amüsiert. »Man könnte fast denken, du wärst noch nie in einer Bücherei gewesen«, seufzte er und ich schnaubte. »Als ob du hier schon so oft warst, Alter.« »Ich war hier öfters als du.« »Wer’s glaubt.« »Ich habe sogar einen Büchereiausweis.« »Erzähl doch keinen Scheiß!«, erwiderte ich ungläubig und boxte gegen seine Schulter. Tris stieß mich zurück, ich stolperte einen Schritt nach vorne, lachte und von irgendeiner Ecke kam ein lautes »Pscht!«. Thea verdrehte die Augen und setzte sich an einen der PCs zwischen den vollgestopften Bücherregalen. Yugi ging zu der Frau hinter dem Schreibtisch, die ihre Brille auf der Nase zurechtrückte, während er mit ihr wisperte. »Was machst du?«, fragte ich und sah Thea über die Schulter. Sie scrollte weiter, notierte irgendwelche Buchstaben und Zahlen auf einem Zettel, die hier überall auf den Tischen herumlagen. Für mich ergaben sie keinen Sinn. »Das wirst du gleich sehen.« Sie lächelte, warf mir einen selbstzufriedenen Blick zu, erhob sich und ließ mich stehen. Ich sah, wie sie mit der Bibliothekarin sprach und ihr diesen Zettel übergab. Die Frau nickte und verschwand durch eine Tür. Dann wandte sich Thea Yugi zu, sie unterhielten sich. Sie lehnte sich leicht an ihn. Wahrscheinlich bemerkten die beiden es nicht einmal. Sie drückte seine Hand, er lächelte verlegen und erwiderte es. So standen sie Seite an Seite, Hand in Hand und warteten auf die Bibliothekarin. Yugi warf Thea immer wieder von der Seite Blicke zu, als gäbe es hier nichts Anderes zu bewundern. Als wäre sie die einzige Person. Und als sie es bemerkte, strahlte sie ihn an. In meinem Bauch zog sich etwas zusammen. »Hey, Joey. Alles klar?«, wisperte Tris und betrachtete mich, als suchte er etwas in meinem Gesicht. »Jopp«, erwiderte ich und wandte von den beiden ab. Mein Blick fiel auf die Frau, die endlich wieder zurückkam. »Wow, guck mal. Was bringt die denn alles?« Die Bibliothekarin trug etliche Zeitungen und Zeitschriften, bedeutete uns, ihr zu folgen und führte uns in einen Raum mit Tischen und Stühlen und Sofas. In der Ecke standen ein Kaffeeautomat und eine Pflanze. Am Fenster liefen Passanten vorbei, telefonierten oder starrten stur auf den Boden und bemerkten uns nicht. Mein Blick fiel auf die Zeitungen, die die Bibliothekarin auf dem Tisch ausbreitete. »Bitte, nehmen Sie sich Zeit. Ich bin nebenan, falls Sie noch etwas benötigen«, sagte sie und lächelte. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, blinzelte ich. Mein Blick huschte von einem Bild zum nächsten, von einem Titel zum anderen. Tris ließ sich mit einer x-beliebigen Ausgabe auf dem Sofa nieder, Thea zog sich einen Stuhl heran und durchforstete die Zeitungen nach Jahr und Yugi legte seine Hand auf meine Schulter. Ich zuckte zusammen. »Na, dann«, meinte er und lächelte mich von unten an, »bist du bereit?«   Ich war kein Geschäftsmann, Erfolgsmensch oder Genie. Kaiba war da anders. »Seto Kaiba, vierzehn, gründet eigene Firma«, las Thea vor und strich eine Zeitung glatt. Sie legte den Kopf schief. »Nach zähen Verhandlungen mit dem Amtsgericht, wurde Seto Kaiba eine Sondererlaubnis gestattet. Damit war es Seto Kaiba, vierzehn, möglich, sich bevormunden zu lassen und seine eigene Firma zu gründen.« »Achtjähriges Schachwunder schlägt langjährigen Champion«, las Yugi leise vor und Tris pfiff durch die Zähne. »Seto Kaiba, elf Jahre, kann bereits seinen ersten Appstore-Hit verbuchen. Sein Spiel wurde bereits mehr als eine Millionen Mal heruntergeladen. Alter, was für ein –« Tristan fehlten die Worte. Mir auch. »Das – das ist Kaiba?«, fragte ich und klang schockiert. Thea schmunzelte. »Unglaublich, wie er von dem«, ihr Zeigefinger berührte das Zeitungspapier, das einen kleinen Jungen mit einem zaghaften Lächeln zeigte, »zu dem wurde, oder?« Sie zog die andere Zeitung heran und deutete auf Kaiba, wie er mit sechzehn finster in die Kamera funkelte und einen Kommentar verweigerte. Vor meinem inneren Auge zogen diese Bilder vorbei, wie Ausschnitte. Kaiba als kleiner Junge mit Mokuba an der Hand. Er lächelte, als könnte niemand ihnen etwas antun. Als könnte sie niemand trennen. Als wäre alles gut, solange sie zusammenblieben. Kaiba, dessen Füße nicht einmal den Boden berührten, als er diesen übergewichtigen Geschäftsmann besiegte. Das Lächeln, das immer mehr verblasste. »Moment, das ist er, oder?«, rief ich und blätterte eine Seite zurück. »Das ist Gozaburo Kaiba!« Wir rückten zusammen, unsere Nasenspitzen fast auf dem Bild, das einen Mann mittleren Alters zeigte, mit streng gekürztem Haar und Schnauzer, einem roten Anzug und einem Blick, der vom Unheil der Welt erzählte. »So ein unsympathischer Bastard«, murmelte ich. »Joey«, rügte Thea. »Oh, bitte. Du hast dasselbe gedacht.« Sie seufzte, widersprach aber nicht. Kaiba, der neben Gozaburo stand und in seiner Präsenz fast ertrank. Da war so eine Ausstrahlung, die von letzterem ausging, die mich den Mund verziehen ließ. Für ihn zählte der Gewinn und nicht der Einsatz, also das Ziel und nicht der Weg. »Was haben die aus diesem Jungen gemacht?«, murmelte Tris und fuhr sich durchs Haar. Unsere Blicke schweiften über die Zeitungsartikel, über das achtjährige, das neunjährige, das zehnjährige Wunderkind. Wie sich seine Haltung änderte, wie seine Augen immer weniger an Kind erinnerten. Zurück zu dem elfjährigen, zwölfjährigen und dreizehnjährigen Überflieger, der sich seinen Weg in die Geschäftswelt erzwang. Ich war Zuschauer. Als wuchs er gerade vor mir heran, wie im Zeitraffer. Weiter zu dem vierzehnjährigen, fünfzehnjährigen, sechzehnjährigen Unternehmer. Es gab nichts, womit ich es hätte aufhalten können. Seto, der kleine Junge, verschwamm vor meinem Blick und zurück blieb nur Kaiba, der kalkulierende Geschäftsmann. Und manchmal begriff man zu spät, was der Weg zum Ziel kostete. Wer tat einem kleinen Jungen schon so etwas an? Kapitel 58: ... bin auf dem Weg ------------------------------- __________________________________________   Ein Weg entsteht, wenn man ihn geht. Aus China   __________________________________________           Mein Einfluss reichte von meinen Freunden über meine Familie zu irgendwelchen Fremden, die glaubten mich zu kennen – oder wohl eher umgekehrt. Während Kaiba wusste, wie er Menschen nutzen musste, um Geschäfte abzuschließen, stolperte ich meistens von einer verpassten Chance zur nächsten, vergaß Klassenarbeitstermine und Hausaufgaben. Obwohl ich zwischenmenschlich gut gewappnet war, konnte ich mir Menschen nicht zu eigen machen. Kaiba blieb ein manipulativer Arsch. Einer, der wusste, was er tun musste, um andere ins Unglück zu stürzen. Sich selbst eingeschlossen.   »Ich liebe das digitale Zeitalter«, murmelte ich und beugte mich zu Thea, die alle möglichen Zeitschriften einscannte, online weitere Artikel fand und mir per Email sendete. »Nur solange, bis sie etwas über dich herauskramen und veröffentlichen und es millionenfach geteilt wird, während du einen Mittagsschlaf hältst«, hielt Tris dagegen. Ich verdrehte die Augen. Tristan musste es immer gleich übertreiben. »Das Problem ist«, begann Thea, »durch die Artikel wirst du einiges an Geschehnissen und Zusammenhängen herausfinden können.« In meinen Ohren hörte sich das super an. Genau das wollte ich doch. Die harten Fakten sozusagen und dann Kaiba damit in seinen arroganten Arsch treten und Mokuba und ihn versöhnen. Wer so viel miteinander erlebt hatte, konnte sich nicht so einfach ignorieren. Oder? Familie blieb immer Familie. Bei dem Gedanken verzog ich den Mund. »Ja, und?«, sagte ich, als sie nicht weitersprach, doch ihre Mimik verriet, dass ihr etwas nicht gefiel. Das war der Blick, mit dem sie mich anfangs bedacht hatte – aber inzwischen nicht mehr, fiel mir gerade auf. Es war seltsam. Seit wann hatte sich das eigentlich geändert? »Du wirst so nichts über Kaibas Perspektive erfahren.« »Was? Wieso? Wir haben da doch eine Menge Zeug über ihn.« »Ja, über ihn.« Sie betrachtete mich und verdrehte die Augen. »Ist doch offensichtlich. Weil er in keinem der Artikel zu Wort kommt. Das sind alles Spekulationen irgendwelcher Fremder, die ihn beobachtet haben und kein einziges Gespräch mit ihm geführt haben. Zumindest nicht, bis er sechzehn war. Da gibt es ein paar Interviews. Aber die drehen sich alle um rein Geschäftliches. Private Fragen ignoriert er oder sie kommen erst gar nicht vor.« Thea war vieles. Sie war oft streitlustig und unnachgiebig, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Sie war aber auch clever und wenn es um Freunde ging, dann tat sie so viel für sie, dass es mir manchmal Kopfschmerzen bereitete. Ich verzieh ihr dafür sogar ihren oberlehrerhaften Ton. Meine Finger strichen über die Zeitungsartikel, die Bilder und Buchstaben auf dem Tisch. Ich seufzte, als mein Blick von Thea, die noch in den Scanner Artikel einlegte und irgendetwas am PC tippte, zu Tris schweifte, der mit den Schultern zuckte, und zu Yugi, der seine Stirn in Falten legte, blieb mein Blick an einer Aufnahme hängen. Im Vordergrund standen Gozaburo und Seto Kaiba, letzterer noch ein Kind, hinter ihnen warteten Anzugträger. Eine blonde Frau mit rotem Businesskostüm und einem Hut hielt Mokubas Hand neben unscheinbaren Männern. »Natürlich!« Ich klatschte meine Hand gegen die Stirn. »Ich habe die Idee!« »Du sprichst mit Kaiba?«, schlug Yugi vor. Ich warf ihm einen Blick zu. »Quatsch«, winkte ich mit der Hand ab. Wie kam er denn auf die irrwitzige Idee? Als nächstes würde ich mit meiner Mutter und meinem Vater in den Zoo gehen und danach ein Picknick machen. »Mit Kaiba darüber reden? Als würde das gutgehen, nein«, fuhr ich fort und sah innerlich schon, wie er mich aus seinem Büro oder Haus warf, mir Beleidigungen nachschmiss und Roland anwies, mich niemals mehr auf hundert Meter nähern zu lassen, »ich werde jemand anderen fragen. Warum bin ich nicht schon früher darauf gekommen?« Mein Plan war einfach genial. Ich war auf dem richtigen Weg. Ich würde ihn kennen und mich würde nichts mehr umhauen. Und dann würden sie sich versöhnen und alles wäre so, wie es sein sollte. Mit einem zufriedenen Grinsen, packte ich einige Kopien in meinen Rucksack und schob ein Bild von einem kleinen Jungen mit braunem Haar und bemerkenswert blauen Augen in meine Hosentasche.   Am liebsten wäre ich sofort in die Firma gerannt, aber nachdem mich Serenity wiederholt anschrieb und es schon nach neun Uhr abends war, verabschiedete ich mich von den anderen und machte mich auf den Weg nach – dort, wo ich wohnte. »Ich bin wieder da«, rief ich, als ich meine Jacke von den Schultern zog, meine Schuhe in den Eingang stellte und dann durch den Flur trottete. »Wo warst du so lange?« Sie stand plötzlich in der Tür zum Wohnzimmer und ich atmete tief durch, um ihr nicht ins Gesicht zu brüllen, dass es sie einen Scheiß anging. Ich war kein Kind mehr. Nicht, dass es sie da gekümmert hätte. »Unterwegs.« Die Augenbraue meiner Mutter zucke, aber als sie antwortete klang ihre Stimme ganz ruhig. »Es gibt noch etwas zu essen im Kühlschrank. Du kannst es dir aufwärmen.« »Kein Hunger«, sagte ich, stieg die Treppe hoch und ließ sie stehen.   Es war einfach. Es war leichter so zu tun, als wäre es mir egal. Es war wichtig, dass meine Geschwister glücklich waren, dass ich irgendwo schlafen konnte, dass ich Essen im Kühlschrank hatte und dass ich sogar einen Ort hatte, an den ich mich zurückziehen konnte. Das war schon Luxus. Es war einfach, so zu tun, als bräuchte ich nicht mehr. Es gab wichtigere Dinge.   »Und du willst mit ihr über Seto Kaibas Kindheit reden? Glaubst du, sie weiß darüber Bescheid?« Natürlich glaubte ich das. Aber es war klar, dass Serenity eigentlich etwas Anderes fragte. Glaubst du, es ist eine gute Idee? »Ja«, erwiderte ich. Wir lagen ein paar Stunden später zu dritt in meinem Bett. Jacob atmete neben mir regelmäßig ein und aus. Es war ein beruhigender Laut in der Stille des Zimmers und es brachte mich zum Grinsen, wie er da so quer über der Matratze lag, halb in die Decke eingerollt, mit seinem Kopf auf meinem Bauch, und schlief. Serenitys Schläfe lehnte an meiner Schulter, während sie leise ihre Bedenken aufzählte. Es würde ihr selbst auch nicht gefallen, würde jemand – ohne sie zu fragen – in ihrem Privatleben herumstöbern. Warum er nicht einfach offen mit Seto Kaiba darüber reden wollte. Ob es nicht klüger wäre, Mokuba und Kaiba selbst ihre Angelegenheiten zu klären. »Joey, ich weiß, du meinst es nur gut –« Das Aber hörte ich schon, bevor sie es aussprach. »Aber wie würdest du dich fühlen, wenn es umgekehrt wäre?« »Ich habe keine Ahnung«, murmelte ich. »Und genau deswegen, muss ich mehr herausfinden. Verstehst du?« Sie schwieg. »Hör zu«, flüsterte ich. »Kaiba hat eine Menge durchgemacht. Und er hat eine Menge für mich gemacht, als ich selbst richtig am Arsch gewesen war.« Es gab so viel, dass sie nicht verstehen würde. So viele Brüche und Sackgassen, die sie nicht einmal kannte, die ich aber mitgemacht hatte und bei denen Kaiba dabei gewesen war. Im Nachhinein schuldete ich es ihm, jetzt nicht den Schwanz einzuziehen. »Vielleicht wird er es mir richtig übelnehmen«, gab ich zu, »vielleicht bekommt er alles in den falschen Hals, wäre nicht das erste Mal. Aber ich habe das Gefühl, wenn ich nichts tue, zerbricht alles. Verstehst du?« »Ja«, murmelte sie, »ja, das verstehe ich leider.«   Es war schwer. Es war schwer so zu tun, als wäre es mir egal. Es war wichtig, dass unser Alltag lief, dass ich unabhängig von all dem Rummel dem Unterricht folgte, dass ich am Morgen aus dem Bett kam, dass pünktlich in die Schule trottete und dass ich sogar meine Hausaufgaben hatte. Es war schwer, so zu tun, als wäre mir das Getuschel egal. Obwohl es wichtigere Dinge gab.   Montagsmorgens schlenderte ich neben Tris, Yugi und Thea am Eingangstor vorbei über den Schulhof. Yugi und Thea redeten irgendetwas über Praktika und Noten. Tris schritt schweigend neben mir her. »Okay«, begann er, »was ist los?« »Nichts.« Nichts war nie nichts. Es war nur die Kurzform für »Jetzt nicht« oder »Nicht hier« oder »Nicht mit dir«. Tris wusste das. Er hatte wahrscheinlich mehr »Nichts« von mir ins Gesicht geklatscht bekommen, als sonst jemand. Und trotzdem hielt es ihn nie auf. Eine Gruppe Mitschüler zog an uns vorbei, warf mir Blicke zu und begann zu kichern. Ich zog meine Brauen zusammen. »Hört das nie auf?«, raunte ich genervt und fuhr mir durchs Haar. »Das Opfer des Ruhms«, behauptete Tris ironisch, »jeder zerreißt sich das Maul über einen.« »Ja«, murrte ich, »echt super. Als hätte ich sonst keine Probleme.« Tris warf mir diesen Blick zu, der mich seufzen ließ. »Es ist nur –« Das Motorengeräusch und dann seine Stimme ließ mich zurücksehen. Die Limousine hielt wie gewöhnlich ein paar Meter vom Eingang zur Schule entfernt. Es fehlte nur der rote Teppich. »Mokuba, das ist nicht akzeptabel.« Mokuba hatte die Autotür aufgerissen, bevor Roland ausgestiegen war und stampfte davon, ignorierte Kaibas Kommentar vollkommen. Letzterer stieg mit einer Mimik aus, durch die nichts von seinen Gedanken durchschimmerte. Er sah aus, als wäre er auf dem Weg zu einem Geschäftsmeeting. Wahrscheinlich war er das – die Schule war nur ein Zwischenhalt. »Was ist denn da los?«, raunte Tristan. Ich verlangsamte meine Schritte. Die Szene war so falsch auf so vielen Ebenen, dass ich nicht antwortete. Mokuba ignorierte seinen großen Bruder nicht. Sie stritten nicht. Mokuba kannte nichts Anderes als Bewunderung und Zuneigung für seinen Bruder. Der allmächtige Seto Kaiba mit einem kleinen, quasselnden Jungen, der die Hände in die Luft reckte und seine Meinung in die Welt rief. Das Team, das jeden Schicksalsschlag in eine Stufe auf der Leiter nach oben verwandelte. Das berühmte Geschwisterpaar, das gemeinsam auf dem Weg zu Großem war. Immer nach oben strebte, die Öffentlichkeit erstaunte und niemals mit weniger zufrieden waren. Das waren die beiden. Mokuba stürmte an uns vorbei, rief uns ein »Hi, Leute« zu und reihte sich zu seinen Freunden. Ich sah ihm nach, mein Magen sank in meine Beine, dann bemerkte ich, dass ich mitten auf dem Schulhof stehen geblieben war, Tris neben mir. Yugi und Thea ein paar Schritte weiter. Schülergruppen trotteten an uns vorbei. Viele starrten mich an, einige warfen mir Blicke zu, von denen sie wohl glaubten, sie wären unauffällig. Keine Ahnung, was sie hofften zu sehen. Es war mir egal. Es gab viel wichtigere Dinge. Thea seufzte, sagte etwas zu Yugi und Tris wollte mich weiterziehen. Was, wenn Kaiba es dieses Mal zu weit getrieben hatte? Was, wenn Mokuba ihm irgendwann nicht mehr verzieh? Wenn das letzte Mal schon das letzte Mal gewesen war? Wie oft musste ein Mensch einen enttäuschen, bis man es aufgab? War es eine große Explosion? Oder waren es die vielen, kleinen Versäumnisse, die eine Beziehung so aushöhlten, bis nichts mehr von ihr blieb – außer der Erinnerung? Ich blieb stehen, trotz Tristans Hand, die sich um meinen Arm legte, trotz seiner Worte, wir würden angestarrt werden. Es war unwichtig, wie viele glaubten, mich anzusehen. Sie wussten nichts. Sie sahen nur, was sie sehen wollten. Sie kapierten nicht, was hier abging. Dass nicht ich derjenige war, der in diesem Augenblick wichtig war. Seto Kaiba sah auf – mitten in der Bewegung. Mir direkt in die Augen. Zwischen uns nur ein paar Meter Schulhof und ein emotionaler Sturm, der an eine Katastrophe erinnerte. Ich wartete, bis er aufgeschlossen hatte. Seine Finger um den Griff des Aktenkoffers geschlungen, seine Augen irgendwo auf das Gebäude gerichtet, als würde er mich nicht mehr sehen. Aber das war völlig falsch. »Hey, Kaiba«, flüsterte ich. Er neigte seinen Kopf zur Begrüßung. »Wheeler.« Ich wollte ihn fragen, wie es ihm ging. Was das alles mit Mokuba zu bedeuten, was er ihm schon wieder gesagt hatte und was angeblich nicht akzeptabel war. Ich wollte mein Gesicht in seinen Nacken vergraben und einatmen und ihm sagen, dass es schon wieder werden würde. Ich wollte mich an ihn lehnen, seine Hand berühren und ihn an mich ziehen. Aber das war nicht der richtige Ort, nicht die richtige Zeit. Das hier war Kaiba, der Geschäftsmann. Nicht einmal die Schuluniform konnte einen irreführen. Wir waren auf dem Weg ins Schulgebäude, aber Kaiba war eigentlich ganz woanders. Er ging einen anderen Weg als der Rest von uns und in diesem Moment, als sein Blick Mokuba streifte, der einige Meter vor uns mit seinen Freunden lachte, da wurde mir bewusst, dass nicht einmal sein kleiner Bruder diesen Weg komplett mit ihm schreiten konnte. Vielleicht konnte das niemand.   Kaiba und ich sahen die Zeit in der Schule gleichermaßen als Verschwendung. Sicherlich aus völlig unterschiedlichen Gründen. Während Kaiba also auf seinem Laptop Sachen tippte, die bestimmt irgendwann unser Verständnis von Technik auf den Kopf stellen würden, schrieb ich Zettelchen mit Tris und Yugi, weil ich entweder dem Stoff nur bedingt folgen konnte oder wollte. Sollten wir nicht besser etwas lernen, was uns auf die Zukunft vorbereitete? Und nicht über irgendwelche Personen, die schon seit Jahrhunderten tot waren? Wofür brauchte ich Polynomgleichungen? Und was verdammt nochmal war das Plusquamperfekt? In der Zeit, in der ich hier hockte, hätte ich an einem Projekt für die KC arbeiten können. Dann verzog ich den Mund. Mutierte ich zu so etwas wie Kaibas Schatten? Einer, der immer nur an die KC dachte? In der Zeit, in der ich hier hockte, hätte ich auch einfach draußen chillen können. Oder mit Jacob zocken. Oder mit Tristan und Yugi. Oder allen. Oder ich hätte mehr über Kaiba herausfinden können. Und die Sache mit Mokuba lösen. Mit einem Seufzen ließ ich mein Kopf auf meine Arme sinken, die ich auf dem Tisch kreuzte, und starrte abwesend an die Tafel, wo unser Lehrer etwas von Konjunktiv anschrieb. Was zur Hölle war Konjunktiv II? Und wieso wusste ich nichts von dem ersten Konjunktiv? Ich riss meine Augen auf, als plötzlich ein Zettelchen – ordentlich, Kante auf Kante gefaltet – von seitlich hinten auf meinem Tisch landete. »Das ist klausurrelevant«, stand da in seiner gleichmäßigen Schrift, die sich leicht nach rechts neigte. Ich wandte mich halb nach hinten und wackelte mit meinen Brauen. »Lernst du mit mir?«, formte ich mit meinen Lippen. Kaiba verdrehte die Augen. Das war kein Nein. Ich drehte mich wieder nach vorne und grinste und begann mir irgendwelche Notizen zu machen. Es blieb Zeitverschwendung. Aber wir verschwendeten sie gemeinsam. Ich unterbrach mein Geschreibsel, als Tristan mir wieder einen Zettel auf meinen Block schob. »Von Spencer. Meint, er hätte eine Nachricht von einem alten Freund?« Es klang nach einer Frage und ich runzelte die Stirn. Mein Blick suchte den von Spencer, einem Typen, der mich null interessierte, der mein Leben überhaupt nicht berührte. Nur der Zufall, in derselben Klasse gelandet zu sein, verband uns, das war es. Er strich sich durch seine schwarzen Haarsträhnen und seine Lippen kräuselten sich und ich wusste schon, bevor ich das erste Wort las, dass es mir unter die Haut gehen würde – in jedem negativen Sinn. Ich entfaltete den unordentlich abgerissenen Zettel und las den Satz mehrmals, atmete tief durch und verengte meine Augen. Da war so eine Säure in meinen Adern, das Bedürfnis, aufzuspringen und ihm das Papier in seinen Hals zu stopfen. Tristan schaute mich von der Seite an, stieß mir mit dem Ellenbogen an den Arm. Ich schob ihm den Zettel so hin, dass er und Yugi ihn lesen konnten. Ich hörte, wie Tris die Luft einsog und mich dann musterte. Yugi seufzte und schüttelte den Kopf. »Wenn du noch nie eine Freundin hattest, woher weißt du dann, dass du auf Schwänze stehst?«, stand da. Das war so billig, dass ich fast darüber gelacht hätte. Fast. Und jetzt?, fragte Tristans Mimik. Lass dich nicht provozieren, mahnte Yugis. Sie hatten beide Recht. Ich zerknüllte den Zettel unbeeindruckt, beobachtete den Lehrer, der sich einen Moment später wieder an die Tafel wandte, und warf den Papierball Spencer an den Kopf. Er schnellte herum. Ich lehnte mich zurück und grinste. Sein Gesicht färbte sich rot und ich wusste, ich hatte diese Runde gewonnen.   »So ein Idiot«, empörte sich Thea in der Pause, nachdem Tristan und Yugi ihr von dem Vorfall berichtet hatten. Ich zuckte die Schultern und öffnete meine Brotbox. »Was soll’s.« Meine Mutter bestand darauf, dass ich das Frühstück mit in die Schule nahm. Die ersten Male hatte ich es – nicht angerührt – einfach wieder in die Küche gestellt. Aber das war irgendwie Verschwendung. Doppelt, wenn man bedachte, dass ich mir stattdessen etwas Anderes zu essen kaufte. Also aß ich es. Nicht, dass ich ihr groß dankbar war. Dafür war sie mir noch etliche Schulbrote schuldig. Ich tauschte mit Tristan meinen Apfel gegen eine Birne – und fragte mich, ob er sich selbst sein Pausenbrot belegte. »Du hättest dem Lehrer davon berichten sollen«, beharrte Thea, aber ich winkte ab. Ich wollte wirklich nicht, dass irgendein Lehrer die Notwendigkeit sah, mit der Klasse darüber zu sprechen. »Das ist jetzt wirklich egal«, erwiderte ich. »Wir haben ganz andere Probleme, oder nicht?« Und als ich es ausgesprochen hatte, fragte ich mich, seit wann meine Probleme auch deren Probleme geworden waren. »Stimmt wohl«, murmelte Tris, »eins nach dem anderen.« Seit wann ich zugeben konnte, dass ich nicht alles alleine schaffte. »Hast du mit ihm jetzt mal gesprochen?«, fragte Thea. Seit wann wir gemeinsam in Bibliotheken und nach Hause und in die Schule und sonst wo hingingen. »Tolles Gespräch, freu ich mich schon drauf«, murmelte ich und stopfte mir das Salamibrötchen zwischen die Lippen, kaute und spülte alles mit dem Wasser herunter, das mir Serenity immer in den Rucksack steckte. Natürlich im Auftrag meiner Mutter. Keine Cola, als würde mich ausgerechnet Cola umbringen. »Hey, Kaiba. Wir haben in deiner Vergangenheit so herumgekramt und jetzt wollte ich dich einfach mal fragen, wie deine verkorkste Kindheit war, nachdem deine Eltern gestorben sind und –« Ich verschluckte mich fast. »Wie sind eigentlich seine Eltern gestorben?«, fragte ich. Sie schauten mich an, schwiegen. Ich sah, wie es in Theas Kopf rumorte, wie Tris seine Stirn in Falten legte und Yugi seinen Finger ans Kinn lehnte. Als wäre es selbstverständlich, dass ich mit meinen Fragen nicht alleine dastand. Wir diskutierten noch eine Weile mit zusammengesteckten Köpfen über die Zeitungsartikel, Pressefreiheit und Privatsphäre. Es fühlte sich gut an – trotz Theas Belehrungen und Tristans Nörgeleien und Yugis Schlichtungsversuchen – und ich vergaß fast, dass es noch andere Themen gab.   Nach Schulende warf ich meinen Block und Stift in den Rucksack und schlenderte zu Kaiba, der seinen Laptop in eine Tasche einpackte, als wäre es ein atmendes Geschöpf. »Ich muss in die KC«, sagte ich und lehnte mich gegen den Tisch, an dem er gewöhnlich saß und den Unterricht ignorierte. Kaibas Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, das mich an ein Krokodil erinnerte. Eines, das darauf wartete, sein Opfer ins Wasser zu zerren und zu verschlingen. »Das wäre mir neu.« Es hatte mich noch nie davon abgehalten, mein Ding durchzuziehen. »Wollte da noch was erledigen«, fuhr ich fort und beobachte nebenher, wie Yugi und Tristan mit einem Blick auf Kaiba und mich aus der Klassentür verschwanden. »Und das wäre?« »Ich will deine Firma nicht übernehmen, Geldsack, chill mal. Ich wollte nur hallo sagen. Smalltalk. Zeug, womit du dich nicht abgibst.« Einen Augenblick dachte ich, ich hätte es zu weit getrieben und er würde mich mit wehendem Mantel stehen lassen, einen fiesen Spruch auf den Lippen und meinen genialen Plan damit erst einmal in Luft auflösen. Nicht, dass es das erste Mal gewesen wäre. »Wenn du sie von ihrer Arbeit abhältst, lasse ich dich rauswerfen.« Nicht, dass das das erste Mal wäre. Mit einem Grinsen folgte ich ihm.   Wir warteten schräg vorm Schultor an der Limousine. Kaiba schritt hin und her, zog sein Handy aus der Hosentasche und tippte etwas. Es tütete. Niemand hob ab. Kaiba fluchte leise und schritt wieder hin und her. Nach einer Viertelstunde vibrierte mein Handy. Als ich die Nachricht gelesen hatte, musste ich schlucken. »Ähm«, begann ich und verlagerte mein Gewicht von meinem einen auf das andere Bein. »Mokuba muss noch etwas für eine Gruppenarbeit machen. Er kommt später alleine nach Hause.« Kaiba betrachtete mich, als wäre ich daran schuld, schnaubte, stieg hinten in das Auto ein und schlug die Tür zu. Ich seufzte, atmete tief durch und stieg auf der anderen Seite ein.   Der Weg zur KC war still. So eine Stille ohne Ruhe, in der ich am liebsten dummes Zeug gelabert hätte, weil ein spöttischer Kommentar von Kaiba immer noch besser war als dieses Schweigen. Mokubas Nachricht hing in der Limousine wie ein widerlicher Gestank. Kaiba runzelte seine Nase, während er in die Tasten des Laptops schlug und ich öffnete den Mund, aber schloss ihn wieder, weil mir einfach nichts einfallen wollte. Also starrte ich aus dem Fenster und zählte innerlich die vorbeirauschenden Baumstämme, bis wir vor zur Firma fuhren. Die Kaiba Corporation ragte so weit hinauf, dass es mir immer wieder schwindelig wurde, wenn ich nach oben blickte. Wahrscheinlich war genau das das Ziel von Kaibas Architekten gewesen. Es war noch frisch, ganz klar Frühling und lange kein Sommer, aber die Sonne schien und da oben zogen weiße Schäfchenwolken vor einem blauen Himmel. Am liebsten wäre ich draußen geblieben. Ich versuchte erst gar nicht, mir einzureden, das hätte etwas mit dem Wetter zu tun, als Roland in die Tiefgarage der KC fuhr. Der Weg in der KC war alles andere als still. Die Mitarbeiter grüßten mich oder nickten mir zumindest zu. Natürlich fiel meine Schuluniform zwischen den teuren Anzügen auf. Natürlich war ich jünger als die meisten hier. Und natürlich standen mir noch immer viele kritisch gegenüber. Aber das war alles okay. Es war, als wäre ich nach einem langen Urlaub endlich wieder zurückgekehrt. Und trotz Kaibas eisernem Schweigen konnte ich nicht anders, als mich wohl zu fühlen. »Bis später«, verabschiedete ich mich von ihm und trat aus dem Fahrstuhl. Kaiba nickte und die Türen schoben sich zu.   Ich klopfte an die Bürotür und sie zog sie mit einem Schwung auf, der mich mitriss. »Oh, Schätzchen, hallo! Es freut mich, dich zu sehen! Seto hatte schon gemeint, du hättest Sehnsucht nach mir.« Sie lachte mich an und ich grinste und trat ein. Sarahs Büro lag immer noch oder wieder im Chaos. Ganz anders als in Kaibas lagen hier Unmengen an unvollendeten Skizzen, Plakate beklebten jeden Zentimeter an der Wand zu, Flyer lagen zur Auswahl bereit und Designs zur Verpackung neuester Modelle stapelten sich auf ihrem Schreibtisch. »Dieses und das Design?«, fragte sie mich plötzlich und hob mir zwei Skizzen entgegen, die offensichtlich die neuen Starterpacks kleiden sollten. Ich öffnete den Mund und starrte. »Das sind die –« »Richtig.« »Darf ich die überhaupt schon sehen?« Sie zwinkerte mir zu und lachte. »Also welches Design?« »Rechts«, sagte ich und betrachtete die ineinander verschlungenen Buchstaben. Es hatte etwas von Graffiti, während die andere Skizze mich eher an eine schlichtere Computerschrift erinnerte. »Gut, du hast nichts gesehen«, sagte sie und ich schnaufte. Kaiba wäre sicherlich alles andere als begeistert, wüsste er, dass mich Sarah in eine aktuelle Produktion einweihte. Auf der anderen Seite hatte er mich angewiesen, sie nicht vom Arbeiten abzuhalten. Das war also das Gegenteil, oder? »Wie geht es dir, Joey? Hast du keine Hobbies und Freunde oder warum sitzt du hier bei einer alten Frau herum?«, fragte sie, während sie Papiere auf ihrem Schreibtisch ordnete. Es klang nicht harsch, sondern wie ein Witz unter alten Bekannten. »Quatsch, du bist nicht alt«, erwiderte ich grinsend. »Und ich habe Hobbies. Und Freunde!« »Gut. Nimm dir kein Vorbild an unserem Seto«, sagte sie, um mich dann mit Schalk im Blick zu mustern. Sie wusste, dass das hier mehr war, als nur ein Höflichkeitsbesuch. Ich sah es in ihren Augen. Wahrscheinlich war es falsch, sie zu fragen. Wenn nicht falsch, dann doch zumindest nicht richtig. Sie bot mir einen Kaffee an, den ich höflich ablehnte und sie erzählte ein wenig über die Animation Studios und den Gang der Dinge. In der KC herrschte immer Stress, immer irgendeine Deadline, die vor dem Team lag, immer wieder Zahlen, die es galt zu übertrumpfen mit dem nächsten Projekt. Es gab niemals Stillstand. Der Weg führte immer weiter, höher, am besten schneller. Vielleicht war es unterwegs gewesen, wo Kaiba Mokuba aus dem Blick verloren hatte. So konnte es nicht weitergehen. Aber wie sollte ich sie darauf ansprechen? Worte waren echt nicht so meins. »Bist du hier wegen der Sache mit Mokuba?«, fragte sie und ich sah sie mit großen Augen an. Die Lockerheit und das neckische Funkeln in ihren Augen verschwanden hinter einem Schleier aus Ernst. Ich nickte langsam und sie legte die Papiere zur Seite und nippte an ihrem Kaffee. »Was weißt du über die Gozaburo? Du hast ihn gekannt, oder?«, fragte ich leise und Sarahs Lächeln verschwand. »Ja, ich habe für ihn gearbeitet«, antwortete sie nüchtern und stellte die Tasse zurück auf den Tisch. »Es ist schon eine ganze Zeit lang her.« Ich wollte gar nicht wissen, was sie für ihn gearbeitet hatte. Ihr Blick verdunkelte sich, als erinnerte sie sich an Dinge, an die sie lange nicht mehr gedacht hatte. Und es gab Grenzen, die ich nicht überschreiten wollte. Aber ich musste wenigstens fragen. »Was war er für ein Mensch?« Sarahs Blick schweifte in die Ferne, aus dem Fenster, als zeigten sich ihr dort Bilder aus der Vergangenheit. Sie seufzte. »Kein einfacher Mensch«, antwortete sie und lehnte sich zurück. Ich runzelte die Stirn. »Er hat alles gefordert, was man ihm geben konnte. Er akzeptierte keinen Durchschnitt und er setzte alles zu seinem eigenen Vorteil ein.« Andere Worte für widerlicher Bastard. Ich rümpfte die Nase und Sarah klopfte mir auf die Schulter, lachte leise auf, was so gar nicht zu der Atmosphäre passen wollte. »Gozaburo Kaiba war kein böser Mensch, Joey. Er war ambitioniert und selbstbewusst. Aber Rücksichtslosigkeit und Arroganz sind die anderen Seiten der Medaille. Er war genau das, was Seto nicht gebraucht hat – und trotzdem bekam.« »Aber – warum –« Ich verstand es nicht. Es gab so viele Ungereimtheiten. Wenn es doch Gozaburos Ambition gewesen war, warum hatte Kaiba dann nicht nach dessen Tod die Firma einfach verlassen? Warum hatte er – im Gegenteil – die Firma übernommen? »Ich denke, du solltest ihn das selbst fragen, Schätzchen. Er mag es überhaupt nicht, wenn sich Leute über seine Kindheit unterhalten.« »Warum?« Sie lachte, aber dann wurde ihre Mimik ganz ernst. »Mmmh«, machte sie, »vielleicht weil er vergessen will, wie es einmal gewesen war. Wie es hätte sein können. Ich weiß es nicht.« Vielleicht war er nicht der einzige, dem es so ging. Ich runzelte meine Stirn, den Kopf zur Seite geneigt und schaute sie an, als hätte sie behauptet, Kaiba wäre kein arroganter, selbstgefälliger Arsch und würde an das Herz der Karten glauben. Sie erhob sich, trat zu einem der Aktenschränke und öffnete ihn. In der Innenseite klebte ein Foto. Ich trat hinter ihr heran, um es besser zu sehen. »Was denkst du, passiert mit einem Kind, dem alles abverlangt wird? Und das es nie gut genug machen kann?«, flüsterte sie und betrachtete das Foto, als wäre er ein süßes, liebevolles Kind gewesen mit zu viel Talent und Ehrgeiz, als dass es ihm gutgetan hätte. »Weißt du, um Seto zu verstehen, solltest du nicht fragen, wer er jetzt ist, sondern vor allem nach seinem Weg dorthin.« Ich erinnerte mich an das Bild, das sich in meiner Hosentasche befand und in mir umklammerte eine eiskalte Faust meinen Magen. »Ich weiß nicht, ob ich es kapiere«, murmelte ich und war mir ziemlich sicher, dass ich es nicht verstand. Warum trug er noch immer den Namen des Mannes, der ihn auf diesen Weg getrieben hatte? Warum war ihm diese verdammte Firma so wichtig? »Aber Mokuba hat ein paar Probleme, glaube ich. Ich weiß nicht genau, was los ist. Aber ich versuche –« Was versuchte ich hier eigentlich? Die Welt der Kaibas besser zu verstehen? Überhaupt etwas zu begreifen? Die beiden wieder dazuzubekommen, miteinander normal zu reden? Ich seufzte. »Ich weiß auch nicht«, schloss ich und rieb mir über die Augen. Sarah nickte, als wüsste sie genau, wovon ich sprach, als hätte sie es selbst durchgemacht. Und seltsamerweise glaubte ich ihr. Sie nahm einen Schluck ihres Kaffees und spielte mit ihren beringten Fingern am Rand der Tasse herum. »Wusstest du, dass man in der Regel erst jemanden adoptieren kann, wenn man 25 Jahre alt ist?« Ich runzelte die Stirn. Was hatte das jetzt mit alldem zu tun? Was hatte das mit Mokubas Problem zu tun? Und dann bröckelte das Unverständnis. Kaiba war erst siebzehn. Ich stammelte etwas von wegen, dass ich keine Ahnung davon hatte, wie das sein könnte und warum Kaiba und Mokuba dann nicht mehr im Heim lebten – oder bei jemand anderem. »Meinetwegen. Ich wohne mit bei ihnen. Es ist mein Zweitwohnsitz.« Ich riss meine Augen auf. »Aber – ich habe dich dort nie –« Warum hatte ich sie nie dort angetroffen? »So ein Zufall«, murmelte ich. »Zufall? Glaubst du das wirklich?« Außer natürlich Kaiba wollte nicht, dass ich sie dort traf. »Aber warum hat er mich hier dann arbeiten lassen? Mit dir? Und warum würde er nicht wollen, dass ich dich bei ihnen zu Hause sehe?« »Oh, das ist ganz einfach. Hier ist Seto der Chef. Er ist mein Vorgesetzter. Aber bei ihnen zu Hause bin ich ihre Pflegemutter. Seto trennt ganz sauber zwischen Geschäftlichem und Familiärem. Vielleicht glaubt er, dass das alle Menschen so halten?« Mein Kopf schwirrte. Kaiba und Mokuba hatten eine Pflegemutter? Sarah war ihre Pflegemutter? Und sie wohnte in der kaiba'schen Villa? Wie ein Geist? Wie hatte Kaiba es geschafft, uns dort voneinander fernzuhalten? Warum das alles? Und was hatte das alles mit Mokuba zu tun? Sarah riss mich mit einem Summen aus meinen Gedanken. »Umso erstaunlicher seid ihr beiden.« »Wer? Wir?« Ich hob die Augenbrauen und folgte ihrem Blick zum Aktenschrank, dann wieder zu ihr. Sarah lächelte. »Wahrscheinlich ist dir gar nicht bewusst, wie viele seiner Ideale und Grundsätze er für dich loslässt. Wie sehr du ihn beeinflusst.« Es war fast lustig, wie sehr man manchmal seinen Einfluss unterschätzte. Was war schon der Messwert? Wie viele Menschen? Wie lange? Oder wie sehr? Mein Einfluss reichte gerade von meinen Freunden zu meiner Familie. Und selbst das bedeutete kaum etwas. Kaiba konnte Millionen von Menschen erreichen, beeinflusste mit seinen Innovationen hunderttausende und mehr in ihrem Alltag. Mit seinem Geld und seinem Namen konnte er anderen den Weg weisen. Aber wer wies ihm den Weg? Wer beeinflusste ihn? Mein Blick fiel wieder auf das Foto an der Innenseite der Tür des Aktenschrankes, als plötzlich jemand an die Bürotür klopfte. Ich drehte langsam meinen Kopf, noch völlig in Gedanken versunken und kämpfte gegen die Verwirrung an. Mokuba trat ein. Als sein Blick auf mich fiel, formte sein Mund ein stummes »Oh« und ich hob meine Brauen. Seine Stoffhose war aufgerissen, sein Shirt voller Grasflecken, als hätte er sich auf einer Wiese gewälzt. Seine Arme waren voller blauer Flecke, seine Lippe aufgeplatzt. In seinem Haar hingen noch Grashalme und Dreck. »Erzählt es nicht Seto«, murmelte er und wich meinem Blick aus. Kapitel 59: … bin kein netter Mensch ------------------------------------   __________________________________________   Sei immer nett zu anderen. Wenn das nicht geht, sei schnell! © Frank Wisniewski   __________________________________________             Ich war ein netter Mensch. Zumindest zu neunzig Prozent meiner Mitmenschen. Die einzige Ausnahme waren Arschlöcher. Ironischerweise gab es davon zu viele auf der Welt. Ich hätte nur nicht gedacht, dass Kaiba irgendwann zu den zehn und den neunzig Prozent zählen würde. Gleichzeitig. »Mokuba, was ist passiert?« Sarah brachte die Worte zusammen, die in meinem Mund irgendwie auseinanderfielen, ohne Sinn zu ergeben. »Ich habe etwas erledigt.« Wahrscheinlich schaffte es nur ein Kaiba mit aufgeplatzter Lippe und aufgerissener Kleidung dreinzuschauen, als wäre er über solche Fragen erhaben. Aber anders als in den Augen seines Bruders flackerte etwas in Mokubas. Er wich meinem Blick aus. »Von wem wurdest du verprügelt?«, hakte Sarah nach und griff nach dem Telefon auf ihrem Schreibtisch. »Nein.« Mokuba hielt ihr Handgelenk fest. »Wenn du jemanden rufst, dann kriegt es Seto mit.« Ich seufzte und legte meine Hand auf seine Schulter. Er verzog das Gesicht und ich zuckte zurück. »Sorry«, murmelte ich. »Aber glaubst du nicht, er bekommt das eh mit? Du stehst gerade in seiner Firma.« »Ich bin hier aufgewachsen«, sagte er nur. Wie er es schaffte, mich von oben herab anzuschauen, obwohl er kleiner war als ich, kapierte ich nicht – aber ich fand es irgendwie beeindruckend. »Unter einer Bedingung.« Sarah schaute Mokuba über den Rand ihrer Brille an. »Du erzählst, was los ist.« Mokuba seufzte, dann schob er das Kinn vor und schaute sie an. »Schön. Ich sage es dir.« Sarah hob die Augenbrauen und legte den Hörer zurück in die Ladestation des Telefons. »Oh«, machte ich, als mir dämmerte, was Mokuba nicht sagte. »Ja, ich – geh‘ dann mal.« Er sah an mir vorbei und irgendwie verpasste es mir einen Stich. Ich hatte gedacht, er würde mir vertrauen. Dass er mit mir reden würde, wenn ihn etwas belastete. Das hatte er doch schon einmal, oder? Aber was hatte ich damals gemacht? Hatte ich überhaupt gehandelt? Oder war ich nicht viel zu sehr mit meinen eigenen dummen Problemen beschäftigt gewesen? Ich erhob mich langsam, spürte das Schweigen auf meinen Brustkorb drücken und schloss die Tür hinter mir.   Ich versuchte ein netter Mensch zu sein. Sicherlich war mir das schon verdammt oft nicht gelungen, so richtig nach hinten losgegangen und manchmal war ich selbst das Arschloch gewesen. Aber spätestens seit Yugi mein Kumpel war, bildete ich mir ein, dass ich meine Arschloch-Jahre hinter mir gelassen hatte. Dass mir gewisse Menschen vertrauen konnten. »Mokuba macht mir Sorgen«, brummte ich. Wir saßen unter den Bäumen hinter dem Spielladen und Yugi schaute vom Mathebuch auf, das ich in meinen Händen ohnehin grundsätzlich ignorierte. »Was ist los?« Wahrscheinlich war das Problem, dass ich genau das nicht wusste. Ich erzählte Yugi, wie Mokuba gestern in Sarahs Büro aufgetaucht war. »Mh, ich glaube, es war klar, dass so etwas irgendwann passiert. Mokuba ist nicht dumm – im Gegenteil. Und ich glaube nicht, dass er sich einfach prügelt, weil er Bock drauf hat. Aber ich hätte auch nicht gedacht, dass er sich überhaupt auf so etwas einlässt. Ich weiß nicht.« Natürlich war das Unsinn. In jedem von uns steckte die Möglichkeit, ein Arschloch zu sein. Das konnte niemand einfach ablegen wie eine abgetragene Jacke. Manchmal waren wir grantig, weil wir müde waren oder keinen Bock auf sinnlosen Smalltalk hatten. Manchmal waren wir in Eile und stießen jemanden an. Und manchmal prügelten wir jemanden, weil derjenige nicht unserer Meinung war oder weil wir glaubten, wir hätten das Recht dazu, weil wir uns stärker fühlten, wenn wir schwächere fertigmachen konnten. Wenn wir endlich mal nicht die Schwachen waren. »Du glaubst, Mokuba wird gemobbt?« Yugi starrte mich mit seinen großen Augen an. Er strahlte so eine Geduld aus, so eine Zuversichtlichkeit, dass ich fast selbst glaubte, es würde sich alles klären – ohne Probleme, ohne Eskalation. Und dann musste ich daran denken, dass Yugi wusste, wie es war, gemobbt zu werden. »Keine Ahnung«, murmelte ich und senkte meinen Blick auf die Seiten des Mathebuches. Ich war damals echt ein Arschloch gewesen.   Die Schule war ein Sammelpool an Arschlöchern. Auf dem Pausenhof herrschte die Regel, die Stärksten konnten tun, was sie wollten – solange sie nicht von den Lehrern erwischt wurden. Die anderen hielten sich heraus oder provozierten Probleme. Zivilcourage war für Dumme, die, die ihr Maul zu weit aufrissen und am Ende noch draufbekamen. »Wheeler!«, rief jemand quer über den Schulhof. Ich blieb stehen und drehte mich um, während ich in mein Salamibrötchen biss. Tristan verstummte mitten im Satz und folgte meinem Blick. Es war dieser Typ, dessen Namen ich nicht einmal kannte. Er stand da, umringt von irgendwelchen Klassenkameraden, vor allem Mädels, die ihn bewundert anblickten. Sein Grinsen war kein freundliches. »Hey, ja, Wheeler, sag mal«, rief er, »bist du schwul?« Die Leute um ihn herum begannen zu gackern. Ich ballte meine Hände und Tris legte mir fast gleichzeitig seine auf die Schultern. »Lass ihn dumm reden. Komm, Yugi und Thea warten da hinten.« Er hatte Recht. Kaiba hatte es mal selbst so ähnlich gesagt. Und ich stimmte ihnen zu. Mit solchen Typen verschwendete man seine Zeit – und vor allem seine Nerven. Ich zeigte dem Typ meinen Mittelfinger und Tristan schob mich weiter. Das machte es aber nicht einfacher. Die Schule war eine Ansammlung verlorener Zeit. Oft genug starrte ich aus dem Fenster und hätte das Zeug, das mir da vorne jemand vorkaute, schneller auf YouTube und mit Yugi und Tristan gelernt. Und ich hätte mir die ganzen Idioten, die die Schule bevölkerten, nicht antun müssen. Als ich mich nach der Pause auf meinen Sitzplatz fallen ließ – Yugi erzählte gerade, dass sie bald wieder neue Kartenpacks in den Spielladen geliefert bekommen würden – erstarrte ich. Mein Blick klebte auf der Tischoberfläche. »Joey?«, hakte Yugi nach und berührte meinen Oberarm, als ich nicht antwortete. »Was ist denn –« Er beugte sich zu mir und folgte meinem Blick. Tristan atmete tief durch, als er es las. Jemand hatte »geldgeile Schwuchtel« auf meinen Tisch geschrieben. Ich nahm mir genau zwei Sachen vor. Erstens, ich würde Kaiba nichts davon sagen. Der hatte genug Stress mit Mokuba und hätte mir wahrscheinlich eh nur gesagt, dass ich darüberstehen sollte. Zweitens, ich würde dem Idioten zeigen, der meinen Tisch verunstaltet hatte, was es hieß, sich mit mir anzulegen. »Abgesehen davon, dass du selbst darauf herumkritzelst«, bemerkte Tris, als wir auf dem Heimweg waren und ich schnaubte. »Natürlich geht es um den Inhalt, Blödmann«, erwiderte ich. Er seufzte. »Und wie willst du das herausfinden? Das kann jeder gewesen sein. Jemand aus unserer Klasse, aber auch aus jeder anderen Klasse, die in unserem Saal Unterricht hat.« Ich warf ihm einen finsteren Blick zu und kickte einen Stein vor mich her, die Hände in die Hosentaschen vergraben. »Und wir wissen beide genau, wer es gewesen war. Dieser Typ«, brummte ich. »Und du kannst nichts beweisen«, erwiderte Tris. Natürlich nicht. Alles war nur eine gut durchdachte Vermutung. »Soll ich das einfach auf mir sitzen lassen?«, murrte ich. Tris schaute hoch in den Himmel, als stünde dort die Antwort. »Wahrscheinlich nicht«, murmelte er. Wir verabschiedeten uns und ich bog zum Bahnhof ab. Früher wären wir gemeinsam bis nach Hause getrottet. Aber irgendwie hatten wir es aus dem Loch geschafft. Und ich hatte keinen Bock jetzt ins nächste zu fallen. Vielleicht war es wirklich besser, es einfach auf mir sitzen zu lassen, die Sache zu ignorieren und drüber zu stehen. Was würde Kaiba an meiner Stelle tun? Am Bahnhof eilten Menschen vorbei, drängten, hetzten irgendwelchen Plänen hinterher. Ich trottete den Bahnsteig entlang. Ein Pärchen fiel sich in die Arme und küsste sich. Ich verzog das Gesicht und schaute auf die Uhr und redete mir ein, dass ich nicht an Kaiba dachte. Und daran, dass wir niemals dieses Pärchen wären.   Es war seltsam, nach der Schule begrüßt zu werden, gemeinsam zu essen und gefragt zu werden, ob man Hausaufgaben machen musste, wie es lief und wie es einem ging. Ich zuckte mit den Achseln, antwortete »Jo« und »Gut« und manchmal glaubte ich es mir fast selbst. Manchmal fühlte es sich fast echt an, wenn meine Mutter mich anschaute und über ein Erlebnis lächelte, von dem ich Serenity und Jacob erzählte. Oder wenn sie besorgt schaute, aber sich nicht reinhängte. Weil sie wusste, es ging sie nichts an, dass ich nicht die ganze Wahrheit sagte. Es war ihr all die Jahre am Arsch vorbeigegangen. Jetzt war es mir egal, was sie davon hielt. Wir lebten unsere Leben aneinander vorbei. »Joey, willst du noch etwas essen?« Vielleicht war das, der Kern der Sache. Oft dachten Menschen, sie kannten einander, weil sie nahe beieinander wohnten. Aber in Wirklichkeit sah jeder nur, was er sehen wollte. »Nein, danke. Ich bin voll satt. Muss noch hoch, Zeug für die Schule machen.« Niemand schaute hinter das freundliche Lächeln und die oberflächlichen Floskeln. Oben in meinem Zimmer starrte ich statt in meine Schulbücher aus dem Fenster.   Das Problem mit Familien war, dass jeder dachte, seine eigene wäre die schlimmste. »Glaubst du, dass es nur deswegen ist, weil Kaiba kaum mehr Zeit für Mokuba hatte? Oder steckt da mehr dahinter?«, fragte Serenity und ich zuckte die Schultern. Wir saßen am Abend im Garten hinter dem Haus, nachdem mich meine Schwester beim Aus-dem-Fenster-Starren erwischt und mich nach draußen gewinkt hatte. Es war sogar warm im Schatten, als hätte die Natur von einem Tag auf den anderen entschieden, dass es lange genug kalt gewesen war. Die Blumen blühten und das Gras war perfekt auf drei Zentimeter geschnitten, so wie es meine Mutter am liebsten mochte. Überall waren ihre Spuren, in jeder Ritze des Hauses und selbst hier im Garten. »Und wie geht es dir bei der ganzen Sache?« Es war nervenzerreißend. Es gab kein Unkraut. Keine Gänseblümchen oder Löwenzahn auf der Wiese. Es war, als hätte jemand den Rasen gemalt. Und nur Grün zur Verfügung gehabt. »Keine Ahnung.« Ich hasste es. »Du weißt, dass es nicht deine Aufgabe ist, ihr Leben zurechtzurücken, oder?« Weil ich nicht einmal mein eigenes richtig geordnet bekam? »Wie kommst du darauf? Als würde ich das wollen. Ich bin nur da, wenn es den beiden irgendwie hilft. Kaiba war auch ständig für mich da, auch wenn ich es da oft nicht gerafft hatte.« »Joey, du musst nichts beweisen.« Ich zupfte ein wenig an den Grashalmen, spürte, wie sie zwischen meinen Fingern kitzelten und riss sie dann aus. Es tat gut. »Beweisen? Was sollte ich beweisen wollen?« Ich verschränkte die Arme vor der Brust und öffnete den Mund wieder, um diesen Frust in meinem Mund loszuwerden. Aber Serenity legte ihre Hand auf meinen Arm und ich verstummte. »Das weißt du am besten, Bruderherz.« Dabei hatte ich das Gefühl, den Durchblick komplett verloren zu haben.   Meistens dachte man, Leute zu kennen und erst irgendein Ereignis zeigte, wie falsch man lag. Man nahm an, das Leben würde immer so weitergehen, wie man es kannte und plötzlich wackelte es und brach in sich zusammen. Erst dann verstand man, wie naiv man gewesen war. Ich fand Briefchen in meinem Spind, auf denen »Schwuchtel« stand. Es war mir egal. Tris und Yugi hatten Recht. Es würde nur unnötig Stress geben, herauszufinden, wer das tat. Wahrscheinlich würde es nichts bringen. Die Leute tuschelten, wenn sie dachten, ich bekäme es nicht mit. Ich gewöhnte mich dran. Es war okay. Ich hätte es so weiterlaufen lassen. Es war Alltag und manchmal fragte ich mich, wann es das geworden war. Kaibas Büro war mir so vertraut wie er. Und Mokubas und sein Schweigen wurden so alltäglich, wie meine Besuche in Kaibas Villa. Wie das Gekicher und Getuschel in der Schule. Wie das Gefühl, immer weiter weg von Kaiba und Mokuba zu rücken. »Wo warst du, Mokuba?« Er blieb wie angewurzelt stehen, als Kaiba im Türrahmen zur Küche hochragte wie ein lauernder Schatten. Ich saß am Küchentresen und wünschte, ich wäre doch schon gegangen. »Seit wann interessiert dich das?«, murrte Mokuba und nahm sich einen Apfel, biss hinein und wollte einfach an seinem großen Bruder vorbeischlüpfen. Kaiba hielt ihn an seinem Ärmel fest und ich sah förmlich vor mir, wie die Ader an Kaibas Schläfe zu pochen begann. Er atmete tief durch und zwang sich mit ruhiger Stimme zu antworten. »Du weißt, dass du mir wichtig bist, Mokuba. Wenn es etwas gibt, worüber –« »Nope.« Damit riss er seinen Ärmel los und schritt an seinem Bruder vorbei. »Mokuba«, Kaibas Stimme klang wie zum Zerreißen gespannt, »warum riechst du nach Zigarettenrauch?« »Ich habe vorhin eine geraucht.« Mir klappte der Kiefer herunter. Ich hätte jede Wette verloren, denn Kaiba explodierte nicht. Im Gegenteil. Er schritt zurück in die Küche, ließ Mokuba im Türrahmen stehen, setzte sich ohne etwas zu sagen, nahm einen Schluck Wasser aus dem Glas, stellte es wieder auf den Küchentresen. Mokuba beobachtete seinen Bruder. Vielleicht wartete er auf die Explosion wie ich, vielleicht kannte er seinen Bruder besser und wusste, was als nächstes geschehen sollte. »Was willst du damit erreichen?«, fragte Kaiba und rückte seine Krawatte zurecht, als befände er sich in einer Verhandlung. Wahrscheinlich wünschte er sich das. Es wäre etwas gewesen, worin er sich auskannte. Sein Gegenüber zu manipulieren, Geschäfte gewinnbringend abzuschließen. Aber das hier war etwas völlig Anderes. »Ich will nichts erreichen. Ich will nur tun, was mir gefällt. Was ich für richtig halte«, knurrte Mokuba und ließ seinen großen Bruder stehen. Kaibas Blick wanderte zu mir und ich schrumpfte in mir zusammen. »Verschwinde endlich, Wheeler.«   Menschen sind die meiste Zeit nicht nett zu anderen. Sie haben Besseres zu tun. Meistens kümmern sie sich um sich selbst und ignorieren, dass andere Menschen auch Sorgen mit sich herumschleppen. Dass sie sich Problemen stellen müssen, obwohl sie glauben, nicht die Kraft dafür zu haben. Dass sie sich mit Ängsten quälen, während sie denken, sie würden es nie schaffen. Ich sah doch auch nur meine kleine Welt, obwohl ich glaubte, zu verstehen, was andere durchmachten. Letztlich war es nur eine Illusion.   Wir rückten in der Pause die Köpfe zusammen, als Tris erklärte, er hätte etwas herausgefunden. Ich dachte an Kaiba und unser Vorhaben, mehr über seine Vergangenheit zusammenzutragen und daran, was mit Mokuba los war. Ich wusste nicht, ob das eine mit dem anderen helfen würde. Aber ich hoffte, mehr Informationen würden mich aus meiner Ahnungslosigkeit befreien. Es war so ein Tag, an dem ich mir wünschte, es wären Ferien. Wir hätten am Weiher liegen können oder wenigstens im Garten sitzen. Stattdessen mussten wir uns im Unterricht mit Idioten und in der Pause mit Arschlöchern herumschlagen. »Dieser Typ«, begann er, »ist in der 9. Klasse, sein Name ist Christian. Ich habe gehört, er war früher mit Ushio befreundet.« Ich legte meinen Kopf in den Nacken und hielt meine Stirn. Das durfte doch nicht wahr sein. Thea runzelte die Stirn und Yugi rutschte unruhig auf der Bank hin und her. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Natürlich würden mehr Informationen nur mehr Chaos in meinem Leben verursachen. »Welcher Typ? Und wer ist Ushio?« Tristan erklärte kurz, was letztens im Unterricht passiert war, obwohl ich von dem Thema ablenken wollte. Es war wirklich keine große Sache und Thea würde das alles nur wieder dramatischer sehen, als es war. Doch sie blieb ganz gefasst, atmete tief durch und fragte dann nochmals nach Ushio. »Ein alter Freund«, spöttelte Tris und ich schnaufte. »Das ist Jahre her«, fiel ich ihm ins Wort und winkte ab. »Und warum sollte er jetzt deswegen Joey mobben?«, fragte Thea, als verhörte sie Zeugen. »Das ist doch kein Mobbing. Er ist nur ein Idiot, der sonst keine Hobbies hat«, sagte ich. »Irgendwann findet er etwas Anderes und dann ist das wieder alles okay. Es gibt eben Arschlöcher auf der Welt und –« »Mobbing bedeutet, er hat es auf dich abgesehen und greift dich systematisch über längere Zeit an. Das muss nicht körperlich sein«, fuhr sie mir über den Mund, als ich etwas einwerfen wollte. »Das ist nicht in Ordnung, Joey, und wir sollten etwas dagegen übernehmen. Am besten du gehst zu einem Lehrer und –« Tris und ich wechselten ein Blick. »Ich weiß, ihr habt nicht unbedingt die beste Erfahrung mit Lehrern, aber nicht alle sind so inkompetent und es gibt Maßnahmen gegen Mobbing.« Wahrscheinlich hatte sie Recht. Wir waren nicht gerade die Lieblingsschüler, aber es gab auch richtig gute Lehrer, die uns nicht im Stich lassen würden. Aber trotzdem. »Thea, ich glaube, du übertreibst. Echt jetzt. Wir haben ganz andere Sachen, um die wir uns kümmern sollten«, sagte ich und wollte endlich über diese wirklich wichtigen Dinge reden. Thea schaute mich mir diesem Blick an, diesem »Ich-werde-das-Thema-nicht-fallen-lassen-auch-wenn-du-es-herunterspielst-Joey-Wheeler«-Blick. Ich seufzte. »Und ich gehe zu einem Lehrer, wenn das mit dem nicht besser wird.« Sie hob lediglich die Augenbrauen und Yugi schaute zur Seite, als würde ich so nicht sehen, wie er grinste. »Versprochen«, setzte ich resigniert nach und endlich ließ sie es dabei.   Früher hing Mokuba um Kaibas Beine, sah zu ihm auf und redete in einem Ton von seinem Bruder, der jeden neidisch machen konnte. Inzwischen verließ Mokuba das Zimmer, wenn Kaiba es betrat, sah an ihm vorbei und redete kein Ton mit ihm. Kaiba ertrug es. Auch, wenn das hieß, dass er sich versuchte in Arbeit zu ertränken. Seine Launen hingen nur knapp über Null und er hatte kaum einen Blick für etwas, das sich nicht auf seinem Laptopbildschirm befand. Es war vielleicht ironisch, dass Kaiba gerade darin, was Mokuba ihm wortlos vorwarf, Zuflucht suchte. Ich besuchte Sarah fast täglich in ihrem Büro. Wir brainstormten, lachten, unterhielten uns über die KC und »rein hypothetischen« Ideen zu Projekten.  Aber sobald ich versuchte herauszubekommen, was Mokuba ihr anvertraut hatte oder wie ich Kaiba in etwas Erträglicheres als einen sarkastischen Roboter verwandeln konnte, schüttelte Sarah nur traurig lächelnd den Kopf.   Was bedeutete schon, sich nahe zu stehen? Wenn man nur die schönen Tage zähle. Was bedeutete schon, sich zu stützen? Wenn man ebenfalls wegknickte. Und was hieß es schon, jemand zu sein? Wenn man sich selbst nicht mochte. »Mokuba, du gehst in die Schule. Du machst deine Hausaufgaben. Und du wirst mit einem blendenden Zeugnis abgehen und studieren.« Es waren die Diskussionen, die immer gleich endeten, egal, wie sie begannen. »Warum?« »Weil du es kannst.« »Warum sollte ich?« »Ich werde nicht zuschauen, wie du deine Zukunft wegwirfst nur aufgrund einer Phase des Trotzes.« »Warum sollte ich das tun, nur weil ich es kann? Oder nur weil es mir jemand vorschreibt?« Was bedeutete es schon, jemanden zu lieben? »Ich bin nicht wie du.« Mokuba rauschte aus dem Zimmer und die Tür krachte hinter ihm zu. Die Stille war dann immer dieselbe. Ich hielt den Atem an und wünschte, Kaiba würde nicht zulassen, wie Mokuba sich immer weiter entfernte. »Vielleicht solltest du –« Etwas, das nicht in Metern zu messen war. »Halte dich aus meinen Angelegenheiten heraus, Köter.« – ihm nachgehen.   Kaiba verbrachte kaum mehr Zeit in der Schule. Er erarbeitete eigenständig Essays, gab sie als aktive Teilnahme den Lehrern ab und war nur anwesend, wenn schriftliche Überprüfungen anstanden. Ansonsten war er entschuldigt. Ich wusste nicht, wie er es schaffte, trotzdem besser zu sein als jeder in der Stufe. Er war besser als Yugi und Thea zusammen. Kaiba verbrachte kaum mehr Zeit in der Villa. Egal, wann ich anrief, Kaiba war nicht da. Egal, welche Nummer ich wählte. Roland verwies mich auf das Geschäftstelefon und Kaibas Sekretärin erklärte mir mitunter mehrmals am Tag, dass Seto Kaiba gerade leider nicht erreichbar war. Wichtige Geschäftspartner, Termine, Fristen, Kunden. Mehrmals am Tag wollte ich Kaiba sein Telefon – vornehmlich alle, die er besaß – einen Ort hochschieben, der für Telefone ungeeignet war. Irgendwann ließ ich es bleiben und der Zorn verebbte. Die Vorrunden des Turniers standen an und in der KC herrschte ein systematisches Chaos. Und ich bemerkte mit einem bittersüßen Gefühl, wie sehr es mir fehlte. Obwohl mich meine ehemaligen Kollegen so herzlich wie stets begrüßten, war ich nur noch ein Außenstehender. Ich beobachtete, wie mein ehemaliges Team in den Animation Studios neue Designs prüften, die erstmalig in den finalen Runden des Wettbewerbs virtuell ihren Auftritt haben sollten. Spürte die Aufregung, die blankliegenden Nerven und die Begeisterung, wenn alles lief, wie geplant. Aber ich war nur ein Zuschauer. Obwohl ich oft in der KC war, schaffte ich es immer weniger in Kaibas Büro. Niemand hielt mich auf. Nur Kaibas Schweigen, seine Launen, seine sarkastischen Kommentare, die völlig neue Qualität bekamen, ließen jeden seine Gegenwart meiden. Vielleicht war ich zu nett. Vielleicht war es auch reine Dummheit. »Wie geht es dir?«, fragte ich und trat an die Glasscheiben heran. Domino lag unter mir und obwohl ich schon so oft diesen Ausblick gesehen hatte, wusste ich, ich würde mich niemals daran gewöhnen. »Verschwinde, Wheeler.« Genauso wie ich mich niemals an Kaiba hätte gewöhnen sollen. Was bedeutete schon, sich nahe zu stehen? Wenn man nur die schönen Tage zähle. Wirklich nahe kam man sich doch in den anderen Zeiten. Wenn man wusste, dass es galt. Wenn man nur hoffen konnte, dass der andere einen fangen würde, während man im freien Fall auf ein unbekanntes Ende zuraste. »Nein«, sagte ich leichthin und lehnte mich gegen seinen Schreibtisch. »Ich will wissen, wie es dir geht?« Kaiba sah nicht auf, tippte, massierte seine Schläfen und tippte weiter auf den Tastaturen, als spielte er ein Instrument. Ich wusste, meine Finger würden nie so über Tasten fliegen. »Du siehst scheiße aus, weißt du? Du solltest mal wieder schlafen. In einem Bett.« »Ich brauche deine Ratschläge nicht, Köter.« Kaiba brachte alle auf Abstand mit seinen Blicken und Sprüchen. Er baute eine Mauer um sich herum auf mit seinen Worten und der Mimik. Ich wusste das, denn ich tat dasselbe, wenn ich nicht weiterwusste. »Das würdest du nicht sagen, wenn du dich gerade sehen könntest, Idiot.« Aber ich gab nicht so schnell auf wie andere. »Wheeler, momentan stört mich lediglich, dass ich dich sehen kann.« Was bedeutete schon, sich zu stützen? Wenn man ebenfalls wegknickte. Nichts, denn wirklich aufeinander verlassen konnte man sich erst, wenn einer nicht mehr konnte, aber der andere nicht aufgab. Wenn man den anderen trug, wenn er nicht mehr laufen konnte. »Ich weiß nicht, was abgeht. Und du hast keine Ahnung, was Mokuba durchmacht. Aber du tust so, als wüsstest du es. Vielleicht ist das dein Problem. Komm mal klar damit, dass sich nicht alles nur um dich dreht, Geldsack! Dass du nicht alles weißt.« Und was hieß es schon, jemand zu sein? Wenn man sich selbst nicht mochte. »Mein ganzes Leben«, knurrte er, »dreht sich um Mokuba. Mein gesamtes, beschissenes Leben.« Er wurde immer lauter. Die Tastatur verstummte und es blieben nur unsere Worte, die schwer in der Luft hingen. »Wirklich?«, spottete ich. »Mokuba bedeutet mir alles«, sagte er viel zu ruhig. So ruhig, dass ich wusste, dass er kurz vor der Explosion stand. »Oder redest du dir das nur ein, um vor dir selbst dein bekacktes Leben zu rechtfertigen?« Und ich wollte es. Ich wartete darauf, dass er explodierte. Dass dieses Schweigen, das mehr einpackte als nur Worte, zerbrach. Dass die oberflächliche Ignoranz bröckelte und endlich, endlich alles herauskam, was ungesagt war. »Du hast keine Ahnung, was wir gemeinsam erlebt haben und du hast kein Recht, kein Recht –« Er redete dazwischen, hämmerte Worte zwischen meine, die ich ignorierte. Ich hörte ihm nicht zu und es war mir egal, dass er mir nicht zuhörte. »Was würdest du tun, wenn Mokuba dir sagt, dass er diese Firma hasst? Dass sie alles kaputt macht, was ihm wichtig ist?« Ich wollte nur endlich so Vieles loswerden. »Du würdest nichts ändern, Kaiba. Dir wäre es egal. Vielleicht würdest du ihm etwas kaufen, um dein Gewissen zu beruhigen, oder eins, zwei Wochenenden früher nach Hause kommen, aber du würdest eher Mokuba gehen lassen als diese verfickte Firma.« Ich schrie. Ich schrie und er schrie und ich bemerkte es erst, als ich außer Atem damit aufhörte. Kaiba massierte seine Nasenwurzel. Ich hoffte, sein Kopf stand kurz vor der Implosion, denn meiner tat es. Ich hörte mein Herz trommeln und meine Atemzüge und ich fragte mich, wann wir falsch abgebogen waren. Das Schweigen schluckte unsere Worte und Kaiba starrte mich an und dann zog er seine Augenlider zusammen, sein Mund verzog sich und ich wollte einfach nur noch gehen. Ich wusste, das hier würde nicht gut enden. »Hast du nicht deine eigene kaputte Familie, um die du dich kümmern kannst?« Ich schluckte. Da war dieser beißende Geschmack in meinem Mund. Diese bittere Galle, als hätte ich Sodbrennen. Was bedeutete es schon, jemanden zu lieben? »Das stimmt«, ätzte ich. »Warum verschwende ich hier eigentlich meine Zeit?« Ich schlug die Tür hinter mir zu und wusste, es wäre das letzte Mal gewesen.   Es war einfach, Menschen zu verurteilen, wenn sie sich schräg verhielten. Es war schwierig zu verstehen, warum sich Menschen schräg verhielten. Oft suchte man Abstand, wenn man Dinge nicht verstand. Oder wenn man mit Veränderungen nicht umgehen konnte. Manchmal verletzten einen diese neuen Entwicklungen so sehr, dass man gar nicht anders konnte. Ich wollte alles hinschmeißen. Kaibas Vergangenheit interessierte mich nicht mehr und Mokubas Probleme gingen mich nichts an. Ich wollte einfach meine Ruhe. Und ich hielt mich fast zwei Wochen an diesen neuen Leitsatz. »Hey, was ist da vorne los?« Tris reckte seinen Hals, während ich neben ihm und Yugi her trottete. Es war Pause und wir auf dem Weg zu Thea, die an unserem üblichen Platz im Schulhof bestimmt schon auf uns wartete. Ich wollte mich um mein eigenes Leben kümmern. »Hä? Wo?« Ich folgte seinem Blick und sah es endlich auch. Es hatte sich eine ganze Schülermenge angesammelt. Manche riefen etwas, andere lachten. Wir drängten uns vorbei und mir blieb die Frage »Wer da so eine Show veranstaltete« im Hals stecken. Aber in diesem Moment wurde mir klar, dass »mein eigenes Leben« nicht nur »um mich selbst« bedeutete und all diese lahmen Vorsätze brachen ineinander. »Hey! Lasst ihn los!«, brüllte ich über den Tumult hinweg und schob mich an irgendwelchen gaffenden Mitschülern vorbei. Ein Typ hielt Mokuba im Schwitzkasten. Er sah mitgenommen aus, als hätte er sich auf dem Boden gewälzt. Sein Hemd war am Ärmel aufgerissen, Kratzer zogen sich über sein Gesicht, seine Wange geschwollen. Zwei weitere standen um ihn herum. Und dann stand einer da, als würde er über die Situation entscheiden. »Das ist doch dieser Typ, dieser Christian«, sagte Tris so, dass nur ich es hörte und ich biss meine Zähne aufeinander. Ich war ein netter Mensch. Zumindest zu neunzig Prozent meiner Mitmenschen. »Was ist hier los?«, fragte ich diesen Idioten, der dastand, als wäre er etwas Besseres. Er strich eine Strähne seines schwarzen Haares zurück und grinste mich an. »Oh, du bist da, Wheeler«, machte er und schritt neben Mokuba, betrachtete ihn wie eine Trophäe, die ihren Glanz verloren hatte. »Sag mal, lässt du dich immer wie eine Prinzessin verteidigen?« Mein Blick wanderte zu Mokuba. »Lasst ihn in Ruhe!«, knurrte er und stierte diese Typen an. Was zur Hölle lief hier? Er wich meinem Blick aus, ballte seine Fäuste und zappelte, entkam dem Griff des Riesen hinter ihm aber nicht. »Na, na, Mokuba. Ich finde, wir sollten darüber reden, nicht?«, spottete dieser Typ. »Alter, lass ihn los«, sagte ich. Langsam ging er mir mehr als auf die Nerven. Seine Gorillas machten ihn nicht gerade sympathischer und die gaffenden Leute um uns herum ließen meine Nerven noch dünner werden, als sie eh schon waren. »Hattest du eigentlich schon mal eine Freundin?«, fragte Christian mich und ich runzelte die Stirn. Ich warf Tris einen Blick zu, er zuckte die Schulter und ich atmete tief durch. »Ich entnehme deinem entgeisterten Gesichtsausdruck, dass das nicht der Fall ist. Also woher weißt du es? Wenn du noch nie eine Freundin hattest?« »Woher weiß ich was?« Ich wusste nicht, worauf er hinauswollte, was Mokuba damit zu tun hatte und eine nicht vorhandene Freundin. Ich wusste aber, dass es nur Gülle sein konnte, so wie Christian gehässig seinen Mundwinkel hob. »Dass du eine Schwuchtel bist.« Die Blicke stachen mir in den Rücken. Die Typen beobachteten meine Gestik, als rechneten sie damit, dass ich jeden Moment auf sie zustürzte. »Wow«, erwiderte ich. »Damit hast du mich jetzt echt getroffen, Arschloch.« Früher hätte ich das vielleicht getan. Früher hätte mich so etwas in meiner Ehre verletzt. Aber jetzt gab ich nichts mehr auf Meinungen von Typen wie Christian. »Jeder hier weiß, dass du nichts Anderes als Kaibas kleine Schlampe bist«, spuckte er mir vor die Füße. Früher hätte ich ihn gepackt, Tris hätte ihn festgehalten und wir hätten ihn verprügelt, bis er vergaß, weswegen. Aber jetzt baute sich meine Ehre anders auf. Ich brauchte niemandem etwas beweisen. Nicht so. »Wie lange hast du das denn vor dem Spiegel geübt?«, spöttelte ich und Tris brach in Gelächter aus. Das irritierte die Typen anscheinend dermaßen, dass sie sich verwirrt anschauten. Ich verdrehte nur die Augen und schritt langsam auf Mokuba zu, der noch immer von diesem Riesen festgehalten wurde. »Wenn ihr nicht aufhört, kommt gleich ein Lehrer und ihr seid dran«, sagte ich. »Lasst Mokuba endlich los oder ihr bekommt richtige Probleme.« Und ich zählte innerlich bis zehn. »Wir reden doch nur«, behauptete Christian höhnisch. Eins. »Habt ihr Mokuba schon öfters so zugerichtet? Wart ihr das?«, fragte ich mit unterdrücktem Zorn und spürte, wie mir die Galle hochkam. Zwei. Da war etwas in mir, das ich versuchte unter Kontrolle zu halten. Ich wollte nicht wissen, was passierte, wenn mir das nicht gelang. »Mokuba hat die Auseinandersetzung gesucht«, behauptete er. »Er hat uns gegenüber einfach angefangen handgreiflich zu werden. Wir wehren uns nur.« Drei. »So ein Schwachsinn«, sagte ich. Mokuba würde nie einfach jemanden angreifen. Sollte er tatsächlich etwas getan haben, mussten sie ihn richtig provoziert haben oder er hatte sich nur verteidigt. »Schön, es kann sein – Wahrscheinlich gefiel ihm nicht unsere Meinung über seinen Bruder und dich. Aber hey, Meinungsfreiheit und so.« Die Typen hinter Christian lachten wie Affen. Mokuba verzog das Gesicht zu einer finsteren Grimasse. Vier. »Ihr verbreitet Lügen, ihr miesen Arschl-« »Na, na, Mokuba. Solltest du solche Wörter in den Mund nehmen? Haben dir deine Eltern nicht beigebracht, dass sich das nicht gehört?« Unsere Mitschüler tuschelten. Tristan neben mir zog scharf die Luft ein und ich hörte den Puls in meinen Ohren rauschen. Fünf. »Ach, stimmt. Das konnten sie ja nicht. Sie sind ja tot. Sorry.« Ich beobachtete in Mokubas Mimik, wie etwas bröckelte. Die Fassade des Jugendlichen, dem es egal war, was Menschen über seine Familie sagten. Der darauf getrimmt war, eine Mauer zwischen sich und die Meinungen anderer aufrecht zu erhalten. Der das Gesicht in der Öffentlichkeit zu wahren hatte. Es bröckelte wie alter Verputz und zurück war der Junge, der die Bewunderung für seinen großen Bruder in jedem Gesichtszug trug. Der nie die Möglichkeit gehabt hatte, seinen Eltern dasselbe zu zeigen. »Was glaubst du ist besser, Wheeler? Tote Eltern oder Eltern wie deine?«, fuhr Christian fort, als redete er über das Wetter. Sechs. Ich war ein netter Mensch. Die einzige Ausnahme waren Arschlöcher. Ironischerweise gab es davon zu viele auf der Welt und in der Schule sammelten sich eine Menge davon. »Joey«, murmelte Tristan neben mir und wollte nach meinem Arm greifen, doch ich schüttelte ihn ab. Ich drehte mich um zu Christian, betrachtete seine Mimik, die Genugtuung, weil er glaubte, mir wehtun zu können. »Weißt du, dein Problem ist, dass du glaubst, du wärst sicher«, sagte ich langsam. »Du glaubst, deine Gorillas hier würden dir helfen, wenn es hart auf hart kommt.« Ich spürte ihre Blicke und das angespannte Raunen der Schüler um uns herum. Tristan neben mir trat von einem Bein auf das andere, murmelte Dinge, die mich beruhigen sollten. Er wusste, was kommen würde. Christian konnte mir nicht wehtun. Das Problem war, er war mir egal. Er war nicht einmal den Blick wert, dem ich ihm zuwarf. »Du glaubst, du kennst mich.« Es ging hier nicht um Stolz. Früher wäre es das vielleicht gegangen. Aber ich pfiff inzwischen auf so ein oberflächliches Ehrgefühl. »Du glaubst, ich wäre zu nett, dir zu beweisen, wie falsch du liegst.« Ich seufzte, betrachtete meine neuen Klamotten, während ich meine Ärmel hochkrempelte, ließ meinen Blick gelangweilt über die Menge schweifen. Tris war inzwischen ganz still. »Und du glaubst, weil hier so viele Zeugen stehen, würde ich es nicht riskieren, Ärger zu machen.« Mit einem Ruck sah ich zu Christian, stierte ihm in die Augen. Er grinste und ich schlenderte direkt vor ihn, baute mich vor ihm auf und kam ihm ganz nahe mit meinem Gesicht. Ich sah, wie sein Grinsen wackelte. »Das Problem ist«, flüsterte ich und beobachtete, wie sich seine Augen weiteten, »du hast es geschafft, Mokuba wehzutun.« Es war pures Adrenalin, das durch meine Adern schoss. Jemand schrie etwas. Meine Muskeln zogen sich zusammen und der Aufprall ließ meine Finger knacken. Meine Konzentration blendete alles andere aus. Der Schlag gegen seinen Kiefer pfefferte seinen Kopf zurück, er zog instinktiv die Arme vors Gesicht, stolperte rückwärts über seine Beine und fiel zu Boden. Ich drehte mich langsam um, rieb meine Fäuste und diese Affentypen hoben defensiv die Hände. »Wir wollten gar nicht mitmachen«, behauptete einer und rückte immer weiter zurück. Als mein Blick auf Mokuba fiel, ließ der Riese ihn los, als hätte er sich an ihm verbrannt. »Ich habe nichts gegen den Kleinen, echt nicht«, sagte er und verschwand dann in der Schülermenge. Mokuba stolperte auf uns zu und drückte sich in meine Umarmung, das Gesicht gegen meinen Brustkorb. »Es tut mir leid«, schniefte er, »es tut mir leid.« »Verschwindet endlich«, rief Tris und versuchte die Menge mit Handgesten endlich aufzulösen. Die Schüler kamen langsam in Bewegung, hielten ihre Köpfe zusammen, während sie sich allmählich verstreuten. Jemand beugte sich über Christian und stützte ihn, führte ihn humpelnd weg. »Das wirst du bereuen, das sage ich dir, Wheeler«, rief er, doch die Drohung verpuffte zwischen seinem Gewimmer. Ich strich Mokuba über seine Locken und seufzte. »Du solltest langsam erzählen, was los ist, Mokuba«, flüsterte ich. »Was hattest du mit diesen Typen zu tun?« Er hob sein Gesicht und ich sah die geröteten Augen, seine verschmierten Wangen und schaute verlegen weg. »Jetzt lass uns aber erstmal – ähm.« Ich schaute planlos zu Tristan, der uns mit blanker Miene beobachtete. »Wahrscheinlich sollten wir Kaiba anrufen. Am besten wir gehen ins Sekretariat.« Ich war froh, Tristan zu haben. Er war der mit dem kühlen Kopf. Also schlenderten wir zusammen Richtung Schulgebäude. Mokuba schniefte immer mal wieder und das Geräusch sendete Wellen der Erleichterung durch meinen Körper. Vielleicht war es unsinnig, aber ich hatte das Gefühl, Mokuba war zu mir zurückgekehrt. Ich strich ihm über das Haar und lächelte trotz des Pochens in meiner Hand. »Joey, ich glaube, das gibt richtig Ärger«, murmelte Tris, während wir durch die Korridore gingen. Unsere Schritte hallten wider und je näher wir dem Sekretariat kamen, desto mehr schrumpfte ich. Alle Szenarien, die mir zu dem Telefonat mit Kaiba einfielen, endeten in einer Katastrophe.     Kapitel 60: Bonuskapitel | Wer ich bin -------------------------------------- Tag 1: Wer bist du? »Mein Name ist Seto Kaiba. Ich leite ein internationales Unternehmen, welches High-Tech-Spiele entwickelt und bereits jahrelang erfolgreich internationale Wettbewerbe ausrichtet. Unsere Innovationen zählen zu den marktführenden Produkten.« »Außerdem ist er ein eingebildeter Geldsack. Ah, sorry, hey, Joey. Also ich meine, ich bin Joey Wheeler, hi.« »Ein offensichtlich begnadeter Rhetoriker.« »Weißt du, wenn man nicht sieht, wie du deine Augen rollst, denkt man, du machst mir Komplimente.« »Oh, bitte. Mach dich nicht lächerlich. Der Sarkasmus trieft aus jeder Silbe, Wheeler.« »...« »Sarkasmus ist –« »Ich weiß, was das ist, Geldsack.« »...« »Hast du ihnen schon von dem Stock in deinem –« »Danke für deinen Input, Wheeler, und jetzt verschwinde endlich.« »Bis später?« »Natürlich.«   Tag 2: Bist du ein positiver Mensch? »Wheeler.« »Ja, sorry, aber –« »Ich bin zusehends positiv, dich aus meinem Büro entfernen zu lassen.« »Nein, warte, ich – hab's gleich unter Kontrolle, Mann. Pfeif deine Security zurück. Echt, du bist so ein – okay, okay. Und der Lachanfall ist vorbei.« »...« »Du bist ein positiver Mensch, wenn es ums Rechthaben geht.« »...« »Oder – hey – ums Gewinnen.« »...« »Naja, solange es nicht gegen Yugi ist ...« »...« »Oder wenn's ums Verlieren geht ... wenn andere verlieren natürlich. Außer Yugi natürlich.« »...« »Oder wenn's um deinen Bruder geht! Da bist du doch mega positiv. Für ihn kriegst du alles hin irgendwie.« »...« »Außer es geht um deine verkorkste Vergangenheit.« »Wheeler ...« »Ah, oder Familienangelegenheiten. Was wirklich strange ist.« »Wheeler.« »Uh, und die Firma.« »Wheeler.« »Insgesamt bist du eher ein – äh – positiv-negativer Mensch, würde ich sagen. Wenn etwas nicht positiv nach deiner Meinung läuft, wirst du halt ganz schnell negativ.« »...« »Hast du dir schon mal überlegt, dass deine Anwesenheit für meine negative Attitüde verantwortlich sein könnte?« »...« »...« »Nope.« »Oder dein dämliches Grinsen? Offensichtlich.« Tag 3: Was bringt dich zum Lachen? »Wenn andere Menschen –« »– ausrutschen und hinfallen.« »Wheeler ...« »Sorry.« »Wenn andere Menschen einen angenehm kultivierten Witz erzählen.« »Oh, du meinst nicht dein gemeines Grinsen und Gelächter, sondern dieses abgehobene ›Ich-bin-besser-als-alle-anderen‹-Lachen, klar.« »...« »Also ich mag Witze über – da fällt mir ein, kennt ihr den schon? Was waren die letzten Worte des kultivierten Firmenchefs? ... Braves Hündchen.« »So ein toller Witz. Hast du gut gemacht, Wheeler.«   Tag 4: Wie siehst du dich selbst? »Als Vorstandsvorsitzender meiner Firma sowie als Bruder trage ich viel Verantwortung.« »Und das gerne auch in der Reihenfolge.« »Wheeler. Dein Gemurmel wirkt sich negativ auf meine Laune aus.« »...« »Es ist ein komplexes Unterfangen beides miteinander zu koordinieren. Mokuba versteht, dass es Phasen besonders in der Prototyp-Entwicklung gibt, die meine intensive Aufmerksamkeit benötigen.« »Jo, für ein hochbegabtes Genie ist Kaiba halt manchmal verdammt dämlich.« »Ich bin ein erfolgreicher –« »Rücksichtsloser Bastard.« »Meine Wege sind effizient.« »Und ruinieren nicht nur sein Leben.« »Meine Stärke ist Zielorientierung.« »Leider auf das falsche Ziel hin.« »Wheeler.« »Ja?« »Ich bekomme dein irritierendes Getuschel mit.« »Oh, äh – was hast du genau gehört?« »Deine kontraproduktive Präsenz lenkt mich von dem Sujet deines Gesagten ab.« »Hä?« »Halt einfach deinen Mund.« Tag 5: Wie wirst du in Wahrheit von anderen gesehen? »Als arroganten Arsch.« »Wheeler ...« »Auf den ersten Blick und so, meine ich. Aber ich weiß ja aus eigener Erfahrung, dass Menschen da oft Idioten sein können. Nur sehen, was die eben sehen wollen. Was denen in ihren Kram passt. Leute sehen halt sau oft nur das, was zu ihrer Meinung schon passt – statt umgekehrt, sich eine Meinung dann zu machen, wenn man mehr weiß.« »...« »Bei Kaiba sollte man das auch so machen. Von außen gesehen ist er – ja, wie gesagt. Aber wenn man ihn etwas besser kennt, ist er echt – also – ein wirklich, wirklich guter Typ.« »...« »...« »Das waren überraschend ... nicht-irritierende Worte von dir, Wheeler.« »Gern geschehen.« »Ich sehe keinen Anlass, mich für das Statement generell als offensichtlich zu haltender Fakten zu bedanken.« »Manchmal ist er halt trotzdem ein arroganter Arsch. Hey, ich habe manchmal gesagt, Geldsack!«   Tag 6: Was ist dein stärkster bzw. schwächster Charakterzug? »Mein Ehrgeiz.« »Ist das jetzt deine Stärke oder deine Schwäche, Kaiba?« »Und meine Geduld mit kognitiv limitierten Menschen um mich herum.« »Hä?« »Letzteres sehe ich äußerst ambivalent. Wahrscheinlich wäre es produktiver, ich würde sie einfach vor die Tür setzen.« »Hey, Moment!« »Aber irgendwie scheint mir die gelegentliche Auseinandersetzung mit ihnen als horizonterweiternd – auf eine bizarr-amüsante Weise.« »Redest du gerade von mir?« »Letztlich wäre meine größte Charakterschwäche auch gleichzeitig meine größte Stärke.« »Andere fertigmachen, wenn sie nicht deiner Meinung sind?« »Ignoranz bezüglich angemessener Aspekte.« »Und das sagt dann auch irgendwie alles über deinen Charakter.« »...« »Geldsack.« Tag 7: Wie reagierst du auf Kritik bzw. Lob? »Oh, das ist einfach. Ich habe die Theorie, dass im Gehirn meines Bruders von anderen geäußerte negative Kritik herausgefiltert wird.« »Das würde's erklären. Kaiba ignoriert Kritik einfach voll. Ich habe eh immer das Gefühl, bei ihm kommt nur das Lob im Hirn an, arroganter Kühlschrank.« »Wahrscheinlich hat er mit seinem inneren Kritiker genug zu tun.« »Der Geldsack und seine verkorkste Kindheit, ne. Kein Wunder.« »Vielleicht hört er nicht mal das Lob von anderen. In seinem Kopf schreien lauter negative Stimmen um die Wette.« »...« »...« »Deswegen ist er auch so krass drauf, der Geldsack.« »...« »Wie kommt's eigentlich, dass du bei eurer gestörten Kindheit nicht so gestört bist wie dein Bruder, Mokuba?« »Äh, danke, Joey. Ich nehme das jetzt einfach mal als Lob.« Tag 8: Wovor hast du am meisten Angst? »...« »Einsamkeit, diese Krankheit, bei der man seine Erinnerungen verliert, Verlustangst ...« »Brauchst du wirklich deine Finger für die Aufzählung, Wheeler?« »Also dass sein Bruder irgendwann erwachsen wird und auszieht ...« »Wheeler.« »Dass sein Bruder doch noch irgendwann seine Firma anzündet, die ganzen Dinge, die in seiner Vergangenheit passiert sind und die er sich weigert zu verarbeiten. Wahrscheinlich auch Krieg und eine Revolution von Affen.« »...« »Okay, das Letzte ist eher meine.« »Du hast Angst vor dem Tod vergessen.« »Kein Grund wieder so sarkastisch zu werden.« »...« »Außerdem voll lächerlich. Wir wissen beide, du wirst deine eigene virtuelle Realität erschaffen oder dein Selbst in einen Roboter transferieren oder so und ewig leben.« »Offensichtlich.« »Und ich will ein Rot ... und Schwarz.« »...« »Für mein Roboter-Ich.« »Die Ewigkeit mit dir ...« »Es wird richtig mega cool.« »Ich glaube, das toppt alles, was aufgezählt wurde.« »Das hat fast nicht sarkastisch geklungen.« »Fast ...«   Tag 9: Was magst du an deinem Körper besonders? »Wahrscheinlich findet er sein Hirn am besten.« »...« »Und den Rest tauscht er irgendwann gegen Technik.« »Übertreibe mal nicht mit deinen infantilen Wunschvorstellungen, Wheeler.« »Ich glaube, ich bin nicht mal wirklich nahe an deinen Gedankengängen dran.« »Mein Gehirn ist eben besonders.« »Und beängstigend.« Tag 10: Hast du ein Geheimnis, von dem niemand weiß? »Jeder hat Geheimnisse. Wer das negiert, lügt.« »Und was ist deins?« »Würde ich das preisgeben, wäre es –« »Blabla ... hat es etwas mit deiner Kindheit zu tun?« »...« »Klar hat's das.« »...« »Weiß Mokuba davon?« »...« »Uh, also weiß er auch nichts?« »Was ist eigentlich dein Geheimnis, Wheeler?« »Hab keins.« »...« »Du bist ein lächerlich schlechter Lügner.«     ~habt ihr Fragen oder Themen, über die sich die beiden (oder andere Charakter aus »Was wir sind«) unterhalten sollen? Dann her damit! ; ) ~Jaelaki Kapitel 61: … bin nicht wie er ------------------------------   __________________________________________   Wie könnte ich mich einem anderen Menschen beschreiben? Weiß ich doch nicht, wie er mich betrachtet. © Damaris Wieser   __________________________________________           Ich hatte endlich Verantwortung für mein eigenes Leben übernommen – etwas, das Kaiba schon als Kind hinbekam. Als ich morgens verpennte und es manchmal gar nicht zur Schule schaffte, hatte er – neben seinem Einserschnitt – ein internationales Unternehmen. In ihm sahen die Leute das Potenzial, Technik zu entwickeln, die Meilensteine in der Geschichte der Technologie werden würden. In mir sah man das Potenzial, in der Pause jemanden aus Versehen aus dem Fenster zu stoßen.   Wir standen im Sekretariat und warteten. Statt uns einfach schnell Kaiba anrufen zu lassen und Mokuba nach Hause zu schicken, hatte die Sekretärin uns zu einem Gespräch mit dem Schulleiter verdonnert. Das machte das Ganze nicht besser. »Hey, Kaiba. Ich musste heute zum Schulleiter. Nein, keine Sorge, ich habe nichts verbrochen. Es war nur, weil dein kleiner Bruder auf dem Schulhof verprügelt wurde und da so einige beschissene Typen ihm das Leben zur Hölle machen.« Damals war ich einer von den beschissenen Typen gewesen und Yugi war Mokuba gewesen. Ich fuhr mir durchs Haar und senkte meinen Blick. Wie hatte Yugi mir das einfach verzeihen können? Der Blick der Sekretärin schweifte wieder zu uns, als befürchtete sie, wir würden ihren Tacker klauen. Als ob ich etwas tackern würde. Manchmal blieb ihr Blick auch an Mokubas Erscheinung hängen. Das konnte ich ihr dagegen nicht verübeln. Er war viel zu blass, seine Augen verquollen und seine Kleidung sah aus, als wäre sie nicht zu retten. Irgendwie hatte ich das Gefühl, die ganze verdammte Situation war nicht zu retten. Das am Ärmel aufgerissene Hemd, die Kratzer, die sich über Mokubas Gesicht zogen, seine Wange geschwollen, auf die er ein Kühlungspad drückte. Die Schulkrankenschwester betrachtete ihn kritisch, schwieg aber. So wie wir alle. Mokuba trat von einem Bein auf das andere und ich hätte ihm gerne gesagt, dass alles okay wäre, aber das wäre gelogen gewesen. Er war zu schlau für solche dummen Sprüche und manchmal tat mir das leid. Besonders jetzt. »Hallo!« Der Schulleiter stand plötzlich in seiner geöffneten Bürotür und lächelte in die Runde, als er Mokuba anschaute, zerknitterte sein Lächeln und er atmete tief ein. »Dann kommt mal herein.« Durch das Fenster fielen Sonnenstrahlen auf die Aktenschränke und die Pflanze auf dem Schreibtisch und die ordentlichen Papierstapel daneben, als hätte die jemand mit Lineal zurechtgerückt. Ich kannte das Schulleiterbüro von einigen Gesprächen. Über Pünktlichkeit, über Väter, die nicht ganz nüchtern auf Schulfeiern auftauchten und was man da tun könnte, über Väter, die nicht zu verabredeten Sprechstunden wegen mangelnder Pünktlichkeit und Leistung seines Sohnes erschienen und was man da tun konnte, über Respekt gegenüber Lehrern und Mitschülern und was man da nicht tun konnte. Und das Verrückte war, mich hatte nie das Gefühl beschlichen, der Schulleiter würde mich nicht irgendwie mögen. Er sprach über schlechtes Verhalten, aber nie über schlechte Menschen. Ich begriff erst viel später, was für einen Unterschied das machte. »Also was ist passiert?«, fragte er und Mokuba presste die Lippen aufeinander. Tristan schaute zu mir und ich wusste nicht, ob ich anfangen sollte zu reden. Das war nicht gerade mein Spezialgebiet. Vor allem nicht, wenn ich auf der Seite des Mobbingopfers stand. Da fiel mir auf, dass es wohl das erste Mal war, dass ich dieses Büro von innen sah und nicht auf der Anklagebank saß. Ich öffnete den Mund, als Mokuba seinen Blick hob, als hätte er sich entschieden und fixierte den Schulleiter. Ich klappte meinen Kiefer zu. »Es war ein Unfall«, sagte er. Und mir klappte der Mund wieder auf. Der Schulleiter runzelte die Stirn. »Bist du dir sicher?«, fragte er nach und sein Blick schwenkte von Tris zu mir, wieder zu Mokuba. »Moment. Wir haben gesehen, was –« Mokubas Blick traf mich wie ein Pfeil. »Ja, und ich bin froh, dass ihr mir geholfen habt. Aber das ändert nichts an der ganzen Situation.« Tris schwieg, aber in seiner Mimik sah ich, dass er viel zu sagen gehabt hätte. Ihm ging es ähnlich wie mir, nahm ich an, aber ich befürchtete, ich würde nichts sagen können, sondern nur brüllen. Und das hätte jetzt wahrscheinlich wirklich nicht geholfen. Ich biss meine Zähne aufeinander. »Du bist in letzter Zeit in einige Unfälle verwickelt, Mokuba«, wandte der Schulleiter bedächtig ein. »Weißt du, es gibt Maßnahmen, die dir helfen könnten, damit keine Unfälle mehr passieren. Wir können gemeinsam überlegen, was wir da machen können.« Aber ich hatte auch oft das Gefühl, der Schulleiter redete nur viel über Handlungen und was man tun könnte. Aber was tat man wirklich? Und hatte Mokuba nicht irgendwie Recht? Was hatte die Schulleitung damals gegen mich ausrichten können, wie hatten sie Yugi geholfen? Mit ein paar gut gemeinten Ratschlägen? »Es ist alles in Ordnung. Es war nur ein unglücklicher Zufall«, behauptete Mokuba und ich fragte mich, wann es passierte, dass Kinder so ohne das Gesicht zu verziehen anfingen zu lügen. Wann hatte ich es das erste Mal getan? Mokuba reichte dem Schulleiter die Hand und schritt dann aus dem Büro. Wir stierten ihm nach und dann folgte ich ihm. Es war so ein Augenblick später, dass mir dämmerte, ich hätte etwas sagen müssen. Wahrscheinlich wäre es das Richtige gewesen, dem Schulleiter alle Details auf den Schreibtisch zu spucken, aber dann betrachtete ich Mokubas Miene. Wir schritten nebeneinander her, Tris ein paar Schritte hinter uns und ich wünschte mir, ich wüsste, was ich tun sollte, jemanden, der mir sagte, was das Richtige wäre. Egal, was ich tat, ich saß zwischen allen Stühlen. »Seto darf es nicht wissen.« Mokuba schaute irgendwo an das Ende des Flurs, während er sprach, als hätte er keine Zeit, mich anzuschauen. »Aber –« Mein Blick wanderte hilflos zurück zu Tristan. Der zuckte die Schultern, genauso planlos wie ich. »Mokuba«, stammelte ich. »Wir müssen ihm sagen, was los ist.« Obwohl ich es selbst noch nicht ganz begriff. »Es ist absolut nicht okay, was die mit dir machen, verstehst du?« Mokuba sah mich endlich, endlich an. Da war eine Mischung aus Trotz und etwas, das ich nicht ganz begriff. Aber natürlich wusste er das, was ich ihm überflüssigerweise sagte. Es ging ihm nicht um sich selbst. Es ging um Seto Kaiba. Weil es sich letztlich immer um ihn drehte. »Ist es dir peinlich oder was?«, fragte ich. »Ich bin mir sicher, dass es deinem Bruder viel wichtiger ist, zu wissen, was los ist. Niemand darf dir weh tun, Mokuba.« Nicht körperlich und auch nicht seelisch. Aber Letzteres war echt nicht einfach. Taten wir uns nicht dauern gegenseitig weh? Auch, wenn wir es nicht einmal wollten. Im Gegenteil. Selbst, wenn wir den anderen versuchten zu schützen. »Er würde es nicht kapieren. Dass diese ganze Sache nichts mit ihm und mir zu tun hat. Er würde glauben, wenn er diese Idioten da draußen bestraft, wenn er sie verklagt und sie für jeden Kratzer drankriegt, dass dann alles okay wäre. Aber ich komme alleine klar. Ich brauche ihn nicht, um meine Probleme zu lösen. Und erst recht löse ich sie nicht auf seine Art. Ich bin nicht er.« Unsere Schritte hallten im Gang wider und ich seufzte. Manchmal wäre es so einfach, wenn man andere einfach bestrafen könnte und dann alles wieder gut wäre. Oder wenn andere meine Probleme lösen könnten. Leider war es meistens doch so viel komplizierter. »Das hier hat nichts mit ihm zu tun, verstehst du?« »Du meinst abgesehen davon, dass sie dich verprügelt haben, weil sie deinen Bruder beschimpfen?«, fragte ich und blieb stehen. Mokuba machte noch ein paar Schritte und hielt dann auch an. Den Rücken zu mir gewandt murmelte er etwas, das ich nicht verstand, dann drehte er sich um. »Darum geht es nicht«, murrte er. »Ja, sie haben Zeug über ihn erzählt. Also eigentlich über euch beide.« Es war totales Klischee, aber für einen Augenblick sackte mein Herz einige Etagen nach unten und ich spürte meinen Herzschlag in meinen Zehen. »Du meinst – « Mokuba verschränkte die Arme vor der Brust, sein Blick wankte von einer Wand zu anderen. »Sie sagen, dass mein Bruder dich fickt und du dich ficken lässt, weil du ein beschissenes Leben hast und er dich da rausholt. Entschuldige, ihre Worte.« Wow. Das war echt – ich schluckte und wollte einen dummen Spruch loslassen, um die Schwere zu verscheuchen. Es gab Schlimmeres im Leben als von Idioten Idiot genannt zu werden und so. Mokuba schien das anders zu sehen. »Aber sie haben keine Ahnung, sie verstehen rein gar nichts. Sie kennen dich nicht. Du bist ein –« Er schluckte. »So ein richtig guter Mensch. Du ziehst so viele Sachen durch, obwohl dir alle möglichen Leute nichts Gutes wollen und glauben, sie wären besser. Aber du lässt dich nicht unterkriegen und du ziehst es durch, egal, was sie sagen. Du hast einen Traum und willst den verwirklichen.« Es war als hätte mir Thea ein Buch über den Hinterkopf gezogen. Mokuba biss sich auf die Unterlippe und trat von einem Bein auf das andere und ich stand da wie ein unzurechnungsfähiger Depp, der keine Antwort auf die einfachste Frage kannte. Und ich wusste nicht einmal, welche Frage. Da stand Seto Kaibas kleiner Bruder vor mir, der, der in seinem Leben eigentlich alles geschenkt auf goldenen Tabletts mit silbernen Schleifen bekommen sollte, aber irgendwann musste man zugeben, dass es eben doch nicht so war. Und dann haute er mich einfach mit Worten um, die bestimmt noch nie jemand gedacht, geschwiege denn mir gesagt hatte. Er stand da mit zerrissener Kleidung und Beulen und Kratzern und sah mich von unten mit seinen großen, blauen Augen an. »Ich wäre auch gerne wie du.« Es gab bestimmt siebenunddreißig Gründe, die mir spontan einfielen, warum das keine gute Idee war und ich wusste, das alles würde in einer Katastrophe enden, sollte irgendetwas schiefgehen, aber in meinem Bauch explodierten gerade kleine Wasserbomben wie im Sommer und ich wusste auch, so fühlte sich Glück an. »Versprich mir, dass du ihm nichts sagst.« Hatte ich eine Wahl?   Der Plan war einfach. Wir würden Mokuba beschützen, Kaiba nichts verraten und die Sache in Mokubas Sinn klären, ohne Kaiba und seine Anwälte, Bodyguards und Roboterarmeen einzuspannen. Mokuba würde sich beweisen können, dass er seine Sachen ohne seinen großen Bruder klären konnte. Wir würden ihm beweisen, dass er immer auf uns zählen konnte. Und Happy End. Tristan schaute zweifelnd. Yugi schlürfte nachdenklich an seiner Cola und Thea stemmte ihre Hände in die Hüften. Kein gutes Zeichen. Wir saßen in Yugis Garten, Mokuba presste einen Kühlakku gegen die gerötete Wange und wir hielten Kriegsrat. Wobei eigentlich ich Kriegsrat hielt und die anderen ihre Zweifel einstreuten. Nur Mokuba war meiner Meinung. Fast. »Ich weiß nicht«, murmelte Tris. »Das sah schon ziemlich fies aus und dieser Christian taucht nirgends alleine auf, dass –« »Genau deswegen«, unterbrach ich ihn und wedelte mit der Hand. »Wir müssen Mokuba unterstützen. Am besten geht er auch nirgends mehr alleine hin.« Mokubas Mimik entgleiste. »Moment, nirgendswohin?«, hakte er nach. »Ich denke nicht, dass das nötig –« »Schulweg, Mensa, Gänge, nirgends mehr alleine«, bestätigte ich und reckte die Faust in die Luft. »Alles kein Problem.« »Toiletten«, bemerkte Yugi und ich sank etwas in mich zusammen. »Oh. Richtig«, murmelte ich gedehnt und versuchte nicht ganz so schuldbewusst auszusehen. Theas Blick verriet mir, dass ich es nicht schaffte. »Am besten wir sichern dich auch so auf den Toiletten, echt besser so«, bestätigte ich und wich Theas Schlag auf den Hinterkopf aus. Yugi tätschelte mir den Arm und Tris packte mich im Schwitzkasten, so dass ich Theas nahender Tirade nicht entkommen konnte. »Und wie wollt ihr das hinbekommen?«, begann sie auch schon. »Das ist doch wirklich nicht zu glauben! Ihr wisst genau, was ihr tun solltet. Geht zum Schulleiter, sagt ihm, was wirklich los ist, weiht Kaiba ein und geht gemeinsam gegen diesen Christian vor.« Ich schaute sie an, wie sie da saß mit den Armen vor der Brust verschränkt und ihrem »Das-wird-richtig-schlimm-enden«-Blick. »Oh, bitte. Was tun die schon außer zu reden?«, fuhr ich sie an und sie schnaubte, schwieg aber, also wendete ich mich an die Person, die es mit am besten wissen musste. »Wie haben die dir denn damals geholfen, Yugi?« »Ich bin nie zur Schulleitung.« Er erwiderte meinen Blick standhaft. Früher hätte er das nicht geschafft, früher wäre er allein unter dem Druck meiner Anwesenheit zusammengeknickt und ich hätte mich so richtig mächtig gefühlt. »Achso.« Aber wir waren beide nicht mehr, wer wir gewesen waren. Yugis Mundwinkel zuckten und er berührte meine Schulter. Ich legte meinen Kopf für ein paar Sekunden in den Nacken, starrte in den Himmel und sah den Schäfchenwolken dabei zu, wie sie über unsere Köpfe und all die kleinen Probleme, die uns plagten, hinwegzogen. Es war ein Augenblick der Stille mitten im Sturm. »Wie willst du deinem Bruder deine ganzen Blessuren erklären?«, fragte Thea. Mokuba schaute auf, bedächtig, als überlegte er, was er antworten sollte. Als er sprach klang er viel zu abgeklärt für sein Alter. War es Resignation? Zorn? »Darüber werde ich nachdenken, sollte es ihm auffallen.« Wir schwiegen und selbst Thea hielt ihre Klappe. Was wäre schlimmer? Wenn Kaiba es nicht einmal mitbekam, dass sein kleiner Bruder verletzt nach Hause kam oder wenn er es mitbekam? Irgendwie fürchtete ich beides. Ich saß zwischen den Stühlen. Zwischen meinem Versprechen gegenüber Mokuba und meiner Ehrlichkeit gegenüber Kaiba. Musste ich es ihm nicht sagen, wenn sein kleiner Bruder irgendwie gefährdet war? Würde ich es umgekehrt nicht auch erwarten? Wahrscheinlich spielten sich solche Szenen überall auf Schulhöfen ab, aber das hieß nicht, dass es richtig war. Und noch weniger, dass man tatenlos zuschauen sollte. Konnte ich das alles wirklich hinbekommen? Mokuba glaubte daran. Er glaubte, er könnte es selbst schaffen. Vielleicht war dieser Glaube die Stütze für seine Unabhängigkeit. Wie trat man aus dem Schatten eines Seto Kaibas? Und ich schaute wieder hoch in den blauen Sommerhimmel und fragte mich, wohin die Reise der Wolken führte.   Wer entscheidet in unserem Leben, wohin wir gehen? Sind wir ganz allein dafür verantwortlich? »Hast du Mokuba heute schon gesehen?« Ich saß auf der Couch im Wohnzimmer und Kaiba neben mir, so nah, dass ich fast seinen Oberschenkel mit meinem berührte. Draußen ging die Sonne gerade unter und ich starrte abwechselnd auf meine Füße und Kaibas Finger, die über die Laptoptasten rasten. »Nein.« Wie sagte man etwas, ohne etwas zu sagen? »Wieso?«, fuhr er fort, ohne aufzuschauen und es war wahnsinnig, wie weit wir voneinander entfernt waren. »Du solltest mit ihm reden.« War es nicht seine Aufgabe, zu wissen, was in dem Leben seines kleinen Bruders abging? Ich war nicht dafür verantwortlich, ihm alles auf einem Silbertablett zu servieren. Sollte er es nicht selbst herauskriegen? »Worüber?« »Einfach so«, sagte ich leise. In ihm sahen die Leute das Potenzial, Technik zu entwickeln, die Meilensteine in der Geschichte der Technologie werden würden. »Was ist los, Wheeler?« Er sah auf und als sein Blick meinen berührte, war es wie kaltes Wasser nach einem viel zu langen Aufenthalt in der Sonne. »Nichts.« In mir sah man das Potenzial, in der Schulpause jemanden aus Versehen aus dem Fenster zu stoßen. Aber es gab Ausnahmen. Es gab tatsächlich Menschen, die etwas Anderes in mir sahen. Leute, die mich bewunderten und das ließ meine Gedanken rasen. »Glaubst du, Mokuba würde mir zuhören?« Im ersten Moment dachte ich, er meinte es sarkastisch. Aber er schaute mich ernst an. Es gab Menschen, die etwas Anderes in ihm sahen. Leute, die seine Erfolge im Maßstab seiner Opfer sahen. »Ich – ich weiß es nicht.« Das wäre alles nicht so wichtig gewesen. Seto Kaiba pfiff auf die Meinung anderer. »Das habe ich mir gedacht.« Aber es gab mindestens eine große Ausnahme. In meinem Kopf hing das Bild von zwei kleinen Jungs vor einem Waisenhaus und ich fragte mich, ob Kaibas Erfolge das alles wert waren. Kapitel 62: ... bin kein Waise ------------------------------ __________________________________________   Dein Vater hat Dich vergessen, Dich und die Mutter Dein; Du bist, du armer Waise, Auf der weiten Erde allein! © Joseph Christian Freiherr von Zedlitz   __________________________________________           Ich war kein Stratege und hatte keinen Führungsstil. Das einzige, was ich erfolgreich führte, war der Rekord im Verlust von Arbeitsblättern. Meine Strategie lautete viel zu oft »Augen zu und durch« und »der Lautere behält Recht«. Ich ging Sachen frei Schnauze an. Aber trotz anderslautender Gerüchte verabscheute ich Gewalt als Mittel zum Zweck.   »Du solltest nach Hause gehen.« Es klang nicht nach gut gemeint. Es klang, als wollte er mich loswerden und obwohl ich so tat, als würde ich es verstehen, schmerzte es. Ich hatte keine Ahnung, wie ich es schaffte, nicht zu kapieren – wirklich, wirklich zu begreifen – dass Seto Kaiba niemand war, der einen einfach in sein Leben ließ. Klar, manchmal bekam man Einblicke. Schnipsel, die man zusammensetzte. Mit denen man so tun könnte, als begriff man, was in ihm vorging. Er pfiff auf jede Meinung – außer seiner eigenen. Letztlich ging es Kaiba vielleicht doch nur um sich selbst. Aber war das nicht bei fast allen Menschen so?   Ein paar Stunden später lag ich im Bett in dem Zimmer, in dem ich so tat, als gehöre ich hierher. Ich rollte mich von einer Seite auf die andere und seufzte. Dann schälte ich mich aus der Matratze und kramte kopfüber die Kiste unter meinem Bett hervor. Kopien von Zeitungsartikeln und Bildern, zwei kleine Jungs, deren Zukunft so schrecklich ungewiss und doch so voller Möglichkeiten gewesen war. Vielleicht auch nicht. Vielleicht hatte Kaiba gewusst, dass sie sonst keine Chance gehabt hätten. Ich strich über Titel von Zeitungsartikel, während sich Mokubas Worte in meinem Kopf wiederholten. So wie du. Mein Kopf pochte und ich wünschte mir, Mokuba würde sehen, was ich wirklich war. Ich griff nach einem Bild, auf dem sie so jung wie auf keinem anderen aussahen. Im Vordergrund Gozaburo Kaiba, der Seto nach vorne zu schieben schien. Ich kniff meine Augen zusammen. Aber im Hintergrund konnte ich sie sehen. Sarah stand dort, eine Hand auf Mokubas Schulter. Er schaute zu ihr hoch. Und ich wusste, daran hatte sich seither nicht viel verändert.   Es ging gut. Die nächsten Tage schafften wir es, Mokuba zu begleiten – egal, wohin. Es war als hätten wir uns dazu entschieden, seine Schatten zu werden. Aber mir wurde schnell klar, dass das keine Lösung auf Dauer war. Obwohl sich Christian Mokuba nicht mehr näherte, wusste ich, dass er nur auf den richtigen Moment wartete. Das war das gewesen, was ich früher gemacht hätte. Bei dem Gedanken wallte Übelkeit in mir hoch. Als wir im Pausenhof standen, ich mir ein Sandwich in den Mund schob und überlegte, wie wir die Sache endlich klären könnten, vibrierte plötzlich mein Handy in meiner Hosentasche. Einmal, zweimal, dreimal. Ich runzelte die Stirn. Tris schaute mich an und ich zuckte die Schultern. Yugi erzählte gerade etwas von neuen Turnierregeln und Thea lauschte ihm, als gäbe es sonst keine interessanten Dinge mehr auf der Welt. Ich war mir sicher, ihr waren Kartenspiele eigentlich egal. Viermal, fünfmal. Genervt zog ich das Handy aus der Hosentasche und entsperrte es. Nachrichten von einem nicht gespeicherten Kontakt. Mein Blick raste über die Zeilen. »Kaibas Schlampe! xD Kriegst deinen Arsch wohl nicht voll. Wie fühlt sich sein Schwanz an? Geldgeiler Hurensohn. Bezahlt er dich pro Stunde?« Sechsmal. »Du wirst schon sehen, was du davon hast.« Zuerst wollte ich lachen, dann hörte es nicht auf. Mein Handy schien in eine Dauervibration zu verfallen und der Strom an Nachrichten riss nicht ab. Es waren unbekannte Nummern oder anonyme. SMS und Whatsapp-Nachrichten. Ich dachte, ich stünde über so etwas. Ich hatte echt geglaubt, mich würde so etwas nicht wirklich kriegen. »Joey, hey? Alles okay?« Tristan schlug mir sachte gegen den Oberarm und grinste. Ich verzog keine Miene und zeigte ihm mein Handy. Sein Grinse fiel in sich zusammen. Yugi warf einen Blick drauf und atmete tief ein. »Das ist dann wohl sein nächster Schritt«, sagte Thea und wir wussten alle, wen sie meinte.   Es ging nicht gut. Die nächsten Tage versuchte ich mit Mokuba zu reden und es stellte sich heraus, dass ich nicht der einzige war, dessen Handy mit widerlichen Nachrichten geflutet wurde. Mokuba tat es mit einem Schulterzucken ab. »Ich habe jetzt halt eine neue Handynummer.« Am liebsten hätte ich mir gegen die Stirn geklatscht, aber so oft, wie ich das inzwischen wollte, konnte es nicht gut für meine Gesundheit sein. »Mokuba, du kapierst doch, dass das nicht die Lösung ist, oder?«, fragte ich und folgte ihm durch den Flur in seinem Zuhause in die Küche. »Sie werden irgendwann damit aufhören.« Vielleicht hatte er Recht. Wann hatte ich damit aufgehört? Aber vielleicht würden sie nicht eher stoppen, bis er am Boden lag, so sehr, dass er nicht mehr von alleine aufstehen könnte. Und das war keine Metapher. Vielleicht würden sie ihn auch nicht körperlich fertigmachen, aber es gab schlimmere Arten Menschen anzugreifen. Er streckte sich, um an eine Packung Cornflakes zu kommen, sein Shirt rutschte nach oben und ich sah die Blutergüsse. Er zuckte zusammen und hielt sich seinen Brustkorb. »Was –«, stammelte ich und zog das Shirt ein Stück nach oben. Mokuba wand sich, drückte meine Hände weg und wollte seine Rippen bedecken, aber es war zu spät. Ich hatte es gesehen und ich würde es nicht vergessen. »Das ist nichts«, sagte er und ich spürte eine Wut, die meine Gedanken verdunkelte. »Was willst du beweisen?«, knurrte ich. »Dass du es schaffst, verprügelt zu werden?« Er sank in sich zusammen. Ich sah, wie jedes meiner Worte ihm Schmerzen zufügte, aber ich konnte nicht aufhören. »Sie werden nicht aufhören! Hörst du? Sie werden dich fertigmachen und jeden, der dir wichtig ist. Es ist ihnen scheißegal, was sie anrichten! Und am Ende –« »Er hat es nicht einmal mitbekommen!«, schrie er plötzlich und ich machte einen Satz zurück. »Er sieht mich nicht! Er sieht mich nicht mal an! Er weiß von nichts und er fragt mich nichts und so ist es halt!« Mokubas Mimik schwankte zwischen Zorn und Schmerz und meine Wut verpuffte irgendwo dazwischen. Ich stand da mitten in der Küche und Kaibas kleiner Bruder neben mir und er wich meinem Blick aus. Ich betrachtete seinen Hinterkopf und wie er sich mit dem Ärmel über das Gesicht wischte und ich so tat, als würde ich es nicht mitbekommen. Er atmete schwer ein und das Zittern in seinem Atemzug schnürte mir den Brustkorb zu. »Versprich mir«, flüsterte er plötzlich, als hätte er mit dem Ausbruch eben seine Energie verloren, »dass du ihm nichts sagst.« Er drehte sich zu mir und sah mir ganz entgegen seines Tons trotzig ins Gesicht. Als kämpfte er mit sich selbst, was er fühlen sollte. Und ich fragte mich, wann dieser kleine Junge, der seinen großen Bruder in den Himmel gehoben hatte, so auf den Boden der Tatsachen aufgeknallt war. Er schaute zu mir hoch, ein Arm über seine Brust gekreuzt und kaute auf seiner Lippe herum. »Ich verspreche es«, seufzte ich.   Als Kind war ich der festen Überzeugung, dass Lehrer nach dem Unterricht aufhörten zu existieren. So ähnlich war es mir mit den Angestellten der KC gegangen. Natürlich wusste ich, dass das Blödsinn war. Aber Sarah in ihrem Bürostuhl wirkte wie eine andere Person als die, die gerade in ihrem Wohnzimmer neben mir auf dem Sofa saß. Ich schlurfte an einer Cola, mein Blick glitt über die altmodische Einrichtung und die modernen Stücke dazwischen, die wirkten, als hätte sie ein Blinder zusammengewürfelt und Sarah erzählte davon, wie das anstehende Turnier alle in der KC an den Rand des zumutbaren Stresses drängte. Sie lachte über Zeitpläne und Deadlines und nörgelte über Korrekturen und Rechtschreibfehler, fehlende Hintergründe, die irgendein Genie nicht mitkopiert hatte und beinahe auf den Flyern gefehlt hätte. Ich lauschte und hörte nicht wirklich zu. »Joey?« Mein Blick suchte ihren und als ich sie anschaute, kratzte ich verlegen meinen Hinterkopf. »Sorry, was hast du gesagt?« Sie seufzte und setzte ihren Kaffee auf die Untertasse auf den Beistelltisch und während sie das tat und schwieg, runzelte sie die Stirn, schaute mich an und atmete tief durch. »Du bist wegen Mokuba hier, stimmt’s?« Ich wich ihrem Blick aus. »Warum solltest du sonst hier auftauchen? Am Wochenende, wenn du viel lieber mit deinen Freunden draußen herumlungern könntest.« »Ich lungere nicht nur rum.« Sie lachte. Nicht dieses Lachen, das mich innerlich ausrasten ließ, weil es so klang, wie jemand, der sich über meine Dummheit amüsierte, sondern das Lachen, das mich beruhigte. Das mir versicherte, dass es nicht schlimm war, was auch immer ich getan oder gesagt hatte. Dass es völlig okay war, vielleicht sogar gut. Dass irgendwie alles gut werden würde. »Das weiß ich doch. Aber wofür sind Wochenenden sonst da, Schätzchen? Wenn man ein normales Leben hat. Normal ist gut«, betonte sie. »Ein Leben mit Freizeit und Freunden. Zeit, um herumzulungern oder eben auch nicht.« Sie schenkte sich noch einen Kaffee in ihre Tasse und gab Zucker und Milch dazu und während sie das tat, als wäre alles okay, drückte der Kloß in meinem Hals immer mehr meine Kehle. Ich öffnete den Mund, aber wusste nicht, wo ich anfangen sollte, was sie wusste, was sie wissen durfte und wo mein Versprechen anfing – und aufhörte. »Ich versuche«, begann ich stockend, »zu verstehen, warum Kaiba –«, in meinem Kopf kramte ich angestrengt nach einer anderen Umschreibung, aber ehe mein Hirn etwas fand, stolperten die Worte aus meinem Mund, »– so ein Arsch ist.« Sarah schaute von ihrer Kaffeetasse auf und ich beobachtete, wie sich das Grinsen langsam auf ihren Lippen ausbreitete, dann brach sie in Lachen aus. Ich zuckte die Schultern und grinste, erwiderte ihr ansteckendes Lachen und schließlich saßen wir hier zusammen in ihrem Wohnzimmer und lachten, bis wir nach Luft japsten. Als würde sich etwas in meinem Inneren lösen, ein Knoten, der mir die Luft abgeschnürt hatte. Jedes Mal, wenn sich unser Blick traf, begannen wir wieder zu glucksen. Dann wurde es still. Als wäre die Luft aus einem Ballon hinausgeströmt. »Mokuba geht es nicht gut«, sagte ich langsam. »Um ehrlich zu sein geht es ihm richtig scheiße und ich bin mir sicher, dass es Kaiba auch nicht gut geht. Die beiden –« »Warum glaubst du, ich könnte etwas daran ändern?« Ich starrte sie an. Sarah rührte in der Tasse, ohne mich anzuschauen. Das Lachen von vor wenigen Minuten war wie aus ihrem Gesicht gekehrt. »Weil – weil – du kennst sie schon so lange und –« »Ich konnte ihnen damals nicht wirklich helfen, ich glaube kaum, dass sich das geändert hat.« »Du weißt wenigstens, was passiert ist«, murmelte ich. »Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nicht, warum Kaiba manchmal dicht macht, obwohl er eben noch ganz normal da war. Und warum Mokuba so verdammt stur ist gerade. Er will sich nicht von Kaiba helfen lassen. Sie reden immer noch nicht miteinander.« Sarah schloss für einen Augenblick die Augen. Vielleicht zählte sie auch bis zehn? Vielleicht würde sie gleich explodieren und mich aus ihrer Wohnung werfen. »Und ich –« Ich schluckte. »Ich habe Mokuba etwas versprochen«, sagte ich. »Ich glaube, ohne dich schaff‘ ich’s nicht, das Versprechen zu halten. Und dann würde ihm keiner mehr den Rücken freihalten. Verstehst du? Und er braucht gerade unbedingt jemanden, der ihm den Rücken freihält.« Sarah erhob sich, verließ das Zimmer und ich saß alleine zwischen dem Duft von Kaffee und dem Geschmack von Cola auf der Zunge. Die Stille, während man auf etwas wartete, raubte mir den Atem. Ich wusste nur nicht, worauf ich wartete. Das Lachen von eben schien in weiter Vergangenheit, als wäre ich plötzlich aufgewacht und erinnerte mich an einen verblassenden Traum. Mein Blick glitt über die eingerahmten Bilder an den Wänden. Es waren Artikel über die Kaiba Corporation, Auftritte von Kaiba, mal jünger mit großen Augen, mal älter mit kühlem Blick. Im Schrank standen Fotorahmen. Auf allen waren Mokuba und Kaiba als Kinder und ein blondes Mädchen, das ich nicht wiedererkannte. »Er hat seine Sachen einfach zurückgelassen.« Ich fuhr herum. Sarah war wieder in den Raum getreten, hielt eine Box vor ihrer Brust und schaute mich an. Ich fühlte mich ertappt, obwohl ich nur alte Fotos in ihrem Schrank betrachtete. Verlegen trat ich von einem auf das andere Bein, aber Sarah machte keine Anstalten, mich deswegen zu rügen. Sie setzte sich wortlos zurück auf das Sofa und kramte in der Box. Neugierig ließ ich mich neben ihr nieder. »Ich habe sie aufgehoben, weil ich gedacht habe, dass er irgendwann darüber wegkommt.« Sarah schnaubte. »Nein, das natürlich nicht. Wie soll man auch über so etwas wegkommen? Aber dass er eines Tages die Bilder anschauen kann, dass er sie wieder anschauen will.« Sie reichte mir einen dünnen Stapel an Bildern, manche verwackelt, manche überbelichtet. Aus einer Zeit, in der Bilder noch nicht digital entstanden, sondern erst nach der Entwicklung aussortiert worden waren. Kaiba und Mokuba als Kinder, als Babys. Auf manchen Fotos grinste auch das blonde Mädchen der Kamera entgegen. »Seto hat dazu geneigt, nach Perfektion zu streben. Er war selbstbewusst, aber gleichzeitig unsicher. Ich weiß. Das klingt seltsam. Aber gehört das nicht gerade zu jedem Menschen dazu? Diese kleinen Ungereimtheiten?« Kaiba, wie er Mokuba auf der Schaukel anstieß. Das blonde Mädchen half ihm. Kaiba, wie er Hand in Hand mit Mokuba am Strand etwas in den Sand schrieb. Kaiba, wie er mit der Schultüte vor einer Tafel stand. Erster Schultag stand darauf. Und dann waren da auf einmal nicht nur Kaiba und Mokuba. Eine Frau mit langen, braunen Locken und ein Mann mit schwarzem Haar winkten in die Kamera. Auf dem nächsten Foto schlang Kaiba seine Kinderarme um den Bauch der Frau, die unübersehbar schwanger war. Ein Foto weiter ritt Mokuba auf den Schultern des Mannes. Sie lachten in die Kamera und Kaibas Zahnlückengrinsen wirkte so fremd, dass ich bezweifelte, dieser Junge auf dem Bild würde gut zehn Jahre später zu dem Menschen werden, den ich zu kennen glaubte. »Und besonders, wenn deine Eltern plötzlich sterben und du das Gefühl hast, allein in der Welt zu sein. Mit deinem kleinen Bruder, der nur noch dich hat.« Seine Eltern. In meinem Kopf füllte dieses Wort alle Gedanken. Das waren seine Eltern. »Ich glaube, Seto hat es sich nie gegönnt, um seine Eltern zu trauern, um das ganze Leben, das er an einem Tag hinter sich lassen musste. Er war erst acht Jahre, als sie gestorben sind. Mokuba gerade mal vier.« Auf den Bildern lachten sie alle. Sie wirkten so sorglos, als hätten sie nicht nur noch wenige Jahre zusammen. Aber woher sollten sie das wissen? »Wie –?« Meine Stimme klang seltsam. Als hätte sie nicht damit gerechnet, gebraucht zu werden. Ich räusperte mich. »Wie sind sie –« Sarahs Blick verfing sich in einem der Fotos. Gedankenverloren strich sie mit dem Daumen über die drei Kinder darauf. »Sie waren auf der Heimfahrt nach einem tollen Wochenende im Ferienhaus am Meer. Vielleicht kam der andere Wagen deswegen ins Schleudern, weil der junge Mann angetrunken war, wir wissen es nicht. Vielleicht wäre nichts passiert, hätte er nicht mit seinen Kumpels getrunken. Vielleicht hätte es nichts geändert.« Sie lachte auf, wie jemand, dem eher nach dem Gegenteil zumute war. »Er hat den Wagen gestreift, dann ist er frontal in ihr Auto geprallt. Er ist schwer verletzt worden, genauso wie Seto und Mokuba auf der Rückbank. Ihre Eltern sind noch an der Unfallstelle gestorben. Genauso wie –« Sie kniff die Augen zusammen, atmete zittrig aus und ich betrachtete das Bild, um das sie ihre Finger krampfte. Mich beschlich eine Ahnung, die ich nicht abschütteln konnte. Ich wollte nicht fragen, aber ich wollte verstehen. »Sarah«, murmelte ich, »wer ist das blonde Mädchen?« Sie sah mich nicht an, sie fixierte das Foto, als spräche sie zu ihm. »Meine Tochter Amy. Sie hat das Meer geliebt.« Sie lächelte, aber ich sah die Tränen in den Augenwinkeln. Sie nahm mir eines der Fotos aus der Hand, das die junge Frau mit den braunen Locken zeigte. Ihre Augen strahlten hell und erinnerten mich an Kaibas, die Form und Farbe. Aber der Ausdruck war so komplett anders. Der Blick der Frau war voller Leichtigkeit. »Sie war meine beste Freundin – Lilien, Setos und Mokubas Mutter«, murmelte Sarah. »Wir waren schon seit unserer Kindheit befreundet. Wir hatten noch so viele Pläne. Sie wollte einen Süßigkeitenladen eröffnen. Für Kinder.« Sarah lachte und strich über ihre Augen. »Kannst du dir den Blick ihrer Eltern vorstellen? Sie kam aus einer konservativen Familie, alles Juristen und Leute, die Doktorentitel sammelten wie andere Briefmarken – oder DuelMonster-Karten.« Ich konnte mir gut vorstellen, wie diese Frau ganz unerschrocken ihren Weg ging, wie sie gegen ihre Familie rebellierte und andere inspirierte, niemals den eigenen Traum aus den Augen zu verlieren. »Auf der Uni traf sie dann auf Taro. Die beiden haben ihren Familien ganz schön Kopfzerbrechen gemacht. Sie haben trotzdem geheiratet und für einige Jahre waren sie glücklich, bekamen zwei wunderbare Kinder und es hätten noch so viel mehr Jahre werden sollen.« Sarah legte das Bild zurück in die Box und starrte an die Wand. »Ich hätte so viel mehr für Seto und Mokuba machen müssen. Aber –« Sie hatte ihre Tochter verloren, gerade so wie Kaiba und Mokuba ihre Eltern. Nein, sie hatte nicht ausschließlich ihre Tochter verloren, sondern auch ihre beste Freundin. »Ich hatte damals schreckliche Gedanken, war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt und mit all dem –« Sie konnte es nicht in Worte packen und ich bezweifelte, dass ich nachvollziehen konnte, was das alles bedeutete. »Seto war ein liebevolles Kind. Er war zu intelligent für sein eigenes Wohl, das stimmt. Und er hätte alles für Mokuba getan.« Ich betrachtete die Fotos in meiner Hand. Mokuba grinste, während er auf dem Rücken seines großen Bruders ritt. Mokuba lachte, während er seine Arme um Kaiba schlängelt. Mokuba sah hoch zu seinem Bruder, während der ein selbstgebasteltes Ding in die Kamera hielt. »Vielleicht hat er das. Vielleicht hat er zu viel getan.« Der kleine Junge löste sich vor meinem inneren Auge in seine Pixel auf, verschwand und ließ eine Box voller Erinnerungen zurück. »Ich weiß nicht, ob es dir hilft«, sagte Sarah, »aber wenn ich die beiden heute sehe, sehe ich immer noch die beiden kleinen Jungs von den Fotos.« Mein Blick fiel auf das blonde Mädchen und ich schwieg. Vielleicht war es deswegen besser zu glauben, Angestellte der Kaiba Corporation hätten kein Leben außerhalb der Firma. Weil es das sorgsam aufgerichtete Bild zerstörte. Weil es einem klar machte, dass das alles Menschen waren mit ihren eigenen Geschichten. Und manche Geschichten hatten kein Happy End.   Man weiß nie, welche Geschichte der Andere mit sich herumschleppt. Welche Menschen in seinem Leben eine so wichtige Rolle spielen, dass ihr Verlust eine Lücke hinterlässt, die niemals wieder gefüllt werden könnte. Welche Kommentare oder Worte eine so tiefe Bedeutung besitzen, dass sie etwas wecken, das man nicht wieder zum Schlafen wiegen kann. Manche Sätze reißen Wunden auf, die nicht wirklich verheilen, sondern nur vernarben. Manchmal weiß man das alles erst, wenn es zu spät ist.   Wir saßen in Mokubas Zimmer, wo ich so tat als würde ich Hausaufgaben machen, während Mokuba aus dem Fenster starrte und ab und zu meine Matheaufgaben für mich ausrechnete. Eigentlich erklärte er sie mir, aber ich starrte ihn nur an und achtete kaum auf seine Worte. »Hast du keine auf?«, fragte ich irgendwann, während ich den Bleistift auf einem Finger balancierte. »Mh?« »Hausaufgaben und so?« Er schrieb Zahlen und Buchstaben auf. »Doch, doch«, meinte er bloß. »Mokuba«, murrte ich. »Ist schon okay.« Ich bezweifelte das, aber schwieg und fragte mich, was seine Eltern wohl dazu gesagt hätten. Darauf würde ich wohl aber nie eine Antwort bekommen. Durch die Wand konnten wir Kaibas genervte Stimme hören. »Sofort!«, keifte er in einen Hörer. Mokuba schwieg, ignorierte das alles, als wäre Kaiba bloß in meiner Vorstellungskraft in dem Zimmer nebenan. »Ihr solltet einfach mal miteinander reden«, sagte ich und Mokuba hielt inne. »Offen und ehrlich. Es bringt doch nichts mit den ganzen Vorwürfen und so.« Er sah mich nicht an. »Genauso gut könnte ich mit der Wand reden«, behauptete Mokuba. »Wobei –« Jetzt drehte er seinen Kopf und schaute an mir vorbei durch das Fenster, wo sich unter uns der Garten entfaltete. In den Baumwipfeln saßen Vögel und zwitscherten. Unten plätscherten ein Teich und ein Brunnen und dazwischen blühten Blumen. Es war das verdammte Paradies. »Die Wand ist wenigstens da.« Aber waren die Menschen nicht irgendwann aus dem Paradies geflogen?   Es ist verrückt, wie Menschen zu zweit aneinander vorbeileben können. Verrückt, wie sich die Außenansicht von der inneren unterscheidet. Schmerzhaft, wie Menschen, die sich nahestehen, auseinanderdriften und zu zweit einsam werden. Aber genau das konnte ich gerade beobachten. Es war als würde nur ich begreifen, was passierte, ein stiller Beobachter, ein Zuschauer im Kino. Wie diese Szenen, bei denen man genau weiß: nein, macht das nicht, nein, tut was Anderes! Aber die Darsteller halten sich an ihr Skript. Kaibas Finger huschten über die Tastatur, dann löschte er das, was er eingegeben hatte und hämmerte auf die Enft-Taste ein, als wäre es deren Schuld. Er nahm einen Schluck Kaffee (obwohl es ganz sicher keine Kaffeezeit mehr war) und fingerte an der Kanne, als er sich mehr einschenkte, während Mokuba mit der Gabel in der Lasagne herumpulte. Ich saß mit am Esstisch und wünschte mir irgendwie woanders zu sein. »Verdammt!«, murrte Kaiba. Braune Flüssigkeit ergoss sich über seine Hose. Seine Finger zitterten, er griff nach Servietten und fuhr sich genervt durchs Haar. Kaiba war nicht nervös. Kaiba war immer souverän. »Okay.« Ich dehnte das Wort, so dass es drei Silben hatte. Nur wenn er es eben doch nicht war. »Komm mal runter. Was ist los?« Ich reichte ein paar Servietten, die er mir ungeduldig aus der Hand riss. »Ich bin absolut ruhig«, zischte er. Mokuba schnaubte. Das einzige Zeichen, dass er Notiz von dem nahm, was sich bei seinem Bruder an der Seite des Esstischs abspielte. »In zwei Wochen beginnen die Eröffnungsspiele der Kaiba-Championships.« Ich wusste nicht, worauf er hinauswollte. Wahrscheinlich, dass er viel zu tun hatte und auf so dumme Kommentare meinerseits verzichten konnte. Er klopfte seine Finger ungeduldig auf die Tischoberfläche, als wartete er auf etwas Offensichtliches. Ich wusste nicht auf was. »Also?«, fragte er, als ich ihn nur schweigend anschaute. Genauso wenig, wie was das mit mir zu tun hatte. »Hä? Was soll –« Außer natürlich, dass ich Yugi anfeuern würde. »Ob du jetzt teilnimmst oder nicht«, unterbrach er mich unwirsch. Mir fiel der Kiefer herunter. »Was – ich – der –« Ich schaute überfordert zu Mokuba, der meinen Blick eine Sekunde erwiderte und dann wieder seinen Teller fixierte. »Ich habe mich nicht angemeldet«, sagte ich mit einem Schulterzucken. Natürlich wusste Kaiba das. Kaiba wusste alles über seine Turniere und Teilnehmer beziehungsweise Nicht-Teilnehmer. »Der Anmeldeschluss war ja schon vor Wochen und –« Er schaute mich an, als wäre ich ein Depp. Natürlich wusste er auch, wann der Anmeldeschluss war. Er war der VERDAMMTE VERANSTALTER! »Ich spreche nicht von den Vorrunden, Wheeler. Ich spreche von dem interessanten Teil.« »Aber nur Yugi und –« Er sah mich mit hochgezogenen Brauen an und langsam wühlte ein Sturm in meinem Magen. Wie eine Vorahnung, der man nicht ganz traute. »Du – meinst –« »Das Turnier kommt auch ohne deine Teilnahme aus, keine Sorge. Solltest du dennoch –« Ich wollte gerade antworten. Versuchsweise eine coole Antwort, die nichts von diesem inneren Tsunami offenbarte, von diesem Glücksgefühl, das einen ganz bescheuert im Kopf machte, als ich eine Bewegung im Augenwinkel sah. Mein Kiefer klappte nach unten, als Mokuba eine Schachtel Zigaretten auf den Tisch legte, ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche fischte und die Kippe vor mir und seinem Bruder mitten im Esszimmer anzündete. »Was zur –« Mein Blick fuhr zurück zu Kaiba, der sah aber nur mich an. Ignorierte er allen Ernstes die Show, die sein kleiner Bruder abzog? »Hey, das ist echt nicht cool«, bemerkte ich und Mokuba zog die Brauen hoch. »Das sagst grade du?« »Ich habe nie geraucht«, behauptete ich und bog die Wahrheit etwas. Natürlich hatte ich mal geraucht, aber da war ich nicht so jung wie Mokuba gewesen und außerdem hatte ich es nach wenigen Monaten schon wieder aufgegeben. Es galt also nicht wirklich. Und ich würde mich sicherlich jetzt nicht in den Abgrund werfen, während Kaiba mich beobachtete, als würde er mich wie ein Insekt zerquetschen, würde ich das Falsche sagen. »Da wirft man nur Geld zum Fenster raus. Das habe ich lieber für – das ist ja jetzt egal.« Es war nicht pädagogisch wertvoll jetzt darüber zu diskutieren, ob Alkohol besser war als Zigaretten. Alkohol, den man für den Vater nach der Schule schnell in den Kühlschrank stellte, weil man hoffte, dass er dadurch aus dem Loch kletterte. Was natürlich absoluter Unsinn war. Aber da war diese unsinnige Hoffnung gewesen, dass er eines Tages lächeln würde. Absolut unsinniger Bullshit natürlich. »Mokuba.« Kaibas Stimme war sanft, so sanft wie der Wind im Sommer, aber seine Augen waren kalt, eiskalt, wie ein zugefrorener Weiher. Das Esszimmer war so ruhig, als stünden wir im Auge eines Wirbelsturms. »Wenn du rauchen möchtest, dann gehe bitte nach draußen.« Eine Gänsehaut kletterte meinen Nacken hinauf. Mokuba stierte seinen Bruder an, legte die Zigarette an die Lippen und sog daran. »Du hast mir gar nichts zu sagen!« Und dann kippte die eisige Stille. Wir standen mitten in einem tosenden Tornado. Mit wenigen Schritten stand Kaiba über Mokuba, schlug ihm die Zigarette aus der Hand, hielt ihn mit der anderen an der Schulter fest. »Ich habe dir eine Menge zu sagen, solange du minderjährig bist.« Er schrie nicht. Kaiba schrie nie, wenn er wirklich wütend war. Es wurde gefährlich, wenn er leise sprach, mit dieser Samtstimme, gefüllt mit Gift. »Du bist nicht mein Vater!«, knurrte Mokuba und riss seine Hand aus der seines Bruders. Es war wie ein Peitschenhieb. Ich sah es in Kaibas Mimik, in seiner ganzen Körperhaltung. Kaiba hob seine Hand und für einen erschreckend langen Augenblick glaubte ich, er würde es tun. »Kaiba«, sagte ich langsam (meine Stimme klang ganz seltsam fremd in meinen Ohren) und stand plötzlich zwischen den beiden. Ich ging Sachen frei Schnauze an. Aber trotz anderslautender Gerüchte verabscheute ich Gewalt als Mittel zum Zweck. »Seto«, flüsterte ich und berührte seine Schulter. Er stand da wie eine Statue. Mokuba starrte ihn an, auf seinen Wangen ein hektisches Rot und seine blauen Augen schwammen plötzlich. »Geh«, sagte Kaiba. Er schaute an Mokuba vorbei und einen Moment lang dachte ich, er redete mit mir. »Geh in dein Zimmer.« Mokuba gehorchte. Bis zur Küchentür schritt er mit erhobenem Kopf, dann knallte er die Tür hinter sich zu und ich hörte, wie er die Treppe nach oben rannte. Stille. Ich zögerte. Zuerst wollte ich Mokuba folgen, ihn trösten und sagen, dass sich alles wieder einrenken würde. Aber dann sah ich Kaibas Mimik. Wie die Fassade bröckelte. Sein Blick klebte an der zugeschlagenen Tür. »Manchmal frage ich mich, was Gozaburo getan hätte«, murmelte er und ich schluckte. »Es ist absurd. Weil ich ganz genau weiß, was er angerichtet hat.« Er wischte sich mit seiner Hand übers Gesicht und lachte auf. Dieses Lachen, das mir einen kalten Schauer verursachte, weil es so freudlos war. Ich stand ganz nah bei Kaiba, so nah, dass die Luft vibrierte. »Er war ein hervorragender Geschäftsmann. Aber ein liebloses Arschloch als Vaterfigur.« Ich atmete ein und atmete Seto. »Manchmal denke ich, er hat letztlich doch gewonnen. Er hat mich zu seinem perfekten Nachfolger modelliert.« »So ein Blödsinn«, murmelte ich. »Du bist manchmal ein Arsch, aber ganz sicher kein so großer wie der.« Er sah mich an und hob eine Augenbraue, ich zuckte die Schultern, grinste verlegen, blieb aber bei meiner Aussage. Mit lieblosen Arschlöchern kannte ich mich schließlich aus. »Ihr müsst einfach mal reden. So richtig. Momentan redet ihr sowas von aneinander vorbei. Ich glaube, Mokuba fühlt sich halt alleine und ich meine, wir wissen, dass du nicht mit Liebesschwüren und so einem Scheiß um dich schmeißt, aber –« »Wir?«, fragte er. »Ich meine – also – Mokuba und – allgemein –«, stotterte ich und spürte wie mir Hitze ins Gesicht schoss. »Ich denke, er will deine Aufmerksamkeit.« Ich räusperte mich und lachte verlegen auf. »Wenn ich mir so überlege, was ich alles für einen Scheiß dafür gemacht habe.« »Für meine Aufmerksamkeit?« »Träum weit-« Er zog mich an sich und für einen Augenblick blieb mir die Spucke weg. Er legte seine Stirn auf meine Schulter, ich atmete den Duft seines Shampoos und fühlte ein Vibrieren an meinem Schlüsselbein, als Kaiba in sich hineinlachte. Da war eine Berührung mehr als drei Worte. »Er vermisst dich«, murmelte ich und kraulte ihm durch sein Haar. »Ich weiß«, flüsterte er. »Ich ihn auch.« Es war erschreckend, wie alleine zwei Leute gemeinsam sein konnten. Wie weit entfernt voneinander, obwohl sie im selben Haus wohnten. Wie schwer es sein konnte, jemandem zu sagen, dass man ihn vermisste. Meine Gedanken wanderten zu meiner Familie, während ich Setos Wärme atmete und spürte, wie er in Erinnerungen gefangen war. Vielleicht an Eltern, die von einem Tag auf den anderen nicht mehr da waren, an Väter, die die Lücken nicht füllten, an Kinder, die in Löcher fielen und es nicht schafften, sich heraus zu kämpfen, ohne viel zu viel von sich zu verlieren. An Söhne, die zurückblieben und alleine zu Männern werden mussten. An Väter, die keine Väter waren. »Wenn du ihn so hasst, warum hast du seinen Namen behalten?«, flüsterte ich. »Ich hasse ihn nicht«, erwiderte er gegen mein Shirt. Erst nach einem Moment sprach er weiter. »Der Name hat mir Möglichkeiten eröffnet. Es war nicht so sehr das Geld – auch wenn das natürlich hilfreich war – es war aber vor allem der Name, der mir so vieles ermöglicht hat.« Er atmete tief durch und ich spürte seinen Atemzug über meine Haut wandern. »Und er hat Mokuba ein sorgloses Leben bieten können.« Ich schnitt eine Grimasse. Darüber ließe sich streiten. Er atmete tief ein und setzte sich auf einen der verlassenen Stühle, ließ mich aber keinen Moment lang los, sein Arm um meine Hüfte. Die Lasagne vergessen auf dem Tisch. Zeuge unserer unausgesprochenen Vertrautheit. Ich stand da, meine Beine an seine Knie gepresst. Obwohl ich nichts sagte (oder gerade deswegen), sah er hoch zu mir. »Gerade du solltest das begreifen. Ich hatte damals nicht viele Optionen.« Ich seufzte. Natürlich tat ich das. Der Name gab ihnen Halt. Er zeigte ihnen, wo sie hingehörten. Er versprach ihnen, Erfolg und finanzielle Freiheit. Und vielleicht war es für Kaiba, das erste Mal im Leben gewesen – nach dem Tod seiner Eltern – dass er sich nicht mehr hilflos fühlte. Ich verstand es. Auch, wenn es mir Magenschmerzen bereitete, das zugeben zu müssen. Wie es war, wenn Menschen einen nicht kannten, aber schon geurteilt hatten. Wie musste das für Waisen sein, die niemanden hatten, außer einer Institution, die unterfinanziert und überfordert war? Kaiba hatte sein Leben und das seines Bruders selbst in die Hand genommen. Er hatte die Schubladen gesprengt und den für ihn vorgezeichneten Weg verlassen. Das hätte ganz schön daneben gehen können. Vielleicht war es das. Der Name Kaiba war nicht nur eine Hilfe. Er war eine Bürde. Ich verstand noch nicht genau, was es ganz genau bedeutete. Wie sehr Gozaburo aus dem kleinen Jungen den jungen Mann heute geformt hatte, aber ich ahnte es. Vielleicht würde ich es nie ganz begreifen. »Und jetzt?«, fragte ich, wie jemand der die Orientierung verloren hatte. Meine Gedanken schwammen zwischen alten Fotografien, Zeitungsausschnitten und Schlagzeilen und dieser Familie, die ein Unfall auseinandergerissen hatte. Wer wäre Seto heute, wenn seine Eltern noch leben würden? Wenn aus dem kleinen Junge ein Teenager hätte werden dürfen und kein Erziehungsberechtigter? Vielleicht konnte es niemand wirklich begreifen, wie er in diese Situation gerutscht war. Wahrscheinlich nicht einmal Mokuba. »Bist du glücklich?« Es rutschte mir heraus. Ich kniff die Augen zusammen. Da war kein Vorwurf in meinen Worten, kein versteckter Angriff. Nichts, nur mein ehrliches Interesse und vielleicht ein bisschen Resignation. Aber vielleicht provozierte die Antwort zu viel Ehrlichkeit. Kaiba starrte mich einen Augenblick lang an, als hätte ich ihn gefragt, ob er im Foyer der KC mit mir nackt einen Tango tanzen wollte. »Jetzt gerade?«, fragte er. Für andere wäre das alles absurd gewesen. Jetzt, kurz nach der Situation mit Mokuba. Jetzt, während dieser kleinen Ewigkeit, in der die beiden so aneinander vorbeilebten. Natürlich war Kaiba da nicht glücklich. Aber das meinte ich auch nicht und das wusste er. »Mit deinem Leben – und so –« Er schnaufte und es klang wie ein missglücktes Lachen. »Ich bin ein erfolgreicher Geschäftsmann. Ich bin reich und berühmt.« Ich schnaubte, denn ich kannte ihn zu lange, dass er mit solchen Erwiderungen eine Antwort auf die eigentliche Frage vermeiden konnte. Und er wusste das. »Echt? Ist mir bisher gar nicht aufgefallen«, erwiderte ich. Er verdrehte die Augen, lehnte sich vor, seinen Kopf an meinen Bauch und ich stand da und wollte diesen Moment festhalten, in die Länge ziehen, aufnehmen und immer wieder spüren. Vielleicht wollte ich in diesem Augenblick meine Frage zurücknehmen, vielleicht wollte ich es gar nicht so genau wissen. Es war einfacher nicht zu begreifen, warum Menschen waren, wer sie sind. Seto Kaiba konnte ein Arsch sein, er war manchmal viel zu perfektionistisch und erwartete auch von seinen Mitmenschen zu viel und manchmal war er viel zu arrogant und erwartete von seinen Mitmenschen zu wenig. Er konnte rücksichtslos sein, mit Worten einen so schmerzhaft genau treffen, dass man glaubte, nicht mehr atmen zu können. Er konnte einen wegstoßen, einen verbannen mit einem Blick und aus seiner ganzen Welt verjagen. Er konnte aber auch ganz anders sein. So wie in diesem Augenblick, mit einer Geste einen so genau treffen, dass man glaubte, nicht mehr atmen zu können, weil er mich in seine Welt holte, die so viel mehr war als das, was man von außen sah. »Ich bin nicht unglücklich«, flüsterte er. »Das ist nicht dasselbe«, murmelte ich. Ich war nicht erfolgreich – nicht im traditionellen Sinn. Das einzige, was ich erfolgreich führte, war der Rekord im Verlust von Arbeitsblättern. Erfolg machte viele Menschen glücklich, aber erfolgreich sein zu müssen, machte Menschen krank. Es gab bestimmt genug Leute, die damit nicht klarkamen, die an den Erwartungen anderer zerbrachen oder sich selbst verloren. Ich selbst hatte mich oft genug verloren gefühlt. Nicht, weil die Erwartungen anderer zu hoch waren – sie waren zu niedrig gewesen. Und trotz dieses gravierenden Unterschieds waren Seto Kaiba und ich vielleicht gar nicht so verschieden. Er griff in mein T-Shirt, zog mich zu sich, so dass ich mich zu ihm beugte. Als hielt er sich an diesem Augenblick fest. »Aber manchmal«, murmelte er gegen meine Lippen, »bekommt man nicht mehr als eine Ahnung davon. Ein Gefühl, wie es sein könnte.« Ich wusste, wie scheiße es sein konnte. Diese Tage, wenn einen nur dieses Wie-es-sein-könnte aufstehen ließ. »Manchmal muss das gut genug sein.« Und ich wusste manchmal selbst nicht, was mich glücklich machte. Ich wusste oft nur, was mich unglücklich machte. Meine Strategie lautete »Augen zu und durch« und »der Lautere behält Recht«. Und oft genug bekam ich auf meine vorlaute Schnauze. »Auch für Mokuba?«, fragte ich und damit zerbrach dieser perfekte Moment. Kapitel 63: ... bin ein Träumer ------------------------------- __________________________________________   Irre wenn … Träumer träumen im Traum träumender Träumer geträumte Träume geträumt zu haben. © Anni Wieser   __________________________________________           Mein Name bedeutete nichts. Zumindest nichts Gutes. Für die meisten hatte der Klang meines Namens früher den bitteren Geschmack von Drohungen gehabt und heute den faden Gestank von Nichtsnutzigkeit. Mein Name verursachte Stirnrunzeln und Augenverdreherei. Manchmal aber auch gar nichts. Für viele Menschen existierte ich einfach nicht. Aber das würde sich bald ändern.   Meine Frage riss uns zurück in die Realität, in der Mokuba nicht mehr mit ihm sprechen wollte, in der er Stück für Stück seinen Bruder verlor, weil er in einem Strudel gefangen war. Weil er es nicht anders kannte. Kaiba drehte sich von mir weg, stand da in der Küche und wandte sich zum Gehen. »Was würdest du gerne tun?«, fragte ich leise. Er verharrte, sah sich aber nicht zu mir um. »Ich meine«, fuhr ich fort, wusste, er lauschte trotzdem jedem meiner Worte, »wenn Namen und Geld und der ganze Scheiß unwichtig wären, was –« »Sie sind aber nicht unwichtig«, unterbrach er mich, rückte seine Krawatte zurecht und ich musterte seinen Rücken, fuhr mit meinem Blick seine Schultern entlang. »Ist ja nicht so, als hättest du jetzt genug davon«, behauptete ich und zuckte die Achseln. »Darum geht es nicht«, murrte er. »Worum dann? Was hält dich davon ab, Mokuba zu schnappen und dann einfach mal, ich weiß nicht, abzuhauen von hier? Ein bisschen Zeit haben und runterkommen und so. Ich glaube schon, dass Mokuba das will.« Mokuba war kein kleines Kind mehr, aber er war trotzdem noch Kaibas kleiner Bruder. »Ich habe Verantwortung zu tragen. Und Erwartungen, die sich an mich richten. Ich kann nicht einfach abhauen, Wheeler.« »Mokuba wollte –« Wer gab mir das Recht, Kaiba zu verschweigen, was wirklich abging? Letztlich würde das nur noch mehr Missverständnisse provozieren. »Es geht nicht darum, Wheeler.«   »Hör zu«, begann ich. Es hieß, dass man Versprechen nicht brechen durfte. Aber manche Versprechen waren wichtiger als andere. Manche Versprechen musste man nicht einmal laut aussprechen. War ich es Kaiba nicht schuldig, ihn einzuweihen? Mokuba glaubte, dass sein Bruder ihm nicht zuhörte, aber ich war mir sicher, dass Kaiba für ihn alles tun würde. Dass er Mokubas Wohl über alles andere stellte. »Es geht nicht immer darum, was Mokuba will«, sagte er. Die Worte schnitten irgendwo im mein Inneres. Durch eine Oberfläche, an der dumme Sprüche abprallen. Das hier war etwas Anderes. Das war kein Kommentar, der ihm unter Stress einfach mal herausgerutscht war (und für den ich ihm danach meine Meinung gegeigt hatte). Kaiba meinte das hier ernst. Er wandte sich zum Gehen. »Warte mal, Kaiba. Ich muss dir –« »Ich muss noch arbeiten.« Damit ließ er mich in der Küche zurück. Die Tür schloss sich und ich wusste, selbst, wenn ich ihm nachrannte, er würde nicht zuhören. Und in dem Augenblick verstand ich, dass Mokuba recht hatte.   Ich starrte aus der Autoscheibe, beobachtete, wie aus Villen Familienhäuser wurden und zählte die Bäume am Straßenrand, damit die Zahlen die Gedanken in meinem Kopf dämpften. Ich hatte mich nicht von Kaiba verabschiedet. Denn ich würde ihm nicht nachrennen, wenn er so offensichtlich nicht hören wollte, was ich zu sagen hatte. So wie es aussah, mussten wir doch mit Mokubas Situation alleine klarkommen. Letztlich war es bisher auch ganz gut gegangen. Mit ein paar Ausnahmen. Bis auf die Sache, dass Mokuba jederzeit doch erwischt werden konnte. Ich ballte meine Faust in der Hosentasche. »Herr Kaiba will das Beste für seinen Bruder.« Roland starrte auf die Straße, aber ich musterte ihn mit gehobenen Brauen. Er sprach mich nie an, wenn er mich nach Hause fuhr. Nie. »Er will nichts Anderes für ihn, seitdem sie Kinder waren. Sie sollten sich nicht davon ablenken lassen, was sie glauben zu verstehen.« Ich schnaubte. Das war so einfach zu behaupten. So simpel das jemandem zu raten. Aber dann machte es Klick in meinem Kopf. »Moment, Sie kennen die beiden schon so lange?« Roland schwieg, runzelte die Stirn, als wog er ab, ob er den Kodex mit einer Antwort brechen würde. Ich nahm an, dass es so etwas wie den Kodex gab. Denn das würde einfach so viel erklären. Roland antwortete nicht, aber wann hatte mich das jemals abgehalten? »Wie war er als Kind?« Keine Antwort. »Wissen Sie, was Kaiba werden wollte?« Wahrscheinlich wollte er schon immer ein Schnösel werden. Keine Antwort. »Ich meine, als Kind hat doch jeder so einen Traum? Astronaut oder so etwas?« Oder eben ein reicher Schnösel. »Sie verstehen sicherlich, dass ich mit Ihnen nicht über derartig Vertrauliches spreche.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust und ließ mich wieder tiefer in den Autositz sinken. Der Kodex war eben heilig. Und eigentlich hatte er ja recht. Ich war nur sauer auf Kaiba, weil er sich wieder einmal wie ein Arsch verhielt. »Was wollten Sie eigentlich werden?«, fragte ich. Wollte man als Kind Bodyguard für einen reichen Schnösel werden? »Jazzmusiker«, erwiderte er knapp, wahrscheinlich in der Hoffnung, ich würde endlich die Klappe halten. Aber dann waren meine Gedanken so laut. Beinahe hätte ich gelacht, aber Roland starrte streng gerade aus auf die Straße. »Und warum sind Sie keiner geworden?« »Wer sagt, dass ich es nicht bin?« Ich blinzelte. »Ähm«, stammelte ich und musterte ihn. »Ich spiele noch immer in einer Band.« Ich starrte ihn an, wie er da am Lenkrad saß, Anzug und alles, aussah wie so ein Mafioso aus einem schlechten Action-Film und dann versuchte ich mir vorzustellen, wie er in einer verrauchten Bar abends auf der Bühne Saxophon spielte. Jazzmusiker spielten doch immer dieses Instrument, oder? Aber Roland hatte Recht. Das eine schloss das andere nicht aus. »Welches –« »Wir sind da, Herr Wheeler.« Ich schloss meinen Mund und stieg vor dem Haus meiner Mutter aus. »Danke«, murmelte ich, stand noch mit der Hand auf der Wagentür da, »wo spielen Sie eigentlich? Vielleicht –« »Manche Dinge sollten privat bleiben, Herr Wheeler. Nicht, weil sie peinlich oder geheim sind, sondern weil jeder Mensch das Privileg haben sollte, jemand zu sein, der er sonst nicht sein kann.« Ich runzelte die Stirn. »Ja«, sagte ich langsam, »ja, wahrscheinlich.« Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich begriff, was er meinte, aber er nickte mir zu und für einen Augenblick glaubte ich, dass er lächelte. Dann schloss er die Autotür mit einem Knopfdruck am Lenkrad und ich stolperte zurück.   »Jazz?«, fragte Tris jetzt schon zum vierten Mal und ich atmete schwer durch. Yugi, er und ich saßen auf meinem Bett. Es war endlich Wochenende und das hieß, dass Mokuba erst einmal sicher war. Soweit ich das beurteilen konnte. Unser unausgesprochener Plan für jetzt war erst einmal: Playstation die ganze Nacht, Chips und Cola und hoffen, dass sich durch ein Wunder der Rest irgendwie auflöste. Was natürlich schwachsinnig war. Also überlegten wir doch und immer wieder kam einer von uns mit einer Idee, die noch unpraktischer und unrealistischer war als die davor. Wir besprachen gerade, wie wir Roland zwischen den Unterrichtsstunden durch die Schule schmuggeln könnten, als es an der Zimmertür klopfte und ich verdrehte die Augen. Schon wieder? »Hey, Jungs! Wollt ihr noch etwas essen?« Meine Mutter steckte ihren Kopf in den Raum und hielt eine Platte mit Sandwiches auf einem Tablett. »Oh, vielen Dank!«, sagte Yugi und meine Mutter strahlte. Es gab wenige Momente, in denen ich Yugi gerne das freundliche Lächeln aus dem Gesicht gewischt hätte. Das hier war so einer. Tristan nahm sich gleich drei Sandwiches, bedankte sich höflich und grinste. »Joseph?« Ich verzog das Gesicht. »Nein.« Ich hörte Tristans tiefen Atemzug und sah, wie Yugi und er einen Blick tauschten. »Okay«, murmelte sie und senkte den Blick, dann wandte sie sich wieder an meine Kumpel und strahlte. Ich hasste es. »Dann will ich euch mal nicht weiter stören«, sagte sie viel zu fröhlich, schritt zur Tür und warf mir einen Blick zu. »Gut«, murrte ich und drückte auf der Konsole herum. Dann machte die Tür klick. Die Stille, die plötzlich den Raum erfüllte, drückte mir auf den Magen. Ich spürte die Blicke, die ich versuchte zu ignorieren. Ich war ein verdammter Profi darin. »Lasst es«, murrte ich. Nur dieses Mal schaffte ich es nicht. »Ich meine ja nur. Sie gibt sich doch echt Mühe.« »Vielleicht hat sie das Gefühl, sie muss Jahre aufholen«, murrte ich. »Vielleicht will sie dir auch einfach nur einen Gefallen tun?«, fragte Yugi und traf diesen Ton, der keine Frage mehr war. »Hat sie keiner drum gebeten. Wir haben aber gerade auch echt andere Probleme«, murmelte ich und fuhr mir durchs Haar. »Ich sag’s ja nur ungern, aber vielleicht sollten wir es doch Kaiba sagen«, gab Tristan zu bedenken und lehnte sich zurück ins Kissen, während er sich wieder die Chips krallte. »Das hatten wir schon«, murrte ich, »wir drehen uns im Kreis.« »Genau das ist’s ja.« Tristan sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Wir kriegen keinen gescheiten Plan hin. Mokuba hat ernste Probleme und ich glaube langsam nicht mehr, dass wir ihm da wirklich helfen können. Er hat sogar diesen Christian in Schutz genommen. Warum hat er es dem Schulleiter nicht einfach gesagt?« Tristan hatte nicht Unrecht. Wenn ich ehrlich war, huschte das schon eine ganze Weile in meinen Gedanken herum. Vielleicht hatte Mokuba Angst vor etwas? Aber er wirkte nicht besorgt, im Gegenteil. Er schien verdammt wütend. Aber vielleicht war das nur eine Maske? Ging nicht jeder anders mit Ängsten um? Wer wusste schon, wie jemand auf direkte Drohungen reagierte, bis man tatsächlich direkt bedroht wurde? Mein Blick wanderte von Tris zu Yugi. Er saß da, die Konsole in der Hand, viel zu konzentriert auf das Spiel auf dem Bildschirm. Jeder hier im Raum wusste, dass er uns bei dem Spiel im Schlaf abzockte. »Warum hast du uns damals nicht verraten?«, fragte ich. Yugi zuckte zusammen. Als hätte ich ihn erwischt. Mir war nur nicht klar, wobei. Seine Augen groß und weit, als hätte ich Bambi aufgeschreckt. Sein Blick löste sich langsam vom Fernseher und streifte mein Gesicht. »Ihr habt mich nicht übersehen«, murmelte er und sah an mir vorbei an die Wand. Ich verstand kein Wort. Mein Blick huschte zu Tristan, der die Schultern zuckte und ebenso planlos aussah, wie ich mich fühlte. Yugi räusperte sich und grinste schief. »Ihr wart die Einzigen, die mitbekommen haben, dass ich da bin. Ich wusste, dass ihr es eigentlich gar nicht auf mich abgesehen hattet. Ihr wart selbst mit euch unglücklich und hattet irgendwelche Probleme. Ich dachte, wenn ihr mich besser kennen würdet, dann könnten wir Freunde sein.« Yugi war unsichtbar gewesen. Für die meisten war er damals ein seltsamer Junge, der meistens alleine in der Ecke gehockt hatte. Für uns war er ein einfaches Opfer gewesen. Warum? Ich seufzte und ließ meinen Kopf auf meine Hände sinken, meine Ellenbogen auf meine Knie gestützt. Weil wir Idioten gewesen waren, die selbst mit ihren Problemen nicht klarkamen. Yugi hatte Recht. Wir hatten unseren Frust an ihm ausgelassen. Und jetzt? Ließ Christian seinen Frust an Mokuba aus? Dachte Mokuba, Christian würde sein Schweigen, seinen Schutz verdienen? Wie das? Ich griff mir ins Haar, als könnte das die Gedanken und Fragen in meinem Kopf irgendwie stoppen. Fühlte sich Mokuba unsichtbar? Mit einem Schnauben ließ ich mich nach hinten ins Bett fallen, zwischen Yugi und Tristan und starrte an die Decke. Ich hoffte, uns würde an dem Wochenende noch etwas Geniales einfallen. Aber das tat es nicht. Also begann die nächste Woche mehr oder weniger, wie die letzte geendet hatte.   Ich konnte die Nachrichten ignorieren, die blöden Blicke und das Gewisper, sobald ich ihnen den Rücken zudrehte. Irgendwann würde das schon wieder aufhören. Meine eigentlichen Sorgen schwebten um Mokuba herum. Und damit auch um Kaiba. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Mokubas Probleme nicht ohne Kaiba zu lösen waren. Aber mir war klar, dass Mokuba davon nichts wissen wollte. Wahrscheinlich war genau das ein weiteres Problem, das alle anderen miteinander verknüpfte. »Joey«, flüsterte Tris und rüttelte meinen Arm. Mein Blick schoss nach vorne, wo mich unser Lehrer genervt anschaute. »Wie bitte?«, fragte ich. Ich saß wie immer in der vorletzten Reihe, wo es so viel einfacher war in der Masse zu verschwinden. Nun ja, außer die Masse drehte sich zu einem um. »Wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit bitte von gewissen anderen Schülern zurück zur Tafel lenken könnten«, erwiderte er trocken und schaute pointiert zu Kaiba, der völlig desinteressiert an allen vorbei nach vorne sah, als bekäme er die ganzen Blicke nicht mit oder das Gekicher oder das Gewisper. Ich redete mir ein, dass die Hitze, die meinen Kopf zu füllen schien, nichts damit zu tun hatte. Kaiba war ein Arsch. »Hey, Wheeler! Kannst dich auf nichts Anderes konzentrieren als deinen Lover, ne?« Aber unsere Klassenkameraden konnten nicht weniger arschig sein. Als wir zur Pause auf den Schulhof gingen hatten plötzlich alle eine Meinung. Nicht, dass es mich groß interessierte. Wir hatten da wirklich andere Sachen zu erledigen. Zum Beispiel Mokuba davor zu bewahren wieder in irgendwelche Schwierigkeiten zu geraten. Und ich bildete mir ein, wahrscheinlich, weil wir es jetzt so viele Tage und Wochen durchgehalten hatten, dass es alles gut ausgehen würde. Jemand machte Knutschgeräusche hinter mir. Tris wollte sich schon umdrehen, aber ich zog ihn weiter. »Lass die, ist doch egal.« »Die trauen sich die Scheiße nur, wenn Kaiba grade nicht da ist«, murrte er und ich glaubte, es juckte an seinem Stolz, dass allein unsere Anwesenheit die Idioten nicht zum Schweigen brachte. »Die Scheiße machen doch eh nur die mit einem kleinen Pimmel«, gab ich in einem Singsang von mir. Die Worte kamen immer lauter aus meinem Mund und ich machte eine kleine Pirouette, um einmal meinen Blick nach hinten zu schießen, wo schnell jemand seinen Kopf einzog. Tristan brach neben mir immer wieder in Lachen aus und Yugi grinste schief. Aber wir drängten uns weiter durch die Gänge. Mehr Zeit verschwendeten wir nicht mit diesen Dummschwätzern, die echt keine Ahnung hatten. Mokuba war jetzt viel wichtiger.   Ich glaube, viele Menschen nehmen ihre besten Freunde als selbstverständlich. Das ist es ja auch irgendwie, was es ausmacht. Es ist klar, dass man zusammensteht, es gehört sich, füreinander da zu sein. Aber erst, wenn Freundschaften zerbrechen, bemerkt man, wie wichtig sie eigentlich waren. In einer Ecke des Schulhofs stand Mokuba. Ein Junge und ein Mädchen in seinem Alter redeten auf ihn ein. Er verzog nicht einmal das Gesicht, sondern zuckte nur mit den Schultern. »Hey, alles klar bei euch?« Mein Blick wanderte vom einen zum anderen. Das Mädchen zwirbelte eine Strähne ihres roten Haares mit ihrem Finger und schien darauf zu warten, dass Mokuba etwas sagte. Sie musterte ihn einen Augenblick lang, als er beharrlich schwieg, wandte sie sich ab. »Falls du deine Meinung änderst, weißt du, wo du uns finden kannst.« Dann schritt sie davon. Der Junge fuhr durch sein blondes Haar und schob seine Brille auf der Nase zurecht. »Mokuba«, sagte er, »bist du dir sicher? Ich glaube echt nicht, dass –« Mokuba schnaubte. »Das ist mir völlig egal«, murrte er. »Was ist hier denn los?«, fragte Tristan und runzelte die Stirn. Tobi seufzte. »Mokuba hat gemeint, dass –« »Das geht die nichts an«, fiel er ihm ins Wort und Tobi zuckte die Achseln. »Wie du meinst. Ich schaue mal nach Zoe.« Mit einem letzten Blick zurück zu Mokuba – den der ignorierte – vergrub er seine Hände in den Hosentaschen und lief zu Zoe, die offensichtlich auf ihn wartete. »Was ist denn passiert?«, fragte ich. Mokuba schwieg und schaute an uns vorbei. Als ich seinem Blick folgte, entdeckte ich Christian, der inmitten einer Gruppe aus Jungs und Mädels stand. Die anderen schienen um seine Aufmerksamkeit zu buhlen. Dann schaute er auf und erwiderte meinen Blick. Seine Lippen hoben sich zu einem Grinsen und er nickte mir zu. Ich ballte meine Fäuste in den Hosentaschen und wandte mich ab. Mein Blick schweifte zu Kaiba, der am anderen Ende des Schulhofes saß. Dort, wo er sich immer in der Pause mit dem Laptop auf dem Schoß hinter seinen Datensätzen und Aktienkursen verschanze. Einen gemeinen Moment lang fragte ich mich, ob er es mitbekommen würde, wenn Mokuba quasi vor seiner Nase verschlagen werden würde. Ob er erst dann kapieren würde, was hier abging. Ob er sich dazwischenwerfen und selbst im Dreck landen würde. Ob er Roland die Sache anvertrauen oder selbst mit Christian abrechnen würde. Die Schulglocke riss mich aus meinen Gedanken. »Kommst du klar?«, fragte ich und hielt Mokuba an der Schulter fest. Er drehte sich nicht zu mir, blieb aber stehen und atmete tief durch. »Natürlich.« Vielleicht war es diese offensichtliche Lüge oder Mokubas Blick, der stur nach geradeaus sah. Vorbei an seinem Bruder, vorbei an Christian. Vielleicht war es, wie Zoe und Tobi in wohlbedachter Entfernung vor uns ins Schulgebäude stapften. Bisher waren die Drei ein Team gewesen. Selbstverständlich waren sie an Mokubas Seite, wenn wir es nicht sein konnten. Ohne Frage standen sie ihm bei. Was war also passiert, dass Tobi Mokuba kaum mehr anschauen konnte und Zoe zornig vor ihm wegschritt? Ich hatte das Gefühl, dabei zusehen zu können, wie dieses Gerüst zusammenbrach. Wie wir versuchten, etwas aufzuhalten, was sich immer mehr in unseren Alltag fraß. Als würde sich ihre Freundschaft Band um Band auflösen. Die Gänge schienen zu eng für die vielen Schüler und so drängten wir uns in die Klassenzimmer. »Bis dann«, sagte ich. »Pass auf dich auf.« Mokuba grinste schief, hob die Hand und verschwand um die nächste Ecke. In diesem Augenblick glaubte ich daran, dass wir das alles schon irgendwie hinbekommen würden. Das Gefühl hielt bis in die nächste Stunde und verpuffte, als unser Lehrer an die Tafel schrieb: Nach der Schule – Studium, Ausbildung oder was? Mit einem unterdrückten Stöhnen ließ ich meinen Kopf auf die Tischplatte sinken.   Ich träumte davon, weit weg zu gehen. In ein Leben aufzubrechen, in dem mein Name nichts bedeutete und ich ihm selbst Bedeutung verleihen konnte. In dem niemand seine Stirn runzelte, wenn er meinen Namen hörte und niemand die Augen verdrehte, wenn ich vor ihm stand. Ich wollte nichts geschenkt, nur die faire Chance, mich zu beweisen. Nach Schulschluss diskutierten Tristan und Yugi Bewerbungsfristen, Ausbildungsmessen und Studienorte. Ich schwieg. »Wo willst du dich bewerben?«, fragte Yugi, als wir nebeneinander nach Hause liefen. Ich zuckte die Schultern. »Oder willst du doch dein Abi machen?« Ich verzog mein Gesicht und Yugi klopfte auf meine Schulter. »Ich denke, du könntest es schaffen.« »Ich will weg von hier«, murmelte ich. Ich wollte nicht schon wieder seine Rede hören. Vielleicht könnte ich es wirklich schaffen. Immerhin musste ich nicht mehr jobben, hätte mehr Zeit, um zu lernen. Meine Mutter würde mir sicherlich sogar einen Nachhilfelehrer beschaffen oder mehrere, um mich durchs Abi zu schleppen. Aber ich hatte das Gefühl zu ersticken. Zu zerreißen. Als packte mich jeder an Armen und Beinen und zerpflückte mich. »Was willst du denn werden?«, fragte Yugi. »Reich«, witzelte ich. Ich glaube, viele Menschen denken, wenn sie nur etwas mehr Geld hätten, wären sie glücklicher. Dass ihre Probleme dann verwehen würden wie die Atemluft an kalten Wintertagen. »Nein, eigentlich nicht«, fuhr ich nachdenklich fort. »Ich will endlich unabhängig sein. Irgendwie reisen. Und genug verdienen, dass ich davon recht gut leben kann.« Am liebsten würde ich zeichnen und malen. Wenn meine Zeichnungen und Bilder dann noch andere erreichen könnten – ich schüttelte den Kopf. Das waren nur Träume. »Ich habe noch das Geld von der Werbung für Kaibas Turnier. Damit kann ich eine ganze Zeit klarkommen. Aber noch keinen Plan, was ich dann machen will.« Vielleicht hatte ich auch zu viele Ideen, aber traute mich nicht, sie laut auszusprechen. Es waren wahnwitzige Gedanken. Pläne, die mich zum Schwitzen brachten und nachts kein Auge zumachen ließen. »Du wirst schon das finden, was dich wirklich interessiert«, sagte Yugi und lächelte. »Ja«, erwiderte ich gedehnt und verschränkte meine Arme hinterm Kopf. Yugi verabschiedete sich und verschwand im Spieleladen seines Großvaters. Ich sah ihm einen Moment lang nach, starrte die Tür an, durch die ich so oft gegangen war, dann drehte ich mich um und trottete die Straße entlang. An den Fassaden der Gebäude leuchtete Reklame, in den Schaufenstern priesen sie ihre Produkte an. An den Haustüren der Wohngebäude lagen Zeitungen. Seto Kaiba prangerte auf dem Titelbild. Ich daneben. Meine Zeichnungen darunter. Ich riss meinen Blick los und lief weiter. Die Hochhäuser der Innenstadt schienen am blauen Himmel zu kratzen. Von weitem sah ich die Kaiba Corporation in die Höhe ragen. Mit Seto Kaiba hatte ich es geschafft irgendwo da oben anzukommen. Das Gefühl war berauschend. Aber ich würde dort nicht bleiben. Ich gehörte da nicht hin. Es war nur ein Einblick in eine fremde Welt gewesen. Als wäre mein Traum für einen Augenblick Realität geworden.. Vielleicht könnte ich mich an Kaiba hängen und mich von Job zu Job hangeln, immer wieder die Typen da oben überzeugen. Aber würde ich mich dabei nicht auch abhängig machen? Konnte ich da überhaupt ich bleiben? Oder würde ich nicht einer von den Lackaffen werden? Langsam musste ich wieder zu den Tatsachen zurückkommen. Mein Name bedeutete nichts. Aber das würde nicht so bleiben. Ich würde mir selbst etwas aufbauen und beweisen, dass ich verdammt nochmal etwas konnte. Die Frage war nur, wie. Und was. Und überhaupt. Vielleicht war ich doch nur ein verpeilter Träumer. Mit einem Schnauben schloss ich die Haustür auf. Als ich in den Flur des Hauses meiner Mutter trat, kam mir schon mein kleiner Bruder entgegen, flog mir geradezu in die Arme und plapperte fröhlich vor sich her. Serenity folgte ihm. »In deinem Zimmer wartet jemand auf dich?«, flüsterte sie und es klang wie eine Frage. Ich runzelte die Stirn und zog mir die Schuhe aus. »Öh.« Hatte Yugi etwas vergessen – oder Tris? Aber die hätten mir sicherlich nur schnell eine Message geschrieben, damit ich es ihnen morgen in die Schule bringe. Hatte ich etwas vergessen? Oder jemanden? »Oh, Joey, da bist du ja«, rief meine Mutter von der Küche aus. »Du hast Besuch. Er wartet in deinem Zimmer. Ein ganz höflicher junger Mann. Wirklich total nett. Meinte, ihr seid schon länger gut miteinander bekannt. Warum hast du ihn uns bisher noch nicht vorgestellt? Er –« Ich wartete nicht, bis sie mit ihrem Geplapper fertig war, sondern nahm mehrere Stufen gleichzeitig, stieß die Tür zu meinem Raum auf und erstarrte. Er saß auf meinem Bett, als gehörte es ihm. Darauf ausgebreitet lagen die Fotos und Zeitungsartikel über Seto Kaiba, die ich sorgfältig unter meinem Bett in einem Schuhkarton aufbewahrt hatte. »Hallo, Joey«, begrüßte mich Christian mit einem Grinsen, das mir die Magensäure in die Lungen jagte. Kapitel 64: ... bin mittendrin ------------------------------ __________________________________________   Wagst schnell mal einen Schritt zur Seite, willst einmal nur du selber sein! Vor dir liegt blühend schöne Weite, du mittendrin, allein. Allein! © Gabi Künzel   __________________________________________           Ich war ein Chaot, ein Schmarotzer und ein asozialer Idiot. »Was zur Hölle machst du hier?«, fragte ich zwischen zusammengekniffenen Lippen. Er lachte leise und hob die Hände. Das waren Rollen, in denen mich jeder kannte – mehr oder weniger. Einer, der nicht wusste, was er wollte. Der, der statt zu reden, zuschlug. Jemand, der nicht lange fackelte, sondern sich mitten ins Geschehen stürzte – ohne Rücksicht auf Verluste. Vor ein paar Jahren wäre ich auf ihn losgegangen. Ich hätte ihn an seinen Haaren aus meinem Zimmer geschleift und aus der Haustür getreten. Wortwörtlich. Eins. »Keine Sorge, ich habe nichts durcheinander gebracht in deiner Fanboy-Sammlung.« Einen Augenblick lang erwog ich die Option nach seinem Spruch auch jetzt, aber ich war nicht dumm. Zwei. »Was willst du?«, fragte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Christian war kein Typ, der einen nur belästigte, um zu belästigen. Dafür hatte er zu viel auf dem Kasten. Er wäre nicht extra hierhergekommen, nur um mich auf hundertachtzig zu bekommen. »Ich hätte einen Vorschlag«, sagte er, nahm sich eines der Fotos und strich mit seinem Zeigefinger darüber. Mokuba war darauf abgebildet. Nicht älter als sechs Jahre. Wie er sich an einen kleinen Seto Kaiba hängte und lachte. Drei. Am liebsten hätte ich es ihm aus der Hand geschlagen, aber darauf legte er es sicherlich an. Ich würde ihm nicht mehr Karten in die Hand geben, als er ohnehin schon zu haben glaubte. »Willst du, dass ich dir jedes beschissene Wort aus der Nase ziehe oder sagst du jetzt mal endlich, was los ist?«, brach es dann doch aus mir heraus, als er einfach nur schwieg und das Bild betrachtete. »Ich hatte eine Idee, an der du sicherlich interessiert bist«, sagte er ganz ruhig, ohne mich anzusehen. »Statt auf dem armen, kleinen Mokuba herumzuhacken, meine ich.« Vier. Er verstummte und zeichnete mit seinem Finger Mokubas Konturen nach. Diese Geste wirkte viel zu vertraut, als überschritt er hier vor meinen Augen eine Grenze, die er nicht einmal anzusehen hatte. In mir stieg das Gefühl auf, ihn am Kragen zu packen, seinen Blick von diesen Bildern zu reißen und ihm das Grinsen aus dem Gesicht zu schlagen. »Wobei er ja gar nicht so arm ist, nicht?« Fünf. Er lachte über seinen eigenen Scherz. »Aber das ist sicherlich Ansichtssache«, fuhr er nüchtern fort. Ich blieb ruhig. Ich blieb ruhig. Ich blieb ruhig. Ich blieb – »Was soll die Scheiße hier? Willst du jetzt stattdessen auf mir herumhacken oder was? Warum bist du hier?« Christian lachte. »Das wäre zu primitiv. Nein.« Er legte das Bild zurück, schlug ein Bein über das andere und sah mir direkt in die Augen. »Stattdessen knüpfe ich mir den reichen großen Seto Kaiba vor.« Mir blieb die Spucke weg. Bitte was? Der Typ tickte doch nicht ganz richtig. »Du hast keine Chance gegen ihn«, sprach ich laut aus, was mir als erstes durch den Kopf schoss. »Und da kommst du ins Spiel.« »Ja, nee. Ist klar«, spottete ich und runzelte die Stirn, aber er ließ sich kein bisschen verunsichern.   »Ist es dir noch nicht aufgefallen? Du regst dich dermaßen über mich auf, willst Mokuba um jeden Preis vor mir schützen. Aber weißt du, was du dabei übersiehst?« Einen zuverlässigen Weg, um Christian auszuschalten? Auf einem nicht ganz illegalen Weg? »Den größten Bully von allen. Der, der Mokubas Leben wirklich zur Hölle macht. Das bin nicht ich.« Und in diesem Augenblick ahnte ich, warum Christian ausgerechnet hier bei mir war. In meinem Bauch begann es zu rumpeln, in meinen Ohren rauschte das Blut. Er würde es nicht wagen zu sagen. Er würde es nicht wagen zu behaupten. Er hatte doch keine Ahnung. »Sondern der tolle Seto Kaiba. Aber das wusstest du schon, oder?« »Du hast keinen Plan. Was du sagst ist der größte Bullshit«, widersprach ich sofort, aber er lächelte nur. »Dann wirst du sicherlich nichts gegen meinen Vorschlag haben. Eine Wette.« Das hier wurde doch immer bescheuerter. »Findet Seto Kaiba nicht von alleine und direkt von Mokuba bis nächsten Montag heraus, dass Mokuba ernste Probleme an der Schule hat –« »Du meinst, mit dir?« »Dann gibst du mir die Information, wie wir den tollen Seto Kaiba kriegen.« Ich blinzelte. »Warum?« Christian lachte. So wie jemand, der seinen eigenen Witz erklären musste. »Du würdest Mokuba eine Menge ersparen.« Ich verdrehte die Augen. »Ich meine, was willst du von Kaiba?« »Ich habe gedacht, das würdest du am besten verstehen.« Christian warf mir einen abwägenden Blick zu. Als maß er etwas in Gedanken. »Weil Seto Kaiba es verdient hat. Er tut so, als wäre er etwas Besseres, aber in Wirklichkeit, ist er ein Arschloch, der nicht einmal auf seinen kleinen Bruder achtet. Ihm gehen Menschen am Arsch vorbei. Seine Mitschüler, seine Mitarbeiter, sogar Mokuba.« »Und du bist der Rächer der Unterdrückten, oder was?«, spöttelte ich. »Warum sollte ich Kaiba nicht einfach sagen, was für eine Scheiße du hier gerade und auch mit Mokuba abziehst?«   »Du bist der einzige, dem er noch vertraut. Wenn du ihn verrätst, was denkst du, würde Mokuba tun?« Dann wäre Mokuba völlig alleine. Wer wusste schon, auf welche abgefahrenen Ideen ein unterschätztes Genie wie Mokuba käme, wenn er sich von allen verraten fühlte? Ich wusste es nicht, aber ich befürchtete, wir würden es alle zu spüren bekommen. Noch hatte ich aber das Gefühl, ich würde Mokuba wieder auf Spur kriegen. Aber dafür musste er mir vertrauen. Christian hatte Recht. Ich saß in der Zwickmühle. »Was bekomme ich, wenn Kaiba das mit Mokuba herausfindet?« »Dein Leben zurück.« »Was zur –« »Du wirst es schon noch kapieren.« Er erhob sich, warf einen letzten Blick auf die ausgebreiteten Bilder und Zeitungsartikel und Ausschnitte auf der Matratze, lächelte mir zu und ich bekam dieses Gefühl, als ätzte Säure meine Lunge weg. »Natürlich bleibt diese nette Unterhaltung unter uns. Andernfalls sehe ich die Wette als von dir verloren an.« Ich beobachtete argwöhnisch, wie er mein Zimmer durchquerte und an mir vorbeischritt. »Christian«, sagte ich und er hielt an der Tür inne ohne zurückzuschauen. »Warum glaubst du überhaupt, dass ich irgendwas wissen könnte, das du gegen Kaiba verwenden kannst?« Er schnaubte und grinste verächtlich. »Die Leute, die einem am nächsten stehen, können uns immer am leichtesten verletzen.«   In der Nacht beobachtete ich die Schatten, die die Straßenlampe an die Zimmerdecke malte. Wenn ich meine Augen schloss, dröhnten die Worte von Christian in meinem Kopf. Wenn ich die Augen öffnete, flüsterte er nur. Ich wusste, ich würde diese Nacht kaum ein Auge zumachen. In meinem Hals stieg das Gefühl hoch, langsam zu ertrinken. Jedes Mal, wenn ich ein Problem gelöst hatte, brach an einer anderen Ecke ein neues hervor. Als stünde ich in einem Boot, das immer mehr Löcher zeigte. Ich watete schon knöcheltief im Wasser. Und obwohl ich das Wasser wie ein Wahnsinniger aus dem Boot schöpfte, lief immer mehr hinein. Jemand öffnete meine Zimmertür einen Spalt breit. »Joey?«, flüsterte eine Stimme. »Schläfst du schon?« »Ja«, erwiderte ich trocken. Serenity gluckste und ich hörte, wie sie gemächlich, aber zielstrebig mein Zimmer durchquerte und sich neben mich auf die Matratze legte. »Dieser Christian ist kein Freund von dir«, flüsterte sie. »Nope«, antwortete ich ebenso leise. »Er ist ein richtig hinterhältiger Typ, der sau viele Probleme macht. Geht auf meine Schule.« Sie summte kurz. »Was für Probleme?« »Also – er – ich meine – das kann ich leider nicht sagen. Es ist –« Ich suchte nach dem richtigen Wort. »Kompliziert«, endete ich lahm. Serenity atmete tief durch. »Wann ist es das nicht?«, fragte sie. »Will er Geld von dir?« »Was? Wie kommst du darauf?« »Naja, ich habe gedacht, dass er vielleicht – weil du doch früher –« Ich atmete tief durch. Am liebsten hätte ich mich darüber aufgeregt, wie sie so etwas von mir denken könnte. Aber sie lag nicht ganz falsch. Es wäre durchaus möglich gewesen. »Nein, er will kein Geld.« Ich überlegte. War das seltsam? Es stand in jeder Zeitung. Meine Zusammenarbeit mit Kaiba bedeutete natürlich auch Cash. Wäre es nicht naheliegend gewesen, dass er das auf seine Liste der Schikanen setzte? »Irgendwie weiß er, wie er einen richtig dranbekommt«, flüsterte ich. Ich hatte das Gefühl, dass er ganz genau die Schwächen anderer Menschen ausnutzte. Ich brauchte Geld nur, um mein Leben finanziell hinzubekommen. Mehr bedeutete es mir nicht. Nein, er nutzte lieber Schwachpunkte, die einen wirklich trafen. Mokuba wiegelte er gegen seinen großen Bruder auf. Mich wollte er gegen Kaiba benutzen. »Irgendwie erinnert er mich an mich«, hauchte ich und wusste gar nicht, woher die Worte gekommen waren. Ich spürte, wie Serenity sich anspannte und schon im Begriff war, mir zu widersprechen. Aber ich ließ es nicht zu. »Ich war so wie er«, sagte ich. »Tris und ich, wir beide. Wir haben Yugi das Leben ganz schön zur Hölle gemacht.« Die Erinnerungen daran taten mir weh. Wenn ich heute daran zurückdachte war es, als hätte mir jemand Gedanken einer fremden Person eingepflanzt. Ich konnte kaum noch nachvollziehen, warum wir es getan hatten, wie wir es gerechtfertigt hatten. »Wir haben ihm die Dinge, die er am liebsten mochte, versaut. Wir haben seine Spiele in der Schule kaputt gemacht, seine Karten zerrissen und seinen Gameboy ins Klo geworfen.« Ich starrte an die Decke. Obwohl ich Serenitys Mimik schemenhaft hätte erkennen können, schaute ich sie nicht an. Ich konnte es nicht. »Auf dem Heimweg haben wir uns über seinen Großvater lustig gemacht und gefragt, ob seine Eltern abgehauen sind, weil sie sich nicht mehr mit so einem Loser wie ihm herumschlagen wollten.« Serenity zog scharf die Luft ein. »Ihr wart richtige Arschlöcher.« So ein Wort aus ihrem Wort brannte besonders. Sie war sonst so nachsichtig und gutmütig. Aber sie hatte Recht. »Ja«, sagte ich nur. »Warum habt ihr es gemacht?« Ich wollte es ihr gerne erklären. Ich wollte es auch mir selbst erklären, aber jeder Versuch schmeckte fade. Wie Ausreden, die man sich zu oft vorgesagt hatte. »Yugi hat gemeint, wir hätten damals selbst Probleme gehabt, mit denen wir einfach nicht klargekommen sind.« Wir schwiegen. Ich hätte gerne gewusst, woran sie dachte, aber ich traute mich nicht zu fragen. Wahrscheinlich fürchtete ich die Antwort. »Vielleicht geht es diesem Christian ja ähnlich?«, sagte sie und es klang wie eine Frage. »Ja«, erwiderte ich lahm. »Wer weiß schon, was in seinem kranken Hirn vor sich geht?« Aber hatte ich nicht einmal so ähnlich gedacht wie er? Seto Kaiba, der größte Arsch von allen. Der, den jeder in den Himmel lobte, weil er so ein Genie war, aber in Wirklichkeit kannte ihn niemand. Es zählten nur seine Erfolge. Wie behandelte er Menschen, denen es nicht gut ging? Die nicht mit ihm mithalten konnten, egal finanziell, vom sozialen Status oder leistungsorientiert? Aber wer war für ihn da, wenn es ihm schlecht ging? Hatte es Seto Kaiba verdient?   Dienstagmorgen fasste ich einen Plan. Mokuba und Kaiba müssten einfach in Ruhe miteinander reden. Zumindest wäre das ein erster Schritt. Mokuba würde seine Vorwürfe loswerden, Kaiba könnte seine Phrasen aussprechen und dann könnte endlich wieder alles zurück zum Alten gehen. Natürlich war ich nicht naiv. Die beiden würden das nicht alleine hinbekommen. Deswegen bräuchten wir da noch etwas Hilfe. Auch daran hatte ich gedacht. Nach der Schule schlenderte ich also durch den Haupteingang der Kaiba Corporation, fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben und klopfte an ihr Büro. Auf Sarahs Schoß lagen verschiedene Skizzen, auf ihrem Schreibtisch lagen Flyer und Magazine. Ihr Computer zeigte meine Vorlagen, verarbeitet mit verschiedenen Hintergründen und Texten. Sie rückte gerade ihre Brille zurecht, schaute zu mir auf und lächelte. »Ich sage es ja, irgendwie zieht es einen immer wieder hierher zurück, nicht?« Ich schnaubte, aber lächelte schief. Ob es Kaiba auch so ging? Zog es ihn deswegen immer wieder in die Kaiba Corporation, weil er versuchte, die Probleme anderer zu lösen? Ich bezweifelte es. Aber jeder hatte seine Gründe. Sarah bedeutete mir, mich zu setzen. »Du weißt ja, warum ich hier bin«, sagte ich. Natürlich hatten weder sie noch ich unser letztes Gespräch vergessen. Es schwang mit, wie ein unsichtbares Instrument im Hintergrund. »Ja«, seufzte sie. »Ich kann die beiden natürlich zu nichts zwingen.« Und ich dachte schon, das wäre es gewesen. »Aber die beiden sollten wirklich einfach mal miteinander reden. Wir finden schon eine Lösung«, fuhr sie fort und ich atmete erleichtert aus. Sie lachte auf. »Hattest du wirklich gedacht, ich würde die beiden oder dich im Stich lassen?« Natürlich nicht. Aber ich verstand auch, dass jeder Mensch selbst Probleme und Sorgen hatte. Manchmal war es da zu viel, sich noch um die anderer zu kümmern. »Es ist manchmal eben kompliziert«, antwortete ich. Darauf erwiderte sie nichts, sondern schaute zurück zu ihrem Computer, dann zu mir. »Ich habe erst vor wenigen Tagen die Liste der Einladungen zugeschickt bekommen und du glaubst nicht, welchen Namen ich darauf gesehen habe.« Sie lächelte, nahm ihre Brille von der Nase und putzte die Brillengläser, obwohl ich mir sicher war, dass die einwandfrei waren. Dann setzte sie sie wieder auf und musterte mich über den Rand der Einfassung hinweg. »Oh. Ja. Das. Also Kaiba hat gemeint, das wäre kein Problem. Oder so.« Sie hob ihre Augenbraue. »Ja. Ich bin mir sicher, dass das genau seine Worte waren.« Sie schien auf etwas zu warten, aber ich glotzte sie nur an, wie ein Fisch auf dem Trockenen. »Ich glaube, du verstehst nicht ganz, was das bedeutet«, behauptete sie und ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her. »Was meinst du?« Ich hatte dieses mulmige Gefühl, das mich immer in Prüfungen überfiel. »Seto Kaiba hat dich als Ehrengast zu seinem Turnier eingeladen. Offiziell.« Vor lauter Mokuba, Christian, meiner Mutter und all den Dingen, die noch im Alltag dazukamen, hatte ich das verdrängt, übersehen, irgendwie nicht so richtig wahrgenommen. »Das heißt Rampenlicht, Reporter, viel, viel Öffentlichkeit –«, fuhr sie fort, wie nebenbei und ich schluckte. In der jetzigen Situation konnte ich das eigentlich gar nicht gebrauchen. »Was würdest du darauf antworten, wenn dich jemand fragt, warum du als Ehrengast auf dem Turnier bist?« Dass ich Glück hatte. »Weil ich ein toller Duellant bin. Auch wenn Kaiba das anders sieht. Ist mir egal.« Vielleicht würde ich es irgendwann selbst glauben. »Und warum sollte Seto das anders sehen?« Ich zuckte die Schultern. »Weil er das immer so sagt. Ist echt kein Geheimnis, was er da von mir hält. Drittklassiger Duellant und alles.« Sarah legte ihren Finger an den Mund und schien nachdenklich. Sie beobachtete mich, als studierte sie ein seltenes Exemplar aus dem Zoo. »Und wenn er das wirklich so denkt, wie du sagst, warum sollte er dich dann als Ehrengast einladen?« »Ja, also – ähm –« Das war eine berechtigte Frage. Aber die Antworten, die mir einfielen, klangen viel zu abstrus. »Da gibt es doch nur zwei Möglichkeiten«, sagte sie und grinste. Sie hob einen Zeigefinger in die Höhe. »Seto meint es nicht so, wenn er sagt, dass du ein drittklassiger Duellant bist.« Ich öffnete den Mund, um zu widersprechen. Wenn es eine Sache gab, bei der ich mir sicher war, was Seto Kaiba und mich betraf, dann doch die, was er über mich als Duellanten dachte. Aber Sarah ließ mich nicht zu Wort kommen. »Und das, was er tut wiegt mehr als das, was er sagt.« Sie fügte ihrem Zeigefinger ihren Mittelfinger hinzu. »Oder er ist ein Idiot, der gegen besseres Wissen einen drittklassigen Duellanten zu seinem Turnier einlädt.« Kaiba war die durchdachteste Person, die ich kannte. Er schmiedete Pläne, die ich nicht einmal im Ansatz verstand. Vielleicht hatte er irgendeine geheime Agenda, die ich einfach nicht begriff. Aber eines würde er nie tun: gegen besseres Wissen handeln. »Oh«, machte ich. Langsam ahnte ich, worauf sie hinauswollte. »So viel zu kompliziert, nicht?«, sagte sie und zwinkerte mir zu. Ich kämpfte also nicht nur damit, wie ich das mit den beiden Kaiba-Brüdern hinbog, sondern auch wie ich eigentlich zu dem Turnier und damit inbegriffen wie Kaiba zu mir stand. Mit einem Seufzen ließ ich mich tiefer in den Stuhl sinken.   Natürlich wäre es leicht gewesen, Kaiba in der Firma abzufangen oder – meine bevorzugte Methode – einfach in sein Büro zu spazieren und einzutreiben, was mir zustand. Normalerweise lief das. Aber die Situation derzeit erforderte eine andere Herangehensweise. Nämlich eine, die Seto Kaiba nicht schon wütend machte, bevor ich auch nur den Mund aufgemacht hatte. Den restlichen Dienstag versuchte ich vergeblich Mokuba zu erreichen. Er antwortete nicht auf SMS oder Messages, hob nicht ab und so stand ich vor der Villa vor verschlossenen Türen. Als es plötzlich anfing vom Himmel zu pissen, wandte ich mich selbst angepisst um und trottete nach Hause.     Am Mittwoch standen entsprechend noch zwei ziemlich wichtige Personen auf meiner gedanklichen Liste. Nämlich die beiden, die das Gespräch führen sollten. In der Hofpause schnappte ich mir Mokuba und nahm ihn zur Seite. Yugi, Tris und Thea quatschten gerade eh über die Berufsinformationsstunde nächste Woche und es hing mir zu den Ohren heraus. »Was hast du gestern gemacht? Ich habe dir hundert Nachrichten geschrieben«, begann ich. »Sechzehn«, erwiderte er trocken. »Und ich habe dir geantwortet.« Ich verdrehte die Augen. »Um zwei Uhr nachts. Was hast du so lange noch gemacht?« Als ich die Worte aus meinem Mund hörte, hätte ich mich am liebsten gleich geboxt. Ich klang fast wie meine Mutter. Joey, wo gehst du hin? Wo warst du? Hast du schon deine Hausaufgaben gemacht? Hast du schon in der Schule gegessen? Joey, was macht du gerade? Er verengte seine Augen zu Schlitzen. »Warum?«, fragte er. Weil du verdammt nochmal dreizehn bist und um zwei Uhr nachts schon lange schlafen solltest. Weil ich mir Sorgen um dich mache. Weil ich wissen will, was in deinem Leben ansteht. Weil ich für dich da bin. Ich schluckte. Und für einen Augenblick zuckte das Bild meiner Mutter durch meine Gedanken. Dachte sie das auch, wenn ich ihr so antwortete? War das eigentlich gar nicht so kontrollierend gemeint, so einengend, so als würde sie mir nicht vertrauen? Ich schüttelte diese Flut an Fragen ab. Mokuba weiter in die Enge zu treiben, hätte mich jetzt nicht weitergebracht. Also zuckte ich die Schultern. »Hör zu, ich brauche deine Hilfe. Es geht um Mathe und so«, fuhr ich zerknirscht fort und klopfte mir innerlich auf die Schultern. Beim Thema Mathe brauchte ich wirklich kein Schauspieltalent, um Mitleid zu erregen. »Achso.« »Also hilfst du mir?« Er grinste und für einen Augenblick glaubte ich, den kleinen Jungen wieder vor mir zu haben, den ich damals kennen gelernt hatte. »Ja, klar.«   Erst donnerstags schaffte ich eine Audienz bei dem großen, tollen Seto Kaiba zu ergattern. Ich hatte die letzten Tage damit gerungen, wie ich geschickt auf das Thema überleiten konnte, ohne es direkt anzusprechen. Als erstes war es gut, Seto Kaiba zu loben. Bei seinem riesigen Ego sollte man denken, dass das überflüssig war. Aber tatsächlich war Kaiba manchmal eine zarte Blume, wenn es um seine Kreationen ging. »Ich finde es echt toll, wie interaktiv die Vorrunden vom Turnier sind«, sagte ich. Wir saßen im Wohnzimmer und schauten gerade eine Aufnahme eines aufgezeichneten Spiels der Vorrunde. Kaiba ließ seinen Blick immer mal wieder über den Rand seines Laptops zum Fernseher gleiten, während ich statt Hausaufgaben zu machen, die Randspalten meines Blockes mit kleinen Skizzen vollzeichnete. »So diese ganze Virtual Reality und so«, fuhr ich fort. »Echt toll. Ist ja wirklich auch so für die Zukunft und so. Und es macht dir scheinbar Spaß. Ist echt cool, wenn man weiß, was man mal später machen kann.« Schritt eins abgehakt. In dem Moment musterte er mich mit hochgezogenen Brauen. Ich begann den Stoff meiner Hose zu kneten und seinem Blick auszuweichen. »Wer weiß, was du als nächstes erfindest, was die Zukunft voll verändern kann. Irgendetwas total Nützliches«, redete ich immer schneller und bemerkte, wie seine Augenbraue anfing zu zucken. Als nächstes war es wichtig, ihm nicht zu viel Komplimente zu machen, da womöglich sonst sein Kopf vor lauter Ego platzte. Trotzdem musste man die positiven Vibes beibehalten und langsam auf das eigentliche Ziel zusteuern. »Du meinst im Gegensatz zu dem unnützen Zeug, das ich sonst herstelle?« Am liebsten hätte ich seine Stirn gegen die Wand geklatscht. Wie war es verdammt nochmal möglich, dass er etwas Negatives aus meinem Kommentar interpretierte? »Äh – ich habe eher so was wie einen Roboter gemeint, der zum Beispiel Wäsche macht. So in der Zukunft.« »Das nennt man Waschmaschine, Wheeler.« Schritt zwei ziemlich verkackt. »Depp, ich meine einen, der alles so richtig komplett macht. Die Wäsche wäscht und bügelt und zusammenlegt und die einzelnen Socken findet. Vor allem die, die immer verschwinden.« Ich wackelte mit meinen Zehen, über die ich die erstbesten und damit unterschiedlichen Strümpfe gezogen hatte. »Und danach kann der dann Pizza machen oder Lasagne.« »Dafür habe ich Angestellte.« Ich verdrehte die Augen. »Aber ein Roboter wäre viel epischer.« Jetzt verdrehte er die Augen. Manche Menschen glaubten, wenn man ein Genie war, wäre alles einfacher. Wenn ich Kaiba betrachtete, dann traf das nicht zu. Ich sah ihn von der Seite her an und kritzelte auf meinem Block herum. Kaiba, der stur in seinen Laptop schaute. Drachen, die über seinen Kopf hinwegflogen. Stille. »Was machst du nach der Schule?«, fragte ich wie nebenbei. Kaiba zückte sein Smartphone, um in seinem Kalender nachzusehen. »An welchem Tag?« »Nein, ich meine nach der Schule. So richtig nach der Schule.« Sein Blick glitt vom Handy zu mir. Langsam ließ er es sinken und musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. »Ich werde nebenbei studieren.« Natürlich. Nebenbei. »Vielleicht Jura oder Wirtschaftswissenschaften. Aber vielleicht ist mir das auch zu banal. Möglicherweise studiere ich etwas, einfach nur, weil es mich interessiert.« Aus seinem Mund klang das wie eine Rebellion. Es brachte mich zum Grinsen. Seto Kaiba, der nicht das tun würde, das jeder erwartet? »Zum Beispiel?«, fragte ich. Er schwieg zunächst, so als wollte er die Frage bewusst überhören. Ich piekte ihm in die Seite, die er empört mit seinem Arm verteidigte. »Musik«, antwortete er dann knapp und ich ließ von ihm ab. Er schaute an mir vorbei, so dass er meinen Blick gerade nicht erwiderte. »Musik?«, wiederholte ich. Ich konnte mir Kaiba nicht wirklich dabei vorstellen, wie er statt im Büro zu sitzen am Klavier spielte. Oder wie sah so ein Musikstudium aus? »Ja, Musik. Komm endlich zur Sache. Was willst du?« Ich öffnete den Mund. »Außer einen Roboter, weil du unfähig bist selbstständig zwei gleiche Socken zu finden«, kam er mir zuvor. Ich glaube, es ist Quatsch zu denken, man hätte keine Probleme, wenn man genial und so war. Wenn man Talent hat, dann hat man andere Probleme. Diesen Druck, immer an die Erfolge von gestern anzuknüpfen. Andere zu übertreffen. Sich selbst zu übertreffen. Aber wenn man es schaffte, war es nichts Besonderes, sondern zu erwarten gewesen. Eigentlich konnte man nur tief fallen. »Ich weiß nicht, was ich machen soll«, murmelte ich. Aber das machte meine Probleme nicht weniger bedeutsam. Wenn man kein Talent hatte, wenn einem immer nur Steine in den Weg gelegt wurden, wenn niemand an einen glaubte. »Ich meine, nach der Schule«, fuhr ich fort. Es war immerhin mein Leben. Natürlich hatte ich Ideen, aber eine waghalsiger als die andere. Ich könnte das Geld aus dem Projekt zur Seite legen und damit die Welt sehen. Aber danach? »Meine Mutter schiebt auch voll Stress deswegen.« Ich könnte eine eigene Firma gründen. Aber wofür? »Und dann ist nächste Woche dieser scheiß Mathetest.« Ich könnte eine Ausbildung machen oder studieren. Aber was? Und könnte ich es wirklich? »Dann lern dafür.« Ich schmollte. Das ließ sich einfach so daherreden. Natürlich. Für Seto Kaiba war ein Mathetest keine Herausforderung. Er verdrehte die Augen. »Möglicherweise wäre es möglich, dass ich bis nächste Woche noch nicht so viele Termine habe, dass es mir unmöglich wäre bei der Vorbereitung unterstützend einzugreifen, sollte das erforderlich sein.« Das war Kaibalisch für ›Ich helfe dir‹. Ich grinste. »Okay, cool. Dann morgen bei mir.« Schritt drei erfolgreich. Innerlich gab ich mir ein Highfive. »Ist das mit dem Roboter jetzt eigentlich echt vom Tisch oder –?« Kaibas Mimik war einfach zu genial, um ihm die Frage zu ersparen. »Wenn du mich dann in Ruhe lässt, könnte ich es mir vielleicht nochmals überlegen«, erwiderte er trocken, klappte seinen Laptop zu und schaute mich abwägend an. »Und jetzt eine weitere Entscheidung von äußerster Bedeutung«, fuhr er fort, atmete tief durch und tippte eine Durchwahl auf seinem Smartphone. Meine Gedanken begannen zu rasen. Ging es um die Kaiba Corporation? Um die Kampagne? Lief etwas schief? Oder das Turnier? Würde er die Einladung doch zurückziehen? War ihm klargeworden, welche Bedeutung dem womöglich beigemessen werden konnte? Ging es um Mokuba? Hatte er etwas herausgefunden? Hatte sich Christian auch an ihn gewandt? Das Gefühl, zu versinken, brach in meinem Innersten auf, wie das Magma im inneren des Vulkans. Er hob die Augenbrauen. »Pizza oder Lasagne?« Ich starrte ihn ungläubig an.   Der Countdown lief. Am Freitag war es von absoluter Bedeutung, den Zeitplan einzuhalten, um voreilige Begegnungen zu vermeiden. Meine Lehrer wären stolz auf mein Organisationstalent gewesen und die Pünktlichkeit, die ich entsprechend an den Tag legte. Ich hätte dafür Extrapunkte verdient. Auf die Minute klingelte Sarah bei uns. Meine Mutter ließ sich keine Irritation anmerken. Sie hieß Sarah herzlich willkommen, brachte uns Softdrinks, Tee und Kaffee sowie Snacks. »Sorry, meine Mutter hat irgendwie das Bedürfnis etwas gutzumachen«, sagte ich, als sie hinter sich endlich die Tür geschlossen hatte und betrachtete die Massen an Flaschen und Tüten, die sich auf meinem Schreibtisch und Beistelltisch stapelten. Sarah lächelte. »Haben wir das nicht alle irgendwie?« Ich schwieg und zuckte die Schultern. Es war seltsam, Sarah auf meiner Bettkannte sitzen und durch einen Manga blättern zu sehen. Sie hingegen quasselte über alles Mögliche, gab ihre Meinung zum Manga kund, erzählte ein wenig von den Vorrunden des Turniers und verstummte dann. Verwirrt blickte ich sie an. »Wenn ich ehrlich bin, dann sehe ich die beiden noch heute so vor meinem inneren Auge«, sagte sie und ich runzelte die Stirn. Sie nahm ein Bild von meinem Boden in die Hände und strich behutsam darüber. Es war eine Kopie einer der Zeitungsartikel, die ich in der Box unter meinem Bett verwahrte. Das Bild musste herausgerutscht sein, als Christian den Inhalt des Kartons auf meiner Matratze ausgeleert hatte. Ich fischte die Box hervor und stellte sie wortlos auf mein Bett. Sarah beugte sich darüber, schaute mich an und ich nickte nur. »Es ist merkwürdig, diese Zeitungsartikel über die beiden zu lesen. Diese Sicht von außen. Es ist fast so, als würde man nur die Hälfte einer Geschichte erzählen.« Ich hatte das Gefühl, langsam zu begreifen, was sie damit meinte. Von außen war es so einfach, Menschen zu verurteilen. Wenn man nicht emotional in einer Situation verstrickt war, war es so simpel, anderen Ratschläge zu erteilen. Jemand klopfte an der Tür und ich fuhr zusammen. Im ersten Moment versuchte ich panisch, alles wieder in die Box zu stopfen und unter meinem Bett verschwinden zu lassen, aber Sarah hielt meinen Arm fest und schaute mich an. Irritiert wollte ich sie abschütteln. Er durfte das hier nicht sehen, weil – Wenn er es herausbekam, dann – Sie lächelte schief und schüttelte sachte den Kopf. »Glaubst du nicht, es wird mal langsam Zeit, dass du ihn direkt fragst?« Ich wollte verneinen. Hier ging es nicht darum, was ich über Kaiba und Mokuba wusste oder wissen wollte. Hier ging es nur um die beiden. »Es geht mich nichts an«, flüsterte ich. Oder? »Dafür investierst du aber ziemlich viel Energie in die Recherche.« Sie warf einen bedeutenden Blick zu der Box und ich kratzte mir verlegen am Hinterkopf. Das hier waren aber nur Informationen, die jeder über Kaiba in Erfahrung bringen konnte. Es war öffentlich zugängliches Archivmaterial. Kaiba persönlich zu fragen war etwas ganz Anderes. Die Sicht von außen nach innen zu wagen. Vielleicht fürchtete ich mich vor dem, was ich entdecken würde. »Er wird dir eh nur das anvertrauen, was er dir anvertrauen möchte«, fuhr sie fort, als könnte sie meine Gedanken lesen. Aber ihm in die Augen zu sehen, während ich ihn nach seiner Kindheit fragte, war so, als würde ich versuchen, seine Weißen Drachen mit eiskaltem Blick vor seiner Nase zu stehlen. »Schätzchen«, seufzte sie. »Du hast dir hier vorgenommen Seto und Mokuba zu versöhnen, ihnen gleichzeitig entgegenzutreten und dabei selbst nicht den Verstand zu verlieren. Du stehst zwischendrin. Und das ist wirklich –« Dumm, vorschnell, undurchdacht. Ich war ein vorlauter Idiot, der versuchte, Probleme anderer zu lösen, nur um von meinen eigenen abgelenkt zu werden. Ich war ein dummer Möchtegern, der es nicht schaffte, sich um seine eigene Zukunft zu kümmern. Ich war – »Mutig.« Ich schluckte. Was wusste ich schon über die beiden? Hatte ich da überhaupt ein Recht, mich einzumischen? Aber war es nicht schon längst zu spät, es nicht zu tun? »Was kann schon schiefgehen?«, durchbrach Sarah meine Gedanken und zwinkerte mir zu. Ich atmete tief durch. Dann öffnete sie die Tür. Kaiba strich seinen Anzug glatt, obwohl der einwandfrei aussah und musterte uns herablassend. Um seinen Mund hing so etwas wie Irritation. Niemand ließ Seto Kaiba vor der Zimmertür warten. »Was machst du hier?«, fragte er Sarah und stellte seinen Aktenkoffer auf den Boden, schloss die Tür hinter sich und sah sich um, als hätte er einen Blackout gehabt. Kaiba in meinem Zimmer, das war wie ein Profiboxer im Nagelstudio. Sarah begrüßte Kaiba, als wäre er wieder ein Junge und nicht der geschäftsleitende Inhaber eines international erfolgreichen Konzerns. Außerhalb der Kaiba Corporation schien sie nicht seine Angestellte zu sein. Sie umarmte ihn, drückte ihn an sich und er ließ es wortlos über sich ergehen. Dann setzte sie sich auf meinen Schreibtischstuhl, schlug ein Bein über das andere und schnappte sich wieder den Manga, ignorierte uns, als bekäme sie nicht mit, wie sich ein Unwetter zusammenbraute. Ich konnte es genau in seinem Gesicht beobachten. Er hob die Augenbrauen, ließ seinen Blick von ihr zu mir wandern und blieb an den Zeitungsartikeln, Kopien und Fotos hängen. »Was ist –« Ich sah, wie sich seine Pupillen weiteten. »Hör zu«, sagte ich rasch und wusste selbst noch nicht, wie ich es erklären sollte, »ich wollte nur –« Was? Wissen, warum du so bist, wie du bist? Verstehen, wie alles so kommen konnte? Ich starrte ihn an und schmeckte die Worte auf der Zunge. Aber nichts, was dieses Gefühl in meinem Bauch wirklich einfing. Kaiba erwiderte meinen Blick. Ich ahnte, wie er innerlich explodierte. Mich mit sich in den Abgrund reißen würde wie eine Lawine. Er würde seinen Aktenkoffer schnappen, zur Tür schreiten, kurz dort stehen bleiben, mich eiskalt über die Schulter ansehen und mit seiner Schar Anwälte drohen. Dann würde er wortlos aus meinem Zimmer und meinem Leben verschwinden. »Würdest du nur halb so viel deiner Zeit in deine Mathematikvorbereitungen investieren, müsste ich jetzt nicht meine Zeit investieren«, sagte er trocken und überflog die Titel der Zeitungsartikel. Ohne zu zögern ließ er sich auf dem Rand meiner Matratze nieder und ich wartete auf einen Ausbruch, der nie kommen sollte. Er schaute mich an und ich blinzelte, wusste nicht, was er erwartete. Dann verdrehte er die Augen, zog Dokumente heraus und blätterte durch die Artikel und Kopien der Box. Bei dem ein oder anderen Bild und Zeitungsbericht zögerte er, verweilte, dann legte er alles zurück. Als das Rascheln verstummte, blieb nur Stille. Ich rutschte unruhig auf der Bettkante hin und her, wusste nicht, wohin ich schauen sollte. Er schnaubte und ich wäre fast umgekippt. »Ich hoffe stark in deinem Interesse, dass du von mir jetzt kein Autogramm möchtest«, durchbrach er das Schweigen. »Hä?«, machte ich und er hob nur eine Braue, sein Blick wanderte von mir zu Sarah und zurück. Erst dann kapierte ich, dass er gerade so etwas wie einen Scherz losgelassen hatte. Die Anspannung bröselte wie alter Verputz von mir ab. »Wann kommt er?«, fragte Kaiba. »Äh, wer?«, antwortete ich mit einer Gegenfrage und hatte das Gefühl, einen ganzen Teil nonverbaler Kommunikation verpasst zu haben. »Mokuba«, erwiderte er. »Es ist offensichtlich, was ihr hier versucht und obwohl ich euer Engagement wertschätze, bezweifle ich, dass Mokuba lange hierbleiben wird, sobald er die Situation überblickt hat.« Kaiba klang keineswegs so, als wertschätzte er unser Engagement. Seine Mimik glich die einer Person, deren Aktenkoffer gerade von Taubenkot beschmutzt worden war. Natürlich hatte Kaiba längst begriffen, was ich hier versuchte. Aber ich wollte ihm gerade widersprechen, als es wieder an meiner Zimmertür klopfte. Ich machte einen Sprung zur Tür und riss sie auf. Mokuba starrte mir mit großen Augen entgegen. Sein Blick jagte in den Raum hinein, erfasste Sarah und seinen Bruder und sprang zurück zu mir. »Versuch es erst gar nicht«, mahnte ich, als er einen Schritt zurückmachte. Viele glaubten, ich war ein Chaot, ein Schmarotzer, ein asozialer Idiot und vorlauter Schwänzer. Vielleicht war ich das gewesen, vielleicht rutschte ich immer mal wieder zurück in diese Rollen, vielleicht steckten mich Fremde in diese Schubladen. Aber ich war auch ein großer Bruder und Freund. Jemand mit Hoffnungen und Fehlschlägen, Träumen und Ängsten. »Ich werfe dich ohne zu zögern auf den Boden und pinne dich solange da fest, bis du mir zuhörst.« Ich war mir ziemlich sicher, dass diese Methode nicht wirklich pädagogisch wertvoll war, aber das war mir in diesem Moment scheißegal. Ich stand irgendwo zwischen den Erwartungen anderer und meinen eigenen, zwischen Plänen und deren Umsetzung. Ich stand zwischen meiner Vergangenheit und Zukunft. Mokuba sah mich angepisst an. Kaiba schaute immer wieder genervt auf seine Uhr. Sarah wirkte abwesend. Ich stand zwischendrin. Kapitel 65: ... bin ein Arschloch --------------------------------- __________________________________________   Er schwankte zwischen Arschloch und Genie und war gespannt, auf welche Seite er fallen würde … © Wolfgang J. Reus   __________________________________________             Ich hatte nie Verantwortung für jemanden übernehmen müssen. Oft genug war ich schon mit meinen eigenen Problemen überfordert und mal ehrlich, da war ich einfach froh, wenn ich mich nicht noch um jemanden kümmern musste, der irgendwie von mir abhängig war. Wie musste es sich anfühlen, noch für die Probleme anderer verantwortlich zu sein? Für eine kleine Person das Beste wollen, wenn man noch selbst eine kleine Person war? Stand da das Scheitern nicht schon von vornherein fest?   »Du hast es ihm gesagt!«, zischte Mokuba und ich erstarrte. Das war keine Frage. Er schaute mich an und in seinen Augen stand Zorn, der aber nur ein anderes Gefühl grob überdeckte. »Mokuba«, begann ich eindringlich. Enttäuschung. Das Gefühl, allein zu sein. Ich sah hilflos zu Sarah, deren Blick an Kaiba klebte. »Ich habe gar nichts gesagt, ehrlich jetzt«, sagte ich. Mokuba zog die Nase kraus, verengte seine Augen und runzelte die Stirn. Es war offensichtlich, dass er mir nicht glaubte. »Aber wenn du es ihm sagst, dann – ich meine, wenn er weiß, was abgeht, dann können wir alle gemeinsam –« »Du kapierst es nicht!«, schrie er plötzlich. Ich fuhr zusammen. Er wischte sich übers Gesicht und über die Augen. Als er aufschaute funkelten in den Augenwinkel Tränen. Vor Wut? »Bei meinem Bruder gibt es kein gemeinsam«, fuhr er viel zu ruhig fort, ignorierte ihn aber völlig. Sein Blick fixierte meinen. »Dann wird es nur darum gehen, was er glaubt, was das Beste ist. Für ihn. Für die Firma! Es geht nicht um mich oder dich! Kapier das doch endlich!« Christians Worte schallten in meinen Gedanken wider. Was, wenn er recht hatte? Ich hörte, wie Sarah tief durchatmete. Sie erhob sich und legte eine Hand auf Mokubas Schulter. Er wandte seinen Blick ab, drehte sich von ihr weg, aber er floh nicht. »Du weißt, dass das nicht stimmt«, sagte sie so leise, dass ich es kaum verstand. Als vertraute sie Mokuba ein Geheimnis an. Mokuba schwieg, presste seine Zähne in die Unterlippe, versuchte sie vom Zittern abzuhalten. Ich wollte ihn umarmen, aber tat es nicht. »Was soll er mir gesagt haben?«, fragte Kaiba. In dieser Situation klang seine Stimme unangenehm nüchtern. Als distanzierte er sich innerlich mit jeder Silbe einen Schritt von uns. Mokuba ignorierte ihn und schlang die Arme um seinen Oberkörper, als versuchte er, sich selbst zusammenzuhalten. »Was soll Joey gesagt haben?«, wiederholte Sarah. »Ich bin mir sicher, wir bekommen das hin, wenn du es uns erklärst. Dein Bruder –« Mokuba kniff seine Augen zusammen. »Es war so klar, dass du auf seiner Seite bist«, zischte Mokuba. »Egal, was er tut, er wird es schon hinbekommen. Scheißegal was, es ist immer perfekt.« Litt Mokuba unter Kaibas Erfolg? Stand er in seinem Schatten? Was, wenn Christian bei all der Scheiße, die er erzählte, nicht einmal Unrecht hatte? Kaiba schnaubte und lehnte sich zurück, stützte sich auf seine Arme und starrte an die Decke, sagte aber nichts. »Ich bin nicht auf seiner Seite«, sagte Sarah, aber Mokuba wischte ihre Worte mit einer unwirschen Geste zur Seite. »Und egal«, er stolperte über seine Worte, weil er so schnell sprach, als hätte er sie eine viel zu lange Zeit in sich eingesperrt, »egal, was ich mache, es ist nie genug.« Er wurde immer lauter. »Mokuba«, wollte ich einwenden, aber er schnitt mir das Wort ab. »Misch dich nicht ein! Kümmere dich lieber um deine eigene Familie!« Ich zuckte zusammen, starrte ihn an und überlegte, wann wir falsch abgebogen waren. Welche Entscheidung hatte zu dieser Situation geführt? Oder war es immer eine Kette an Ereignissen, die bestimmte, wie sich etwas entwickelte? »Du hast doch selbst genug Probleme«, spottete er und ich blinzelte, sah aus dem Augenwinkel, wie sich Kaiba regte, als wollte er etwas sagen. Aber er schwieg. Mokubas Worte schnitten dafür umso mehr irgendwo in meinen Bauch und ich hatte das Gefühl, Säure ätzte jede Erinnerung an Sicherheit und Zuneigung weg. »Christian hat mir deutlich gemacht, dass das hier auch meine Probleme sind«, erwiderte ich kühl. »Wer ist Christian?« Nur Kaiba schaffte diese Mischung aus Desinteresse, als hielte er nicht viel vom Thema, und Aufmerksamkeit, so als würde er jede Information sorgfältig abspeichern. Und gegen einen verwenden, wenn nötig. »Ein Arsch in unserer Schule«, murrte ich. »Es geht nicht um Christian«, sagte Mokuba. Ich hob die Augenbrauen. Ohne Christian säßen wir nicht hier. »Es geht gerade darum, dass mein Bruder ein scheiß Egozentriker ist.« Ich fand es beinahe schon bewundernswert, wie konsequent Mokuba seinen Bruder ignorierte, obwohl er ihm sofort ins Sichtfeld springen musste. Neben Kaiba kannte ich niemanden, der so eine Präsenz hatte. Wenn er einen Raum betrat, dann füllte er ihn mit seinem Dasein. Jeder drehte seinen Kopf nach ihm um. Alle Augen fixierten ihn. Niemand wollte einen Moment in seiner Gegenwart verpassen. Dafür musste man ihn auch nicht mögen. Wie musste sich Mokuba dabei fühlen? »Er will nicht einmal, dass ich ihm in der Firma helfe.« »Natürlich lasse ich dich nicht in der Firma helfen.« »Er hat gemeint, wir werden es schon sehen, wenn ich die Schule fertig habe. Er hat doch selbst noch Schule! Natürlich gilt für ihn ein total anderer Maßstab. Das war schon immer so! Er ist so ein scheiß –« »Dann lass ihn doch in der Firma helfen?«, wandte ich mich an Kaiba, der mich komplett ausblendete. »Mokuba, du bist dreizehn Jahre alt. Du gehst zur Schule. Das reicht.« Ich fand es auch bewundernswert, wie sich Kaiba von Mokubas Ignoranz kein bisschen verunsichern ließ. Als flöge er einfach über Hindernisse, an denen andere kleben blieben. »Früher hat er auch keine Hilfe –« »Darum geht es dir? Du willst keine Hilfe, weil ich damals keine Hilfe hatte?« Kaiba fasste sich zwischen seine Augen, schloss sie, als brauchte er einen Moment, um seine Wut zu schlucken und die stoische Fassade aufrechtzuerhalten. Vielleicht hatte er auch einfach nur Kopfschmerzen. Ich spürte auch schon so ein Pochen in meinen Schläfen. Er atmete tief durch und fixierte seinen kleinen Bruder. »Glaubst du nicht, ich hätte damals mehr Hilfe verdient?« Und mit einem Schlag begriff ich, wovon Kaiba da eigentlich sprach. Einer Zeit, die er sonst tief in sich vergrub. Einer Zeit, von der es ein paar Bilder in Zeitungen gab, die eine Fassade zeigten und Meinungen verbreiteten, ohne Seto Kaiba wirklich zu begreifen. Ich kannte etliche Zeitungsartikel und die Fotos, auf denen ein ungefähr zehnjähriger Seto Kaiba kühl in die Kameras schaute. Was hatte er damals gedacht? Dabei empfunden? »Glaubst du nicht, dass ich da so oft wachgelegen habe und –« Mein Blick sprang zu Mokuba, der vor sich auf den Boden starrte. Dann zu Sarah, die starr Kaiba beobachtete. »Vielleicht hättest du mehr Hilfe gehabt, wenn du sie nicht wie immer ignoriert hättest«, sagte Mokuba, hob seinen Blick, um seine Augenwinkel eine klirrende Kälte. Ich konnte sehen, wie Kaiba erstarrte. »Mokuba«, mahnte Sarah, aber er hörte nicht auf sie. Als ahnte Kaiba, was kommen würde, ohne fähig zu sein, irgendwie zu reagieren, stierte er seinen Bruder an. Wie wenn man nur dabei zusehen konnte, wenn vor den eigenen Augen, ein Glas auf den Boden fiel. »Sie hätten helfen können, aber du hast sie alle ignoriert«, murmelte Mokuba. Sarah schloss für einen Augenblick die Augen, stützte ihre Stirn gegen ihre Hand. »Hast du deswegen so oft mit mir über deine Eltern geredet?«, fragte sie. »Über deren Familien?« Mokuba sah sie nicht an. »Wir haben nach ihnen gesucht.« Jetzt zupfte ein Lächeln an seinen Mundwinkeln. Als wäre er ganz woanders. »Und wir haben sie gefunden.« Meine Augen weiteten sich. »Und ich lasse es mir nicht von dir verbieten.« »Mokuba«, begann Kaiba leise. Und während man es beobachtete, wie es fiel, wusste man, es würde zerplatzen. Nur Glasscherben zurücklassend. »Was meinst du mit, ihr habt sie gefunden? Du und wer?« Das Lächeln in Mokubas Gesicht verblasste wieder. Als erinnerte er sich daran, wo er war und mit wem. Wut verzerrte seine Gesichtszüge. Schmerz. »Du wolltest ja nicht«, murmelte er erstickt. »Glaubst du, nur weil du etwas nie sagst, ist es nicht da?« Mokuba verstummte, als drückte ihm die Worte die Luft ab. Ich starrte ihn an. »Ich habe so oft versucht, mit dir darüber zu reden.« Wann war aus dem kleinen Jungen mit den strahlenden Augen diese Person hier geworden? Sarah schaute an die Decke, rückte ihre Brille zurecht und starrte nach oben. Kaibas Blick bewegte sich keinen Zentimeter. Für ihn schien es in diesem Moment nur Mokuba zu geben. »Mama und Papa sind verdammt nochmal tot! Und du tust so, als wäre nichts. Aber –« Kindern erzählte man gerne, dass sie alles werden konnten, was sie wollten und man fragte sie, was das war. Vielleicht war das die größte Lüge, die Erwachsene ihnen mitgaben. Der Glaube, man könnte sich unabhängig von seiner Vergangenheit für eine Zukunft entscheiden. Als zählte es nicht, was deine Eltern taten – oder auch nicht taten – oder wo du aufgewachsen bist. »Aber wir haben noch Familie.« Man konnte noch so hart arbeiten. Statt durchgewetzte Jeans konnten sie Stoffhosen tragen, statt Alter zu sagen, konnten sie sich an Eloquenz laben. Aber niemanden war es möglich, seine Wurzeln abzuhacken. Irgendwann holte einen die Vergangenheit ein. Jeden. Selbst einen Kaiba. »Christian und ich haben sie gefunden.« Stille. Dann kamen die Geräusche, als würden sie nach und nach auf mich zu jagen. Das Ticken einer Uhr. Schwere Atemzüge. Das Rascheln von Mokubas Kleidung, als er sich von uns abwandte. Kaibas Schritte, als er auf seinen Bruder zuging und dann doch mitten im Raum stehen blieb. Mein Schlucken. »Christian? Was zur Hölle?«, platzte aus mir heraus. »Was hat der damit zu tun? Was will er von dir?« Ich rauschte zu ihm, an Kaiba vorbei, und packte Mokuba an beiden Oberarmen. »Nichts«, sagte er und versuchte mich abzuschütteln, aber ich hielt ihn fest. »Gar nichts!« Ich war ihm nah, so nah, dass ich sah, wie sich seine Pupillen weiteten. »Nichts, was ich nicht zugesagt habe«, flüsterte er. »Was hast du ihm versprochen?«, fragte ich leise. Wenn es etwas gab, das Kaiba hasste, dann war es Unwissenheit. Wenn er offensichtlich etwas nicht nachvollziehen, einordnen und kommentieren konnte. »Was bedeutet das?«, fragte er, während ich sprach. »Hat er deswegen –« »Du hast es versprochen«, flüsterte Mokuba und fixierte mich. Gleichzeitig spürte ich, wie Kaibas Blick in meinem Rücken brannte. Es war irritierend, wie ähnlich sie sich in diesem Moment waren. Und wie fremd. »Ich will wissen, was du mit Christian ausgemacht hast«, sagte ich und versuchte Kaibas dämonenartige Aura auszublenden, die sich hinter mir aufbaute wie ein Tornado, der sich aus dem Nichts bildete. »Das geht dich nichts an«, sagte Mokuba und ich ließ ihn los, fuhr mir durchs Haar und hätte am liebsten gelacht. Wie sie beide da in meinem Zimmer standen, in das keiner von uns wirklich gehörte. Wie wir um die Wahrheit herumtanzten, weil wir uns davor fürchteten, was sie anrichten würde. »Du kannst nicht von mir verlangen, dass ich nichts sage und du irgendetwas hinter meinem Rücken mit Christian ausmachst und alles außer Kontrolle gerät! Das habe ich dir nicht versprochen!« Christian hatte sich irgendwie breitgemacht, in Mokubas Gedanken, zwischen uns. Er war wie ein unsichtbares Gift, das man nicht schmeckte, nicht roch und wenn man es bemerkte, war es schon zu spät. Ich wusste nicht, was er bezweckte. Warum er Mokuba irgendwie half und dann verletzte, aber ich wusste, dass es nicht gut war. »Mokuba«, sagte ich langsam. Kaiba hatte Recht. Ich atmete tief ein. Und aus. Als ich dort stand und ihn anschaute, wurde mir bewusst, dass die ganze Sache größer war als ein lausiges Versprechen. Aber Christian hatte mit einer Sache recht: Mokuba musste es uns von sich aus anvertrauen. Ansonsten würde Christian gewinnen. Wenn er es schaffte, Mokubas Vertrauen zu seinem Bruder endgültig zu zerbrechen. Wenn er es schaffte, dass wir Geheimnisse voreinander hatten, weil wir uns vor der Reaktion des anderen fürchteten. Wenn wir uns nicht verstanden fühlten, allein, ungehört. »Wie sehr willst du deinem Bruder weh tun?«, Es ging nicht darum, für Mokuba zu tun, was der glaubte, was das Beste für ihn war. Und endlich begriff ich, was Kaiba gemeint hatte. »Was? Ich will ihm nicht weh tun. Ich habe doch gesagt, dass es nicht um ihn geht!« Es ging darum, das durchzuziehen, was ihm wirklich half. »Aber Christian geht es um ihn«, sagte ich rücksichtslos. Selbst, wenn es Mokuba weh tun würde. »Wie kommst darauf?«, fragte er, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Selbst, wenn er es mir nicht verzeihen würde. »Ich glaube, Christian benutzt dich nur, um an deinen Bruder zu kommen.« Mokuba schüttelte langsam den Kopf. Ich sah förmlich, wie diese Maske aus Wut zerbröckelte. »Nein«, erwiderte er. »Nein, es geht ihm nicht um meinen Bruder. Es geht ihm nur um mich. Christian kann ein Arsch sein, ja. Aber nur, wenn man seine Versprechen nicht einhält. Er meint es eigentlich nur gut. Er hört mir zu. Er ist für mich da.« Er wollte mir nicht glauben. Er wollte an einer Vorstellung festhalten, die alles erträglicher machte. Ich verstand ihm. Ich hatte das selbst so oft gemacht. »Christian ist so etwas wie mein Freund«, hauchte er. Es klang wie eine Bitte. Ich wollte ihm zusichern, dass es stimmte. Dass Christian keine bösen Absichten hegte, ihn nicht gegen seinen Bruder aufhetzte, weil er damit etwas bezweckte. Ich wollte ihm sagen, dass alle Menschen nur das Beste füreinander wollten. Aber jeder hier im Raum wüsste, dass das eine Lüge war. »Christian ist ein Arschloch, das dich voll manipuliert. Er benutzt dich nur«, sagte ich und schluckte mein Mitgefühl. »Und du weißt das eigentlich auch. Du bist zu schlau, um das nicht wirklich irgendwo zu raffen.« »Joey«, sagte Sarah betont ruhig, »das ist langsam genug, meinst du nicht?« Ich war ganz anderer Meinung. In meinen Ohren rauschten meine Gefühle, in meinen Gedanken hallten Christians Worte. »Du lässt dich da reinziehen und tust so, als könntest du es allein regeln, aber es geht hier nicht einmal nur um dich!« »Nein! Das stimmt nicht!«, zischte Mokuba. »Kapierst du nicht, wie wir da alle mit drinhängen? Christian droht allen um dich herum, setzt dich unter Druck mit seinen beschissenen Spielchen und schlägt dich und ist dein Freund? Das ist krank! Das ist krank, Mokuba! Niemand darf dich schlagen!«, polterte ich. »Du hast doch keine Ahnung, wie er wirklich ist!«, schrie Mokuba. »Ich weiß das! Weil mein Vater so ein scheiß Typ ist. Weil ich verdammt nochmal selbst so ein Arschloch war!«, schrie ich zurück. Mokuba starrte mich mit großen Augen an, öffnete den Mund, aber brachte keinen Piep heraus. Ich stand mitten in meinem Zimmer, Tränen in den Augenwinkeln. Zorn und Frustration. Reue und Hilflosigkeit. Ich wischte mir wütend übers Gesicht. »Wenn du mit deinem Bruder nicht klarkommst, dann sag es ihm! Sag ihm, was dich ankotzt! Sag ihm, was bei dir los ist! Und wenn er dir nicht zuhört, dann kommst du zu mir und ich pinne ihn am Boden fest, bis er zuhört! Kapiert?« Mokuba blieb regungslos. »Ich weiß, dass es nicht deine Schuld ist. Ich weiß, du hast es versucht und dein Bruder kann ein echter Arsch sein.« Kaiba schnaubte, widersprach aber nicht. »Ich weiß, dass es echt beschissen sein kann, wenn du glaubst, dass dich niemand versteht. Wenn du immer der letzte Idiot bist, den alle übersehen.« Ich würde das ohne zu schluchzen durchziehen. »Aber du bist viel mehr, als Christian in dir sieht. Du bist für mich nicht nur Seto Kaibas kleiner Bruder, Mokuba.« Er blinzelte, schluckte und starrte mich an. »Du bist mein Freund.« Seine Mimik verzerrte sich, dann stürmte er in meine Arme, drückte sein Gesicht in meinen Bauch und ich strich ihm durch die Haare. Sarah lächelte mir zu, während sie vergeblich versuchte, ihr Make-Up nicht mit ihren Tränen zu ruinieren, kramte ein Tempo aus ihrer Handtasche und schüttelte ihren Kopf, als könnte sie es nicht glauben. Kaiba beobachtete mich, eine Augenbraue gehoben und drückte meine Schulter mit seiner Hand. Ich sah wie sein Blick auf Mokuba fiel, wie er zögerte, dann das Kinn reckte und seine andere Hand auf Mokubas Rücken legte. »Es ist endlich Zeit«, raunte ich beiden zu, »dass wir uns nicht mehr von diesen Scheißtypen verarschen lassen.«   Kapitel 66: ... bin auf deiner Seite ------------------------------------ __________________________________________   Jeder Mensch hat seine schwache Seite. Sprichwörtliche Redensart   __________________________________________           Ich war keine Führungspersönlichkeit. Dafür brauchte man Charisma, geniale Fähigkeiten und einen Plan. Ich war eher der Typ, der morgens aufwachte und nicht wusste, was mittags anstand. Ich folgte. Aber nicht denen, die glaubten Führungspersönlichkeiten zu sein, sondern lieber meinem eigenen Bauchgefühl. Kaiba führte. Aber nicht die, die glaubten, eine Führungspersönlichkeit zu brauchen, sondern lieber die, die auch allein klarkamen.   Wir schwiegen eine ganze Weile. Jeder hing seinen Gedanken nach. Sarah war bei meiner Mutter. Ab und zu hörten wir sie lachen oder in der Küche herumwerkeln. Wahrscheinlich tranken sie Kaffee und redeten über uns. Bei dem Gedanken stülpte sich mir der Magen um. Was würde meine Mutter Sarah erzählen? Würde das Sarahs gute Meinung von mir verändern? Oder umgekehrt. Was würde Sarah meiner Mutter sagen? Mir platzte fast der Kopf. Es wäre also totaler Schwachsinn zu glauben, es wäre jetzt plötzlich alles gut. So lief das nicht im Leben. Das passierte nur in schlechten Soaps und diesen Büchern, in denen komischerweise immer ein armes Mädel mit einem reichen Geldsack durchbrannte und ihm alles verzieh, nachdem er sie total verarscht hatte. Welcher halbwegs klarer Mensch würde so eine Beziehung wollen? Das würde mir nie passieren. »Ja, Joey hat Recht«, murmelte Mokuba. Ich schaute ihn an und er seufzte, ließ sich auf mein Bett fallen und starrte an die Decke. Dann begann er zu erzählen. Immer schneller, immer mehr, als hätte sich der Wortschwall über Wochen aufgebaut und würde jetzt endlich wie ein Ventil geöffnet. »Christian hat öfters in der Schule oder auf dem Heimweg versucht mit mir zu reden. Er war höflich und alles, aber irgendwie hatte ich keine Ahnung, was er wirklich will und es war mir auch ehrlich gesagt egal, also habe ich mich nie länger mit ihm unterhalten. Irgendwann auf dem Schulfest hat er mir gesagt, dass er mich bewundert. Wie ich es aushalte mit –« Er schnaubte. »– mit meinem Bruder. Dass er selbst ja durchdrehen würde, immer nur in der zweiten Reihe zu stehen. Dass ich das nicht verdient hätte, dauernd übersehen zu werden.« Mein Blick wanderte von Mokuba, der immer noch auf meinem Bett lag und die Zimmerdecke fixierte, zu Kaiba, der aus dem Fenster starrte und doch so präsent war, als rechnete er jeden Augenblick damit, Rede und Antwort stehen zu müssen. »Dabei ist das für mich gar keine Sache. Und das habe ich ihm auch gesagt«, fuhr Mokuba fort und machte eine Bewegung als würde er Christians Bemerkungen wegwerfen. Ich runzelte die Stirn. Mokuba wollte gar nicht wirklich im Mittelpunkt stehen? Sein Problem war nicht, ein berühmtes Genie als Bruder zu haben? »Ich wollte nie den ganzen Medienscheiß mitmachen müssen wie du«, sagte Mokuba und jetzt schaute er Kaiba an, dessen Blick zu ihm sprang. »Das ganze dumme Geschwätz in den Zeitungen und jeder denkt, er weiß am besten Bescheid und dabei haben die alle doch gar keine wirkliche Ahnung.« Mokuba verdrehte die Augen und über Kaibas Lippen huschte ein Grinsen. »Jeder kommentiert, wann wo mit wem du übers Wetter redest und was du dabei anhast.« Ich hatte diesen Medienzirkus nur kosten dürfen und es ging mir schon auf die Eier. Kaiba machte das mit, seitdem er zwölf war. So gesehen war es kein Wunder, dass er ein egozentrischer Arsch geworden war. Ich presste meine Lippen aufeinander, um bei dem Gedanken nicht zu grinsen. »Und dann kommt natürlich noch das Geschäftliche dazu. Der eigentliche Job. Immer oben mit dabei zu sein, sich nicht von der Konkurrenz fertig machen lassen, ständig neue Ideen zu entwickeln, umzusetzen, zu vermarkten und erfolgreich damit sein zu müssen. Immer Druck und Meinungen von allen Seiten.« Kaiba seufzte. Ein Geräusch, das er so selten von sich gab, dass ich es an einer Hand abzählen konnte. Er setzte sich auf meinen Schreibtischstuhl, schlug beide Beine übereinander und lehnte die Fingerspitzen aneinander. »Mir war nicht klar, dass du –« »– keine sechs Jahre mehr alt bist und ein bisschen weißt, wie das läuft? Und dabei habe ich noch gar nichts zu dir selbst gesagt.« Kaiba sah aus, als hätte Mokuba ihm offenbart, er hätte gewisse Magazine unter dessen Bett gefunden. Oder eine verschlüsselte Datei auf einem geheimen Computer mit äußerst pikanten Details. »Glaubst du echt, ich wüsste nicht, dass du dich selbst am heftigsten kritisierst?«, fragte Mokuba und hob eine Augenbraue. Früher hätte mich so ein Kommentar aus allen Wolkenkratzern mit dem Logo der Kaiba Corporation gerissen. Ein Typ, der so jung aus eigenen Kräften Millionär geworden war, würde sich doch selbst nie fertig machen können, oder? So einer musste begreifen, wie weit er es gebracht hatte. Wahrscheinlich dachte so jemand, er könnte nichts mehr falsch machen, weil er so viel gewonnen hatte. »Du sagst immer, wir wären ein Team. Dass uns niemand auseinanderbringen kann. Du hast mir damals versprochen –« »Dass ich es niemals zulassen würde, dass uns jemand trennt. Dass ich dich nie allein lassen würde.« Aber wer so viel gewann, hatte auch eine Menge zu verlieren. »Ja«, hauchte Mokuba und räusperte sich. »Aber zu einem Team gehören mindestens zwei Menschen. Und ich kapiere einfach nicht, warum du nicht kapierst, dass ich auf deiner Seite bin. Aber dauernd stößt du mich weg.« Manchmal brauchte es keine Feinde, die uns an unserem Glück hinderten. Keine obskuren Pläne von Dritten, um uns von unserem Weg abzubringen, von den Dingen wegzulocken, die doch eigentlich am wichtigsten waren. »Du redest nicht mehr mit mir, wenn du nicht klarkommst. Früher hast du mir alles anvertraut. Jetzt sperrst du dich in dein Büro und manchmal sehe ich dich tagelang nicht oder nur ganz kurz, weil du so spät nach Hause kommst. Wenn überhaupt.« Ich sah, wie Kaiba kurz seine Augenlider zupresste, als hätte er einen Hieb abbekommen. »Und manchmal vergisst du anscheinend, dass ich dir auch Sachen sagen will. Aber ich weiß nicht, wie. Manchmal glaube ich, dass du mich gar nicht siehst oder hörst.« Kaiba öffnete seinen Mund, aber schloss ihn wieder. Vielleicht, weil er begriff, dass er Mokuba spätestens jetzt zuhören musste. Vielleicht, weil er nicht wusste, was er dagegenhalten sollte. »Und manchmal habe ich das Gefühl, du guckst mich an und siehst nicht wirklich mich, sondern mich als ich sechs Jahre alt war.« Ich wusste, wie er als Kind ausgesehen hatte. Obwohl er noch immer etwas Kindliches hatte, konnte man inzwischen erahnen, dass das nicht mehr lange so bleiben würde. »Sarah hat mir Fotos gezeigt.« Vor meinen Augen erschienen sofort Bilder. Mokuba der lachend die Hand seines großen Bruders hielt und die eines Mannes, der ihnen unglaublich ähnlichsah. Mokuba, der die Arme um die Beine einer jungen Frau schlang. »Fotos von Mama und Papa«, erklärte Mokuba und lächelte. Kaibas Mimik glich einer steinernen Maske. »Ich war unendlich glücklich deswegen. Sie haben da auch so froh ausgesehen – wir alle. Es war so ein wunderschönes Gefühl irgendwie, die Bilder zu sehen und plötzlich waren Mama und Papa – das klingt voll bescheuert, aber da waren sie real. Und dann war ich –« Mokuba schluckte. »– unendlich traurig«, sagte Kaiba langsam. Wenn man bei der Erinnerung an jemanden in Glück schwamm, aber gleichzeitig in Schmerz zu ertrinken drohte. Wenn die Freude von Trauer durchwebt war und jede Erinnerung bittersüß. Mokuba nickte stockend. Wenn man sich fragte, ob es Erinnerungen waren oder doch nur Hirngespinste, die man sich wieder herbeisehnte, die aber niemals real gewesen waren, sondern nur einem Kindergehirn entsprangen, das sich eine heile Familienwelt wünschte. Ich biss auf meine Lippe. »Ich war richtig traurig, weil für einen ganz kurzen Moment habe ich mich gefragt, was wäre, wenn –« Da war ein Zittern in Mokubas Stimme, das bis über meinen Rücken kroch. »Wenn sie jetzt da wären? Wenn sie die ganzen Jahre da gewesen wären?« Mokuba, der im Schatten des Blitzlichtgewitters stand, hinter seinem Bruder. Seto Kaiba, der nicht mehr lächelte. »Du hattest es versprochen«, murmelte Mokuba und starrte wieder an die Decke. Kaiba hatte nicht zugelassen, dass sie im Waisenhaus getrennt worden waren. Er hatte dafür sein eigenes Leben in die Hand eines skrupellosen Geschäftsmannes gelegt, wenn man den Zeitungsberichten glauben durfte. »Du hast mir damals versprochen, mich nicht allein zu lassen.« Wenn jemand Mokubas Gefühle begriff, dann wohl sein großer Bruder. »Und ich hatte versprochen, immer auf deiner Seite zu sein«, fuhr er fort. Wenn ein Unfall fast alle Menschen, von denen du gedacht hast, dass sie dich niemals verlassen würden, von deiner Seite reißt, dann klammerst du dich an die Menschen, die noch da sind. »Ich denke, wir haben es endlich geschafft, unsere Versprechen beide zu brechen.« Aber was, wenn auch die dich im Stich lassen? Mit wenigen Schritten stand Kaiba direkt vor Mokuba, legte seine Finger um dessen Handgelenke und zog ihn hoch, bis Mokuba vor ihm auf der Bettkante saß. Kaiba ging in die Hocke, auf Mokubas Augenhöhe und sah ihn an. Es war nichts zu hören, bis auf unsere Atemzüge, und dann Worte, die ich Seto Kaiba das erste und einzige Mal aussprechen hörte. »Es tut mir leid.« Ich starrte ihn an, dann Mokuba, dann wieder Kaiba. Mokuba wollte aufspringen und wegrennen, sich nicht umschauen und diesem Satz entkommen, der bewies, dass sein Bruder nicht perfekt war. Dass er Fehler machte. Dass er diese bereute. Dass er kein Arschloch war, dem es egal war, wenn er jemandem wehtat. Zumindest glaubte ich für einen Moment, dass Mokuba das tun wollte. Aber er blieb. Sie sahen sich an und in diesem Moment hatte ich das Gefühl, einen gewaltigen Teil einer Unterhaltung vor meinen eigenen Augen zu verpassen. Dann schmiss Mokuba seine Arme um Kaibas Schultern und drückte sein Gesicht an dessen Brust. »Ich konnte einfach nicht«, murmelte Kaiba und lehnte sein Kinn auf Mokubas Kopf. »Ich weiß«, flüsterte Mokuba in sein Hemd. »Ich weiß es ja, aber es tat trotzdem weh. Ich habe mich so scheiße gefühlt. Als würde der einzige Mensch, der vielleicht verstehen könnte, warum, mich absichtlich ignorieren.« Kaiba schwieg und starrte an die Decke. Und ich beobachtete die beiden, wie sie da halb in der Hocke, halb auf der Bettkante einander in den Arm nahmen. Langsam lösten sich die Stricke, die sich in den letzten Wochen immer mehr zugezerrt und immer weniger Bewegungsfreiheit ermöglicht hatten. Bis keiner mehr einen Schritt auf den anderen zumachen konnte. »Ich habe noch Videoaufnahmen«, sagte Kaiba der Zimmerdecke. »Von unseren Eltern. Vielleicht magst du sie dir ansehen. Mit Sarah vielleicht.« Ich traute mich nicht zu atmen, als könnte ich die beiden mit einer falschen Bewegung verschrecken und diesen Moment zerstören. »Vielleicht«, sagte Mokuba. »Vielleicht können wir sie auch irgendwann zusammenansehen?« »Ja«, erwiderte Kaiba steif. »Vielleicht.« Menschen trauerten unterschiedlich. Manche standen um Gräber herum und fühlten sich den Verstorbenen nahe. Andere erinnerten sich in der Straße, in der sie aufgewachsen waren, an ihre Eltern, rangen mit dem bittersüßen Gefühl der Freude und Trauer. Dachten beim Duft an Plätzchen an gemeinsame Weihnachtstage oder bei den Pommes im Schwimmbad an Sommertage, die sie nie vergessen würden. Menschen trauerten unterschiedlich lange. Und das war okay. Solange man die Gefühle nicht in sich abband und versuchte, sie zu ersticken. Irgendwann war der Zeitpunkt da, an dem man loslassen musste, um wieder atmen zu können. »Irgendwann bestimmt«, fügte Kaiba hinzu und ich nahm einen tiefen Luftzug. Es würde nie wieder so sein wie früher. Manche Erlebnisse veränderten uns für immer. Manche Entscheidungen ließen unsere Bindung zu Menschen so zerstückelt zurück, dass wir es nicht wieder schafften, das Puzzle zusammenzusetzen. Wir saßen auf der Kante meines Bettes, Mokuba in der Mitte, als bräuchte er eine Stütze zu beiden Seiten. Jeder hing seinen Gedanken nach und zum ersten Mal seit Wochen hatte ich das Gefühl in Gegenwart der beiden Brüder frei atmen zu können. »Dieser Christian«, begann Kaiba. Bis zu diesen Worten. Sein Ton war sanft, als streichelte seine Stimme über zerbrechliches Glas. Doch ich spürte wie sich ein Blizzard um ihn herum aufbaute. »Was hat er mit dir gemacht, Mokuba?« Manchmal gelang es uns, das Puzzle wieder zusammenzusetzen. Aber Puzzleteile fehlten, die wir nie wiederfinden würden. Ich glaubte, »nichts« hätte Mokuba am liebsten geantwortet. Und ich konnte es ihm angesichts von Kaibas Mimik nicht verübeln. Aber Mokuba hatte lange genug geschwiegen. Manchmal war es in Ordnung, dass sich Puzzle änderten, dass nicht mehr alle Teile so zusammenpassten wie vorher. Und letztlich war es Zeit, dass Mokuba selbst es aussprach. Manchmal fanden wir erst so heraus, dass das Puzzle auch ein ganz anderes Bild ergeben konnte. »Er hat mich gemobbt und letztens hat er mich mit ein paar anderen auf dem Schulhof geschlagen.« Obwohl es mir vorhin schon herausgerutscht war, hatte es aus Mokubas Mund nochmals eine ganz eigene Wirkung. Seto Kaiba schien eine dämonische Aura zu umgeben, mit der er Christian ohne Weiters hätte verschlingen können. Ich sah es schon vor mir. Die Szene. Die Schlagzeilen. Vermisst. Nie wieder aufgetaucht. Unerklärlich. Täter nicht ermittelbar. Während Kaiba in seinem Büro hoch über Domino ein gehässiges Lachen von sich stieß. Mokubas Worte rissen mich aus meinen vielleicht nicht ganz so absurden Gedanken. »Christian war mein Freund. Er hat mir zugehört und war für mich da. Er hat nie etwas dafür verlangt.« Wenigstens sprach Mokuba von der Vergangenheit. Aber am liebsten hätte ich ihn geschüttelt. »Wir haben viel über mich gesprochen. Natürlich auch immer mal wieder über euch.« Ich stutzte. Nicht nur über Kaiba? Auch über mich? Wusste Christian deswegen so viel? »Aber in letzter Zeit ist er immer wieder auf die Firma gekommen, wollte dauernd etwas dazu wissen. Wer was macht und wem wie viel gehört und was es mit dem Turnier auf sich hat. Er hat gemeint, ich kann ihm doch vertrauen.« Mokuba schnaubte. »Und als ich ihm gesagt habe, dass es ihn nichts angeht, ob es stimmt, dass du Gozaburo die Firma weggeschnappt hättest, ist Christian zum ersten Mal richtig wütend geworden.« Ich lugte vorsichtig nach rechts und musterte über Mokubas Kopf hinweg Kaibas Mimik. Ich rechnete damit, dass sich Kaiba hinter seiner Maske verschanzte, in sich zurückzog und uns ausschloss von seinen Gefühlen und Gedanken, um diese schmerzhaften Erinnerungen auszuhalten. Er hatte seine Beine übereinandergeschlagen, die Stirn auf die Hand gestützt und seine Schultern bebten. Als ich Kaibas Gesichtszüge jedoch bemerkte, klappte mir der Kiefer herunter. Er versuchte mühsam, ein Grinsen zurückzuhalten und als er mich ansah – ich musste reichlich dämlich schauen – brach er in Lachen aus. Vielleicht hatte ich es jetzt doch geschafft. Mokuba und ich wechselten einen Blick. Seto Kaiba hatte endgültig den Verstand verloren. »So ein schwachsinniger Idiot«, gab der von sich. »So ein erbärmlicher Schwachkopf.« Er sagte das so, als wäre Christians Vermutung ein Beweis dessen eklatanter Inkompetenz. »Hä?«, fragte ich. »In der Zeitung hat doch gestanden, dass der dir seine Firma nicht überlassen wollte?« Kaibas Gelächter verebbte. »Habe ich gehört«, fügte ich bei seinem Blick hinzu. Er musterte mich, lehnte sich zurück und in diesem Augenblick füllte er den gesamten Raum mit seiner Präsenz. Als gehörte alles ihm, als läge jede Entscheidung in seiner Hand. »Du hast gehört, dass jemand etwas in einer Zeitung gelesen hat, das vor Jahren aktuell gewesen ist?« Ich zuckte die Schultern. Mokubas Blick wanderte von Kaiba zu mir und zurück, als beobachtete er ein höchst interessantes Match. »Okay«, sagte ich und gab auf. Sollte Kaiba doch diese Runde gewinnen. Was auch immer für eine Runde, was auch immer er gewann. »Ich hab’s selbst in der Zeitung gelesen.« Wahrscheinlich hätte ich Kaibas Unglaube persönlich genommen, wenn ich es nicht insgeheim geteilt hätte. »Ja, ich lese Zeitungen. Ich teile sie seit Jahren aus. Da bleibt’s nicht aus, dass ich manchmal einen Blick riskiere, okay?« »Manchmal«, wiederholte Kaiba so, als hätte ich ihm eröffnet, manchmal nachts aufs Dach zu klettern und dort nackt Disco-Fox zu tanzen. Ich verdrehte die Augen und begann dann zu grinsen. »Natürlich immer, wenn es um dich geht.« Kaiba verdrehte die Augen, aber hörte auf, weiter nachzubohren. »Was die Zeitungen da spekuliert haben, war meistens schwachsinnig«, sagte er nüchtern. Vielleicht war es Mokubas überraschter Blick, vielleicht mein »Hä? Wie?«, das ihn weitersprechen ließ. »Gozaburo wollte, dass ich die Firma irgendwann übernehme. Ich war seine Trophäe. Schau her, Welt, was ich erschaffen habe. Das war sein Lebensmotto. Welches er durch die Kreation eines perfekten Nachfolgers komplettieren wollte.« Ich rührte mich nicht, als fürchtete ich, Kaibas Redefluss durch eine unbedachte Reaktion zu stoppen. Anscheinend erging es Mokuba ähnlich. »Er hatte alles erreicht, was man als Geschäftsinhaber erreichen kann. Er war reich, besaß Aktien erfolgreicher Unternehmen und war selbst Vorstandvorsitzender seiner selbst gegründeten Firma. Er wollte aber mehr.« Was konnte man mehr haben wollen? Geld, Ruhm, Prestige, einen Namen, der einem alles Mögliche eröffnete. »Er wollte eine Dynastie.« Gozaburo Kaiba wollte einen Erben, der sein Vermächtnis fortsetzte. Irgendwie konnte ich das sogar verstehen. Wenn man sein Leben lag für etwas schuftete, wollte man dann nicht, dass es weiter Bestand hatte, selbst, wenn man starb? »Ich habe mit ihm einen Deal gemacht. Mokuba und ich haben eine Zukunft gebraucht. Und ich wollte dir die beste Zukunft geben, die ich dir geben konnte.« Kaiba schaute seinen kleinen Bruder lange an. Vielleicht hoffte er, dort Verständnis zu finden. Verständnis, dass er vor Jahren eine Entscheidung getroffen hatte, die er für die beste hielt. Dass er sein Versprechen hatte halten wollen, auch, wenn er es nicht geschafft hatte. Ich wusste nicht, was er in Mokubas Augen alles entdeckte, aber als er weitersprach, klang seine Stimme weniger gepresst. »Als ich vierzehn wurde, gab er sein Einverständnis. Und ich wurde teilhabender Geschäftsführer.« Letzteres war mir bekannt. Jeder wusste das, der den Namen Kaiba kannte. Aber Seto Kaiba hatte schon viel früher damit begonnen, seine Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Die Zeitungen damals priesen den kleinen Jungen, der sich mit nur neun Jahren das Programmieren selbst beibrachte. Als Kaiba mit zehn Jahren erste eigene Spiele programmierte und sich mit zwölf Jahren um technische Probleme in der Firma von Gozaburo kümmerte, nannten ihn die ersten Zeitungen das ›Wunderkind‹, ›den Mozart der Technik‹ und ›Gutenberg der modernen Technologie‹. Natürlich hatte ich lange Zeit nicht gerafft, was sie damit ausdrücken wollten. Aber inzwischen verstand ich, er war die Ausnahme der Regel, ein Revolutionär der Technik, der neue Standards für zukünftige Generationen setzte. Irgendwann würden Menschen über Seto Kaibas Erfindungen in Lexikonartikeln lesen, weil sie die Grundsteine für eine völlig neuartige Technologie waren. Wenn ein Dreizehnjähriger sich in Webdesign vertieft und eigene Browser-Games programmiert, dann ist das für viele Außenstehende ein Hobby. Wenn ein Vierzehnjähriger die ersten eigenen Millionen scheffelt, begreifen die meisten, dass sie sich damit geirrt haben. »Die meisten wissen, dass er so entschieden hat. Aber die wenigsten wissen, wie er zu der Entscheidung gekommen ist.« Kaiba atmete tief durch. »Er hat mir die Aufgabe gegeben, genug Startkapital für ein eigenes Startup-Unternehmen aufzutreiben und ihm die Summe zu präsentieren. Innerhalb von einer Woche. Er hat gemeint, wenn ich das schaffe, werde ich alles von ihm erben.« Einen Teenager, der sein Leben lang nach familiären Bindungen gesucht hatte, mit einem Erbe zu ködern, das das öffentliche Zeichen von Zugehörigkeit war. »Er dachte, einem Vierzehnjährigen würde niemand freiwillig Geld geben. Und er hatte Recht. Keine Bank der Welt würde einem Vierzehnjährigen genug Startkapital geben, nicht ohne einen Vormund, ohne Sicherheiten. Ich habe nur zwei Personen gekannt, die es mir frei zur Verfügung gestellt hätten, wenn sie so viel Geld gehabt hätten. Und die, die es hatten, hätten es mir niemals einfach so gegeben. Von außen musste es so aussehen, als hätte er gewollt, dass ich scheitere.« Ich lauschte seinen Worten. Es war, als erlaubte er mir einen Blick in eine Vergangenheit, die er vor all der Öffentlichkeit verborgen hielt. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass er das nicht gewollt hatte. Er wollte seine Firma in kompetente Hände geben und er wollte sichergehen, dass er jemandem die Firma gab, der so denken konnte, wie er.« Kaiba sprach es wie etwas Minderwertiges aus. »Es war ein Test, ob ich über Leichen gehen würde.« Ich schnappte nach Luft. »Das war metaphorisch gemeint.« Und starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. »Ich habe niemanden umgebracht, Wheeler. Nicht wirklich.« Ich spürte, wie mein Augenlid nervös zuckte. »Wheeler«, brummte er. »Ja, ja. Schon klar. Also was hast du gemacht?« Obwohl das gar nicht so klar war. Was zur Hölle meinte er mit ›nicht wirklich‹? »Ich habe mich nicht auf Banken verlassen.« Ich verdrehte die Augen. Hatte ich wissen wollen, was er nicht getan hatte? »Oder das Gutdünken irgendwelcher Snobs.« Mir blieb das Lachen im Hals stecken, als ich seinen Blick erwiderte. Er meinte das nicht selbstironisch oder als Scherz. Damals war er ein Teenager gewesen, der vom Wohlwollen eines reichen Unternehmers abhängig war. Dieses Gefühl musste so tief in ihm verankert sein, dass er verdrängte, dass er selbst zu so einer Figur geworden war. »Auf wen hast du dich dann verlassen?« Kaiba hob sein Kinn. »Auf mich selbst.« Natürlich. Seto Kaiba brauchte keine Hilfe. Er wusste alles selbst und kam allein klar. »Und auf Mokuba.« »Ich habe mich in die Rechner der Firma gehackt, alle möglichst interessanten Daten von Vertragspartnern, Kunden und natürlich von Gozaburo selbst gespeichert.« Kaiba erzählte das, als berichtete er von einem Schulausflug vor ein paar Jahren. »Und ihm gesagt, ich bräuchte zwei Millionen Euro. Sollte er sie mir nicht geben, würden sensible Daten über nicht ganz legale oder moralisch einwandfreie Geschäfte die Presse erreichen. Nach drei Tagen hatte ich also einen Weg gefunden, das Geld zusammenzubekommen.« Ich war keine Führungspersönlichkeit. Dafür brauchte man Charisma, geniale Fähigkeiten und einen Plan. Manchmal einen skrupellosen. »Moment. Warum zwei?« Ich raffte nicht, wie man ohne Gewissen, mit dem Leben anderer spielen konnte. Wie man Machtspiele genoss. Warum man so weit im Voraus plante, dass sich das Leben zweier Kinder darin verfingen, bis sie Erwachsene waren. Für den Rest ihres Daseins. »Weil ich großzügig war.« Ich war eher der Typ, der morgens aufwachte und nicht wusste, was mittags anstand. Ich hatte noch nie geplant, irgendwelche Verwandten oder Bekannten um zwei Millionen Euro zu bringen. Vielleicht erkannte ich deswegen nicht die Großzügigkeit darin. »Die Daten wären so viel mehr wert gewesen. Er wusste, dass ich das wusste.« Kaiba schaute aus dem Fenster, als sähe er die Vergangenheit vor sich. Seine Stirn gekräuselt, seine Lippen aufeinandergepresst, als versuchte er mühsam Worte nicht aus Versehen zu verlieren. Vielleicht tat es gut nach so langer Zeit, darüber zu reden? »Und weil ich damals geglaubt habe, ich würde Mokuba eine Million Euro schulden.« Aber vielleicht riss es auch Narben wieder auf. »Das war natürlich absoluter Schwachsinn.« Kaiba lachte auf, wie jemand, der die Pointe eines Witzes absolut geschmacklos fand. »Was ich ihm schulde, kann man nicht in Geld messen. Das mag vielleicht sentimental klingen, aber das ist es nicht.« Ich glaubte, zu begreifen, was er meinte. Manchmal half alles Geld nichts, weil das Problem eine andere Art von Armut war. Einsamkeit, Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit. »Und dann hat er dir die zwei Millionen gegeben.« Kaiba schüttelte sachte den Kopf. »Er hat gesagt, die Frist liefe noch vier Tage. Er hat mich –« Ganz weit weg in Gedanken wirkte er. Als überfielen ihn Gedanken, die er lange Zeit unter Verschluss gehalten hatte. »– isoliert.« Mokuba musterte seinen Bruder. Ich glaubte so etwas wie Sorge darin zu erkennen. »In der Zeit hat er mir alles Mögliche versprochen«, sagte Mokuba. »Vier Millionen Euro, als wäre das doppelt so gut wie Setos zwei Millionen. Häuser, Autos, Spielzeug. Dass ich alles erben würde. Dass nur noch ich im Mittelpunkt stehen würde.« Mokuba schnaufte, als wäre all das nichts. »Ich sollte nur Seto dazu bringen, zu sagen, er hätte die Aufgabe nicht geschafft. Er sollte aufgeben.« Ich war der Typ, der nicht aufgab. Kaiba war auch so einer. Aber während er führte, folgte ich lieber. Aber nicht denen, die glaubten Führungspersönlichkeiten zu sein, sondern meinem eigenen Bauchgefühl. Was musste das für eine Qual gewesen sein? Allein gelassen, nicht anerkannt, nie genug, die Brüder gegeneinander ausspielend. Am liebsten hätte ich eine Zeitreise unternommen und den kleinen Seto in den Arm genommen. Aber das war natürlich schwachsinnig. Seto Kaiba saß hier vor mir. Irgendwie hatte er es geschafft. Aber auf welche Kosten? »Während der vier Tage hat er mir genau ein Angebot gemacht. Er hat es ein Hausmädchen ausrichten lassen«, sagte Kaiba und fuhr sich durch sein Haar. »Würde ich aufgeben, würde er Mokuba nicht auf ein Internat in die Vereinigten Staaten senden.« Ich riss meine Augen auf. »Aber – das ist ja Erpressung!«, rutschte mir empört heraus. Kaiba schnaufte und betrachtete mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Als hätte Gozaburo nicht die Mittel und Skrupellosigkeit besessen, um noch viel krassere Dinge durchzuziehen. Verlegen wich ich seinem Blick aus. Erpressung hatte eine Zeit lang sogar zu meinem Standardrepertoire gehört. Dafür musste man nicht viel haben, man musste nur wissen, wie man sein Gegenüber treffen konnte. Nicht einmal unbedingt körperliche Gewalt war notwendig. Jeder Mensch hing an etwas. Jeder hatte einen Schwachpunkt. »Am sechsten Tag kam er spätabends, nachdem ich ihm mitteilen ließ, ich hätte mich entschieden«, fuhr Kaiba nüchtern fort. »Er hat mich gelobt. Zum ersten und einzigen Mal.« Kaiba schaffte es nicht ganz, die Bitterkeit aus seiner Stimme zu verbannen. »Und mir gesagt, dass ich die Entscheidung nicht bereuen würde. Dass man im Leben Prioritäten setzen musste und dass ich Mokuba vielleicht sogar einmal im Jahr besuchen dürfte.« Kaiba führte. Aber nicht die, die glaubten, eine Führungspersönlichkeit zu brauchen, sondern lieber die, die auch allein klarkamen. »Er hat gesagt, dass die Daten, die ich gespeichert hatte, für mich zukünftig von äußerster Bedeutung, aber als Druckmittel wertlos seien. Würde das an die Presse gelangen, würde das meinem Erbe nämlich erheblich schaden. Damit hätte ich also bewiesen, dass ich zwar durchaus dachte, wie er, aber dass es in diesem konkreten Fall ein Patt war.« Vielleicht war es auch nicht wichtig, wer wen führte und wer folgte. »Er hat erst eine Woche später verstanden, dass es absolut kein Patt war, sondern schachmatt. Das hat er immer erst gesehen, wenn es schon zu spät war.« Vielleicht war entscheidend, wer an deiner Seite stand. Kapitel 67: ... bin planlos --------------------------- __________________________________________   Ziellos, planlos, ohne Antrieb bin ich,  wenn ich nichts von dir höre.  Warte immer nur auf ein Zeichen von dir.   © Heike Muhlack   __________________________________________           Ich war absolut nicht schwer von Begriff. Denn ich wusste, dass Kaiba wusste, dass ich wusste, dass er entgegen der allgemeinen Meinung keineswegs eine gefühlskalte Maschine war. Menschen waren für ihn keine geheimnisvollen Wesen, die er nicht enträtseln konnte. Ihn interessierten die meisten Menschen einfach nicht. Mich interessierte, warum sich Seto Kaiba für jemanden interessierte und wieso er für den einen Menschen kaum die Tür aufhielt, während er für den anderen sein ganzes Leben umkrempelte. Für mich schwankte Seto Kaiba zwischen ›ich-habe-dich-durchschaut‹ und ›aus welcher Dimension stammt der eigentlich‹.   »Er hat gewusst, dass ich auf der Suche nach meinem Platz in der Gesellschaft war und ich wollte nach ganz oben. Noch bevor ich ihm meinen Namen genannt hatte, habe ich ihm das gesagt.« Ich sah Seto Kaiba vor mir, wie er als kleiner Junge vor diesem wuchtigen Geschäftsmann auftauchte und ihm verkündete, er würde ihn eines Tages übertreffen. »Er hat so fest damit gerechnet, dass mir sein Vermächtnis«, er sprach das Wort aus, als würde es ihn persönlich beleidigen, »so viel bedeutet wie ihm.« Kaibas Mundwinkel zuckten und formten dieses gefährliche Lächeln. Das war keine Freundlichkeit, keine Belustigung, da waren pure Berechnung und die Gewissheit, seinen Gegner mit dem nächsten Zug zu zertrümmern. »Vielleicht lag er damit nicht einmal falsch.« Wenn ich Kaiba mit diesem Funkeln in den Augen sah, dann bezweifelte ich das nicht. Kaibas Interesse bestand nicht aus zwischenmenschlicher Harmonie. Sein Ziel, nach ganz oben zu gelangen, umfasste die Fähigkeit, über die Grenzen anderer Menschen hinauszugehen, sie hinter sich zu lassen und nicht zurückzuschauen. »Aber er hat eines nicht begriffen.« »Was?«, rutschte mir heraus. Vor Jahren hätte er mir geantwortet, dass ein Köter wie ich sich um seine eigene Hundehütte kümmern sollte. Aber damals hätte ich auch erst gar nicht so eine Frage gestellt. Hätte ich es trotzdem gewagt, hätte ich angenommen, dass sich seine Antwort um die Schmach und erniedrigende Niederlage Gozaburo Kaibas drehte. Dass seine einzige Motivation darin bestand, sein Gegenüber zu übertrumpfen und er dieses Ziel eiskalt kalkulierte. Dass Kaibas Fokus immer auf seinen Gegnern lag. Seine Mundwinkel verschoben sich zu einem schiefen Lächeln. »Dass Mokuba meine Priorität ist.« Ich starrte ihn an. Die Puzzleteile fügten sich allmählich zusammen. Es war kein Geheimnis, dass Seto Kaiba einen kleinen Bruder hatte. Aber die Öffentlichkeit übersah diesen Jungen, der im Schatten seines genialen Bruders aufwuchs. Vielleicht, weil es beide so wollten. Weil beide ihren Platz gefunden hatten. Mokuba war aber mehr als nur der kleine Bruder, der ihm am Arm hing. Ich war die ganze Zeit so schwer von Begriff gewesen, hatte versucht zu verstehen, was Seto Kaiba für Mokuba bedeutete. Dabei war die andere Seite der Münze doch die Frage: Welche Rolle spielte Mokuba Kaiba für Seto? Ich wollte das am liebsten hinausposaunen, aber so erhielt man keine Antworten von Seto Kaiba. »Eigentlich hatte ich einfach nur keine Ahnung, was ich mit dem ganzen Zeug von Gozaburo hätte anfangen sollen. Ich wollte nie etwas von ihm erben«, sprach Mokuba in diese seltsame Stille hinein, als versuchte er die Schwere aus der Situation zu ziehen. »Mokuba«, sagte ich übertrieben ernst, lehnte mich zu ihm und packte meinen Arm um ihn. »Ich hätte da ein paar mega Ideen für dich gehabt.« Mokuba begann zu kichern und ich schnaubte belustigt. »Mir war schon Setos Million zu viel, wenn ich ehrlich bin.« Eine. Verdammte. Million. Euro! Was ich da alles tun könnte! Es war doch die Definition von Luxus, so viel Geld zu haben, dass man nicht mehr wusste, was man damit anfangen sollte. »Es gibt doch so viel Zeug, das man damit machen kann!« »Wenn du mir nur eine richtig geniale Idee sagst, dann raus damit!« Ich lachte. »Ich meine das ernst.« Ich lachte noch immer. Mokuba sah mich von der Seite an, dann seinen Bruder und stieß ihm sacht in die Rippen. Kaiba runzelte die Stirn, reagierte aber ansonsten nicht. Mein Lachen verebbte. Verwirrt wanderte mein Blick von Mokuba zu Kaiba und zurück. »Was würdest du mit einer Millionen Euro machen, Joey?«, fragte Mokuba leichthin, als plauderte er über den nächsten Sommerurlaub nach Spanien, direkt am Meer. Ich runzelte die Stirn. Als wäre das für jeden Alltag, selbstverständlich. Dabei war es ein Privileg. Ich war noch nie in Spanien. Oder am Meer. Alles, was ich kannte befand sich in einem Umkreis von knapp fünfzig Kilometern. Mein Blick huschte in die Ferne, aus dem Fenster hinaus, in den Himmel, wo sich einige graue Wolken drängten. »Ich würde durch die Welt reisen«, erwiderte ich langsam. Kaiba schnaubte. Und ich musste dämlich grinsen. Natürlich war das eine ziemlich langweilige Antwort. Sicherlich würden mehr als neunzig Prozent so etwas sagen. Einige würden sich noch Häuser mit Pools, teure Autos und exklusive Urlaube gönnen. Aber danach? »Ich würde Orte und Menschen sehen wollen. Es gibt da draußen so vieles, wo ich gar keine Ahnung von habe. Und ich würde alles Mögliche zeichnen, fotografieren und erst einmal ohne Sorgen leben. Einfach reisen und leben. Jeden Tag, bei jedem Wetter, überall. Ich würde mir ein Zelt schnappen und ein Navi und dann einfach los. Wie genial wäre das?« »Ja«, erwiderte Mokuba nachdenklich. »Das klingt nach ganz viel Freiheit.« Kaiba schaute kaum begeistert. »Das klingt lediglich danach, sich planlos in irgendein Abenteuer zu stürzen.« Kaiba würde wahrscheinlich die gesamte Reiseroute ein Jahr vorherberechnen und alle Möglichkeiten vor Ort, bevor er nur einen Schritt getan hätte, abwägen. »Was gibt es besseres als das?«, fragte ich und grinste. Keine Sorgen an morgen verschwenden, sich ganz im Hier und Jetzt wohlfühlen, eintauchen in die Gegenwart, statt sich mit der Vergangenheit herumzuschlagen oder die Zukunft zu fürchten. Niemandem etwas schuldig sein, nur seinem eigenen Bauchgefühl und Gewissen folgen. »Ich würde tolle Menschen kennen lernen und richtig geniale Momente erleben.« Was gab es wertvolleres als gute Erinnerungen? »Natürlich würde ich meinen Freunden und Geschwistern Geld geben, wenn sie was brauchen und den Rest würde ich spenden.« Ohne sie wäre ich nicht, wer ich war. Wäre ich nicht, wo ich war. »Gäbe es da überhaupt einen Rest?«, fragte ich nach einem Augenblick der Stille. Mokuba brach in Lachen aus. Kaibas Blick wanderte an die Decke. Vielleicht fragte er sich, wie er in diesem Zimmer zu diesem Zeitpunkt gelandet war. Wenn ich ehrlich war, hatte ich mich das auch schon etliche Male gefragt. »Seto, ich weiß endlich, was ich mit meiner Million machen will.« Mokubas Bemerkung klang wie ein Scherz und ich konnte es ihm nicht verübeln. Es war eine dämliche Träumerei. »Und die Entscheidung hat nur drei Jahre gebraucht«, sagte Kaiba trocken. »Was würdest du mit einer Million machen?«, fragte Mokuba. Verwirrt musterte ich ihn, wie er von der Seite zu seinem Bruder hochschaute. Hatte Kaiba nicht genug Millionen, um alles sofort machen zu können? »Ich habe seine Firma verkauft und eine neue gegründet«, erwiderte er kurzangebunden, als wäre damit das Thema abgehakt. Mokuba öffnete den Mund, aber Kaiba kam ihm zuvor. »Ich habe den Namen behalten, aber alles andere habe ich von Grund auf verändert. Bis auf den Namen ist nichts mehr von ihm übrig.« Er lehnte sich selbstgefällig zurück. »Und jeder, der ein bisschen Verstand hat, weiß das.« Mokuba schaute ihn an und ich fragte mich, was er in diesem Moment in seinem Bruder zu erkennen glaubte. Woran er dachte, wie viel diese Sätze für die beiden bedeuteten. War das nicht ihre Vergangenheit in eine Bemerkung gequetscht? »Christian hat also kein bisschen Verstand«, sagte Mokuba trocken. »Er hat gemeint, du hättest dir alles von Gozaburo unter den Nagel gerissen.« Wenn man Kaiba nicht kannte, konnte man seine stoische Fassade schnell mit seinen Gefühlen verwechseln. So als interessierte ihn vieles nicht, wäre unter seiner Würde und nicht seine Zeit wert. Aber da irrte man sich. Ich hatte gelernt, dass Kaiba emotionaler war als viele Menschen. »Und dabei steht mir doch auch so viel zu«, fügte Mokuba wie nebenbei hinzu, als hoffte er, die Bemerkung würde untergehen. Das tat sie natürlich keineswegs. Im Gegenteil. Kaiba reckte sein Kinn, lehnte sich zurück und saß auf meiner Bettkante genauso wie er es auf seinem Bürostuhl über den Dächern Dominos tat. Es brauchte keinen Thron, um wie ein Herrscher zu wirken, der gleich ein gewaltiges Urteil über seine Untergebenen fällte. »Er wollte wissen, was Joey mit der Firma und dem Turnier zu tun hat und mit –« Mokuba verstummte und ich erstarrte, weil ich langsam begriff, wohin Mokubas Story führte. »Und mit mir«, beendete Kaiba den Satz. Ich kratzte mir verlegen den Hinterkopf, während Mokuba nickte. »Ich habe ihn gefragt, warum er sich nicht um seine eigene Familie kümmert.« Das war keine Freundschaft gewesen. Das war einfach nur berechnend. »Da ist er richtig aggressiv geworden. Er hat gemeint, er würde genau das tun.« Mokuba zuckte die Schultern, als verstünde er Christians Denkprozesse nicht. Aber ich war mir ziemlich sicher, dass auch Mokuba endlich aus dieser Blase getorkelt war und die ganze Situation aus drei Meter Entfernung klarer sah. Wie eine riesige Kaugummiblase, in der Mokuba gefangen gewesen war, und erst so spät hatten Kaiba und ich es geschafft, das widerlich klebrige Zeug zum Platzen zu bringen. Jetzt saßen wir hier inmitten der Fetzen der Kaugummimasse und fragten uns, wie wir es geschafft hatten, die Blase so riesig werden zu lassen. Und wie wir dieses eklige Zeug wieder loswurden. »Wir haben noch ein Problem«, sagte ich und schüttelte meine aberwitzigen Gedanken ab, ließ meinen Blick keine Sekunde von Mokuba, obwohl ich mit Kaiba sprach und räusperte mich. »Aber du darfst jetzt nicht ausrasten, kapiert?« »Was noch, Wheeler?«, fragte er genervt. »Christian wollte nicht nur Mokuba gegen dich aufstacheln. Er war echt hier in meinem Zimmer und hat –« Ich stockte. Das, was ich erzählen wollte, würde nur Sinn ergeben, wenn ich den beiden ein brisantes Detail offenbarte. Irgendeine Stimme in meinem Kopf flüsterte, ich solle es lieber lassen. »Ich muss dir etwas zeigen.« Ich streckte meinen Arm zu ihm aus, griff in den Ärmel seines Pullovers und zog ihn langsam zu mir. »Ich verabscheue Überraschungen«, murmelte Kaiba verstimmt und folgte meiner Bewegung trotz seiner Worte ohne Widerstand. In meinem Bauch flatterte etwas, als ich sein Vertrauen spürte, obwohl wir hier gerade auf Splittern balancierten. »Hier«, sagte ich und zog den Karton von unter meinem Bett hervor. Ich hoffte nur, dass mich Seto Kaiba für die Aktion nicht entführen und irgendwo in einer dunklen Ecke verrotten lassen würde. »Warum habe ich das Gefühl, ich würde mir gleich wünschen, das wäre lediglich deine Hentai-Sammlung?«, sagte Kaiba und ich spürte die Hitze in meinen Kopf steigen. »Ich habe keine Hentais«, stolperte ich über meine eigenen Worte. Kaiba bedachte mich einen Moment mit einem Blick. »Gib mir nur zwei Minuten mit deinem Laptop«, murmelte er ohne mich anzusehen und beugte sich über den Karton. Mokuba schob sich an meiner Seite entlang und lehnte sich zu mir. »Er tut nur so bescheiden. Er braucht nicht einmal eine, bis dein Laptop ihm all deine Geheimnisse verrät«, flüsterte er gerade so laut, dass es Kaiba hören konnte. Als ich dessen schiefes Grinsen sah, atmete ich betont tief durch. »Mir tut Christian jetzt schon leid.« Und ich hoffte, ich würde mir nicht selbst leidtun, wenn Kaiba sah, was sich in dem Karton befand. »Also«, begann ich und wusste dann nicht weiter, also hob ich den Schuhkartondeckel einfach und schwieg. Mokuba lugte unverhohlen hinein, griff in die Zeitungsartikel und blätterte sich durch die Kopien. »Wow, das ist –«, sagte er und suchte offensichtlich nach einem Wort. Peinlich? Unheimlich? Fanatisch? »Interessant«, schloss er und blieb bei einem Bild von sich und Kaiba hängen, als sie gerade erst zu Gozaburo gekommen sein mussten. Es war eines der Bilder, das zu dem ältesten Zeitungsartikel gehörte, den ich finden konnte. Kaiba überflog die Schlagzeilen, betrachtete einige Bilder und sah mich dann völlig unbewegt an. Würde er jetzt gleich ausrasten? Mich fertigmachen, weil es mich nichts anging? Würde er sich einfach umdrehen und gehen? »Sollte ich jetzt mit der Bitte nach einem Autogramm rechnen?«, fragte er trocken und ich glotzte ihn an. Kein kaiba’scher verbaler Tornado, der mich wie ein zerfetztes Häufchen Elend zurückließ? »Naja«, murmelte ich. »Was denkst du, würde ich für dein Autogramm auf Ebay bekommen?« Kaiba schnaubte. Es war nicht dieses ›Ich-verschwende-meine-Zeit-mit-diesem-Idioten‹, sondern sein ›Ich-teile-deinen-Humor-aber-lache-nicht-offen-über-deinen-Witz-weil-mich-das-nicht-souverän-ausschauen-lässt‹-Schnauben. Da war dieses Kräuseln seiner Lippen, das ihn trotzdem verriet. Ob das anderen auch auffiel? »Uff, ernsthaft. Ich habe gedacht, du würdest gleich eine Krise bekommen.« Ich fuhr mir erleichtert durch meinen Pony. Vielleicht würde sich das alles doch einfach klären? Ich würde erzählen, was Christian hier abgezogen hatte. Wir würden uns Christian vorknöpfen und so dieses ganze Chaos aus der Welt schaffen. Und dann könnten wir uns endlich wieder brav auf die Schule konzentrieren. Bei dem Gedanken wäre ich fast lachend vom Bett gerollt. Wann war mein Leben jemals so strukturiert, dass die Schule mein Fokus gewesen wäre? »Warte lieber mal ab, bis du siehst, was mein Bruder alles über dich unter seinem Bett gesammelt hat.« Ich schaute vom Schuhkarton auf und blinzelte Mokuba an. »Äh, was?« Kaiba warf seinem Bruder einen pikierten Blick zu. »Ich habe nichts dergleichen unter meinem Bett.« »Oder auf deinem Laptop«, flötete Mokuba. Kaiba hielt einige Bilder zwischen seinen Fingern und sprach zu ihnen statt zu uns. »Jeder Mitarbeiter in der Firma wird überprüft.« »Das ist echt creepy«, rutschte mir heraus. »Das ist ja wie in so einem schlechten Science-Fiction-Film.« Kaiba verdrehte die Augen. »Die einzigen Informationen, die ich gesammelt habe, sind die, die ich für den Standardprozess vor Vertragsabschluss mit der Kaiba Corporation benötigt habe.« Er übersprang einen Zeitungsartikel über sich und seine genialen Fähigkeiten und blieb bei einem Foto von sich und Mokuba hängen. »Schufa, Führungszeugnis, Zeugnisse, gegebenenfalls Beurteilungen. Das ist nichts Ungewöhnliches.« »Absolut«, warf Mokuba ein und zählte an seinen Fingern ab. »Ungewöhnlich sind nur Hobbies, Wünsche, Lieblingsfach, Lieblingsessen und –« Meine Weltsicht fiel kopfüber. »Mokuba.« Er verstummte, aber seine Mimik sagte mehr als Worte es geschafft hätten. »Standard«, formte Mokuba mit seinem Mund und seine Augen funkelten amüsiert. »Dieser Christian«, setzte Kaiba an und bemerkte dann meinen Blick. »Schau mich nicht so an, als hätte ich dir einen Chip eingepflanzt.« Als hätte ich das auch nur in Erwägung gezogen. Obwohl ich es Kaiba irgendwie zutrauen würde, bei längerer Überlegung. Seto Kaiba hatte über mich Recherchen angestellt, noch bevor ich den Beschluss gefasst hatte, über ihn zu recherchieren? »Moment. Du hast meine Zeugnisse gesehen?« »Glaubst du, die hat die Abteilung nur aus Vergnügen angefordert?« Dann schaute er mich an, als erwog er, dass ich das tatsächlich angenommen hatte. »Und du hast mich trotzdem eingestellt?« »Du hast eine Eins in Kunst«, sagte er trocken. »Richtig und ich bin bestimmt die einzige Person mit einer Eins in Kunst, die du kennst«, erwiderte ich ironisch. »Du bist die einzige Person, die er kennt, die nicht den Schwanz einzieht, wenn du nicht seiner Meinung bist«, warf Mokuba ein, während er abwesend auf ein Bild starrte, auf dem er hinter seinem Bruder im Schatten des Blitzgewitters der Kameras zu verschwinden drohte. »Als ich den ersten Tag in eure Klasse kam, hast du mein Produktdesign kritisiert.« Wer Kaiba nicht kannte, musste denken, dass das der krasseste Fehler war, den man ihm gegenüber begehen konnte. Kaiba war Perfektionist. Wer einen Fehler zu finden glaubte, musste selbst damit rechnen, von Kaibas geballter Kritikunfähigkeit überrollt zu werden. Aber niemand war perfekt. Selbst Seto Kaiba wusste das – gerade er. »Verbal völlig daneben, dein Vokabular war lächerlich, aber deine Einwände waren konstruktiv«, sagte Kaiba betont gelangweilt, als wäre das eine völlig irrelevante Information. Ich spürte, wie sich ein Grinsen auf meinen Lippen ausbreitete. Bei Kaiba musste man zwischen den Zeilen lesen, man musste so viel Kontext einbeziehen. Er war es gewohnt, dass ihm Menschen folgten, dass sie nickten und applaudierten, wenn er etwas sagte. Kaiba war zu reich, zu einflussvoll und zu charismatisch. Die wenigsten waren daran interessiert, Kaiba zu kritisieren. Er war das Versprechen auf Erfolg und viele nahmen an, je weniger man ihm entgegensetzte umso größer waren die Chancen auf seine Unterstützung. Meine Erfahrung sah da ganz anders aus. »Du bist der einzige, der sich nicht entschuldigt, wenn er etwas von mir oder an mir konstruktiv kritisiert. Und der einzige, der mir dabei in die Augen sehen kann.« »Außer Mokuba«, sagte ich das erste, was mir einfiel, und meine Stimme klang viel zu hoch in meinen Ohren. »Außer Mokuba«, stimmte er zu und ein Grinsen spielte um seine Augen. Mokuba murmelte etwas, das verdächtig nach einem ironischen »Sowas von nichts Ungewöhnliches« klang.   Mokuba saß auf dem Boden, lehnte sich mit dem Rücken an die Bettkante, wo Kaiba mit überschlagenen Beinen saß. Ich lag kopfüber im Bett und stemmte meine Füße gegen die Wand. Auf der Matratze und dem Boden lagen alle Fotografien, Zeitungsartikel und Kopien verstreut. Immer mal wieder hörte ich Kaiba einen Artikel überfliegen und etwas sagen wie »so ein Schwachsinn« oder »diese inkompetenten Trottel«. Mokuba schnaufte dann amüsiert und langsam begriff ich, dass das wohl ihre Art war mit all dem öffentlichen Druck umzugehen. »Dieser Christian war also hier, hat das«, er machte eine vage Geste auf das Chaos um uns herum, »durchgewühlt, versucht Mokuba von mir und seinen Freunden zu isolieren und uns gegeneinander auszuspielen.« Kaiba schaffte es, diese Kurzzusammenfassung so trocken klingen zu lassen, dass Mokuba und ich in ersticktes Lachen ausbrachen. Es war so unangebracht und tat doch so gut, über diesen ganzen Scheiß gemeinsam zu witzeln. Vielleicht verwechselten Menschen Kaibas trockenen Humor mit mangelnder Empathie. Als hätte er keine Gefühle, weil er sie mit Fakten und nüchternen Kommentaren überlagerte. »Und dann hat er mir gedroht«, sagte ich leichthin, als ginge es um ein amüsantes Spiel. »Dass er dich«, ich schaute zu Mokuba, »fertig macht, wenn ich ihm nicht helfe, dich«, jetzt zu Kaiba, »fertig zu machen.« Ein Spiel, bei dem der Gegner fast unser Team entzweit und gewonnen hätte. »Ich freue mich schon mega auf sein dummes Gesicht, wenn er merkt, dass absolut nichts an seinem dämlichen Plan funktioniert hat. Fast nichts.« Christian war gefährlich nahe an eine Grenze gekommen, die das Band zwischen den beiden Brüdern gesprengt hätte. Manche Worte konnte man nicht vergessen, manche Taten schnitten so tief, dass selbst nach einer ehrlichen Entschuldigung Narben zurückblieben. Aber Seto Kaiba ließ sich nicht so einfach besiegen. »Ob er funktioniert hat oder nicht ist jetzt zweitrangig, Wheeler.« Irritiert runzelte ich die Stirn. War das nicht das Entscheidende? Sein Plan war gescheitert. Mokuba hatte sich Kaiba anvertraut. Sogar ich hatte meine heimliche Recherche und Christians nervenaufreibenden Besuch gebeichtet. Die Karten lagen offen auf dem Tisch. »Die Frage ist doch, warum er diesen Plan gefasst hat«, sagte Kaiba. Ich war absolut planlos. Aber Kaiba würde gleich einen genialen Plan präsentieren, um Christian in den Boden zu stampfen. Er würde so etwas von bereuen, sich jemals mit Kaiba hatte messen zu wollen. »Weil er denkt, dass du ein Arsch bist?«, warf Mokuba kokett in den Raum. Ich schnaufte amüsiert. »Das denken viele«, erwiderte Kaiba trocken, »aber bisher hat noch nie jemand versucht, dich gegen mich aufzubringen. Die meisten versuchen mir ökonomisch zu schaden oder mich persönlich zu diskreditieren.« Ich mochte es, wenn Kaiba in seinem stillen Zorn mit Fremdwörtern um sich schmiss. »Wir brauchen also einen Plan«, sagte ich und schaute kopfüber zu Kaiba und Mokuba. »Um herauszufinden, warum Christian plant, was er halt plant. Dann können wir wahrscheinlich besser einschätzen, was das alles soll, oder? Und was wir dagegen machen können.« Vielleicht würde Kaiba seinen privaten Geheimdienst (er konnte noch so oft behaupten, er hätte keinen) auf Christian hetzen. Kaiba zog seinen Aktenkoffer zu sich, ließ ihn aufschnappen und stellte seinen Laptop auf den Schoß. Vielleicht würden wir uns in Christians Laptop hacken und seine ganzen Daten gegen ihn verwenden. Vielleicht würden wir ihn tracken und mit einer Wanze ausspionieren. »Lassen wir Christian glauben, er hätte gewonnen und warten ab, was sein nächster Zug ist«, sagte Kaiba und zertrümmerte meine Vorfreude. »Was?«, rief ich ungläubig und starrte ihn entgeistert an. »Das können wir nicht machen!« Das war der bescheuertste Plan, den ich jemals gehört hatte. Kaiba warf mir einen Blick zu, als wäre meine Aussage die bescheuertste, die er jemals gehört hätte, als wäre ich total schwer von Begriff. »Das Spiel, Wheeler, hat begonnen.« »Hö? Welches Spiel?« Kaiba verdrehte die Augen und Mokuba grinste in einen Zeitungsartikel hinein, ohne etwas zu sagen. Kapitel 68: ... bin ihm ähnlich -------------------------------   __________________________________________ Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; unglücklich ist jede Familie auf ihre eigene Art. Leo Tolstoi __________________________________________             Ich war keineswegs unerreichbar. Wenn ich durch meine Straße schlenderte – meine richtige Straße, die die zu meinem Zuhause führte, auch wenn ich nicht mehr dort wohnte – dann wusste ich, wie weit entfernt sich meine Welt von Kaibas drehte. Alles an mir – meine Sprache, meine Haltung, meine Kleidung, mein Auftreten – suggerierten, dass Kaiba und ich nichts gemein haben konnten. Aber das war falsch. Ich mochte Lasagne. Kaiba auch. Ich hörte gerne Indie-Rock. Kaiba auch. Ich diskutierte gerne. Kaiba auch. Obwohl er nichts davon jemals offen zugab, war es mir klar. Kaiba verriet sich durch kleine Gesten, leise Zwischentöne, versteckte Taten. Ich ließ nicht zu, dass jemand Menschen verletzte, die mir nahestanden. Kaiba auch nicht.   Montags traf ich Yugi, Tristan und Thea vor Unterrichtsbeginn auf dem Schulhof, der zu dieser Zeit gänzlich uns gehörte. Ein frischer Wind wehte, der den Herbst ankündigte und ich zog meinen Hoodie enger, während ich den Dreien von Kaibas, Mokubas und meinem ewiglangen Gespräch erzählte und dabei geschäftig hin und her schritt. Yugi und Tris saßen auf einer Bank, Thea stand vor uns und beobachtete meine wilden Gesten, während ich von meinen Bedenken sprach und was alles schiefgehen könnte, obwohl Kaiba von Mokubas Situation endlich wusste. »Er will Christian nicht unnötig in die Ecke drängen«, sagte Thea. »Ich weiß«, murmelte ich, »ich kapier’s ja. Aber trotzdem.« »Wenn wir sofort zuschlagen, dann schnappen wir uns Christian, bevor er irgendwas drehen kann«, wandte Tris ein. Thea warf ihm einen missbilligenden Blick zu und er hob sofort die Hände. »Natürlich nicht wirklich schlagen. Ich meine nur, reden. Wirklich.« Ich konnte sie beide so gut verstehen, aber ich begriff auch, warum Kaiba tat, was er tat. Momentan war Christian gut einzuschätzen. Er glaubte, die Kontrolle zu haben und sah uns im Nachteil. Letztlich war das unser Vorteil. Ich ließ mich neben Yugi auf die Bank fallen und vergrub mein Gesicht in den Händen. »Hört zu«, raunte ich durch meine Finger, »heute läuft Christians Deadline ab. Was auch immer er tun will, er wird es heute tun. Wahrscheinlich wird er es auf Mokuba abgesehen haben und ihn versuchen zu kriegen oder auf Kaiba und ihn versuchen fertig zu machen. Das hat er zumindest angedroht.« Deswegen trafen wir uns heute nach der Schule bei den beiden. (Obwohl Kaiba erwähnt hatte, mit diesem inkompetenten Querulanten auch allein klarzukommen.) Aber vorher mussten wir den Unterricht überstehen. Tristan flippte fast aus vor Freude, in Kaibas Villa zu kommen. Als wäre das irgendeine Auszeichnung. »Wir dürfen die beiden auf keinen Fall aus den Augen lassen, kapiert?« Tristan seufzte. »Jopp, das hast du uns jetzt schon tausend Mal erklärt.« »Vierzehn Mal«, korrigierte Thea. »Da hast du echt mitgezählt?«, fragte Tristan und zog seine Augenbrauen hoch. Thea ignorierte ihn gekonnt und schaute mich ernst an. »Was dieser Christian auch geplant hat, wir werden das zusammen durchstehen«, sagte sie. Thea konnte eine richtige Nervensäge sein mit ihrer Klugscheißerei und Überkorrektheit. Aber sie war jemand, auf den man sich echt verlassen konnte. Sie drosch keine hohlen Phrasen, sondern meinte, was sie sagte, aus ganzem Herzen. Ich konnte wirklich nachvollziehen, warum Yugi sie so mochte. »Wir werden alle die Augen und Ohren offenhalten«, bekräftigte der auch sogleich. »Das wird schon.«   Der Unterricht zog sich furchtbar. Das war nichts Neues und eigentlich sollte man denken, dass ich mich über die Jahre daran gewöhnt hätte, aber heute war das alles etwas ganz Anderes. Ich fühlte mich beobachtet, glaubte zu wissen, dass Christian wusste, dass ich etwas wusste, was er nicht wusste. Das machte ihn nur noch gefährlicher. »Das kann doch nicht die ganze Zeit so weiterlaufen«, murmelte Tris und blickte über seine Schulter, obwohl Christian nicht einmal in unserer Klasse war. Wahrscheinlich wurden wir alle paranoid. Es würde alles gut werden. Bestimmt. Mein Blick wanderte zu Kaiba in der letzten Reihe, der völlig unberührt auf seinem Laptop tippte. Als wäre nichts. Als wäre alles normal. Kaiba war ein exzellenter Schauspieler. Anders als ich. Tristan schaute mich an und als ich seinen Blick sah, wusste ich, dass er wusste, dass ich nicht überzeugt war. Es gab so viele Möglichkeiten, Mokuba zu schaden und auch Kaiba war nicht unbezwingbar (selbst, wenn der es nicht einzusehen schien). Im Unterricht war Mokuba unantastbar, aber sobald die Pausenklingel schellte, hatte Christian freie Hand. Was auch immer passieren würde, es würde sicherlich in der Hofpause geschehen. Mein Blick folgte dem Zeiger der Uhr. Jedes Ticken gefolgt von einem Tack. Der Pausengong dröhnte in meinen Ohren, ich warf meinen Rucksack über die Schulter und rief ein »Schnell, Leute! Macht schon«, obwohl meine Freunde an meinen Fersen hingen. Auf dem Schulhof herrschte Chaos, wie immer. Mein Herz rutschte mir in die Schuhe. Was, wenn wir Mokuba nicht schnell genug fanden? Als ich ihn entdeckte, beruhigte sich mein Herzschlag. Mokuba stand mit seinen Freunden unter einem der Ahornbäume, redete mit ihnen und lachte. (Ob er mit ihnen auch so ein ewiglanges Gespräch geführt hatte?) Kaiba saß einige Meter entfernt von ihnen auf einer Bank, Laptop aufgeklappt auf dem Schoß und tippte. Die ganze Pause über ließ ich die beiden nicht aus den Augen. Zwischendurch erwiderte Kaiba meinen Blick, hielt ihn einige Sekunden und schaute dann über mich hinweg. Darauf zu warten, dass etwas passierte war fast so schlimm, wie wenn es passierte. »Vielleicht hat er eingesehen, dass er ein Arsch war und lässt die Sache einfach.« Wir sahen Tristan vielsagend an. »Lasst mich doch mal an das Gute im Menschen glauben«, seufzte er. Yugi und Thea diskutierten über einen anstehenden Test. Tris versuchte mit mir über irgendetwas Belangloses zu quatschen, aber ich konnte ihm kaum folgen, weil meine Gedanken ganz bei Mokuba und Kaiba klebten. Als die Schulklingel ertönte, zuckte ich zusammen und sah meine Freunde mit aufgerissenen Augen an. Was bedeutete das jetzt alles? »Vielleicht hast du ihn falsch verstanden?«, fragte Tristan, während wir warteten, dass die anderen Schülerinnen und Schüler sich durch das Chaos quetschten. Mokuba und seine Freunde blieben zurück, Kaiba saß – anders als sonst – immer noch auf der Bank im Hof und tippte, als hätte er den Gong nicht gehört. Ich schüttelte den Kopf. Vielleicht würde Christian diese Minuten nutzen, in denen man leicht den Überblick verlieren konnte. »Hey, ihr! Es hat geklingelt, geht in euren Unterricht«, rief eine Pausenaufsicht zu uns herüber und wir setzten uns widerwillig in Bewegung.   Als wir in unserem Klassensaal saßen, zupfte ich ein Papier aus meinem Block auseinander und formte Kügelchen, die ich mit ziemlicher Treffsicherheit in den Papiereimer warf. Mathe. Ausgerechnet das. Mein Kopf schwirrte und ich versuchte mich an die genauen Worte von Christian zu erinnern. Montag, er hatte eindeutig Montag gesagt. Er hatte gedroht, Mokuba würde es schlecht ergehen und Kaiba und irgendwie auch mir. Ich hätte schwören können, dass er in der Schule den großen Macker spielen würde. Das war sein Stil: vor allen anderen seine Fresse aufreißen. Oder hatte ich ihn so falsch eingeschätzt? Ich kippelte mit dem Stuhl und suchte Kaibas Blick. Aber der saß unberührt in der letzten Reihe, tippte ununterbrochen auf seinem Laptop herum und schien total in seine eigene Welt versunken. Also zog ich mein Handy aus der Hosentasche und schrieb mit unruhigen Fingern eine Nachricht, vertippte mich zweimal und hasste die Autokorrektur, die meine Fehler noch verschlimmerte. »Wer geht mit Christian?«, stand da. »*was«, korrigierte ich mit einem Augenverdrehen und beobachtete Kaiba argwöhnisch. Die Nachricht war gesendet. Angekommen. Und ignoriert! »Kaiba«, tippte ich und warf ihm vorwurfsvolle Blicke zu, als er einfach null reagierte. »Kaiba, was glaubst du, hat er jetzt vor?« Nichts. Er sein Handy nochmals hervor, warf einen Blick darauf und – legte es wieder weg! »Zieht er heute noch was ab?« Er tippte einfach auf seinem Laptop weiter. »Kaiba, hör auf mich zu ignorieren!« Also rollte ich ein Papierkügelchen. »Jetzt!«, tippte ich sozusagen als letzte Warnung, zielte genau zwischen seinen Bildschirm und ihn, spannte mein Handgelenkt zurück und warf. Kaiba fixierte mich plötzlich mit zusammengezogenen Augen. Außenstehende hätten fürchten können, dass er einen skrupellosen Mord plante, aber ich ignorierte Kaibas irritierten Blick problemlos. Immerhin hatte ich jahrelange Übung darin. »Was heißt soll das?«, formte ich mit meinen Lippen und meinte natürlich die ganze Situation mit Christian. Warum hatte er sich nicht blicken lassen? Was ging in seinem beknackten Hirn vor sich? Und wie konnten wir uns wappnen? Mein Handy vibrierte in meiner Hand. Fahrig tippte ich auf den Messenger, um die Nachricht zu lesen. Kaibas Stimme hallte in meinem Kopf wider und es war, als würde ich seine Genervtheit durch die Buchstaben hindurch hören. »Folge dem Unterricht, Wheeler«, stand da. »Das ist klausurrelevant.« Bei dem Wort zog sich mein Magen zusammen. Tristan beugte sich über mein Handy und nickte. »Wir können jetzt gerade eh nichts tun«, raunte er mir zu. In welchem Paralleluniversum war ich gelandet, dass Seto Kaiba und Tris quasi einer Meinung waren? Völlig entgeistert und genervt stopfte ich mein Handy in die Schultasche und starrte an die Tafel. Ich sollte mich also auf dieses bescheuerte Zeug konzentrieren, während Christian sicherlich irgendwo irgendwie versuchte uns dranzukriegen. Wie konnte Kaiba da so ruhig erscheinen? Wie schaffte es, Mokuba mit seinen Freunden auf dem Pausenhof zu scherzen? Mir zog sich die Lunge zusammen bei dem Gedanken, den beiden könnte etwas passieren. Was, wenn Kaiba sich überschätzte? Oder Christian unterschätzte? Was, wenn ich etwas nicht begriffen hatte und Christian falsch einschätzte – so wie in der Hofpause? Ich hing halb über meinen chaotischen Notizen, die ich später wahrscheinlich nicht mehr würde entziffern können und kritzelte weiter irgendwelche Formeln ab, die unser Lehrer erklärte, dann einen Witz fallen ließ, den wohl kaum jemand verstand. Vereinzeltes Gelächter. Ich schnaubte leise. Wenn es stimmte, dass es unendlich viele Universen gab, dann gäbe es eines, in dem sich die Sache mit Christian ohne Probleme in Luft auflöste. Und auch eines, in dem ich ohne Probleme das Zeug an der Tafel verstünde. Leider saß ich im falschen.   Roland wartete wie immer nahe dem Schultor in der Limousine. Wir rutschten über viel zu exklusives Leder und saßen in einem Gefährt, das teurer als Tristans Wohnung war. Er wusste das. Wir wussten das alle. Yugi und Thea staunten, aber Tristan sprach es laut aus. »Das ist so mega abgefahren!« Ich wusste das. Mir war absolut klar, wie außergewöhnlich und über meinem Lebensstandard das hier alles war, aber mich packte dieses Kribbeln nicht mehr, wenn ich in Kaibas teure Autos stieg oder in seine Arbeitszimmer platzte, die voller abgefahrener Technik steckten. Als wir vor der Villa hielten und Tristan vor Bewunderung zu platzen schien, fragte ich mich, wie schnell man sich an solchen Luxus gewöhnte. Ob man ihn eines Tages einfach nicht mehr sah und als selbstverständlich erlebte? Vollzog es sich in Schüben oder geschah das einfach von einem Moment auf den nächsten? »Das ist hier ja so richtig abgedreht«, stotterte Tris vor sich her. Christian glaubte, Kaiba hätte es verdient, ihn mal so richtig fertig zu machen. Umgekehrt gefragt: Hatte Kaiba all diesen Reichtum verdient? »Das ist ja riesig. Klar, weiß jeder, aber wie riesig.« Aber wer hatte das nicht? Woran machte man das fest und wer war dafür verantwortlich, zu entscheiden, wer zu viert in einer Zwei-Zimmer-Wohnung hauste und wer zu zweit in einer Villa wohnte? »So was von krass.« War es harte Arbeit? Glück? Beides? Tat Kaiba wirklich so, als wäre er etwas Besseres? Und war doch einfach nur ein reiches Arschloch? »Da ist eine verdammte Statue vom Weißen Drachen mit eiskaltem Blick in seinem Garten mit Pool!« Oder war er ein großer Bruder, der sein Bestes gab, um seinem kleinen Bruder das Beste zu bieten? »Wie groß ist die? Fünf Meter? Da ist ein Baumhaus? Oh, scheiße, wie geil.« Oder war er der skrupellose Geschäftsmann, der auf Kosten seines kleinen Bruders ein Unternehmen großmachte, um es seinem Stiefvater richtig heimzuzahlen? »Hörst du mir überhaupt zu, Joey?«, fragte Tris und schaute mich entgeistert an. »Äh«, machte ich und kratzte mein Kinn. »Dass es hier voll krass ist?« Tristan packte mich im Schwitzkasten und erzählte mir nochmals, was genau ›voll krass‹ an Kaibas Villa war.   Am späten Nachmittag saßen wir im Esszimmer, wo Tristan die bemalte Zimmerdecke bestaunte und Mokuba die Ohren damit zuschwallte, Yugi und Thea mit Kaiba über irgendwelche Gemälde diskutierten, die in seinem Flur hingen (woher hätte ich wissen sollen, dass das irgendwelche Originale waren von irgendwelchen italienischen Künstlern aus irgendeiner besonderen Szene?) und ich wartete auf meine Lasagne. Mokuba warf mir einen Blick quer über den Tisch zu, grinste mich an und ich erwiderte es. Ich hatte einfach nur Hunger und irgendwie war ich es leid, zuzustimmen, wie mega und krass hier alles war. Ihm ging es wohl ähnlich. Mokuba schien nicht an dem ganzen Protz zu hängen oder merkte man erst, dass man daran hing, wenn man es nicht mehr besaß? »Es war schon überraschend«, sagte Mokuba und stimmte irgendwem zu, »aber Christian ist nicht dumm.« Tristan schnaubte geringschätzig. »Er würde kaum etwas tun, das ihn wirklich in Schwierigkeiten bringt, wenn man es beweisen kann.« Ich öffnete meinen Mund, um zu protestieren. Er hatte Mokuba vor den Augen aller gemobbt und geschlagen. Aber welche Konsequenzen hatte das für ihn gehabt? Im Nachhinein hatte keiner etwas gesehen. Es war ja so chaotisch gewesen, man konnte sich da nicht sicher sein. Natürlich. Jeder hatte Schiss irgendwie in den Ärger hineingezogen zu werden. Mein Kiefer klappte zu und ich ballte meine Faust. »Es war unwahrscheinlich, aber durchaus möglich, dass er etwas in der Schule geplant hätte«, sagte Kaiba völlig nüchtern und am liebsten hätte ich Christians Gesicht in meine Lasagne gedrückt. Wobei mein Essen dafür zu schade gewesen wäre.   Die Zeit kroch. Es war, als wartete ich auf etwas, das mich aus dieser Lethargie riss, aber nichts passierte. Kaiba und Yugi redeten über das Turnier. Obwohl mich Yugi einige Male direkt ansprach, fiel ich immer wieder aus dem Gespräch heraus und fischte in trüben Gedanken. Hatte Christian es nicht ernst gemeint? Machte ich mir völlig unnötig Gedanken?   Am Abend saßen wir im Wohnzimmer und versanken in der virtuellen Realität. Kaiba konnte es nicht lassen, besonders vor Yugi, sein Spielzeug auszupacken. Aber statt Neid freute sich Yugi. Statt sich als Konkurrenz zu betrachten, sah sich Yugi als Kaibas Mitspieler. Yugi machte sich nichts aus Kaibas Reichtum, aus seiner gerühmten Genialität. Er behandelte Kaiba mit derselben Freundlichkeit, wie er jeden behandelte. Ich denke, obwohl es Kaiba bestritt, respektierte er Yugi gerade deswegen umso mehr. Nachdem ich zum vierten Mal in Folge von einem Drachen gefressen worden war, zog ich mir die Virtual Reality-Brille vom Gesicht und streckte mich. Die anderen waren noch voll im Spiel. Es war mega amüsant, Thea dabei zu beobachten, wie sie ab und zu die Augen zukniff und mit ihren Händen vor sich in der Luft wedelte oder Tristans leisem Fluchen zu lauschen. Diese Probleme, mit denen man sich herumschlug und die verpufften, sobald man aus der Virtualität wiederauftauchte. Es war eine geniale Welt, ohne ernsthafte Konsequenzen. Mit einem Seufzen verschwand ich in der Küche, zog den Schrank auf und suchte nach meiner Lieblingsschokolade. »Krieg ich auch was?« Überrascht sah ich auf. Mokuba lehnte in der Tür und beobachtete mich mit einem verschmitzten Grinsen. »Auch schon gefressen worden?«, frotzelte ich und riss die Verpackung der Schokolade auf. »Dieser blöde Drache«, murrte er, seufzte und zog sich auf die Küchentheke. »Der hat mich jetzt zum dritten Mal gekriegt«, regte ich mich künstlich auf und überlegte, ob Kaiba ihn extra so programmiert hatte, dass er sich mich als erstes schnappte. Das wäre so typisch Geldsack. »Zum vierten Mal«, korrigierte er altklug, ich verdrehte meine Augen und packte ihn im Schwitzkasten. Er quietschte überrascht und flehte kichernd um Gnade. »Knock mich doch nicht noch zusätzlich mit deiner Pingeligkeit aus«, mahnte ich ihn gespielt beleidigt, während er lachte, schnippte ihm dann sanft gegen die Wange. Ich lehnte mich neben ihn an die Küchentheke, reichte ihm wortlos einen Schokoriegel und starrte aus dem Fenster. Von hier konnte man den Teich im Garten sehen und die riesige Trauerweide, die schon lange vor Kaibas Geburt hier hatte thronen müssen. »Glaubst du, wir haben Christian ganz falsch verstanden? Hat er es vielleicht anders gemeint? Oder nicht mal ernst?«, platzte aus mir heraus, während ich die langen Äste der Weide fixierte. Die Gedanken wiederholten sich als Dauerschleife in meinem Kopf. »Auf keinen Fall«, widersprach Mokuba leise. »Christian ist kein Typ, der jemandem einfach nur droht.« Hatte er das selbst erfahren müssen? Was war nur zwischen den beiden abgegangen? »Joey, ich weiß nicht, warum ich mich so schräg benommen habe«, sagte er resigniert und ich riss meinen Blick vom Garten und schaute ihn an. »Ich glaube, ich habe mich einfach so schlecht gefühlt und Christian hat mich dieses schlechte Gefühl für eine kurze Zeit vergessen lassen.« Sich jemandem anzuvertrauen, der einem nahe stand, war manchmal gar nicht einfach. Wenn man fürchtete irgendwie abgeurteilt zu werden, dann kriegte man den Mund nicht auf. Wenn man Angst hatte, jemanden zu verletzen oder zu enttäuschen. Wenn man das Gefühl hatte, niemand hörte einem wirklich zu. Manchmal war es einfacher mit einem Außenstehenden zu reden. »Es macht keinen Sinn, wenn ich jetzt darüber nachdenke. Es ist so unlogisch. Ich habe gedacht, er würde sich echt für mich interessieren. Selbst als er ständig nur nach Seto gefragt hat. Er hat mir das Gefühl gegeben, ich wäre unheimlich wichtig.« Menschen waren oft unlogisch. Sie ließen sich von ihren Gefühlen überrumpeln, verführen, leiten. »Ich war so bescheuert. Es tut mir leid.« Ich legte meinen Arm um seine Schultern und legte meinen Kopf auf seinen. »Mokuba«, sagte ich ganz ruhig und ernst und spürte, wie er zitterte. »Du bist unheimlich wichtig.« Mokuba hatte jemand gesucht, der ihm zugehört hatte. Jemand, für den er nicht nur Kaibas kleiner Bruder war. Ich war zu sehr mit mir und Kaiba beschäftigt gewesen. Und Kaiba zu sehr mit seiner Firma und sich. Bei dem Gedanken stachen kleine Nadelspitzen in meinen Magen. »Es tut mir leid, dass ich nicht wirklich für dich da war.« Mokuba vergrub sein Gesicht in meinem Shirt. »Und Kaiba hat halt echte Probleme mit eurer Kindheit. Ich denke, er macht sich da viel mehr Gedanken als er sagen kann.« Wobei ich da meine Klappe nicht zu weit aufreißen durfte. Wir waren alle irgendwie verkorkst. Jeder vermied irgendwelche Themen. Kaiba sprach nicht über seine Kindheit. Tristan nicht über Geld. Yugi nicht über die Krankheiten seiner Eltern. Ich nicht über meinen Vater. Umso mehr ich aber von Kaiba erfuhr, desto überraschter war ich, dass er nicht ein noch viel größerer Arsch geworden war. »Gozaburo hat es euch echt sau schwer gemacht, denke ich. Vielleicht braucht Kaiba einfach Zeit, bis er wirklich mit dir drüber reden kann. Vielleicht will er dich da immer noch beschützen.« Mokuba nickte und starrte auf seine Füße, die von der Theke herab in der Luft baumelten. »Er hat sich trotzdem arschig verhalten«, fügte ich hinzu, was Mokuba trotz allem ein schiefes Grinsen entlockte. Seine Mundwinkel sanken herab, als wir einige Sekunden einfach nur schwiegen und er an mir vorbei aus dem Fenster schaute. »Gozaburo war grausam zu Seto«, flüsterte er. »Wenn Seto nicht gut genug war, hat er ihn bestraft.« Ich sagte nichts, folgte nur Mokubas Blick mit meinem aus dem Fenster. »Er hat ihn nie geschlagen«, sagte er scharf, als wäre es ihm wichtig, dass ich das begriff. »Aber ich glaube, manchmal hätte sich Seto gewünscht, Gozaburo hätte es.« Seine Worte peitschten durch meine Gedanken. »Ich weiß, das klingt schrecklich«, murmelte er. »Niemand sollte jemanden schlagen, ich weiß. Auch, wenn ich das in den letzten Tagen vielleicht nicht gezeigt habe.« Ich drückte meine Wange kurz in sein Haar, um ihm zu zeigen, dass ich verstand. War das nicht gerade das Gemeine am Mobbing? Dass man den Mobbingopfern einredete, sie wären selbst schuld? Dass sie es verdienten? Mokuba hatte nichts davon verdient. Wir schwiegen und ich atmete tief ein. Draußen wogen die Äste der Weide im Wind, aber vor meinen Augen sah ich einen kleinen Jungen, der einsam in einem Zimmer hockte, das überhaupt nicht wie ein Kinderzimmer ausschaute. Er musste sich furchtbar nach seinem kleinen Bruder sehnen. Aber sie sagten, er selbst trüge die Schuld, dass er nicht bei ihm sein konnte. Er hätte besser sein müssen. Ihnen keine Entschuldigung geben, ihn von seinem Bruder fernzuhalten. Irgendwann glaubte er den Stimmen von außen, dass es seine Schuld war. »Weißt du, wie das ideale Team für ein Startup aussieht?« fragte Mokuba und riss mich aus meinen Gedanken. »Äh«, machte ich verwirrt. »Menschen? Roboter?« Mokuba schnaufte belustigt. »Man braucht einen Programmierer, einen Kaufmann und einen Vertriebler.« Also war ich da ziemlich unnütze. »Gozaburo machte Seto zu allem davon. Er musste alles Mögliche dafür lernen. Gozaburo schleppte dafür Dozenten von der Uni an.« Kaiba war überdurchschnittlich intelligent. Daraus machte er keinen Hehl. Ich begriff nur ansatzweise, wie genial er eigentlich war und Kaiba hatte bestimmt eine richtige Förderung verdient. Alle Kinder hatten das. »Wenn Seto nicht schnell genug Fortschritte gezeigt hat, hat ihm Gozaburo Zimmerarrest gegeben. Damit Seto lernt, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.« Mokuba zeigte Anführungszeichen mit seinen Fingern. Das klang für mich nicht nach einer gesunden Förderung. »Das hieß vor allem, Seto durfte mich nicht sehen.« Ich linste zu Mokuba hinunter, ohne mich zu bewegen. Seine Mimik wirkte wie versteinert, als versuchte er, nicht die Fassung zu verlieren. Vielleicht hatte er sich das von seinem großen Bruder abgeschaut. »Manchmal war er tagelang allein in einem Zimmer eingesperrt.« Mein Magen rutschte in meine Knie. Gozaburo hatte einen kleinen Jungen einfach eingesperrt? »Er hat alles bekommen. Das beste Essen, die teuersten Shampoos und alles. Ihm wurden die Sachen von den Hausmädchen gebracht und sie haben darauf achten sollen, dass er sich ordentlich in der Badewanne wäscht, dass er gut und gesund isst, genug trinkt, morgens und abends Sportübungen macht. Ich habe immer an der Tür gelauscht, was Gozaburo den Angestellten gesagt hat. Ich habe immer gehofft, so herauszufinden, in welchem Zimmer Seto dieses Mal war.« Ein zweiter kleiner Junge gesellte sich in meinen Gedanken zum ersten. Tür an Tür und doch so unendlich weit entfernt. »Wenn Seto Zimmerarrest hatte, durfte kein Hausmädchen mit ihm reden oder ihm nur durch Mimik oder Gestik antworten. Niemand durfte Augenkontakt zu ihm haben.« Ich schnappte nach Luft. »Aber – das ist doch –« Folter. Ich sprach es nicht aus, sah aber in Mokubas Augen, dass er genau wusste, was ich dachte. »Nach einem Tag kompletter Isolation bekam er ein Buch, über ein bestimmtes Fachgebiet. Er sollte sich ja auf seine Karriere konzentrieren und seine Zeit nicht vergeuden.« Gozaburo hatte sich seinen perfekten Nachfolger herangezüchtet. Mir wurde übel. Es gab nicht nur eine Art von Gewalt, nicht nur die, die Blutergüsse hinterließ. Jede Gewalt war ein Verbrechen. Auch die, die hinter geschlossenen Türen passierte, auch die, die man nicht sah. Ich drückte Mokuba an mich, als könnte ich ihn jetzt vor diesen Erinnerungen beschützen. »Nach einer Woche wurde Seto gefragt, ob er sein Fehlverhalten einsähe und wie er sich zukünftig zu verhalten gedachte.« Mokubas Worte klangen, als zitierte er sie und ich fragte mich, wie oft er sie gehört haben musste. Wie tief sie sich in sein Innerstes gegraben hatten. Wie oft hatte Kaiba ein Fehlverhalten einsehen müssen, um seinen kleinen Bruder nach tagelanger, wochenlanger Isolation wiedersehen zu dürfen? Wie oft hatte Gozaburo ihm eingeredet, dass seine Leistung zu schlecht, dass er nicht genug war? Wie oft musste man ein Kind von sich stoßen, bis es unerreichbar wurde? Kaiba und ich waren in unterschiedlichen Welten großgeworden. Von ihm erwartete man zu viel. Von mir zu wenig. Er sollte führen, ich niemandem im Weg stehen. Außenstehende könnten schnell behaupten, wir hätten nichts gemeinsam. Aber das war falsch. Kaiba mochte Donuts. Ich auch. Kaiba spielte gerne Videogames. Ich auch. »Manchmal«, murmelte Mokuba, »manchmal frage ich mich, wie er wohl heute wäre, wenn wir Gozaburo nie getroffen hätten.« Ich schluckte. Wäre er heute glücklicher? Oder würde er es sein Leben lang bereuen, die Gelegenheit, sich aus der Armut freizukaufen, an sich vorüberziehen gelassen zu haben?   Es war kurz nach elf, als ich mich ins Haus schlich. Meine Mutter stand im Pyjama und Bademantel im Gang und schaute mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Äh, hallo«, sagte ich. »Wo warst du so lange, Joseph?« Ich zuckte die Schultern, während ich ungelenk meine Schuhe von den Füßen schob. »Bei Freunden«, sagte ich nur. Nicht, dass sie es wirklich interessieren würde. Irgendetwas passte ihr mal wieder nicht, andernfalls würde sie mich kaum ansprechen. Unsere Gespräche beschränkten sich auf Begrüßung und Verabschiedung und von mir aus konnte das gerne so bleiben. »Du hast morgen Schule.« Als könnte ich diesen lästigen Gedanken verdrängen. »Jo.« Ich wollte mich an ihr vorbeischieben, aber sie baute sich vor mir auf. Obwohl sie gut einen Kopf kleiner war als ich, schien sie den ganzen Flur einzunehmen. »Mir ist es völlig egal, welche Regeln, du sonst gewohnt warst, aber du weißt, dass du hier spätestens um zehn Uhr wieder zu Hause bist. Ich –« »Richtig«, fuhr ich ihr dazwischen, zupfte an meinen Ärmeln, weil ich etwas tun musste, um nicht gleich loszubrüllen. »Dir ist es egal. Nichts Neues also.« Ich sah, wie sie schluckte. Aber es ging mir am Arsch vorbei. Vielleicht traf ich endlich einmal den richtigen Nerv. »Du kannst nicht dauernd, schwierige Umstände vorschieben, wenn du dich nicht korrekt verhältst, Joey«, sagte sie betont ruhig. »Nur meine Freunde nennen mich so.« Röte schoss ihr in die Wangen. »Gut.« Sie atmete tief durch und zog den Bademantel enger. »Du hast Hausarrest für die Woche.« Ich starrte sie an. Das konnte nicht ihr Ernst sein. Am liebsten wäre ich in Lachen ausgebrochen, aber mir blieb es im Rachen stecken, als sie mich so anschaute, mit diesem Ausdruck in den Augen. »Vielleicht kannst du dich so leichter daran erinnern, wann du nach Hause kommen sollt. Direkt nach der Schule.« Als wäre das hier mehr als nur ihr erbärmlicher Versuch, zu zeigen, wer das Sagen hatte. »Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal nach Hause gekommen wäre«, sagte ich kühl, schaute sie an und sah, wie ihr alle Farbe aus dem Gesicht fiel. Dann drückte ich mich an ihr vorbei und jagte die Treppe immer zwei Stufen auf einmal hoch. Sie machte keine Anstalten, etwas zu tun. Auch nichts Neues. Sie hatte immer nur zugeschaut und das einzige Mal, als sie etwas unternommen hatte, war sie ohne mich gegangen. Mit einem Knall schloss ich die Zimmertür hinter mir.   Es war ohrenbetäubend leise, als ich plötzlich allein im Raum stand. Kaiba hörte nicht darauf, was andere behaupteten, wie er zu sein, was er zu tun hatte. Ich auch nicht. Mein Handy vibrierte in der Hosentasche. Ich ignorierte es. Kaiba glaubte daran, dass er sein Leben selbst in die Hand nehmen musste. Ich auch. Und meine Mutter hatte mir nichts zu sagen. Dafür kam sie nämlich zu spät. Schon wieder vibrierte mein Handy. Irritiert zog ich es hervor und lehnte den Anruf ab, ohne einen Blick auf das Display. Egal, wer es war, konnte bis morgen warten. Ich hatte heute einfach keinen Bock mehr. Mit einem Pochen im Kopf, zog ich meine Klamotten aus und schlüpfte in ein Schlafshirt. Als ich im Bett lag, meine Arme verschränkte ich hinter dem Kopf, starrte ich an die Decke und zählte die Schatten, die dort tanzten. Kaibas Kindheit war nicht gerade optimal verlaufen. Meine auch nicht. Die Worte meiner Mutter zeterten in meinem Kopf und ich warf mich wütend auf den Bauch. Wir nahmen sie nicht als Entschuldigung für alles, was jetzt in unserem Leben schieflief. Mein Handy vibrierte schon wieder und ich wollte es eigentlich ausstellen, aber dann sah ich Mokubas Namen und nahm sofort ab. »Was gibt‘s? Alles klar bei dir?« Zuerst war da nichts auf der anderen Seite, dann ein Rascheln. »Du hast ihm davon erzählt.« Ich erkannte die Stimme sofort und mit seinen Worten war meine Wut erloschen. »Nein.« »Du bist ein richtig beschissener Schauspieler, Wheeler.« Er dagegen klang richtig angepisst. »Aber Mokuba ist nicht besser als du.« »Woher hast du sein Handy?«, begann ich, aber er sprach einfach über mich hinweg. »Meinst du, ich kriege nicht mit, wie er dauernd zu seinem Bruder schaut? Wie sehr sich seine Körpersprache verändert hat?« Ich hörte mit jeder Silbe, wie er sich in Rage redete und ich wusste, es wäre dumm ihn zu provozieren. Ich würde ruhig bleiben müssen, einen kühlen Kopf bewahren und herausfinden, was er hier eigentlich wollte. »Er rennt ihm wieder hinterher, wie ein treues Hündchen. Genauso wie du. Ihr entschuldigt sein Verhalten, als hätte er nur das Beste im Sinn. Aber das hat er nicht. Er hat nicht für Mokuba Gozaburo Kaibas Firma übernommen. Das hat er für sich getan. Er hat die Mitarbeiter nicht gefeuert, weil es das Beste gewesen wäre, sondern weil er sich an Gozaburo Kaiba rächen wollte.« »Das ist so eine verlogene Scheiße, die du da von dir gibst.« Einen kühlen Kopf bewahren, war noch nie meine Stärke gewesen. »Hat er dir das gesagt?«, spöttelte Christian. »Ich denke, ich habe genug verstanden. Kaiba hat getan, was er hatte tun müssen, um die Firma zu retten und für sich und seinen Bruder ein Leben aufzubauen.« Er hatte ein Leben gegen ein Leben getauscht. Ob zum Besseren darüber ließe sich diskutieren. Nicht, dass es Christian schnallen würde. Er war keineswegs dumm, aber Menschen tendierten dazu, nur das zu hören, was sie hören wollten. »Retten? Er wollte nur Gozaburos Erbe vernichten.« Sie suchten nach Beweisen, um ihre Sichtweise zu verstärken und ignorierten die, die ihrer Perspektive widersprachen. »Woher willst du das wissen?« Ich hörte Mokubas Worte, sah seinen Blick aus dem Fenster, während er mir die Geschichte anvertraute, die er vielleicht noch nie jemandem erzählt hatte und ich spürte, wie die Wut wieder in meinen Bauch kroch. Wie Spinnen mit langen Beinen, die sich gegen mein Innerstes bewegten und aus jedem Schlitz krabbelten, alles ausfühlten, bis nichts mehr da war, außer diesem Gefühl. Christian bestritt, dass Kaibas Opfer etwas mit seinem kleinen Bruder zu tun hatte. Als wäre er der egoistische, empathielose Roboter, den die Zeitungen damals aus ihm gemacht hatten. Aber trotz all dieser Gerüchte, all der Meinungen und Lügen hatte Kaiba Mokuba an erste Stelle geschoben. Nicht einmal Gozaburo hatte das ändern können. Kaiba ließ nicht zu, dass jemand Menschen verletzte, die ihm nahestanden. »Wheeler, du stehst auf der falschen Seite. Ich denke, in ein paar Tagen wirst du das einsehen.« Ich auch nicht. »Du wirst es bereuen. Kaiba wird dich fallen lassen und du wirst dir wünschen, du hättest ihn nie näher kennengelernt.« Kapitel 69: ... bin berührt ---------------------------   __________________________________________   Die Wahrheit wird nicht davon berührt, dass die meisten Menschen sie für die Unwahrheit halten. © Peter Bermes __________________________________________             Ich war kein Genie. Anders als bei Kaiba befürchtete bei mir niemand, dass ich eines Tages die Weltherrschaft an mich riss. Ehrlich gesagt wüsste ich auch nicht, was daran so toll sein sollte. Ich wollte lieber meine Ruhe, die Nacht durch zocken und den Tag verschlafen, mit meinen Freunden abhängen, in Herrn Mutos Garten grillen und auf dem Weihnachtsmarkt ganz in Ruhe Glühwein trinken. Ich hatte lange Zeit gedacht, wenn man berühmt und reich wäre, hätte man keine Sorgen. Ich wollte gebraucht werden, wichtig sein und Aufmerksamkeit. Ich wollte nicht unsichtbar bleiben. Dann wäre ich glücklich, hatte ich gedacht. Ich lag falsch.   In der Schule waberte ein beklemmendes Gefühl in den Gängen, über unseren Gesprächen, zwischen den Unterrichtsstunden. Ich begriff nicht, wie unsere Mitschüler so sorglos kichern und quatschen konnten, während wir hier unseren Kopf zerbrachen, was Christian als nächstes plante. »Ich hatte es verloren. Ich habe gedacht, es taucht schon wieder auf.« Mokuba trat von einem Bein aufs andere und ich pustete mir eine Strähne meines Ponys aus der Stirn. »Ganz ehrlich, er hat es doch geklaut«, murrte ich. Mir konnte niemand erzählen, dass es ein Zufall war. Mokuba verlor sein Handy und – so eine Überraschung – es tauchte bei Christian auf, der mich damit anrief. Wir standen in der Hofpause beisammen und ich versuchte, nicht loszustürmen und mir Christian persönlich vorzuknöpfen. Hörte diese Scheiße nie auf? Die Schulklingel riss mich aus meinen Gedanken und gemeinsam trotteten wir Richtung Schulgebäude. »Muss aufs Klo«, verabschiedete ich mich kurzangebunden und meinte damit »Lasst Mokuba nicht aus den Augen«. Wer wusste schon, was Christian noch einfallen würde. Wir jedenfalls würden Mokuba nicht im Stich lassen. Unsere Mitschüler stampften durch die Flure, riefen, lachten und redeten. Es war ein unheimlicher Tumult, in dem ich das Gefühl hatte, unterzugehen. Das Gefühl, unsichtbar zu sein. Dann schlüpfte ich durch die Tür der Jungentoilette. Stille. Ein Gestank von Urinstein wehte mir entgegen. Und das Echo meiner Schritte. Mit angewidert verzogenem Mund war ich gerade dabei meine Hose zu öffnen und hielt inne. »Wheeler.« Irritiert drehte ich mich um. Das war jetzt nicht wahr. »Du wirst ja wohl ohne meine Hilfe pissen können?« Christian verengte seine Augen. Scheinbar verstand er meine Ansage nicht, mich in Ruhe zu lassen. »Ich habe gedacht, unser Gespräch wäre bei dir angekommen.« Ich seufzte und wedelte mit meiner Hand, als könnte ich ihn wie eine lästige Mücke vertreiben. »Zwischen Mokuba und Kaiba ist wieder alles soweit in Ordnung. Du hast verloren. Lass es gut sein.« Meine Blase drückte und ich hatte wirklich keine Nerven mehr, mich mit seinen Pseudoproblemen herumzuschlagen. »Du kapierst es wirklich nicht.« Er kam auf mich zu. Jeder Schritt füllte den Raum und ich wollte am liebsten an ihm vorbei aus dem Raum stürmen. Oder ihn gegen die nächste Wand drücken und sein Lächeln in die Fliesen hämmern. »Was meinst du?«, fragte ich genervt. Er stand ganz nah vor mir, lehnte sich vor und betrachtete meine Lippen. Sein Blick schweifte über mein Gesicht, dann starrte er mir in die Augen. »Das ist doch dein Problem, nicht?« Ich spürte seinen Atem auf meiner Wange. »Alle unterschätzen dich. Aber dein größtes Problem ist: Du unterschätzt dich selbst.« Ich spürte, wie sich meine Augen weiteten. »Erzähl doch nicht so einen«, meine Stimme versagte. Er beugte sich zu mir, so nah, dass ich einen Schritt zurückstolperte. Christian lachte leise und machte einen weiteren auf mich zu. Ich stand an der Wand, spürte die Kacheln in meinem Rücken und er beugte sich zu mir. »Glaubst du, Kaiba weiß dich zu schätzen?«, hauchte er in mein Ohr. »Glaubst du nicht, er sieht in dir nur einen Angestellten, den er austauscht, sobald jemand Talentierteres vorbeikommt?« Er ließ mir kaum Raum zum Atmen. »Oder ist dir das egal? Hängst du an ihm, weil er dir Liebe schenkt?« Er sprach ›Liebe‹ so verächtlich aus, als wäre es eine ansteckende Krankheit. »Ist es dir egal, dass sie von einem widerwärtigen Arschloch kommt, den es einen feuchten Dreck kümmert, was aus dir wird? So wie bei deinem Vater?« »Erzähl keinen Scheiß! Was weißt du von meinem Vater?« Mit einer Bewegung kesselte er mich ein, wie eine Umarmung, die mir die Luft nahm. »Nimmst du dieses Gefühl, beachtet zu werden, von jedem?«, sprach er weiter, als hätte ich gar nichts gesagt. »Ich kann es dir geben. Besser als Seto Kaiba.« Dann presste er sich an mich, seine Hände drückten meinen Po und er sich an meinen Schritt. Ich erstarrte. Meine Gedanken schrien. Das hier war nicht okay, das hier war nicht okay, das hier war NICHT OKAY! Aber ich konnte mich nicht rühren. Dann lachte er in mein Ohr und ich wollte ihm meine Faust gegen seine Zähne schlagen, aber ich konnte nicht. Er rückte von mir ab und wollte etwas sagen, als eine Stimme meine Starre sprengte. »Gibt es hier ein Problem?« Mein Blick jagte zu Seto Kaiba, der in seinem teuren Mantel und mit Aktenkoffer hier so deplatziert aussah, wie Designermöbel an einem Bahnhof. »Oh, Wheeler. Dein Herrchen ist hier«, flüsterte Christian und rückte von mir ab. Meine Muskeln spannten sich instinktiv an, als er mich anschaute – einen Moment zu lange, als es angebracht gewesen wäre. Aber was war hier überhaupt noch angemessen? »Einen lieben Gruß«, sagte Christian zu mir und strich mir einfach über die Wange, ich glaubte, mich zu verschlucken, »von deinem Vater.« Was zur Hölle? »Fass mich nicht an!«, zischte ich. Er lächelte. »Ich würde nie etwas tun, was du nicht willst, Joey.« Dann zog er seine Jacke gerade, ging zurück und lächelte Kaiba an, als er an ihm vorbei durch die Tür trat. »Was wollte er?« Ich starrte die Tür an, die sich schon längst wieder geschlossen hatte. »Was machst du hier?«, fragte ich ohne zu antworten. Kaiba verzog sein Gesicht, während sein Blick über das Pissoir glitt. »Ich habe gesehen, wie er dir hierher gefolgt ist.« Er schaffte es, dass seine Anmer kung nicht nach Sorge, sondern einem Termin klang, den er eben zu erledigen hatte. »Also? Was wollte er, Wheeler?« Als stünde irgendwo zwischen Meeting mit dem Komitee und der Besprechung für das nächste Quartal: Wheeler auf die Schultoilette folgen, um irgendein creepy Zusammentreffen mit Christian zu unterbinden. Zu spät, zu spät, zu spät, hallte in meinem Kopf. »Ich habe ehrlich keinen Plan.« Ich spürte noch immer seine Berührung und wollte mir am liebsten mein Gesicht waschen, meine Kleidung verbrennen und mich komplett duschen. Ich hatte mich noch nie so dreckig gefühlt.   Es gab Gefühle, für die es keine Namen gab. Zum Beispiel wenn du dich fragst, was du falsch gemacht hast, obwohl du keinen Fehler begangen hast, während in deinem Kopf immer wieder dieselbe Szene abspielt. Wenn es dir peinlich ist, obwohl du nichts getan hast, was dieses Gefühl rechtfertigt. Und du das weißt. Wenn du glaubst, du hättest anders reagieren müssen, obwohl du nicht konntest. Wenn du fürchtest, dir würde man die Verantwortung, ja, die Schuld zusprechen, obwohl du angegriffen worden bist. Oder zum Beispiel wenn man gleichzeitig glücklich, aber auch traurig war, weil man sich gerne an etwas erinnerte, aber einem klar war, dass es nie wieder so sein würde, weil man selbst nicht mehr der war, der man gewesen ist und eigentlich wollte man auch gar nicht, dass es wieder war, wie es gewesen ist, weil es gut war, wie es jetzt war. Yugi hatte melancholisch vorgeschlagen, aber das traf es nicht genau. Oder wenn man sich an etwas klammerte, obwohl man wusste, dass man loslassen sollte, aber dafür noch nicht bereit war, weil man wusste, man würde es vermissen, obwohl es einem zuletzt nur Schmerzen zubereitete. Im Nachhinein war es klar, dass es so kommen würde, aber im Nachhinein war man immer schlauer. Am einfachsten schien es, solche Gefühle zu verdrängen.   Freitags um Punkt sechzehn Uhr rauschte ich direkt vom Spielladen von Yugis Großvater in die Kaiba Corporation, sprang in den Fahrstuhl, fuhr damit in die oberste Ebene und nickte der Sekretärin mit einem breiten Grinsen zu. Sie lächelte zurück, ohne über meine abgewetzten Jeans oder das ausgewaschene Sweatshirt die Stirn zu runzeln. Mein Handy vibrierte, aber ich ignorierte es und stürmte in Kaibas Büro, natürlich ohne anzuklopfen. Das hier war kein Date. »Hey ho!«, rief ich und Kaiba legte seinen Finger auf den Mund, lauschte der Stimme am anderen Ende des Hörers und sprach dann über Aktien und Kurse, Deadlines und Lizenzen. Gähnend lehnte ich mich gegen seinen Schreibtisch. Einem Impuls folgend, legte ich meine Hand in sein Haar und ließ meine Finger durch seine Strähnen gleiten. Es war so sanft, ganz anders als meines. Er schloss die Augen, ohne das Gespräch zu unterbrechen und machte keine Anstalten, mich von meiner Berührung abzuhalten. Als er das Gespräch beendete, schnappte ich wie aus einer Trance und packte die Hände in meine Hosentaschen. »Du bist früh«, sagte er und legte das Telefon zurück, lehnte seine Finger gegeneinander und schaute hinaus über die Dächer Dominos. »Wir hatten sechzehn Uhr ausgemacht!«, widersprach ich verwirrt. Er schnaubte, dann schaute er zu mir hoch. Nur Seto Kaiba schaffte es, einem das Gefühl zu geben, auf Augenhöhe zu sein, während er saß und ich stand. »Eben. Und du bist überraschenderweise pünktlich.« Ich streckte ihm die Zunge heraus, schritt zur Garderobe und warf ihm seinen Mantel in den Schoß. »Hopp, hopp«, sagte ich, »ich habe Hunger.« »Wann nicht?«, murmelte er und ein Grinsen zupfte an seinem Mundwinkel. Niemand starrte mich hier an, wenn wir durch die Flure gingen. Als wäre es normal, dass ich hier auftauchte. Mein Handy vibrierte und ich verzog genervt meinen Mund. Meine Mutter wollte wissen, wo ich war. Hatte ich es ihr nicht tausendmal gesagt? Ihr ging es doch am Arsch vorbei, was ich sagte. Oder nicht sagte. Uns begrüßten ein paar Angestellte im Vorbeigehen mit einem Kopfnicken und als ich in den Lift sprang, Kaiba folgte mir gemächlich mit dem Aktenkoffer in der Hand, fragte ich mich, seit wann ich mich so fühlte, wenn Kaiba bei mir war. Wann war es so leicht mit Kaiba geworden? Ich drückte meine Nase gegen die Glasscheibe des Lifts und beobachtete die Anzugträger unter uns. Seit wann fühlte ich mich hier wohl? »Wheeler, du hinterlässt überall Pfotenabdrücke.« »Oh, sorry«, sagte ich abwesend und schob meine Hände in die Hosentaschen. »Hey, Geldsack!«, rief ich dann, als ich seine Worte wirklich registriert hatte, und sprang eine halbe Umdrehung zu ihm. »Ich habe keine –« Ich verstummte, als ich seine Mimik sah. Er grinste. Es war mehr ein Mundwinkelzucken, aber das war in Kaibas Welt schon eine krasse Gefühlsregung. Ich verengte meine Augen und fuhr mit meinem Blick über seine Lippen. Doch das war nicht das ›Du-bist-erbärmlich-aber-dich-auszulachen-ist-unter-meiner-Würde‹. Das hier war ein ehrlich amüsiertes Grinsen. Nichts weiter. Und doch so viel. Er stand da mit dem silbernen Aktenkoffer in der Hand, sein Anzug war faltenfrei, seine Schuhe poliert und sein Haar lag perfekt. Ganz anders als ich. Ich machte einen Schritt zu ihm, stand eine Handbreite vor ihm und atmete ein. Er duftete ganz fein nach Weichspüler und Aftershave. Um seine Augen bildeten sich diese Fältchen und seine blauen Augen strahlten, als würde die Sonne auf das Meer scheinen. Seit wann war seine Nähe so vertraut? Ich lehnte mich zu ihm und spürte, wie er seinen Atem anhielt. »Hier kann uns jeder sehen«, sagte er, wandte seinen Oberkörper genug von mir ab, dass ich mich fühlte, als hätte mich eine eiskalte Dusche erwischt. Er zog sein Handy aus der Stoffhose, um irgendetwas darauf zu tippen. Sein Ernst? »Ja«, krächzte ich, räusperte mich, wandte mich zur Glaswand des Lifts und starrte hinaus. Das hier war kein Date. Bei Dates hielt man die Hand des Anderen und himmelte ihn an. Ich redete mir den gesamten Heimweg über ein, dass Kaiba eine private Person war, dass er Berufliches und Persönliches trennte, dass er nicht vor seinen Angestellten mit einem Mitschüler irgendwie zu vertraut erscheinen wollte. Das war nachvollziehbar, das war professionell, das war zu akzeptieren. Ich redete mir ein, dass ich ihm nicht peinlich war. Und glaubte es mir fast. Das hier war kein Date. Bei Dates ging man in teure Restaurants. »Gib mir mal die Pommes! Und das Ketchup!« Oder ins Kino. Wir saßen auf dem Boden zwischen Couch und Tisch und schauten fern, während ich mein Kartendeck aufrüstete, Karten aussortierte und mit meinem Handy Strategien recherchierte. Mein Handy vibrierte und vibrierte und vibrierte. Kaiba hob die Augenbraue. »Nur meine Mutter«, murmelte ich irritiert. Kaiba schob die Packung Pommes in der Papiertüte herüber und sich selbst ein Stück Pizza in den Mund, während er seinen Laptop aufklappe. Man traf sich auf einen Drink. »Hier«, sagte er und drehte mir den Bildschirm zu. »Ich habe recherchiert und wahrscheinlich herausgefunden, warum Christian diese Obsession entwickelt hat.« Man zog teure Kleidung an und spazierte durch einen Park, um die Sterne zu beobachten. »Hä?«, machte ich und schaute ihn verdutzt an. »Du machst dir doch die ganze Zeit Gedanken darum.« Bei seinem Namen spürte ich die Galle in meiner Lunge. »Woher –?« »Du weißt, dass Mokuba bei seinen Freunden ist. Den versammelten Kindergarten hast du heute Nachmittag nach der Schule gesprochen und soweit ich weiß gibt es derzeit mit ihnen keine Konflikte. Du hast deine Hausaufgaben mit Mokuba gemacht. Also keine schulische Thematik. Damit bleiben nur deine Familie und das Problemfeld Christian.« Ich starrte ihn an, dann den mir zugewandten Bildschirm, dann wieder ihn. »Du vermeidest grundsätzlich über deine Familie zu reden, also habe ich auf Christian getippt. Vor allem nach der Begegnung, über die du auffällig unauffällig nicht redest.« Mir wurde flau im Magen. Christians Nähe war ekelerregend, obwohl er von den Mädels in der Schule umschwärmt wurde. »Wir könnten seinem Klassenlehrer davon berichten«, sagte Kaiba, als schlug er eine neue Strategie für das anstehende Turnier vor. »Wovon?« Kaiba fixierte mich. Ich wusste wovon er sprach und er wusste, dass ich es wusste. »Ist es deswegen?« Ich wich seinem Blick aus und betrachtete die Pommes zwischen meinen Fingern. »Was?«, fragte er. Die Berührung von Christian überschwemmte meine Erinnerung. Das Gefühl, sich nicht bewegen zu können, obwohl ich ihm am liebsten den Kopf in der Toilette gespült hätte. »Wheeler, was meinst du?« Sein Lächeln, das sagte, er hatte gewonnen, er würde bekommen, was er wollte. Und seine seltsamen Kommentare. »Du willst nicht, dass ich dich berühre«, murmelte ich. Stille. Als er so lange nichts sagte, dass ich glaubte, er hätte mich nicht gehört, sah ich auf. Kaiba starrte mich an. Ich hatte geglaubt, alle seine Gesichtsausdrücke zu kennen. Vor allem seine ›Ich-weiß-alles-besser-als-ihr-kognitiv-limitierten-Gestalten‹-Mimik, der ›Verschwende-nicht-meine-Zeit-mit-deinem-Geschwätz‹-Ausdruck und die ›Trägst-du-deinen-Kopf-eigentlich-nur-damit-es-nicht-in-deinen-Hals-regnet?‹-Gesichtszüge. Aber Kaiba hatte noch nie ehrlich verständnislos meinen Blick erwidert. »Weil – Christian – er wollte mich nur einschüchtern.« Ich legte die Pommes zurück in die Papiertüte und starrte angestrengt auf den Fernseher. Mein Handy vibrierte, aber dafür hatte ich jetzt wirklich keinen Nerv. Kaiba schwieg und in jeder Silbe, die er nicht sprach, hörte ich, dass er wusste, dass mehr dahintersteckte. »Er hat nur – er wollte mich nur einschüchtern«, wiederholte ich lahm. »Okay«, sagte er und tippte eine Nummer. »Wen rufst du an?«, fragte ich und spürte die Panik in mir hochschwappen. Kaiba würde Christian anrufen oder Mokuba oder meine Freunde. Er würde nachforschen und mir Druck machen, wenn ich nicht damit herausrückte, was passiert war. Mir zog sich der Hals zu. »Ich fürchte, wir brauchen Schokoladeneis und Vanilleshakes, diverse Süßigkeiten, Popcorn, Nachos und eine, nein, zwei Tafeln weißer Schokolade mit Kokos«, sprach Kaiba in den Hörer, als ordnete er wichtige Unterlagen für ein super wichtiges Projekt und legte dann auf. »Was –?«, fragte ich verwirrt. »Wir haben nichts mehr davon im Haus«, sagte Kaiba, als wäre das offensichtlich. Ich betrachtete ihn, als hätte er sich gerade vor meinen Augen in ein DuelMonster verwandelt. Er biss in die Pizza und schluckte. »Mokuba wollte mir nie wirklich sagen, wenn es ihm nicht gut ging«, erzählte er dem Fernseher. »Er hat immer gedacht, ich hätte schon genug Probleme, ohne dass ich mir noch Sorgen um ihn machen müsste. Die Firma, die Presse, alles schien mir über den Kopf zu wachsen. Aber Mokuba hat nie verstanden, dass ich mir immer Gedanken um ihn mache. Also habe ich jedes Wochenende viel zu viel ungesunde Nahrungsmittel besorgen lassen und wir haben die ganze Nacht Filme gesehen und Süßigkeiten gegessen und irgendwann, wenn er es wollte, hat er geredet. Und ich habe zugehört.« Ich starrte Kaiba an. Das hier war kein Date. Auf Dates gestand man niemandem, dass man von jemanden so angefasst worden war, dass einem bei dem Gedanken daran übel wurde.   Kaiba nahm an der Tür die Bestellung von Roland entgegen. Ich hörte, wie sie ein paar Worte wechselten und konzentrierte mich auf den Film, von dem ich die Hälfte verpasst hatte, weil ich so in Gedanken war, dass ich nichts außer ihnen zu hören schien. War das hier Kaibas Art jemandem zu sagen, dass es okay war zu reden, wenn man so weit war? Musste er deswegen erst einmal ausholen und eine jahrealte Story von sich und Mokuba auspacken? Weil er es nicht schaffte, ganz simpel zu sagen: Lass dir Zeit. Ich bin hier. Ich sah ihn und Mokuba vor mir, wie sie Nächte damit verbrachten über Filme zu diskutieren, über Spiele, Karten zockten und ihre Träume und Pläne ausbreiteten und wie Kaiba Mokuba ganz sacht dazu brachte, seine Sorgen zu teilen, während er schwieg und lauschte und weiße Schokolade mit Kokos aß. Ich stopfte mich mit den Süßigkeiten voll, verschlang nebenbei noch mehr Pizza, aber das Gefühl der Leere verschwand nicht. Mein Handy vibrierte schon wieder. Meine Beine lagen über Kaibas Schoß. Mit der einen Hand griff er nach den Nachos, mit der anderen strich er mir gedankenabwesend über mein Knie. »Es ist nicht wirklich etwas passiert«, murmelte ich irgendwann nach drei Uhr in der Nacht. Das wusste ich, weil ich die Uhr anstarrte, um Kaibas Blick auszuweichen. »Er hat mich überrumpelt, der Arsch.« Die Leere füllte sich mit Wut und Scham. Ich zog meine Beine ein und setzte mich im Schneidersitz neben ihn. Warum war ich so bescheuert gewesen? So dumm und langsam? Ich hätte es kommen sehen müssen. Ich blinzelte zu Kaiba herüber. Er sagte nichts, während er ein Stück der weißen Schokolade mit Kokos abbrach und in seinen Mund führte. »Ich hätte schneller reagieren müssen. Ich hätte ihn wegstoßen können oder ihm eine reinhauen. Mein Hirn war einfach zu lahm. Irgendwas hat da nicht gestimmt, sonst hätte er mich nie so einfach anfassen können!« Kaiba schaute mich an, seine Hand zuckte und einen Augenblick lang glaubte ich, er würde mich berühren, aber er tat es nicht. »Wheeler«, sagte er stattdessen scharf und ich zuckte zusammen. »Das Einzige«, er betonte es so, dass ich das Ausrufezeichen förmlich vor mir schweben sah, »das Einzige und nichts sonst, was nicht gestimmt hat war, dass er dich ohne dein Einverständnis angefasst hat!« Meine Augenlider weiteten sich. Scham und Wut verpufften und Erleichterung strömte durch mich hindurch. »Ich weiß«, murmelte ich. Ich war mir bewusst, dass er recht hatte. Denn niemand durfte jemanden schlagen oder verletzen. Niemand durfte einen anfassen, wenn man das nicht wollte. Aber dieses Wissen schloss nicht das Gefühl ein, nicht selbst daran schuld zu sein. Nicht selbst dazu beigetragen zu haben. »Ich weiß«, wiederholte ich bestimmter und dieses Mal berührten Kaibas Finger meine. Ich starrte unsere Hände an. Es schockierte mich, wie anders seine Berührung war als die von Christian. Wie sich mein Bauch mit klitzekleinen Explosionen füllte, die Wärme durch meinen ganzen Körper jagte. Das hier war kein Date. Ich würde es dem Klassenlehrer melden und der Schulleitung. Christian würde nicht damit durchkommen. Als ich in Kaibas Augen schaute wusste ich, dass ich nicht allein gegen Christian würde aussagen müssen. Es würde alles gut werden. Mein Handy vibrierte schon wieder und zerbröckelte den Moment. Genervt angelte ich es vom Tisch und schaute darauf. Zweihundertdreiundvierzigtausend Benachrichtigungen und Erwähnungen. »Was zur Hölle?« Es war auf Facebook. Auf Twitter. Auf Instagram. Überall. Mir wurde schlecht. Alles Blut sackte in meine Zehen. Ich grub meine Fingernägel in meine Kopfhaut. Das war nicht wahr. Das konnte nicht wirklich passieren. Als ich nicht reagierte, riss Kaiba mir mein Handy aus der Hand. Ich würde die Bilder nie wieder loswerden. Die Hashtags brannten mir in den Augen. Lange Zeit hatte ich das Gefühl gesucht, wichtig zu sein, hatte nach Aufmerksamkeit gelechzt. Ein Video. Ich wollte nicht unsichtbar bleiben. Ein Loop. Dann wäre ich glücklich, hatte ich gedacht. Strähnige Haare, eine fleckige Jacke und eine leere Flasche Bier, die er demjenigen entgegenwarf, der die Handyaufnahme machte. Glas zersplitterte auf den Pflastersteinen. »Mein Sohn ist keine Schwuchtel!«, schrie mein Vater in die Kamera. #KaibasSchwiegervater #JoeysAssivater Ich lag falsch. Kapitel 70: ... bin berühmt --------------------------- __________________________________________   Allzu berühmt sein bringt Unheil ... Aischylos   __________________________________________           Ich war kein Egoist. Das hatte ich mir oft genug gesagt. Auch, wenn ich nicht viel besaß, ich teilte mit meinen Freunden, was ich hatte und bekam umgekehrt so viel zurück. Seto Kaiba war kein Egoist. Er hatte nur auf die harte Tour gelernt, dass die meisten Menschen lieber nahmen als gaben. Die meisten Menschen gaben das nur nicht zu, weil sie Lügner waren. Wir leben in einer Welt voller Blender und jeder glaubt, den anderen zu durchschauen. Dabei wollen wir die Wahrheit oft genug gar nicht so genau wissen.   Das Video spielte in einem Loop. In meinem Kopf waberte Leere, die jeden Moment zu platzen drohte. Das Chaos darunter war bespickt mit Scham und Schmerz. »Nein«, sagte ich nur und starrte mein Handy an, das nicht aufhörte zu vibrieren. Jede Nachricht, jeder Retweet, jede Benachrichtigung stach mir in die Lungen. Ich versuchte zu atmen, sog die Luft ein, aber der Sauerstoff erreichte mein Hirn nicht. Meine Hände begannen zu kribbeln. Das Gefühl tausender Ameisen, die über meine Haut krabbelten, breitete sich bis ins Gesicht aus. Die Zimmerwände schoben sich auf mich zu, der Boden schwankte. Dann kippte er zur Seite und ich bekam keine Luft. »Wheeler«, hörte ich Kaibas Stimme wie aus weiter Ferne. Alles schien gedämpft. »Wheeler, atme. Ganz ruhig. Ein. Aus. Genau.« Seine Atemzüge schnitten durch den Schleier, der sich über das Zimmer gelegt hatte. Ich lauschte ihnen, als würden sie den Rhythmus meines eigenen Atmens vorgeben. Ich verlor mein Zeitgefühl. Wenige Minuten? Stunden? Ich dümpelte irgendwo dazwischen in meinen Gedanken. Kaiba telefonierte. Ich folgte seinen Worten ohne deren Sinn auszumachen. Seine Stimme war alles, was ich wahrnahm. Sie war der Anker mitten in diesem Sturm. Ich starrte an die Wand, ab und zu beobachtete, wie Kaiba im Flur auf und ab ging, seine Gesten knapp und angespannt, seine Stimme gepresst. Ich glaubte, manche Stimmen am anderen Ende zu erkennen, aber ich schwieg und lauschte und schwebte irgendwo zwischen Erinnerungen und Gedanken. Das alles hier konnte doch nur ein verdammt schlechter Scherz sein, oder? Oder? Das Vibrieren meines Handys riss mich zurück in die Gegenwart. »Bist du okay?«, stand dort in Whatsapp. Verpasste Anrufe von meinen Yugi, Tristan, Thea, meiner Schwester. Mein Kopf war leer, aber seltsam klar. Während ich mein Handy in der Hand wog, überspülten Retweets, Mentions und Kommentaren den Screen. ›Der Alte gehört verbrannt.‹ War ich in Ordnung? ›Dreck wie du sollte sterben gehen.‹ Was würde jetzt passieren? ›So ein Ungeziefer.‹ Würde das alles etwas ändern? ›So viel kann ich gar nicht fressen, wie ich da kotzen will.‹ Was würde sich verändern? ›Der lässt sich bestimmt von dem für Geld ficken.‹ »Nein«, antwortete ich Yugi und schickte die Nachricht ab, legte das Handy zur Seite und vergrub mein Gesicht in den Händen. Aus dem Nebenzimmer schnitt Kaibas Stimme durch das Vibrieren meines Handys. »Ich kann nicht fassen, dass ausgerechnet du so mit deinen Daten umgehst!«, »Ich habe sofort alle Konten gesperrt und mein Passwort geändert, als ich gemerkt habe, dass mein Handy weg ist!«, zischte Mokuba. »Zu spät, Mokuba! Du hättest erst gar nicht deine Passwörter in Cookies speichern lassen sollen! Wie oft habe ich dir gesagt –« »Du bist doch nur angepisst, weil Christian cleverer war als du!« »Cleverer? Hast du eigentlich eine Ahnung, was das alles jetzt bedeutet? Christian wird behaupten, dass er nichts mit der Sache zu tun hat und wir können ihm nicht das Gegenteil beweisen!« Ich atmete ein. Und aus. Und ein. Und aus. Und ich fragte mich, seit wann mir das Atmen so viel Kraft abverlangte. War das nicht eigentlich eine Sache, die man nebenbei tat? Das Vibrieren meines Handys fraß sich wieder in meine Gedanken, doch als ich danach greifen wollte, schnappte es mir eine andere Hand weg. »Bleib offline«, sagte Kaiba und schaltete das Handy aus. Ich musste nicht fragen, warum. »Das hat Christian also gemeint«, murmelte ich. Kaiba war angepisst, Mokuba stand unsicher im Türrahmen und wich meinem Blick aus. Es war verrückt, wie leicht man jemandem das Leben schwer machen konnte. Als könnte ich endlich das Bild erkennen, das all die Puzzleteile zusammen ergaben. Glück, überlegte ich, ist wie dieses Bild. Es steckt in vielen Puzzleteilen, aber oft können wir es nicht sehen, weil es uns so zerstückelt begegnet. Manchmal – in diesen seltenen Momenten – wenn alles an den rechten Platz rückt, dann überflutet es uns. »Du wirst das schaffen, Wheeler«, sagte Kaiba. Und manchmal zerbricht es unter unseren Fingern, während wir dabei zusehen. Vor unseren Augen steht noch das Bild, wie es hätte sein können, aber wir wissen bereits, dass wir es nicht mehr retten können. »Roland bringt dich nach Hause. Am besten ist es jetzt erst einmal, wenn wir keinen Kontakt haben. Bis die Sache geklärt ist.« Wenn nur ein Bruchstück des Lebens in Schieflage geriet und man das Gefühl hatte, dass nach und nach alle Stützen wegbrachen. Ich schaffte es nicht, ihm zu widersprechen.   Sobald Roland mich abgesetzt hatte und außer Sicht war, starrte ich die Haustür an, dann drehte ich mich um und ging los. Meine Schritte wurden immer schneller, bis ich rannte. Der Wind rauschte in meinen Ohren wie das Blut, das mein Herz mit heftigen Schlägen durch meinen Körper trieb. Das Video wiederholte sich vor meinem inneren Auge, die Worte schrien mir entgegen, die gesprochenen und die geschriebenen. Fremde Menschen, die mich wahrscheinlich noch nie gesehen hatten, zerrissen mein Leben und ich sah zu. Meine Lunge brannte, als ich vor der Wohnung über dem Spielladen der Mutos stand und einen Kieselstein gegen Yugis Fenster warf. Und einen zweiten und dritten. Als ich den vierten zwischen die Finger nahm, riss jemand das Fenster auf und Yugis Fransen lugten zwischen der Gardine hervor. »Joey?«, fragte er erstaunt. »Oh, Mann! Ich habe so oft versucht anzurufen! Warte, ich mach dir auf.« Vor wenigen Stunden noch hatte ich mich endlich wieder stark gefühlt, hatte geglaubt, alles wieder hinbiegen zu können. Ich war nicht allein gewesen. »Was ist los?«, fragte Yugi, als er vor mir stand und ich wollte schreien, ihm alles erklären, aber es kam nichts heraus. Und jetzt hatte ich das Gefühl, dass sich die Welt gegen mich verschworen hatte. Ich hörte ein Schluchzen und begriff erst, als ich die Tränen mit dem Ärmel von meiner Wange wischte, dass es meines war. Wortlos nahm mich Yugi in den Arm. So standen wir in der Tür in der Abenddämmerung und lauschten dem Vogelgezwitscher und meinen Schluchzern. »Was zur Hölle«, murrte ich irgendwann und bekam natürlich Schluckauf, wich Yugis Blick aus und starrte an die Wand hinter ihm. »Alter, keine Ahnung was das eben war.« Ich war keine Memme, niemand der einfach in Tränen ausbrach. Ich war nicht der Typ, der seine Gefühle so zur Schau stellen musste. »Willst du eine heiße Schokolade?«, fragte Yugi und reichte mir ein Taschentuch. Yugi war nicht der Typ, der Probleme damit hatte, wenn Gefühle aus einem hervorbrachen. Er war schon immer die Person gewesen, die meine Scham mit nur einem Lächeln davonfegte. Wir saßen in der Küche und schlurften heiße Schokolade, während ich Yugi völlig umständlich erzählte, was passiert war. »Ich habe online ein paar Sachen gesehen. Das Video und einige Kommentare«, murmelte er. »Deswegen habe ich dich auch sofort angerufen.« Die Frage war wohl eher, wer es noch nicht gesehen hatte. Mit einem Seufzen vergrub ich mein Gesicht in meinen Armen, die ich vor mir auf den Tisch gebettet hatte. Am Montag wäre ich berühmt. Sicherlich würde bis dahin so gut wie jeder an der Schule das verdammte Video geschaut haben. Und die, die davor verschont geblieben waren, würden es spätestens dann durch unsere Mitschüler vorgesetzt bekommen. »Was hat Kaiba dazugesagt?« Sein Name war wie ein Schlag in den Bauch. »Dass wir jetzt besser erstmal keinen Kontakt haben.« Yugi betrachtete mich schweigend. »Bis die Sache geklärt ist«, fuhr ich fort, als wäre es keine große Angelegenheit. »Und dass ich das Ganze schon schaffen werde.« Kaiba hatte sicherlich recht. Er musste ein paar Sachen klären und ich musste eine Nacht über das Geschehen schlafen, ein bisschen herunterkommen. Rational gesehen lag Kaiba meistens richtig. Vielleicht würde es morgen ja schon wieder ganz anders aussehen. Vielleicht war es gar nicht so schlimm. Und wenn doch? Mein Bauch rebellierte. »Was soll ich jetzt bloß machen?«, flüsterte ich gegen den Tisch und spürte wie Yugi mir sachte eine Hand auf den Rücken legte. »Willst du hier schlafen? Wir sagen deiner Mutter Bescheid und dann kannst du einfach die Nacht bleiben.« Ein bisschen zocken, ein bisschen Karten spielen, ein bisschen erzählen und so viel heiße Schokolade trinken, bis unsere Bäuche aus dem Getränk zu bestehen schienen. Das klang gut. Noch während ich nickte, zog Yugi sein Handy hervor. Ich starrte meines an. »Lass es aus«, sagte er und mein Herz sackte in meine Kniekehlen. Ich legte das Handy unter ein Kissen, damit ich es nicht mehr anstarren musste. Meine Mutter war nicht begeistert von meinem spontanen Plan. »Joseph, ich möchte nicht, dass du dauernd irgendwo anders schläfst.« Ich verdrehte die Augen. Dauernd? Woanders? »Nicht, dass es dich vor ein paar Monaten interessiert hätte oder vor ein paar Jahren«, sagte ich und der Sarkasmus triefte in jeder Silbe. Sie schwieg. »Es ist unwichtig, wie dein Vater –« Unwichtig? Das war meine Kindheit gewesen. Ich ließ sie reden und legte einfach mitten in einem ihrer Sätze auf. Yugi beobachtete mich und bereitete ohne ein Wort den heißen Kakao zu. Als sein Großvater nach uns sehen kam, taten beide so, als wäre es selbstverständlich, dass ich hier war. Früher war es das gewesen. Wusste Herr Muto schon von der Sache? Ich wollte mich irgendwo vergraben, aber er lächelte mich nur mit seinen funkelnden Augen an und forderte mich zu einem Duell heraus. Mit Yugis Großvater zu spielen bedeutete, es ins Gesicht gedrückt zu bekommen, woher Yugi sein Talent herbekommen hatte. »Schon wieder verloren?«, sagte ich verdattert und raufte mir die Haare. Yugi kicherte und als ich ihm einen finsteren Blick zuwarf, bedeckte er seinen Mund mit der Hand, doch sein Amüsement stand ihm in den Augen. »Nicht verloren. Nur noch nicht gewonnen«, behauptete Herr Muto. »Das ist doch nur Wortklauberei. Wer nicht gewonnen hat, der hat eben verloren. So ist das Leben«, erwiderte ich und zuckte mit meinen Schultern. »Falsch. Das Leben besteht aus mehr als aus Sieg und Niederlage. Genauso wie dieses Spiel. Du hast keine Lebenspunkte mehr, richtig. Dafür hast du zwei neue Taktiken gelernt. Ist das eine Niederlage? Nein. Ist das ein Sieg? Nein. Ist das entscheidend? Nein. Wichtig ist, was du daraus mitnimmst und was du beim nächsten Mal daraus machst.« Ich starrte ihn an und er zwinkerte mir zu. Dann wanderte mein Blick zu Yugi. Es konnte doch nicht nur ich sein, dem jetzt der Kopf brummte, oder? »Und wie schaffen Sie es, mir mit jedem Spiel nebenbei eine Lebensweisheit über den Kopf zu hauen?« Herr Muto lachte. »Das ist hart erarbeitete Erfahrung«, sagte er und es klang wie ein Scherz, aber als ich später auf der Matratze neben Yugis Bett lag und an die Decke starrte, dachte ich, dass es wohl mehr Wahrheit in sich barg als Herr Muto zugeben würde.   Erwachsene erzählen Kinder gerne, wie wichtig Schule ist. Und das sollten sie auch. Aber leider vergessen sie oft, wie schwer Schule sein kann. Nicht einmal nur der Schulstoff, sondern das Ganze drumherum. Erwachsene lassen Kinder gerne im Glauben, wer hart arbeitet, bekommt, was er verdient. Leider vergessen sie oft zu erwähnen, dass das Leben nicht fair ist. Schule auch nicht.   Es war wie ein Countdown, der über meinem Kopf tickte. Montagmorgen. Als rechnete ich mit einer großen Explosion. Vor Unterrichtsbeginn schlenderte ich über den Schulhof. Yugi, Tris und Thea um mich herum. Sie quasselten viel und laut, als könnten sie mich so ablenken. Es war ruhig. Alles schien ganz still. Die anderen Schülerinnen und Schüler standen herum, sahen nicht einmal auf, als ich an ihnen vorbeiging. Es würde alles gut werden. Onlinestories verflogen doch innerhalb weniger Tage. Andere Gerüchte und Geschichten nahmen deren Platz ein und ein anderer würde mitansehen müssen, wie getippte Worte sein Leben zu zerfetzen drohten. Nicht ich, nicht ich, nicht ich. Manchmal war das Grauen in der Vorstellung viel krasser als die Realität. Wir schmückten Möglichkeiten aus und verzerrten sie zu ihren schlimmsten Gesichtern. Ich atmete ein und aus, als ich mich endlich auf den Stuhl an meinem Platz fallen ließ, grinste Yugi zu, Tris klatschte mir auf die Schulter und alles würde gut werden. Dann sah ich es. ›Kaibas Bitch‹, hatte jemand mit Kuli auf den Tisch gekritzelt. »Assisohn«, rief jemand hinter meinem Rücken. Einige lachten auf. Als ich mich umdrehte, schauten alle unbeteiligt. »Sagt das nochmal«, knurrte ich. Alle schwiegen, starrten mich an, einige wichen meinem Blick aus, andere beobachteten uns. Ich erhob mich. Tris neben mir spannte seine Muskeln an. Yugi glitt auf seinem Stuhl hin und her. Der Lehrer betrat den Klassenraum und der Unterricht begann. Schwerfällig rutschte ich zurück auf meinen Stuhl.   Das Beste an der Schule waren die Pausen. Mit seinen Kumpels die Zeit vertrödeln, schwätzen, den Unterrichtsstoff vergessen und einfach vom letzten Duell schwärmen und dem nächsten träumen. Das Schlimmste an der Schule war die Pause. Ich hörte sie, aber jedes Mal, wenn ich mich umdrehte, war es keiner gewesen. ›Geldficker.‹ Sie wisperten in Gruppen, sie beobachteten mich, sie lauerten. ›Talentnull.‹ Sie folgten mir, die Blicke und die Worte. ›Assisohn.‹ Sie ließen sich nicht abschütteln. ›So ein Gaylon.‹ Sie gruben sich tiefer mit jeder Silbe. ›Kaibas Hure.‹ Ich war berühmt und ich wollte nichts mehr als unsichtbar werden. Für Kaiba war ich es. Jedes Mal, wenn ich zu ihm schaute, war er in den Bildschirm seines Laptops vertieft.   »– mitkommen?« Nach dem Unterricht standen wir an der Kreuzung, wo sich Yugis, Tristans, Theas und mein Schulweg trennte. Die meisten Menschen nahmen lieber als zu geben. Die meisten Menschen gaben das nur nicht zu, weil sie Lügner waren. Yugi schaute mich an. »Äh, was?«, fragte ich. »Ob wir mitkommen sollen.« Wir lebten in einer Welt voller Blender und jeder glaubte, den anderen zu durchschauen. Wir verurteilten uns gegenseitig, ohne hinter die Fassaden zu sehen. »Du bist nicht allein, weißt du?«, behauptete Yugi und Tris nickte und Thea lächelte mir zu. Ich war kein Egoist. Das hatte ich mir oft genug gesagt. Manchmal glaubte ich es mir. Ich versuchte nur irgendwie klarzukommen in meinem Leben. »Nein, schon gut«, sagte ich, drehte mich auf der Stelle um, den Ranzen über einer Schulter und sah zurück zu meinen Freunden und hob die Hand. Natürlich meinten sie es nur gut. Ich trottete den Weg entlang. Aus den Mehrfamilienkomplexen wurden Reihenhäuser, vor deren Eingängen die Vorgärten geschniegelt aussahen. Der Rasen war getrimmt. Wir waren alles Egoisten, denn wenn es jemandem schlecht ging, war die Hauptsache, dass es jemand anderen traf. Wir lebten in einer Gesellschaft, in der man sich höflich zunickte und auf die Frage ›Wie geht es Ihnen?‹ eine höfliche Lüge erwartete. Ich erstarrte als ich die Gestalt entdeckte, die vor der Treppe zum Reihenhaus meiner Mutter lungerte. »Was zur –? Was tust du hier?«, fragte ich und wollte mich auf der Stelle umdrehen. Denn die Wahrheit war manchmal schwer zu ertragen. Kapitel 71: ... bin leise ------------------------- __________________________________________   Gefühle sind leise – ihre Auswirkung oft laut. © Klaus Ender   __________________________________________           Ich war ein verdammter Arsch. »Ich bin dein Vater! Deswegen verdammt!« Mein Magen rutschte an die Stelle, an der mein Herz schlug. »Du bist betrunken.« Meine Stimme klang nicht nach mir. Es war, als redete ein anderer für mich. Ich sah mir dabei zu, wie mein Vater immer lauter wurde und ich immer leiser. »Was ist hier los?«, fragte jemand hinter mir und ich zuckte zusammen, als wäre ich ertappt worden. Die Worte verdampften auf meiner Zunge. Ich öffnete den Mund, aber schüttelte nur meinen Kopf. Woher sollte ich wissen, was hier gerade geschah? Jacob trottete an die Tür. Nein. Er drückte sich an meiner Mutter vorbei und beobachtete den tobenden Mann. Nein. Meine Schwester schlich hinter unserem Bruder her und zuckte zusammen bei den hässlichen Worten des fremden Mannes. Nein. Meine Mutter zog Jacob zurück, er hängte sich an ihre Hand und zupfte an ihrem Ärmel, während er den rasenden Mann ängstlich beobachtete. Meine Schwester hielt sich die Ohren zu. Nein. Ich wollte nicht, dass sie das hier mitbekamen. »Was macht der Mann da?«, flüsterte Jacob und mein Magen zog sich zusammen. »Geht ins Haus«, sagte meine Mutter. Keiner von uns reagierte. Meine Geschwister standen da wie Statuen und lauschten den wütenden Worten des Mannes, der ihnen zu unbekannt war. Und mir zu bekannt. »Ihr alle drei!«, befahl meine Mutter und es fuhr Bewegung in uns. Ich schaute sie an und zum ersten Mal, seit ich mich erinnern konnte, war ich froh, dass sie da war. Ich ließ die Tür hinter mir zufallen und lauschte. Drinnen war es unheimlich still. Die Stimme meines Vaters drang nur gedämpft durch die dicken Wände, aber in meinem Kopf dröhnten seine Worte. »Joey?« Jacob zog das O in meinem Namen bis auf drei Sekunden und zupfte an meinem Arm. »Ist das dein Papa?« Nein. Der Mann da draußen war nur die Hülle. Vor vielen Jahren war er mein Papa gewesen. »Komm, Jacob«, sagte meine Schwester in die Stille, die von ungesagten Worten zerpflückt wurde, »wir essen ein Eis. Im Eisschrank ist noch das mit den Schokosplittern.« Jacob plapperte etwas, während er an der Hand meiner Schwester in die Küche verschwand und ich stand im Flur und lauschte den unverständlichen Worten meiner Eltern. So war es schon oft gewesen. »Er ist mein Sohn!«, drang plötzlich durch das dicke Holz der Tür und ich machte einen Schritt zurück. Nein. Stille. Jemand riss die Tür auf und ich stand vor meiner Mutter, die es schaffte, mich von oben herab anzusehen, obwohl sie inzwischen kleiner war als ich. Sie schloss die Tür leiser, als ich es erwartete und schritt an mir vorbei. »Was ist mit ihm?«, fragte ich und wusste nicht, woher die Worte kamen. Sie schaute nicht zurück, hatte keinen einzigen Blick für mich, während sie antwortete. »Er ist betrunken.« Ich schnaubte. Als wüsste ich das nicht. Als hätte ich das nicht schon tausendfach erlebt. »Wo wird er schlafen?«, fragte ich. Meine Mutter wedelte mit der Hand, als wäre die Frage eine lästige Fliege. »Du kannst ihn nicht einfach –« Jetzt drehte sie sich abrupt um und funkelte mich an. Unterdrückte Wut rauschte in ihrer Stimme. »Ich kann. Und damit ist das Thema beendet.« Ich starrte sie an. »Und wage es nicht, ihn wieder hierherzuschleppen in diesem Zustand.« »Ich habe nicht –« Sie ließ die Küchentür vor meiner Nase zufallen und ich starrte das Holz an, hörte, wie Jacob und Serenity meine Mutter mit Fragen bombardierten und ich machte auf der Stelle kehrt. Ich ertrug es nicht. Mein Blick fiel auf die Haustür. Ich öffnete sie und schob meinen Kopf zwischen den Spalt. Keine Spur von meinem Vater. Erleichterung durchströmte mich und mit springenden Schritten stieg ich die Treppe hinauf, blieb wie angewurzelt stehen und schaute zurück. Was, wenn er keinen Ort hatte? Was, wenn er einfach nur eine Nacht hier hatte übernachten wollen? Was, wenn alles nur wieder einmal aus dem Ruder gelaufen war? Wenn er es gar nicht so gemeint hatte? Vielleicht hatte er Hilfe gebraucht? Mit rasendem Herzen riss ich die Tür erneut auf und rannte hinaus. Irgendwo musste er doch sein. Es war nicht mein Problem, wo er abblieb. Zitternd jagte ich die Straße entlang. Es konnte mir egal sein. Er war alt genug. Wenn er trank, war das seine Sache. Ich konnte ihn nicht in diesem Zustand allein lassen. Was, wenn er auf die Straße taumelte und fiel? Wenn er überfahren werden würde? Wenn er sich den Kopf aufschlug? Wenn er – Ich rannte in den nächsten Park und sah nur einen Mann, der mit seinem Hund Gassi ging. Gehetzt floh mein Blick über die Wege und Parkbänke. »Vater?«, rief ich und eine Joggerin warf mir einen misstrauischen Blick über die Schulter zu. Ich kratzte mich verlegen am Hinterkopf und eilte weiter. Die Sonne verschwand hinter den Bäumen. Was, wenn er irgendwo im Gebüsch lag? Wenn er sich erbrach und an seiner Kotze erstickte? Wenn er sich seinen Nacken brach? Was, wenn er von jemandem verschlagen wurde? Wenn er selbst jemanden verschlug? Meine Lunge brannte. In meine Seite stachen winzige Messer, aber ich zwang mich weiter. Der rosarote Abendhimmel wich den Sternen. Wo verdammt konnte er sein? Gestriegelte Reihenhäuser wurden zu Hochbauten. Ich kannte hier die Schleichwege blind, wusste, wo die gesprungenen Pflastersteine lagen und die Gullideckel gewöhnlich geklaut wurden. Die Luft schmeckte derber. Die Geräusche tönten anders. Vor dem Hochhaus, in dessen Schatten meine Jugend stand, strauchelte eine Silhouette. Es konnte mir egal sein. Es war nicht meine Schuld. Ich beobachtete ihn stumm. Der Mann schwankte, fluchte und fuhr sich wütend durch sein strähniges Haar. Dann kratzte er sich über die Stoppeln am Kinn und wandte sich zu mir. Aber warum fühlte ich mich dann so? Fragen, die sich schon so oft zwischen meine Gedanken gebohrt hatten, zuckten wie Blitze in meinem Kopf. Warum trinkst du wieder? Warum schaffst du es nicht, aufzuhören? Wenn nicht für dich, dann für mich? Bin ich nicht wichtig genug? Bin ich so wenig wert? Für dich? Ich schwieg. Er schwieg. Und ich lauschte seinem schweren Atem und hörte die Worte meiner Mutter und drehte mich von seinem Gestank weg. »Wo wirst du schlafen?« Er schwieg. Ich schwieg. »Hast du zehn Euro?«, fragte er irgendwann nach zehn Minuten. Vielleicht waren es auch zehn Sekunden, die sich ausgedehnt hatten, wie der Schmerz, wenn man langsam ein Pflaster von der Haut zog. »Wofür?« »Weil ich sie brauche, verdammt.« Ich schwieg. Er wankte. Ich hielt ihn. Er wehrte sich. Ich hielt ihn fester. »Du solltest den Rausch ausschlafen. Morgen sieht alles schon ganz anders aus.« Niemand von uns glaubte meine Worte. Dafür hatten wir diese Szene schon zu oft nachgespielt. Ich wusste nicht wohin, steckte hier fest an der Stelle und kam weder vor noch zurück. Ich konnte nirgendswohin. Überall wären diese Blicke, diese Untertöne, die Hilflosigkeit der anderen und meine Beschwichtigungen, es wäre alles okay. Dabei wusste jeder, dass ich log. Also blieb ich hier auf der angekritzelten Bank sitzen. Neben mir der Mann, der viel zu vertraut und schmerzhaft fremd war. Sein Kopf fiel auf meine Schulter und ich spürte sein Schnarchen an meinem Ohr. Ich starrte in den Himmel und zog meinen Pullover fester zusammen. Die Nacht war nicht kühl, aber mein Inneres. Vielleicht hatte Christian Recht. Der Gedanke krallte sich in meinem Kopf fest, wie die feinen Stacheln einer Kaktee in die Haut. Auf den ersten Blick übersah man die feinen Nadeln, dachte sich nichts dabei, bis man diesen Schmerz spürte, weil sich die Stacheln immer tiefer bohrten. Die Sterne verschwanden nach und nach, wie im Zeitraffer. Die Sonne übermalte sie in einem Rot-Lila. Ich versuchte die Wange meines Vaters von meiner Schulter abzuschütteln, aber ich schaffte es nicht. Mir taten alle Muskeln und Gelenke weh. Das Gewicht vom Kopf meines Vaters schien mich an diese Bank zu ketten. »Ich muss zur Schule«, murmelte ich. »Hey, wo? Was?«, stieß er aus, während er hochschreckte und sich irritiert umschaute. Ich grub meine Hände in die Hosentaschen, kickte einen Kieselstein vor meinen Füßen weg, aber machte keine Gestalten, mich aufzurichten. »Zur Schule.« Mein Vater sank neben mir ein und während er seinen Arm über seine Augen legte, roch ich den abgestandenen Gestank von Schweiß und Alkohol. Es erinnerte mich an meine Kindheit. »Als ob das etwas bringen würde. Für uns gibt’s keine gute Zukunft. Kapierst du das nicht?«, murmelte er. »So welche wie wir müssen dreimal so hart arbeiten und bekommen am Ende nicht einmal die Hälfte. Für die anderen sind wir asoziale Verlierer. Da kommen wir nie raus.« Ich kramte nach Gegenargumenten, aber mir fielen keine ein. Ich schwieg und blieb sitzen, blinzelte in die Morgensonne und ignorierte den Gestank meines Vaters. Der erste, der sich bei mir meldete, war Yugi. Noch vor der Frühstückspause schrieb er mir, ob es mir gut ginge. Nur wenig später folgte Tristan, dessen Anrufe ich ablehnte und der mir dann per Sprachnachrichten die Ohren vollheulte, ich könnte ihn und so nicht einfach hängen lassen. Der Unterricht wäre ohne mich einfach ein Reinfall und ob ich wirklich krank wäre, wer’s glaubte. Meine Mutter hatte kein einziges Mal angerufen. Irgendwann erhob sich mein Vater. Ich beobachtete irritiert, wie er einfach loslief. Als wäre es das Selbstverständlichste, die Nacht im Park zu verbringen, bis er wieder einigermaßen geradeaus marschieren konnte. »Hey, wohin gehst du?«, fragte ich und quälte mich von der Bank. Durch meinen Nacken blitze ein Schmerz hinab über meine Wirbelsäule. Ich ächzte. »Ich muss – ich habe Pläne«, wiegelte mein Vater ab. »Hast du mal einen Zehner?« »Wofür?« Er runzelte die Stirn und ich konnte beobachten, wie sich seine Gedanken zu einem Gewitter verdichteten. »Das geht dich nichts an.« Die Ironie blieb meinem Vater verborgen. Hitze sammelte sich in meinem Bauch, wie kleine Explosionen. Men Vater hatte noch nie kapiert, dass seine Entscheidungen uns alle berührten. Dass sein Verhalten uns alle mit in einen Sumpf zogen, aus dem man sich nicht mehr allein heraushieven konnte. Also stand ich da zwischen dem, was ich tun sollte und dem, was ich tun würde. Unklar war mir nur, was wie aussah. Ich sank tiefer in das Moor aus Verantwortung und Schuld und Hilflosigkeit und starrte meinem Vater nach, der jemanden ansprach. Ich wusste, was er fragte, drehte mich um und verschwand aus dem heruntergekommenen Park.   Die Tage waren grau. Als hätte jemand die Farben aus ihnen gezogen. Ich schlief im Zimmer, das meine Mutter ›meines‹ nannte und ich ›das‹ und verschwand bevor morgens jemand aufstand irgendwohin, wo mich niemand fand, und tauchte spätabends, wenn alle schliefen wieder auf. Yugis und Tristans Fragen wimmelte ich ab. Theas Blicke vermied ich, denn ich traf meine Freunde einfach nicht. Ich schrieb ihnen kurze Nachrichten mit schlechten Ausreden, warum ich schon seit einer Woche nicht mehr in der Schule war und ich benutzte mein Handy sonst nicht, denn das Internet vergaß nicht so schnell. Ich saß auf der Straße und zeichnete, während ich meinem Vater unauffällig folgte. Er saß auf der Straße und stellte Fremden Fragen, während sie vorbeiliefen. Es war, als beobachtete ich selbst einen Unbekannten. Der da konnte unmöglich mein Vater sein. Ich fühlte nichts. Ich spürte Leere. Als ich nachts die Haustür aufschloss und mich hineinschlich, wartete meine Mutter im Türrahmen zur Küche und blickte mich an. Sie schwieg. Nur sie schaffte es, so viele Worte in die Stille zu pressen. »Wo warst du?«, fragte sie, als ich ohne einen Ton an ihr vorbeischlendern wollte. Weg, dachte ich, aber schwieg. Ich war leise. Weil ich es manchmal nicht ertrug, mich selbst zu hören. »Mit wem?« Niemandem, dachte ich, aber sagte nichts. Ich war leise. Weil die Welt so laut war und meine Stimme verschluckte. Wie hätte ich es ihr auch schon erklären sollen? »Du kannst deinem Vater nicht helfen.« Ich ballte die Fäuste. Leere füllte sich mit heißer Säure. In mir schlugen die Wellen aus Zorn zusammen. »Warum?«, zischte ich. »Weil er es nicht anders verdient? Weil du ihn im Stich lässt? Genauso wie du mich im Stich gelassen hast?« Sie zuckte zusammen, als hätte ich sie geschlagen. »Ich –«, begann sie. »Dir sind wir doch schon lange scheißegal.« Ich war ein verdammter Arsch. Weil ich es manchmal nicht anders ertrug. Meine Mutter starrte mich an. Ich konnte beobachten, wie ihre Fassung aus ihr wich. »Und dein Vater?«, flüsterte sie. »Hast du ihn mal gefragt, wie wichtig wir ihm sind?« Kapitel 72: … bin voller Erinnerungen ------------------------------------- __________________________________________   Alle Erinnerung ist Gegenwart. Novalis   __________________________________________           Ich war einfach zufrieden zu stellen. Es war wirklich nicht schwer, glücklich zu sein. Ich brauchte nur einen vollen Kühlschrank, meine Freunde, meine Familie und einen krassen Plan für meine Zukunft. Auf der anderen Seite: Es war verdammt schwer.   »Hast du eine Ahnung, wie oft ich versucht habe, ihm zu helfen?« Ihre Stimme wurde mit jeder Silbe lauter, bis sie mir das letzte Wort ins Gesicht schrie. »Nicht oft genug!«, brüllte ich. Sie hatte mich im Stich gelassen. Sie hatte ihn im Stich gelassen. Ich erinnere mich daran. An das Gefühl, plötzlich allein zu sein. Wie sie uns verraten hatte. Unsere Familie. Und ich fragte mich, wann sich alles verändert hatte.   Eine meine ersten Erinnerungen waren wir gemeinsam. Mein Papa und meine Mama. Sie lachten und tanzten miteinander zu einem ulkigen Lied, dann nahmen sie mich in ihre Mitte und ich tanzte auf den Füßen meines Vaters. Ich sah nach oben in ihre Gesichter und alles strahlte.   Mein Papa war der beste Papa der Welt. Er ging mit mir auf den Spielplatz, erfand die besten Abenteuergeschichten, zeigte mir die tollsten Orte, wo wir Drachen steigen ließen, Hexen im Wald beobachteten und das Ungeheuer im See versuchten zu fangen. »Papa, warum hören Erwachsene auf mit Spielsachen zu spielen?«, fragte ich ihn, als ich ihm Bett lag, meinen Stoffdrachen im Arm und er seine Gute-Nacht-Geschichte beendete. »Das ist eine gute Frage«, sagte er nachdenklich. »Vielleicht, weil sie irgendwann keine Zeit mehr dafür haben?« Ich schaute ihn erschrocken an und er lachte sein brummiges Lachen, das mir immer ein schönes Gefühl im Bauch zurückließ. Es klang nämlich danach, als gäbe es gar keine richtigen Sorgen auf der Welt, sondern nur kleine, die man weglachen konnte. »Ich will immer Zeit dafür haben«, sagte ich und er streichelte mir über meinen Kopf. »Ja, das wünsche ich mir für dich«, flüsterte er und gab mir meinen Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn.   Mein Papa war der beste Papa auf der Welt. Er ließ mich auf seinem Rücken reiten, wir bastelten aus Toilettenpapier Kronen und herrschten über unsere Abenteuerhöhle aus Kissen und Decken. Unsere Mama machte Fotos von uns und lachte. Meine Mama hatte das schönste Lachen der Welt. Sie backte den besten Kuchen und konnte am schönsten kuscheln. Wenn es ganz leise war, legte ich mich am liebsten an ihre Seite und sie nahm mich ohne ein Wort in den Arm, weil sie einfach wusste, was ich mochte. Wir saßen auf der Picknickdecke und aßen Eis. Meine Mama wusste immer, welches ich wollte. Die Schokolade lief meinen Finger entlang. Meine Mama schnitzte mit uns eine Fratze in den Kürbis. Wir verkleideten uns als Hexe und Piraten und eroberten die Nachbarschaft und all ihre Süßigkeiten. Meine Mama hatte uns die Kostüme genäht. Wir bauten Schneemänner, bis ich fragte, warum es keine Schneemädchen gab und dann bauten wir auch Schneemädchen. Wir buddelten mit meiner Mama Löcher in die Erde und füllten sie mit Pflanzenzwiebeln. Jeden Tag beobachteten wir, wie die Blümchen Stückchen für Stückchen wuchsen. Meine Mama war die beste Mama der Welt.   Ich erinnere mich, als meine Eltern mir verkündeten, dass ich bald ein großer Bruder sein würde und ich platzte vor Stolz. Meine Mutter lachte amüsiert, als ich meine Faust in die Höhe streckte und versprach, dass ich der beste große Bruder der ganzen Welt sein würde. Mein Vater formte seine Faust gen Decke und versprach, der beste Vater von den besten beiden Kindern der ganzen Welt zu sein. Wir konnten ja nicht wissen, dass wir beide unsere Versprechen brechen würden.   Eine meiner ersten Erinnerungen an meine kleine Schwester war ihr Gesicht, das meinem so nah war, dass es verschwommen wirkte. Die Stirn, die geschlossenen Augen, die Lider, die Nase, der Mund. Sie wirkte zufrieden, während sie schlief. »Sie hat gar keine Haare!«, sagte ich und meine Mutter lachte amüsiert. »Doch, siehst du? Ganz helle und ganz feine.« Ich musterte das Baby, das ganz ruhig neben mir ein- und ausatmete. Ich lauschte ihren Atemzügen und zählte sie. »Sie ist ganz klein«, sagte ich und strich ihr mit meinem Zeigefinger über die Wange, als befürchtete ich, dass sie auseinanderfiel. Sie war perfekt. »Guck mal«, sagte ich ihr und wollte ihr die Welt zeigen. »Joey, du musst ihr etwas sagen. Sie kann dich nicht sehen, weißt du? Sie ist ja blind, wie wir dir erklärt haben. Erinnerst du dich?« Ich schob meinen Mund vor und überlegte. Ich erinnere mich noch daran, wie ich ihr ein Versprechen ins winzige Ohr flüsterte: »Weißt du was? Ich zeig dir die ganze Welt halt mit meinen Wörtern.« Und ich erinnere mich an den Tag, als ich das Versprechen brach.   Unser Papa war der beste Papa der Welt. Außer an seinen traurigen Tagen. Manchmal stand er gar nicht mehr aus seinem Bett auf. Er baute keine Abenteuerhöhlen mehr und vergaß meine Lieblings-Gute-Nacht-Geschichten. »Papa? Bist du traurig?«, flüsterte ich in sein Ohr, während ich in seinen Armen lag. Er drückte sein Gesicht in das Bettkissen und schwieg. Manchmal weinte Serenity, aber mein Vater starrte bewegungslos an die Wand. »Ist schon okay«, flüsterte ich meiner Schwester zu, »Papa ist nur müde.« Meine Mutter redete auf ihn ein, wenn sie glaubte, dass ich es nicht hörte. In der Nacht saß ich an meiner Zimmertür und lauschte durch den Spalt hindurch ihrer Stimme. Manchmal redete sie ganz sanft. Manchmal brüllte sie. Mein Vater schwieg. Ich erinnere mich an die Ärzte, an Wartezimmer, an fremde Kinder, die mit mir mit diesem fremden Spielzeug spielten, an Mama, die mit mir und Serenity in der Bahn Ewigkeiten fuhr und bestimmt stiegen wir tausendmal um, bis wir wieder in einem Wartezimmer saßen. Papa war nicht dabei. »Papa?«, sagte ich eines Tages und er schaute mich an mit diesem Blick, den ich nicht mochte. Als würde er durch mich hindurchsehen. »Hast du mich nicht mehr lieb?« Und dann drückte er mich an sich und schluchzte. Meine Mama sagte, es wäre wichtig, dass wir Serenity fördern. Ich verstand nicht ganz, was sie meinte, aber ich spielte gerne mit meiner Schwester Lego und knetete die tollsten Sachen mit ihr. Manchmal da wollte ich lieber mit meinen Stiften spielen und zeichnete die ganzen Dinge in meinem Kopf. »Mama, guck mal, was ich gemalt habe! Das ist für dich! Und das ist für Serenity!«, verkündete ich eines Tages. Und dann begann meine Mutter zu weinen. Mein Vater hörte auf mit mir zu spielen, weil er keine Zeit mehr hatte. Er musste arbeiten. Meine Mutter hatte keine Zeit mehr, mit mir zu kuscheln. Sie musste mit Serenity zum Arzt. Ich zeichnete in den Wartezimmern und knüllte die Papiere in die Mülltonne, bevor sie meine Mutter sehen konnte. Ich erinnere mich an den Tag, als mein Vater zum ersten Mal so seltsam stank. Er lallte lustige Sachen und ging ganz komisch. Meine Mutter schrie mit ihm herum. Serenity weinte, ich versteckte mich in meinem Zimmer und zeichnete. Es gab gute Tage und traurige Tage. An den guten bemerkte mich mein Vater. An den guten bemerkte mich meine Mutter nicht. An den traurigen beachtete er mich nicht. Und sie schimpfte mit mir, warum ich schon wieder meine Hose an den Knien aufgerissen hatte, warum ich so laut war, warum ich immer Ärger machte. »Joey?«, flüsterte Serenity in der Nacht und kletterte zu mir ins Bett. Sie erzählte mir, dass ich die besten Legohäuser baute und die tollsten Knettierchen. »Und die schönsten Bilder malst du auch.« »Aber du siehst die doch gar nicht«, erwiderte ich und ich spürte, wie sie ihre Schulter zuckte. »Das ist doch egal. Ich stelle mir die vor. So wie du sie mir ganz genau erklärst.« Nur Serenity schaffte es, dass ein trauriger zu seinem guten Tag wurde. »Ich habe dich lieb«, flüsterte ich ihr ins Ohr und sie kicherte. »Ich dich aber mehr!« Meine Schwester war die beste Schwester der Welt und es war für mich völlig egal, dass sie blind war. Aber der Welt nicht. Und mein Papa schaute meine Schwester manchmal an, als wäre sie nicht da. »Papa?«, fragte ich irgendwann an so einem Tag. »Hast du Serenity nicht lieb?« Er erwiderte meinen Blick mit aufgerissenen Augen und zog mich in eine Umarmung. »Doch, natürlich. Ich habe euch beide unglaublich lieb!« Und er wiederholte es so oft, dass ich es noch abends in meinen Gedanken hörte, bevor ich einschlief. Es gab traurige Tage und gute Tage. An den traurigen Tagen schrie meine Mutter. An den guten war sie ganz leise. Irgendwann wusste ich nicht mehr, ob das so stimmte. An den guten Tagen versprach mein Vater, dass alles anders werden würde. An den traurigen, versprach er es wieder. Und wieder. Aber irgendwann wusste ich nicht mehr, ob das stimmte. Meine Mama war die beste Mama der Welt. Außer an dem Tag, als sie mit meiner Schwester verschwand.   Es war einfach, glücklich zu sein. Wenn man gesund war und Geld hatte und eine Familie, die nicht in Problemen erstickte. Auf der anderen Seite: Es war verdammt schwer.   »Du hast Serenity aus meinem Arm gerissen, weil sie nicht ohne mich weggehen wollte. Du hast mich allein gelassen, weil wir nicht mehr in dein Leben gepasst haben. Weil wir dir ein Klotz am Bein waren!« Ich bemerkte, wie sie schluckte, als wäre ihr Hals zu eng. »Du weißt nicht mehr, wie es wirklich gewesen war«, flüsterte sie und es hatte dieses hässliche Wimmern als Unterton. »Wag es nicht!«, zischte ich. »Wag es dich ja nicht, zu sagen, du hättest nur getan, was das Beste für alle war. Dass du nur das Beste gewollt hattest!« »Nein, ich –« Sie krallte ihre Hände in ihre Oberarme, als versuchte sie, sich selbst zusammenzuhalten. Hätte sie uns damals nicht auseinandergerissen, wäre das jetzt nicht nötig. Es wäre so vieles so anders gelaufen und es geschah ihr recht, wenn sie sich jetzt dafür scheiße fühlte. Es war ihre Schuld. »Willst du so enden wie er?«, fragte sie und ein brennendes Gefühl schwappte in meinem Inneren über, drohte mich zu verschlingen. »Besser als so wie du«, spuckte ich ihr vor die Füße, stürmte die Treppe hoch und verschwand durch die Zimmertür. »Joey!«, rief sie mir nach, aber ich wollte keine Lügen hören, keine Ausreden und Ausflüchte. Nicht, was sie sagte, konnte dieses Gefühl in meiner Brust lindern. Das Gefühl, um ein glückliches Leben betrogen worden zu sein.   Die Nacht war sternenlos. Der Himmel schwarz. Die Straßenlaternen leuchteten ihr grelles Licht und ich lag im Bett, starrte hinaus auf die Straße und schaffte es nicht, meine Gedanken zu stoppen. Sie rasten die Wände entlang, jagten über die Decke, immer wieder in Kreisen. Als die Morgensonne die Wolken orange färbte, stolperte ich aus meinem Zimmer und flüchtete, noch bevor ich jemandem im Haus begegnen würde. Es war seltsam beruhigend und beängstigend, wie schnell man unsichtbar werden konnte. Das Handy ließ ich ausgeschaltet, benutzte kein Whatsapp, keinen einzigen Social Media-Schrott. Und schon war ich verschwunden. Dachte ich. Ich folgte meinem Vater unauffällig, immer mit genügend Abstand und beobachtete ihn. Es war nicht schwierig zu wissen, wo er wann war. Seine Tage waren vorhersehbar. Meine wurden es auch. Ich saß auf der Wiese, legte meinen Kopf in den Nacken, Skizzenblock und Bleistift in den Fingern und betrachtete aus einiger Entfernung das Gebäude, das einmal mein Zuhause gewesen war. Das Heim meiner zerbrochenen Kindheit. Denn ich erinnerte mich noch an eine Zeit davor, als wir Schneemänner und Schneemädchen gebaut und Blumen gepflanzt hatten. Es waren wie Erinnerungen aus einem Traum, den man vergessen hatte und plötzlich mitten am Tag schlug er wieder bei einem ein. Mein Blick fuhr hinauf zum Himmel, wo Äste das Blau durchbrachen. Vögel zwitscherten und ich erinnerte mich daran, wie meine Mutter und mein Vater miteinander getanzt hatten. Ich mittendrin. Ein Schatten legte sich über mich und ich zuckte zusammen. Das konnte doch jetzt echt nicht wahr sein. »Was tust du hier?«, fragte ich irritiert und schaute hoch zu ihm. »Nachdem es offensichtlich zu einer vollkommenen Banalität verkommen ist, dass du hier verweilst, versuche ich mich erst gar nicht an der kognitiv limitierten Frage, die ich ebenso an dich richten könnte.« Ich verdrehte die Augen. Nach all seinem Gelaber tauchte er ausgerechnet jetzt auf. »Verkriechst du dich wieder hinter Fremdwörtern? Schön.« Ich stopfte meinen Zeichenkram in meinen Ranzen, erhob mich und klopfte Grasreste von meiner Hose. Sein Gehabe musste ich mir hier echt nicht geben. Ich brauchte keine Rede von ihm anzuhören. Ohne ein weiteres Wort wandte ich mich von ihm ab, warf meinen Rucksack über eine Schulter und lief los. Es war wirklich nicht schwer, glücklich zu sein. Ich musste mich nur befreien von all dem Bullshit. Er fasste meinen Ärmel und ich erstarrte. Wärme kribbelte meinen Arm hinauf, die ich versuchte abzuschütteln. Ich war einfach zufrieden zu stellen. »Was zur Hölle treibst du hier, Wheeler?«, fragte er nüchtern. Ich brauchte nur einen vollen Kühlschrank, meine Freunde, meine Familie und einen krassen Plan für meine Zukunft. Auf der anderen Seite: Es war verdammt schwer. Ich blickte zu ihm zurück. Zorn rauschte von meinem Bauch in meine Lunge. »Nichts, was dich angehen würde.« Ich riss meinen Ärmel aus seinen Fingern. Kapitel 73: … bin falsch abgebogen ----------------------------------   __________________________________________   Was uns hinter der nächsten Ecke erwartet, wissen wir erst, wenn wir abgebogen sind. Haruki Murakami   __________________________________________           Ich wollte nichts. Denn ich wusste, dass alles, was man wollte, etwas kostete. Und ich fürchtete, dass der Preis zu hoch war.   Sein Getue ging mir nicht nahe, redete ich mir ein, aber sein Schnauben zuckte durch meine Adern. »Was versuchst du zu erreichen? Willst du deinen Vater auf den rechten Pfad führen?«, fragte er mit diesem Spott in der Stimme, der an meinen Nerven sägte. »Woher hast du gewusst, dass ich hier bin?«, antwortete ich mit einer Gegenfrage, weil es einfacher war zu fragen als Antworten zu finden. Er steckte seine Hand in die dunkelblaue Stoffhose, die andere hielt den Aktenkoffer, als wollte er ihn jederzeit griffbereit haben für ein spontanes Geschäft. Wie lächerlich war das eigentlich, diese ganze Masche? Dachte er echt, er würde bei mit damit noch Eindruck schinden? »Ich habe die Information erhalten, dass –« »Spionierst du mir etwa nach? Alter, was für eine krasse Scheiße ist das hier?« Ich wandte mich wutentbrannt zu ihm um. Was bildete der sich eigentlich ein? Dass ich immer verfügbar war, wenn es ihm genehm war? »Ich spioniere nicht, Wheeler. Ich lasse spionieren.« »Das hier ist nicht lustig!« Und wenn ich unangenehm war, mittels Roland abgeschoben werden konnte? »Gut. Dann scheinst du ja doch nicht völlig umnachtet zu sein.« Weil er seine Sachen auf seine Weise regeln wollte. »Was willst du hier, Kaiba?« Und ich meine Dinge auf meine Art. »Komm mit«, sagte er nur. Ich blinzelte. »Dein Ernst?« Ich starrte ihn an und drehte mich um meine Achse, nur damit mein Blick wieder bei ihm haften blieb. Ich fuhr mir durch meine Strähnen und lachte. Dann erstarb mein Gelächter und Stille klebte zwischen uns. »Du wolltest keinen Kontakt! Du hast mich abgeschoben! Bis die Sache geklärt ist!« Er atmete tief ein und seufzte irritiert. »Ich habe Zeit gebraucht, um Informationen zu beschaffen und deren Ausmaß zu kontrollieren. Ich dachte, du könntest die Zeit ebenfalls gut nutzen. Ich hätte aber wohl ahnen sollen, dass du dich stattdessen lieber in Selbstmitleid badest.« Seine Worte waren wie ein Hieb in den Magen. »Was für eine Scheiße laberst du?« Ich ballte meine Finger zu Fäusten. »Deine Familie, Wheeler. Das ist deine Privatsache und ich bin von der Annahme ausgegangen, dass du sie als solche behandeln möchtest. Dass du selbstständig genug bist, dich um deine Sachen zu kümmern. Dass du Christian keine Angriffsfläche bieten und nicht alles an die Öffentlichkeit ziehen möchtest.« Ich gaffte ihn an. In welchem Universum sollte man kapieren, was sich Seto Kaiba mit einem Rauswurf aus seiner Villa dachte? Wann er genug von einem hatte und es zwischen seinen Silben versteckte, weil er keinen Bock auf ein Wortgefecht hatte und wann er sich etwas dabei dachte, das über seinen Egozentrismus hinausreichte? »Offensichtlich habe ich mich geirrt. Du rennst lieber davon«, fuhr er gelangweilt fort. »Ich renne nicht davon«, knurrte ich. »Ich lasse aber meinen Vater nicht einfach im Stich, anders als alle anderen.« Er schnaubte. »Weil nur du deinen Vater retten kannst?«, fragte er und nur Kaiba schaffte es mit so einer Frage komplett das Gegenteil auszudrücken. »Wheeler, niemand kann deinen Vater retten außer er selbst.« Wie er dastand, ab und zu auf seine Uhr am Handgelenk linste, als hätte er gleich ein Meeting, das er nicht verpassen durfte. Oder als wäre das hier komplette Zeitverschwendung. Als wäre das hier nicht mein Leben, sondern nur ein weiterer Termin auf seiner To-Do-Liste. Als würde ich nicht versuchen, ein Glas zu kleben, das in Scherben lag. Kaiba half nicht, die Scherben aufzusammeln. Er trat darauf und hinterließ noch kleinere Scherben, ein viel zu komplexes Puzzle. Ich verabscheute es. Wie er glaubte, zu wissen, wovon er sprach, besser zu verstehen, nach welchen Regeln die Welt spielte. Dabei spielte Kaiba nicht nach deren Regeln. Er hatte nur die Möglichkeit sie zu brechen, ohne deren Konsequenzen zu befürchten. Ich verzog meinen Mund. »Und du bist jetzt auf einmal ein Spezialist für Väter, oder was? Ausgerechnet du?« Kaiba erstarrte nie. Er stand über den gewöhnlichen Menschen, die ihn umgaben und ragte aus der durchschnittlichen Gedankenwelt heraus. Er verschwendete seine Zeit nicht mit den Meinungen seiner Mitmenschen. Er hatte immer einen Spruch parat. Und einen Blick, mit dem er allen zu verstehen gab, dass ihre Kommentare ihm nicht würdig waren. Außer in diesem Moment. Er schaute mich an und seine Mimik bröckelte. In diesem Augenblick wusste ich, dass ich eine unsichtbare Mauer eingetreten hatte, die ich nicht wiederaufbauen konnte. Eine Grenze überschritten, von der ich nicht wieder zurückstraucheln konnte. Er drehte sich auf dem Absatz um und ließ mich stehen. »Kaiba! Warte! Alter, das war nur dummes Gelaber. Ich habe es nicht so gemeint.« Ich sprintete ihm hinterher. Mein Herz hämmerte in meinem Magen, als ich nach seinem Hemd griff und er abrupt stehen blieb. Er schaute mich nicht an, als er mit mir sprach. Seine Stimme zerriss die Hoffnung in mir, er würde meine Worte als dummen, nichtssagenden Kommentar abtun. »Du bist ein miserabler Lügner, Wheeler. Das ist auch einer der Gründe, warum du ein drittklassiger Duellant bist und bleiben wirst.« Ich verzog meinen Mund und schaute ihn aus schmalen Augen an. Kaiba schaffte es immer, den Punkt zu treffen, der verletzte. »Ich bin mir sicher, du kannst mir ganz viele Gründe sagen«, zischte ich, »warum alle anderen im Vergleich zu dir scheiße sind.« »Ein weiterer Grund ist, dass du versuchst dir einzureden, gut genug zu sein, aber in Wirklichkeit glaubst du nicht einmal selbst daran.« Meine Finger ließen den Stoff seines Hemdes los. »Ich war echt ein Idiot. Ich hätte es wissen sollen«, sagte ich und gluckste, obwohl mich nichts daran amüsierte. »Ich habe echt gedacht, da wäre was. Irgendwas Gutes. Zwischen uns. Irgendetwas, das uns verbindet, egal, was für eine Scheiße gelaufen ist oder welche Kacke im Leben schiefläuft.« Er schaute mich an, blickte mir in die Augen und stellte die Frage, die mir das Gefühl gab, nicht mehr atmen zu können. »Hast du daran geglaubt, gut genug für mich zu sein?« Das war Seto Kaiba, der Geschäftsmann, der sich schon in jungen Teenagerjahren in einer Welt der Emotionslosigkeit und der Rücksichtslosigkeit einen Namen gemacht hatte, den niemand je wieder vergessen würde. Und ich hatte ihn zurück hinter seinen Glaskäfig getrieben. Die Frage nahm die Leere in meinem Kopf ein, während ich ihn anstarrte. Ich empfand nichts, nicht einmal Zorn, der mir sonst über dieses graue Gefühl hinweghalf. Ich schaffte nur zu beobachten, wie er sich Schritt für Schritt von mir entfernte und ich fragte mich, ob er je wieder auf mich zukommen würde. Ich drehte mich um, riss mich los von seinem Anblick, der sich doch in mein Gedächtnis gebrannt hatte und machte einen Schritt. Das ist okay, redete ich mir ein. Dann noch einen. Ich habe andere Sorgen. Das ist okay. Und noch einen. Ich bin ... gut … genug … Ich blieb stehen und plötzlich dämmerte mir, dass ich nicht mehr wusste, wohin ich gehen sollte. Warum erkannte man immer erst, wenn es zu spät war, dass man falsch gelaufen war? Man bemerkte erst, dass man sich verirrt hatte, wenn man den Weg zurück nicht mehr fand. »Joey?«, schreckte mich eine Stimme aus meiner Ziellosigkeit. »Yugi?« Er stand einfach vor mir und sah mich an. »Hat Kaiba dich geschickt? Ich glaub’s einfach nicht!« Mich hat niemand geschickt! Du bist schon seit gut einer Woche nicht mehr in der Schule gewesen. Du antwortest auf keine Nachricht, gehst nicht an dein Handy und deine Mutter weiß auch nicht, wo du dich rumtreibst. Ich habe mir Sorgen gemacht.« »Meine Mutter«, schnaubte ich. »Joey«, begann er, aber ich schüttelte den Kopf. Ich wollte es echt nicht hören. Nicht noch eine Problemstelle. Ich wollte einfach nur ins Bett, mit niemandem reden, in Ruhe gelassen werden von dieser ganzen verfickten Welt. »Du siehst aus, als könntest du eine heiße Schokolade brauchen.« Ich nickte langsam. »Und eine Dusche«, fügte Yugi hinzu. Da konnte ich ihm nicht widersprechen. Ich fühlte mich, als hätte mich Kaiba mit einer Limousine überfahren und Roland danach in einem dunklen Wald zurückgelassen. Wenigstens in einem Stück. Obwohl ich glaubte, Kaiba hätte mit etwas herausgerissen. Vielleicht meinen Magen, denn mir war ziemlich übel. Wortlos schlenderten wir nebeneinander her, warteten an der Bushaltestelle und rumpelten zurück zum Spielladen. Das Gefühl nach Hause zu kommen ummantelte mich wie eine warme Wolldecke. Der Duft von heißer Schokolade erfüllte Yugis Zimmer als ich mit nassen Haaren zurück in den Raum schlurfte. »Wie hast du mich eigentlich gefunden?«, fragte ich und rubbelte mit dem Handtuch durch meine Strähnen. Yugi saß auf einem Kissen vor einem Couchtisch und breitete seine Duel Monster-Karten aus. »Es ist kein Geheimnis, wo du dich die letzte Zeit dauernd aufhältst. Nur, weil deine Mutter es sich nicht eingestehen will, heißt das nicht, dass wir keine Ahnung haben.« »Wer ist wir?« Yugi schenkte mir einen Blick, der Worte überflüssig machte. »Also hat er dich doch –« »Es geht nicht immer um Kaiba, weißt du?« Yugi schlurfte an seiner heißen Schokolade ohne zu blinzeln, während er mich anschaute. »Auch, wenn das schwer für dich zu begreifen ist.« »Was soll das heißen?«, fuhr ich ihn an und bereute es in demselben Moment, aber Yugi zuckte nur mit den Achseln. »Kaiba ist mir völlig egal.« »Du bist ein schlechter Lügner, Joey.« Ich öffnete den Mund, aber Yugi kam mir zuvor. »Und ich meine das als Kompliment. Es gibt doch die meisten Probleme, wenn Menschen lügen. Ich meine nicht die kleinen Notlügen oder die Höflichkeitslügen, wenn wir jemanden nicht verletzen wollen. Ich meine die Lügen, die uns irgendwann das Leben schwer machen, weil wir vergessen, was eigentlich wahr ist. Es braucht vielleicht die meiste Kraft, die Wahrheit zu sagen. Zu uns selbst.« Ich verdrehte die Augen und seufzte, starrte an die Decke, während meine Finger die Tasse umklammerten. Als ob da oben die Karte stünde, wohin mich der Weg führen sollte. »Klingt wie etwas, das dein Großvater sagen würde«, maulte ich und in der Sicherheit, dass mich Yugis Großvater irgendwann in einer fernen Zukunft als Geist verfolgen würde. Yugi grinste nur, legte eine Karte zu einigen anderen, nahm eine weitere weg, sortierte sie in Stapeln, tauschte sie aus. »Du hast noch knapp eine Woche, um dein Leben wieder in den Griff zu bekommen«, erwähnte er wie nebenbei, ohne seine Karten aus den Augen zu lassen. »Wieso? Was ist nächste Woche?« Ich hatte kein Zeitgefühl mehr. Die letzten Tage fühlten sich gleich an. Die Nächte verflossen und die Tage verwehten. Es hatte keine Bedeutung gehabt, was nächste Woche stattfand, denn jede Woche glich sich. »Das Turnier. Es fängt nächsten Samstag an für alle, die sich bereits qualifiziert haben«, erwiderte er und blickte mich an, »außer natürlich, du hast dich dagegen entschieden.« Eine eiskalte Welle, wie Wasser, aber nicht nass, schlug mir in den Bauch. Ich hatte das völlig vergessen. Das Turnier hatte wie ein entferntes Ziel gewirkt, das man am Horizont erahnen konnte, aber wahrscheinlich nie erreichte. Plötzlich war es greifbar. Kaibas Worte stachen in meiner Erinnerung. »Vielleicht ist das echt nicht die beste Idee. Ich glaube, Kaiba wäre nicht sehr begeistert, wenn ich da auftauche.« Yugi hatte Recht. Lügen brachten einen nicht weiter, also versuchte ich das Ganze objektiv zu sehen. Wahrheit Nummer eins: Seto Kaiba war ein arroganter Arsch. Ehrlich. Er würde ausrasten. »Und seit wann hält dich das davon ab?« Wahrheit Nummer zwei: Mich hatte das nie irgendwie beeindruckt. »Glaubst du, ich hätte überhaupt eine Chance?«, flüsterte ich und Yugis Handbewegungen hielten mitten in der Luft inne. Er drehte sein Gesicht zu mir und blickte mich an mit seinen riesigen Augen, als sähe er mich zum ersten Mal. »Wenn du dich auf das Turnier konzentrierst, dann bist du ein ernstzunehmender Konkurrent.« Wahrheit Nummer drei: Ich hatte die Gelegenheit, Kaiba zu beweisen, dass ich mehr als genug war. Dann war da noch meine Mutter. Aber der Weltuntergang kam bekanntlich zuletzt. Alles nach und nach. Ich würde zuerst die Sache mit meinem Vater klären, dann Kaiba in den Arsch treten.   »Kommst du am Montag wieder in die Schule?«, fragte Yugi. »Ich weiß nicht«, murmelte ich. »Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt wieder zurückwill. Ob es Sinn macht. Ich weiß nicht einmal, ob ich das Abi packen kann. Ich glaube nicht einmal, dass ich es brauche.« »Aber du wolltest doch Kunst studieren?« »Das hatte ich doch nur mal so dahingesagt«, nuschelte ich. Vor Jahren, als ich noch keine Ahnung hatte, dass ein Studium gewöhnlich ein Abitur verlangt und was ein verdammtes Abitur eigentlich war. Als ich noch dachte, dass man alles packen konnte, wenn man nur daran glaubte. »Das ist doch eh zu hoch für mich. Dafür braucht man eine Mappe, hast du das gewusst? Man kann sich da nicht einfach für anmelden, man muss vorher schon wie einen Eingangstest bestehen. Und dazu kostet das Ganze viel zu viel und –« »Dafür, dass du es nur mal so dahingesagt hast, bist du gut informiert.« Yugi grinste und rempelte sanft gegen meine Schulter mit seiner. »Ich hatte nur mal etwas darüber gelesen. Eigentlich zufällig.« Ich wollte nichts. Denn ich wusste, dass alles, was man wollte, etwas kostete. Und ich fürchtete, dass der Preis zu hoch war. Eine Zukunft zu verlangen, in der ich frei war, das tun konnte, was mich am meisten bewegte und begeisterte; war das nicht zu viel verlangt? Was würde ich dafür opfern müssen? »Ich glaube an dich.« Yugis Worte lockerten die Stricke um meine Brust. Ich atmete tief ein und aus und ein und aus und beobachtete, wie er weiter seine Karten sortierte, als hätte er mir nicht gerade Worte gesagt, die mein Innerstes zum Schweben brachten. »Und lass dich nicht aufhalten von irgendwelchen Menschen, die dir sagen, dass du es eh nicht kannst.« Das ließ sich leicht sagen, aber was, wenn ich mehr verlor als gewann? Was, wenn ich mich verirrte und falsch abbog und auf dem Weg Leute verletzte, die mich eigentlich begleiten sollten? Was, wenn ich einen anderen Pfad beschritt als sie und wir uns mit jedem Schritt entfernten? »Hör nicht darauf. Nicht einmal, wenn dieser Mensch du selbst bist.« Kapitel 74: … bin nicht mutig -----------------------------     __________________________________________   Kein Mut ohne Angst. Heike Ullmann __________________________________________           Ich war es gewohnt, dass ich nicht bekam, was ich wollte. Genauso wie es gängig war, dass man mir nicht zutraute, das zu schaffen, was ich mir vornahm. Nicht jeder konnte werden, was er wollte. Das Gegenteil war eine Lüge, die man Kindern erzählte.   »Das sagst du so leicht«, murmelte ich und stützte meine Stirn auf der Hand ab. Natürlich war es nett zu sagen, dass man alles schaffen konnte, wenn man nur hart genug dafür arbeitete. Aber das war naiv. Jeder hatte seine Grenzen und irgendwann zerbrach man unter dem Gewicht der eigenen Wünsche und Ziele. War es da nicht fairer zuzugeben, wenn man etwas doch nicht erreichen konnte? »Das stimmt. So etwas ist immer leichter gesagt als getan«, sagte Yugi und seufzte. »Aber ist es nicht noch viel härter, sich sein Leben lang zu fragen, ob man nicht doch gekonnt hätte, wenn man nur mutiger gewesen wäre?« »Es geht nicht um Mut«, murmelte ich. »Mh, ja, manchmal geht es darum, sich nicht von der Angst kleinmachen zu lassen.« »Es geht nicht um Mut oder Angst oder so einen Schwachsinn. Es geht um Geld und Zeit«, erwiderte ich genervt. Nur wer solche Privilegien wie Yugi besaß, vergaß die grundlegenden Faktoren. Es ging hier nicht um Emotionen oder abstrakte Begriffe, die sich mit philosophischem Gelaber aufladen ließen.   Es ging um ganz konkrete Sachen. Würde ich studieren wollen, müsste ich mich bis zum Abi durchkämpfen. Vielleicht würde ich das sogar schaffen. Aber danach begannen erst die eigentlichen Probleme. Während eines Studiums verdiente man quasi nichts. Im Gegenteil; es kostete verdammt viel Geld und irgendwo müsste ich wohnen, dazu noch Essen kaufen und verdammt nochmal Lehrbücher und so einen Mist kaufen. Und ich hatte absolut keinen Plan, was nach dem Studium kommen sollte. Wollte ich in die Werbung, ins Marketing und mich dauernd mit so Idioten wie Kaiba herumschlagen? Mich an dämliche Vorgaben halten müssen, ohne wirklich das ausdrücken zu können, was ich wollte? Würde überhaupt jemand mein Zeug, das ich zeichnete, interessieren?   »Aber Geld steht dir doch zu und wie das mit der Zeit abläuft, weiß jetzt eh noch niemand«, warf Yugi ein. »Ich will mir nicht ständig einen Kopf machen müssen wegen Geld und Prüfungen und ob ich alles wie vorgeschrieben packe oder ob sie mich rauskicken oder ob mir dann kein Geld mehr zusteht, weil ich etwas verbockt habe.« Yugi atmete schwer ein, betrachtete seine Karten und rubbelte sich dann durch sein Haar, schaute mich über sein Kartenblatt hinweg an. »Du hast Recht, dass du es schwerer hast, als jemand, den es nicht jucken muss, wie viel Geld er für ein Studium braucht oder dem es egal ist, ob er hundert, zweihundert Euro im Monat mehr oder weniger ausgeben muss«, gab er zu, »und wenn es dir das nicht wert ist, weil du lieber etwas Anderes machen willst, dann ist das auch okay. Aber wenn du es nicht probierst, weil du es dir nicht wert bist, dann sind das alles vor allem Ausreden.« »Das kann auch nur einer sagen, der das scheiß Privileg hat, sich darüber keine Gedanken machen zu müssen«, zischte ich und erhob mich mit brausender Wut im Bauch. »Joey, ich meine das nicht böse.« »Klar, nur verdammt herablassend. Danke, das brauche ich jetzt echt.« Ich schnappte mir meine Jacke, die ich über den Schreibtischstuhl geworfen hatte und wandte mich zur Tür. »Wohin willst du?«, fragte Yugi. »Irgendwohin, wo mir niemand sagt, was für ein kack Feigling ich bin.« »Warte! Joey!«, hörte ich noch, aber ich ließ die Tür hinter mir zuknallen und lief die Treppe hinunter. Hinter mir eilige Schritte und Worte, die ich ausblendete. »Joey, verdammt! Jetzt reagiere doch nicht gleich so über! Du weißt doch, dass –« »Was? Was habe ich jetzt schon wieder nicht gerafft? Wofür bin ich wieder zu blöd? Welche Gründe hast du sonst noch gefunden, warum mein Leben so ein chaotischer Scheißdreck ist? Vielleicht tust du dich am besten mit Kaiba zusammen! Und mit meinen Eltern! Ihr findet bestimmt eine Menge. Viel Spaß!« Yugi schnappte meinen Ärmel und ich schüttelte ihn schnaubend ab, rannte die letzten Stufen herunter und riss die Eingangstür auf. »Joey, bitte, bleib stehen«, rief Yugi und ich lief weiter. Ich würde seinen Blick nicht ertragen. Dieses Mitleid, diese ›Ich-kann-nichts-daran-ändern-aber-du-tust-mir-so-leid‹-Weisheiten. Nein, nicht schon wieder. Ich würde das nicht mehr auf mir sitzen lassen. Ich war nicht zerbrochen, niemand musste mich wieder zusammensetzen. Ich war in Ordnung, auch, wenn das niemand zu begreifen schien.   »Ich weiß, dass du momentan echt viel durchmachst und dass es hart ist mit deinen Eltern und –« Kochende Hitze jagte in meinen Kopf und ließ ihn pochen. Ich war nicht der bemitleidenswerte Sohn zweier unfähiger Menschen. Ich ließ mich nicht mehr in diese Schublade schieben. Nicht einmal von Yugi. Ich wandte mich um und wollte schreien; wollte ihm erklären, wie es war, dieses Gefühl, nichts hinzubekommen, weil um jede Ecke eine größere Scheiße lauerte, weil nichts leichter wurde, sondern alles nur komplizierter. Dass es mich verrückt machte, wenn Menschen mich so anschauten, wie er gerade. Dass diese Wut in mir aufkochte und alles fraß, was ich sonst fühlte. »Du hast doch keine Ahnung davon, wie beschissen es mit Eltern sein kann. Du musst dich mit deinen nicht herumschlagen!« Schon als ich die letzte Silbe ausspuckte, wusste ich, dass ich es das nie wieder zurücknehmen könnte; dass ich etwas zerschlagen hatte, das jetzt wie Glasscherben vor mir auf dem Boden lag und ich versuchte verzweifelt, es zusammenzusetzen, aber es war unmöglich. Yugi starrte mich an.   »Yugi«, sagte ich und wusste nicht weiter. »Du hast wahrscheinlich recht«, erwiderte er und machte einen Schritt zurück. »Ich habe wirklich keine Ahnung, was mit dir los ist.« Er drehte sich um und ich wusste, wir würden nie wieder so sein, wie vorher.   Wäre ich mutig, würde ich nicht durch diese Tür fliehen, um mich nicht dem zu stellen, was ich angerichtet hatte. Ich war ein Feigling. Ohne die Wut im Bauch fühlte ich mich nur noch leer. Ohne einen Blick zurück ließ ich die Tür hinter mir zufallen. Ich lief durch die Stadt, nicht die beleuchteten Viertel, sondern die dämmrigen, dort, wo mich niemand erkennen konnte, niemand ansprach. Nur Blicke. Die Sterne und der Mond über mir färbten die Wände und Pflastersteine silbrig. Ich wollte zurück. Irgendwohin von vor sieben Jahren, als ich Yugi kennenlernte, und bessere Entscheidungen treffen. Vielleicht einen Tag als unbekümmertes Kind leben mit zwei Eltern, die einen in den Arm nahmen und versprachen, dass man genug war, so wie man war. Vielleicht stammte dieser Moment aus einem verblassten Traum und keiner Erinnerung. Vielleicht war ich zu feige, um mir die Wahrheit einzugestehen.   Ich öffnete mein Handy, war dabei Tristans Nummer auszuwählen, aber die Notifications überfluteten den Bildschirm. Ich wollte es ausblenden, löschen, wegschauen, aber ich konnte nicht. Das war virtuell und trotzdem ganz real. Das Video von meinem Vater erschien im Loop. Ein Popsong war als Hintergrundmusik eingefügt, das Video geschnitten, um immer und immer wieder auf die Mimik meines Vaters zu zoomen, seine Worte waren an den Beat angepasst und erschienen grotesk wie ein Lyrics zu der Musik.   ›Ich habe dich gewarnt‹, blitzte auf und ich starrte die Worte an. Es war, als klang die Stimme mit den geschriebenen Worten. Eine anonyme Nummer, aber ich wusste, von wem die Nachricht stammte. ›Du wirst das niemals los.‹ Vielleicht hatte er recht. Ich war gefangen als Sohn meiner Eltern, als Versager in Yugis Freundeskreis, als Möchtegern in Kaibas Erfolg. Der Loop begann von neuem. ›Kaiba wird dich vergessen. Du bist nichts wert.‹ Ohne Kaiba wäre ich nicht hier. Es war seine Schuld. Er hatte mich bis hierhin getrieben. Ohne die Chance, die er mir gegeben hatte, wäre ich nicht so tief gefallen. Und ohne Christian wäre mir das nicht bewusst geworden. Es ging immer wieder um Kaiba. ›Kaiba lässt jeden fallen. Das hat er schon immer so gemacht und du bist keine Ausnahme, Wheeler. Sein Erfolg basiert auf dem Misserfolg anderer. Er hält zu niemandem. Das hat er noch nie.‹       ›Du wirst keinen langen Erfolg haben. Das hat niemand, der für Kaiba arbeitet. Du wirst alles verlieren, Versager.‹ Früher wäre ich losgestürmt und hätte ihm eine verpasst, mehrere, mit einer Gruppe anderer. Aber die Zeit war vorbei. Christian glaubte, er würde mich damit treffen, aber die Stimmen in meinem Kopf waren oft fieser zu mir als er es je sein könnte. Ich wählte die Nummer und stapfte los. »Hey, Tris? Ja, genau. Okay, ich bin gleich da. Danke, Alter.«   Ich war kein Held, auch wenn ich es mir manchmal einredete. Ich war niemand, der voller Mut gegen seine inneren Dämonen kämpfte. Ich stolperte von einem Hinterhalt in den nächsten. Und während ich mein Bestes gab, war das oft nicht gut genug. Ich war ein Feigling, der lieber nicht versuchte zu gewinnen, als es zu wagen, um trotzdem zu verlieren. Kapitel 75: ... bin ein Versager -------------------------------- __________________________________________   Schuldzuweisungen sind Werkzeuge für Versager. Alfred Selacher __________________________________________           Ich war kein Geschäftsmann, der in aller Welt geschätzt wurde. Ich stand weder für eine Menge Ansehen noch Geld. Und ich legte einen Scheißdreck darauf, sympathisch zu sein.   »Du hast es also geschafft, sozusagen innerhalb eines Tages Kaiba und Yugi dermaßen anzukacken, dass sie dich vielleicht nie wieder auch nur anschauen wollen«, brachte Tris mein chaotisches Gefasel auf den Punkt und warf mir den Schlafsack auf den Kopf. »Hey!«, rief ich empört, aber Tristan zuckte die Schultern. »Natürlich war es nicht korrekt von mir. Aber er hat halt –« Tris schnaubte. »Ich meine doch bloß, weil –« Er warf mir nur einen Blick zu. »Aber –« Er atmete tief ein. »Nur weil er es gut meint, macht er es nicht gut«, murrte ich. War das nicht eines dieser Sprichwörter, die Yugi mir beigebracht hatte? Ich spürte, wie sich ein heißer Knoten in meinem Bauch bildete. »Er hat mich nicht mal wirklich ernst genommen.« »Du nimmst dich doch selbst nicht ernst«, erwiderte Tris und ich starrte ihn an. Das hatte er nicht gerade gesagt, oder? »Was laberst du da für eine –« »Nope, fang nicht so an. Am besten wir schlafen einfach. Meine Eltern fanden es schon nicht so geil, dass du hier mitten in der Nacht auftauchst, wenn wir jetzt noch Stress schieben –« Ich ließ mich auf den Schlafsack fallen und drehte meinen Rücken zu Tris. Er hatte Recht; es war alles andere als optimal, dass ich von einem zum anderen wanderte, egal wie spät es war, wie so ein Penner. Meine Gedanken flogen in gefährliche Ecken meines Hirns. »Schmollst du jetzt?«, fragte er und beugte sich über mich. Ich drehte mich zu ihm um und verengte meine Augen. »Nein, aber wenn du ein Problem hast, dann sag es.« »Warum sagst du nicht, wenn du ein Problem hast?« Wir starrten einander in die Augen und ich sah, wie er die Lippen aufeinanderpresste, als würde er gleich explodieren, wenn er nicht sagte, was er dachte. Aber das war mir nur recht. Er hatte angefangen, dann sollte er es auch beenden. »Kann es sein, dass alle anderen ständig schuld sind, dass bei dir etwas nicht läuft?« Da war es also. Wie Tritte gegen beide Schienbeine. Ich erhob mich langsam, als müsste ich alle meine Muskeln einzeln anspannen, damit sie den Befehlen meines Gehirns Folge leisteten und verharrte kurz vor seiner Nasenspitze. Seine Worte echoten in meinem Ohr wie eine alte Tonspur, die ausgeleiert war. Aber ich hatte ihn eindeutig verstanden. »Hast du überhaupt eine Ahnung, wie scheiße das ist, was momentan abgeht?«, fragte ich und mir blieb zwischendurch die Luft weg. Meine Rippen schienen in meine Lungen zu stechen. »Ja, Kaiba ist ein Arsch. Aber ist es echt seine Aufgabe, alles für dich zu regeln?« »Es geht hier nicht um Kaiba, du Idiot. Mein Vater –« »Er ist nicht nur dein Vater, weißt du?« Ich öffnete den Mund, aber er hatte mich komplett aus dem Konzept gebracht. Er saß da auf seinem Bett und starrte auf seine Hände, die er auf die Beine im Schneidersitz gelegt hatte. Von außen wirkte er ruhig, aber wer ihn kannte, wusste, dass Tristans Nerven über seine Lippen sprachen. Er kaute auf ihnen herum und presste sie aufeinander. »Wann hast du das letzte Mal wirklich zugehört? Wann hast du dich das letzte Mal echt mit jemandem unterhalten? Ohne, dass du und dein Drama im Mittelpunkt gestanden haben? Hast du mal mit Serenity gefragt, wie es ihr geht? Oder deinen Bruder?« »Und du hast natürlich ganz selbstlos mit ihnen gesprochen«, spottete ich. »Was hast du mit der ganzen Sache zu tun? Es geht dich einen Scheißdreck an!« »Serenity geht mich etwas an.« Ich rückte von ihm ab und presste die Augen aufeinander, versuchte bis zehn zu zählen, ehe ich ihn anschaute. Zorn schwappte durch meinen Bauch. Ich kam nur bis sieben. »Willst du mich verarschen?« Tristan verschränkte die Arme vor der Brust, als könnte er sich damit irgendwie vor meinen Worten schützen. Aber er kapierte nicht, dass er die Wahrheit hören musste. »Wir sind –« »Nein, ihr seid gar nichts! Kapiert? Ich glaube, ich muss kotzen!« Er runzelte seine Stirn, zog seine Arme auseinander und schnappte sich meinen Kragen. Ich strampelte, aber die Wut ließ mich kleine Explosionen sehen und meine Muskeln krampfen. »Hast du eine Ahnung, warum deine Mutter damals mit Serenity weg ist?«, schrie er. »Nein, weil du dich im Selbstmitleid badest. Ist dir schon einmal die Idee gekommen, dass es auch für sie verdammt schwer war?« »Und du weißt das natürlich alles, weil du ein selbstloser Prinz bist?«, spukte ich ihm hin. »Ich bin nur kein egoistischer Arsch, der alle anderen die Schuld zuschiebt! Du spielst dich auf als würde ohne dich keiner klarkommen, dabei bekommst du dein eigenes Zeug nicht hin!« Ich krallte mir sein Shirt, während er mich zu sich zog und gegen die Matratze drückte. Ich bäumte mich auf und trat ihm gegen das Schienbein, doch er lag halb auf mir und ich bekam immer schwerer Luft. »Du bist nur ein Arsch, der meine Schwester flachlegen will!«, keuchte ich und er erstarrte, fuhr hoch und blickte mich mit so einer Abscheu an, dass ich wegschaute. Ich konnte beobachten, wie sich die Wolke aus Zorn in seinen Augen zusammenbraute. »Du bist ein Penner«, zischte er. »Hey! Ruhe jetzt oder ihr schlaft draußen!«, keifte Tristans Mutter durch die Wände und ich atmete zittrig ein. »Ich sollte gehen.« »Ja, das solltest du, wirst du aber nicht. Du schläfst jetzt hier. Wer weiß, was sonst noch heute Nacht passiert.« Wie schaffte es Tris sich um mich zu sorgen, während er vor Wut wohl am liebsten meinen Kopf gegen das Bett hämmern würde? Er schaute mich nicht an, als er über mich stieg, dabei voller Absicht gegen mein Bein stieß, und seine Decke übers Kinn zog; sein Gesicht Richtung Wand. Ich zögerte. Mit einem Blick zur Tür begann ich meinen Pullover über den Kopf zu ziehen. Eine Socke traf mich an der Schläfe. »Schlaf jetzt«, nuschelte Tris unter der Decke. »Zu wem willst du als nächstes gekrochen kommen? Du kannst auch noch morgen deine restlichen Freunde prellen.« Ich schluckte und warf den Pullover in die Ecke. War es das, was ich tat? Nach und nach all meine Freundschaften zerstören, weil ich ein Ziel verfolgte, das niemand verstand? Ich wollte so viel geraderücken und schaffte es nur, immer weiter in der ganzen Misere zu versinken. Tristans Atmen verlangsamte sich und wurde tief. Die Schatten tanzten über meinem Kopf und ich zählte seine Atemzüge, schloss die Augen und versuchte, all die Worte zu verdrängen, die sich immer wieder an die Oberfläche meines Bewusstseins kämpften. Warum begriff niemand, dass ich das tun musste?   Es dämmerte, als ich meinen Pullover überzog und meine Schuhe band. Tristan lag wie eine Raupe in die Decke eingewickelt auf dem Bett und murmelte irgendetwas Unverständliches im Schlaf. Ich hätte gegrinst, hätte mir sein friedlicher Anblick nicht die Übelkeit in die Lunge getrieben. Er und Serenity? Was dachte er sich? Dass er die ganze Situation am besten ausnutze und sich an meine Schwester heranmachte? Widerlich. Mit einem Schnauben ließ ich die Tür hinter mir ins Schloss fallen und atmete kühle Morgenluft. Der Wind schüttelte die Äste des Baums und eine Amsel hüpfte über die Wiese, auf der Flaschen verteilt lagen. Ich blickte zurück, hoch, wo unsere ehemalige Wohnung lag. Die Plattenbauten ragten grau in grau in die Wolken hinein. Bestimmt würde es anfangen zu regnen. Wie einen Schnitt in meinem Bauch spürte ich, als ich durch diese Straßen schlenderte. Ich vermisste es, auch, wenn es oft beschissen gewesen war. Aber ich gehörte hierher und vielleicht war das auch das Problem. Ich trat gegen etwas an, das ich womöglich nie loswerden würde; als würde ich gegen meine eigene Lunge oder meine Füße kämpfen. Sicherlich lebte es sich auch ohne sie, aber einfacher wäre es nicht.   Ich seufzte und kickte einen Kieselstein auf dem Weg vor mir her, ob meiner abstrusen Gedanken. Meine Gedanken summten wie Wespen in meinem Kopf. Was tat ich hier eigentlich? Ich wartete an der Bushaltestelle und drückte mir die Kopfhörer ins Ohr. Die Töne waren die passende Hintergrundmusik; als wäre ich der Protagonist in einem schlechten Film. Im Bus starrte ich nach draußen, Regentropfen klopften gegen die Scheiben und an den Fassaden der Hochhäuser zogen die LED für das kommende Turnier vorbei. Mein Herz klopfte in meinen schwitzigen Socken. Ich hatte keine Chance bei dem Wettbewerb und würde mich wie der größte Trottel anstellen. Was hatte ich nur dabei gedacht, Kaiba zuzusagen? Es kam mir vor, als wäre die Entscheidung in einem anderen Leben gefallen; als ich noch auf die Unterstützung meiner Freunde vertrauen konnte. Jetzt hing ich hier allein herum, wie der größte Versager.   Ich trottete durch die Pfützen und schob meine Kapuze tiefer ins Gesicht. Der Anblick des Hauses war wie ein Echo aus einem Alptraum. Immer wieder zog es mich hierher, war ein Anker, der mich tiefer riss. Es war kein Zuhause, aber es war zu vertraut, um bedeutungslos zu sein. Ich stand am Eingang und klopfte, obwohl es auch eine Klingel gab. Vielleicht, weil ich hoffte, so weniger Aufsehen zu verursachen. Vielleicht, weil ich hoffte, niemand würde mir öffnen. So ein schwachsinniger Gedanke, dachte ich, während ich nass dastand und fror. Aber es bezeichnete mein Leben ganz gut, wie es momentan lief.   Jemand riss die Tür auf, rief fröhlich »Joey!«, drückte sich in meine Arme und quasselte mich voll. Jacob grinste und schaute mich erwartungsvoll an. »Sorry, was?«, stotterte ich. »Du siehst ganz schön komisch aus. Wo warst du? Ich habe voll lange auf dich gewartet! Serenity und Mama schlafen noch. Deine neue Dueldisk ist angekommen! Also das Paket von der Kaiba Corp und ich habe es nur ein bisschen aufgemacht, weißt du? Weil – also ich dachte halt, du kommst ja eh, aber dann warst du dauernd weg und dann habe ich es wieder in dein Zimmer gestellt und –« Seine Worte rauschten wie ein Sturzbach an mir vorbei und ich schnappte nur Schlüsselbegriffe auf. »Moment, meine neue Dueldisk?« Ich fasste mir an den Kopf. Das konnte doch nicht passieren, oder? Ich würde an dem Turnier teilnehmen müssen und Kaiba gegenübertreten, der mich wegen meiner Kommentare zerstören wollen würde und gegen Yugi, für den wahrscheinlich dasselbe galt; nur dass es bei letzterem ein neues Phänomen und bei ersterem geradezu Tradition war. Ich schnaufte. Das war alles ein verdammt schlechter Witz. Aber Jacobs Augen leuchteten.   »Dann lass uns das Ding auspacken«, seufzte ich und Jacob jagte vor mir die Treppe hoch. Das Paket war dreifach verpackt. Der Geruch von nagelneuer Dueldisk umfing mich, als ich meine Finger nach ihr ausstreckte, um das polierte Hartplastik zu berühren. Sie war kleiner als die vorherigen Versionen, kompakter und eleganter. Weiß und grau, glänzend. Mit dem Symbol der KC eingraviert. Es wirkte minimalistisch und gleichzeitig verdammt teuer. Als ich sie hochhob war sie angenehm leicht, aber schwer genug, um die wertvolle Technik zu verraten. Jacob betrachtete mich mit leuchtenden Augen. »Das ist so mega cool!«, gluckste er. »Damit gewinnst du gegen alle!« Ich grinste schief und verschwieg, den offensichtlichen Makel an dem Plan: Die Dueldisk war auch nur so gut wie die Strategie des Spielers, der sie benutzte. Ich zog die Schublade meines Nachtschränkchens auf und kramte meine Karten hervor, legte sie probeweise in die Ablage für das Deck, schaltete das Gerät ein und sofort ertönte ein Sound. Das Display erklärte die verschiedenen Funktionen.   »Das klingt doch schon mal richtig toll«, stieß mich eine Stimme aus meinen Vorstellungen, wie es sein würde, sich damit zu duellieren. Serenity stand im Pyjama in der Tür zu meinem Zimmer und lächelte, schlenderte zu uns und tastete nach der Dueldisk. »Wow, das fühlt sich richtig geschmeidig an, und hier sind die Ablagen für die Karten, richtig? Habt ihr schon ausprobiert, wie es aussieht, wenn eine Karte projiziert wird?« Sie wirkte so sorglos, als kannte sie nur das Schöne und Leichte in der Welt. Ihre Stimme hatte diesen weichen Klang und um ihre Lippen hing ein Grinsen, als heckte sie etwas aus. »Oh ja, aktiviere eine Karte!«, bettelte Jacob. »Das sieht bestimmt mega aus!« Ich suchte meine Lieblingskarte aus dem Stapel und legte sie in Angriffsposition in die Dueldisk. Lichtstrahlen explodierten und plötzlich erschien der Schwarze Rotaugendrache mitten im Raum. Er atmete, ich konnte seine Schuppen zählen und in seinen Augen brannte ein Feuer. Ich streckte meinen Arm aus, um seine glänzende Haut zu berühren und die Hitze zu spüren, die er aussondern musste. Seine Nüstern bebten, als er ein Brüllen losließ. »Oh, shit«, fluchte ich und drückte meine Hände auf die Ohren. »Was zur Hölle ist hier los?«, rief meine Mutter und starrte das Chaos im Zimmer an, wie wir da zu dritt mitten in Plastikverpackungen und Kartons saßen und sich ein riesiger Drache um uns herumschlängelte. Ihre Lippen wurden schmal, als ihr Blick auf mich fiel. »Achja, da kommt der Herr auch mal nach Hause. Was denkst du eigentlich, was du da tust? Es reicht mir. Du packst das Zeug weg und schickst es dahin, wo es hergekommen ist!« »Aber Mama«, nörgelte Jacob. »Und ihr deckt den Frühstückstisch. Ich will nichts mehr hören! Los!« Jacob und Serenity erhoben sich ohne weiteren Widerstand, stiegen über den Müll und verschwanden durch den Flur. Ich sah ihnen nach und beobachtete, wie Jacob sich zu Serenity beugte, ihr etwas zuflüsterte und sie nickte. Ihre Vertrautheit stieß Nadelspitzen in meine Fingerkuppen. »Und du?«, keifte meine Mutter. Ich verdrehte die Augen, während ich mich vom Fußboden erhob und die Dueldisk ordentlich zurück in die Verpackung schob. »Was soll mit mir sein?«, murrte ich. »Du verschwindest dauernd, tauchst auf, verursachst Chaos und tust so, als ginge es dich nichts an.« Ich ballte meine Finger zu Fäusten. Ihre Stimme hallte in meinem Kopf wider, als brüllte sie, doch sie sprach ganz leise, flüsterte fast. Ihr Blick brannte sich in mich hinein und ich spürte, wie ihre Ablehnung eine Mauer um sie herum erschuf. »Vielleicht fällt dir ja ein, warum ich dauernd von hier abhaue. Ist ja echt nicht auszuhalten hier.« Ich kickte die Kartons in eine Ecke und knüllte das Plastik zusammen; irgendwo musste ich diesen Frust abladen. Meine Füße zuckten Richtung Tür. Warum war ich überhaupt hierhergekommen? »Du hast mehr mit deinem Vater gemeinsam, als du ahnst.« »Besser mit ihm als mit dir«, spukte ich ihr vor die Füße und drängte mich an ihr vorbei, die Dueldisk drückte ich gegen meinen Bauch, schnappte mir meinen Rucksack und war schon im Flur, als sie mich zurückhielt. Sie krallte meinen Ärmel. »Wenn du gehst, verabschiede dich wenigstens. Sie warten ständig auf dich. Jacob schaut jeden Morgen in deinem Zimmer vorbei, ob du nicht doch da bist und Serenity wartet dauernd auf eine Nachricht von dir.« »Woher willst du das wissen?«, fragte ich zerknirscht. »Ich bin ihre Mutter«, sagte sie und ließ mich los. Ich stolperte die Treppe herunter, wo Jacob singend den Tisch deckte. Serenity summte und presste Orangensaft. Der Duft frisch aufbackender Brötchen stieß mir in die Nase und ich wünschte, ich könnte anders reagieren, aber der Schatten meiner Mutter jagte mich hinaus. »Hey«, machte ich und trat von einem Bein auf das andere. »Du gehst schon wieder?«, fragte Serenity und hielt inne. Woher wusste sie das? Ihr Blick glitt an mir vorbei, aber sie schien so viel mehr zu sehen, als es mit Augenlicht möglich war. »Ja, ich muss – leider – also –« »Och menno, dabei haben wir extra viele Brötchen in den Ofen!«, platzte aus Jacob heraus, als wäre das ein handfestes Argument, alles Andere stehen und liegen zu lassen. Vielleicht wäre es das gewesen, würde in meinem Leben nicht alles kreuz und querrennen. »Ein anderes Mal«, vertröstete ich ihn auf einen Zeitpunkt, den es wahrscheinlich nicht gab und zog meine Jacke über. Mein Magen grummelte, aber mein Hirn schrie. Ich hielt es hier nicht aus. Das hier war der gesamte Beweiskatalog, was in meinem Leben nicht stimmte. Also verabschiedete ich mich und zwang mich irgendwann aus Jacobs Umarmung. Serenity drückte mir zwei Sandwiches in die Hand und knuffte mir in die Seite, dann drehte ich mich um und trat aus der Tür und schaute nicht zurück. Es war Sonntag, ich stopfte mir die Sandwiches als Frühstück in den Mund und zog mir die Mütze meiner Jacke tiefer ins Gesicht, weil es in Strömen regnete. Was auch sonst? Ich stand mit dem Rücken vor dem Haus, in meinen Armen die neueste Dueldisk, die es nicht einmal zu kaufen gab, und ich fragte mich, zu welchen Scherben meines Lebens ich als nächstes rennen sollte.   »Hey.« Serenitys Stimme riss mich aus der Überlegung. »Du stehst schon seit gut zehn Minuten hier.« Sie hielt einen Regenschirm über uns und grinste verlegen. »Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll«, murmelte ich. »Du könntest wieder mit reinkommen«, schlug sie vor und dieser Satz brach etwas in mir; dass sie nicht begriff, dass ich eben genau das nicht konnte. Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich wusste, dass sie es nicht sah. Ihre Schulter berührte meine und ich stand hier und fragte mich, wann ich in die falsche Straße gerannt war. Serenity kannte diese Art von Schmerz nicht. Sie lebte in einer Welt, in der jeden Morgen das Haus nach frischem Kaffee duftete und der Kühlschrank mit Leckereien überquoll. »Du verstehst es nicht«, murmelte ich. »Aber ich muss das mit unserem Vater regeln. Ich weiß nur nicht, wie.« »Du kannst unserem Vater nicht helfen, wenn er es nicht möchte«, seufzte sie, »Tris hat dasselbe gesagt. Wir –« In meinen Ohren rauschten ihre Worte. Tristans Aussagen explodierten wie Raketen in meinem Hirn. Das konnte doch nicht wahr sein! »Was hast du mit Tristan zu schaffen?«, knurrte ich. Sprachen die beiden wirklich hinter meinem Rücken über mich. Was ging bei denen ab? »Wir haben in letzter Zeit ganz viel geredet. Er war ganz oft für mich da, wenn ich nicht mehr weiterwusste.« »Nein«, sagte ich und machte einige Schritte weg von ihr. Der Regen schlug mir ins Gesicht und saugte sich in meine Jacke, aber das war mir egal. »Was meinst du?«, fragte sie. »Tris ist ein Idiot. Er hat keine Ahnung, was hier abgeht; wie alles zusammenhängt. Er kann viel behaupten und gute Ratschläge geben, die einfach null wert sind.« Ich ging auf und ab, wischte den Regen aus meinen Augen und umklammerte die eingepackte Dueldisk, als wäre sie mein letzter Anker, um nicht völlig in diesen Gefühlchaos aus Wut und Sorge und Zweifeln zu ertrinken. »Er weiß verdammt viel. Ich konnte super mit ihm reden«, erwiderte sie und ihre Stimme verlor diesen samtenen Ton. »Er will wohl mehr als nur mit dir reden!«, zischte ich. Sie beugte sich zu mir, ihre Stirn gerunzelt, und verengte ihre Augen. Es schien, als würde ihr Körper von Flammen aus Zorn umgeben. Sie streckte ihren Arm aus und ich erstarrte, als sie meinen Pullover überraschend straff bei der Brust packte und mich zu sich zog. Obwohl sie blind war, glaubte ich, blickte sie in meine Tiefen und ich schluckte. »Und wenn es so wäre, Joey, wäre es meine Sache! Das hat nichts mit dir zu tun!« »Ihr kennt euch doch gar nicht«, entgegnete ich ihr geradezu verzweifelt und versuchte ihrem Griff zu entfliehen, aber sie lockerte ihn nicht. Ihre Worte peitschten um meine Ohren und ich wollte sie nicht hören, aber sie brachen über mich herein, wie der Wolkenbruch, der meine Klamotten zum Triefen brachte. »Woher willst du das wissen? Du bist doch nie hier!«, schleuderte sie mir entgegen und ich hielt inne. Wann hatte ich das letzte Mal wirklich mit ihr geredet? Wann mit Jacob? Ich hatte das Gefühl, dass mir alles langsam entglitt. Ich versuchte die Fäden zusammenzuziehen, aber sie lockerten sich immer weiter und ließen Löcher im ganzen Gewebe zurück. Ich verlor alle nach und nach, versagte Stück für Stück. Regen tropfte auf meine Brust, dann nahm ich ihr Schluchzen wahr. Erst als ich ihr ins Gesicht schaute, begriff ich, dass es nicht nur Regentropfen waren. Ich umschlang sanft ihre Finger, die noch immer den Stoff meines Pullovers umklammerten, und zog sie an mich. Sie stolperte einen Schritt, ließ den Schirm fallen und drückte dann ihr Gesicht in meine Halsbeuge. Regen klopfte auf unsere Haut, benetzte mein Gesicht und obwohl wir hier ohne Plan und völlig durchnässt standen, bröckelte ein Brocken von meinem Herzen. »Es tut mir leid«, murmelte ich. »Es tut mir wirklich so leid.«   Ich war kein Geschäftsmann, der in aller Welt geschätzt wurde. Auf Ansehen und Geld konnte ich verzichten, aber für meine Familie würde ich bis an das Ende meines Lebens kämpfen. Manchmal versagte ich, verlor den Plan aus den Augen oder den Fokus; vor lauter Zielen, war ich den falschen Weg entlang gerannt. Jetzt stand ich hier, eine Kreuzung ohne Schilder und musste mir eingestehen, dass ich einen anderen Weg einschlagen musste. »Und jetzt?«, fragte Serenity irgendwann, wischte sich über die Augen und schaute an mir vorbei. Ich atmete tief ein und aus, starrte in die dunklen Wolken über uns und spürte die Tropfen meine Haut entlangwandern. »Jetzt fange ich erst richtig an«, flüsterte ich, mein Bauch erfüllt von einem Kribbeln, packte ihre Hand und zog sie mit mir. Kapitel 76: … bin unterwegs ---------------------------  __________________________________________   Die Wahrheit ist unterwegs und nichts kann sie aufhalten. Émile Zola (1840 - 1902) __________________________________________             Mein Verhalten anderen gegenüber war das Letzte – vor allem, wenn ich glaubte, im Recht zu sein. Mit einer Selbstgerechtigkeit und Sturheit, als wäre ich allein gegen den Rest der Welt. Weil ich manchmal dachte, etwas Besseres zu sein. Kaiba und ich unterschieden uns da kaum. Denn wir waren nicht allein.   Meine rechte Hand klammerte sich um die Finger meiner Schwester, meine linke Hand drückte die verpackte Dueldisk an meine Brust. »Wohin willst du?«, fragte Serenity und machte trotzdem keine Anstalt nicht mit mir zu gehen. »Hast du einen Plan?« »Der Plan«, erwiderte ich mit einem Grinsen, »ist mega simpel. Wir sorgen für Gerechtigkeit.« »Und wie willst du das alles zurechtbiegen?« Der Regen peitschte in mein Gesicht, meine Kleidung triefte und wenn ich mit meinen Zehen wackelte, quietschten die Schuhe vor Nässe. Und ich fühlte mich so gut, wie schon lange nicht mehr. »Mit meinem Charme?«, erwiderte ich und Serenity lachte. Kein hämisches Kichern, sondern eines, das mir Flügel verpasste. Natürlich machte ich keinen Schritt-für-Schritt-Plan. Das hatte in meinem Leben noch nie funktioniert. Ich hatte mein Bauchgefühl, diese leise Ahnung, was ich erreichen wollte und die Gewissheit, dass es nicht einfach werden würde.   Und so standen wir eine halbe Stunde später vor dem Gebäude, in das ich die ganzen letzten Jahre geflüchtet war, wenn mir die Welt zu viel wurde, und ich rührte mich nicht. Ich konnte einfach keinen Muskel bewegen. Ich schaffte es nicht vor, nicht zurück, also starrte ich die Tür an und schwieg. Es war verrückt, wie anders ein Haus wirkte, wenn man selbst nicht mehr dieselbe Person war, die davor stand. »Es wird alles gut«, flüsterte Serenity und drückte meine Finger. Das Problem war, dass das hier keine alberne Geschichte war, bei der man schon vorm Lesen sicher sein konnte, dass am Ende alle happy waren und alles so werden würde, wie man es sich wünschte. Das hier war die Wirklichkeit und ich hatte so viel falsch gemacht. Ich wagte einen Schritt. Mit jedem weiteren hob sich ein Gewicht von meinen Schultern und ich hastete zum Eingang, als müsste ich pünktlich sein. Dabei gab es keinen richtigen Augenblick. Ich stürmte durch die Tür, weil ich das immer so tat, das Klingeln verriet meine Ankunft und ich stolperte zum Tresen. Yugis Großvater schlenderte aus der Kammer nach vorne in den Verkaufsraum und hielt inne, als er mich sah. Ich öffnete den Mund, schluckte und kratzte mich am Hinterkopf. »Yugi!«, rief er in den Treppenaufgang und zwinkerte mir danach zu. Mein Magen verkrampfte sich. Das Leben war kein Spiel, das man neustarten konnte. Man konnte keine Level nochmals probieren und einen anderen Weg einschlagen, ohne dass es etwas kostete. Das Leben war unfair und hart und manchmal half die ehrlichste Entschuldigung nichts. Manche Sätze, die man sagte, blieben kleben und ließen sich nicht mehr ausradieren. ›Aber ist es nicht noch viel härter, sich sein Leben lang zu fragen, ob man nicht doch gekonnt hätte, wenn man nur mutiger gewesen wäre?‹ Yugis Worte schallten durch meinen Kopf wie ein Song, den ich einmal gesungen hatte. Ich war kein Feigling. Ich wollte mich nicht hinter Ausreden verstecken. Und trotzdem fürchtete ich mich. »Yugi«, murmelte ich, während er »hallo« sagte. Wir standen voreinander wie Bekannte, die sich nichts zu sagen hatten, weil ihr Leben auseinandergedriftet war. »Wie wäre es mit heißer Schokolade?«, fragte Yugis Großvater und Serenity stimmte zu. Sie verdrückten sich in die Kaffeeküche nebenan und wir lauschten ihren Schritten und ihren unaufgeregten Worten, als stünden wir hier nicht gerade vor den Scherben unserer Freundschaft. »Willst du kurz mit rauf kommen?«, fragte er und ich sagte gleichzeitig die Worte, die nicht im Mindesten das ausdrücken konnten, was ich fühlte. »Es tut mir leid.« Er schaute zu mir und ich fragte mich, was er wohl sah. Einen Typen, der sein Leben nicht hinbekam und immer wieder zerfetzte, was er gerade zusammengeklebt hatte? Eine Person, die einmal ein Freund gewesen war? Jemand, der es wohl gut meinte, aber nicht gut machte? »Ich weiß«, erwiderte er und streckte seine Finger nach mir aus, aber ich hob meine Hand und schüttelte den Kopf. »Nein, ich meine es so. Lass es mich bitte sagen. Ich war ein Arsch. Die Welt ist manchmal ungerecht und alles, aber sie ist nicht nur scheiße zu mir und das ist keine Entschuldigung. Ich will sagen –« Ich schluckte, fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, als könnte ich so meine Gedanken und Gefühle ordnen. »Das mit deinen Eltern. Das hätte ich nie so sagen dürfen und –« »Ich weiß«, wiederholte Yugi und schaute mich an. Er blickte nicht an mir vorbei, betrachtete mich nicht herablassend oder mit diesem falschen Mitleid. Er sah mich. »Manchmal sagt man Dinge, um jemanden zu verletzen, weil man selbst Angst davor hat, verletzt zu werden. Und manchmal spricht man nicht darüber, aus demselben Grund.« Wir hatten nie über den Tod seiner Eltern gesprochen. Sie waren schon tot, bevor wir uns kennengelernt hatten. Er hatte zu unserer Schule gewechselt, nachdem sie gestorben waren und dass er bei seinem Großvater lebte, war für uns so natürlich geworden, wie seine Liebe zu Spielen. »Und ja, du warst ein Arsch«, fügte er nonchalant hinzu und vielleicht war das das Weiseste, was er an diesem Tag von sich gab. »Aber das ist okay. Wir sind alle manchmal Ärsche.« Mein Blick rauschte gen Boden. Meine Kehle schnürte sich zu. Nein, es war nicht einfach alles in Ordnung. Wir würden daran noch zu knabbern haben. Wir würden darauf zurückkommen und bei heimlich geschmuggelten Bier die Nacht hindurch miteinander erzählen und uns an den Themen reiben und vielleicht würde ich ihm endlich diese Frage stellen, die unausgesprochen zwischen uns waberte. Seine Hand lag plötzlich auf meiner Schulter und ich starrte ihn an. Ich fürchtete, was ich in seinen Augen lesen würde. »Willst du endlich meine Dueldisk sehen?« Er grinste und nickte zu meiner hin, die ich immer noch an mich presste und meine Mundwinkel reagierten. Es fühlte sich zuerst an, als hätten sie es verlernt, aber dann standen wir in seinem Zimmer und schauten uns an und lachten und konnten nicht aufhören. Es schien auf einmal so leicht. Die Anspannung schüttelte mein Gelächter aus den Gliedern und ich atmete zum ersten Mal seit so langer Zeit ohne Druck in der Brust. Und in diesem Moment begriff ich etwas. Es war nicht mutig, anderen seine Meinung gegen den Kopf zu knallen, um nicht zuhören zu müssen. Es war nicht stark, jemanden zu verletzen, um nicht selbst verletzt zu werden. Mut und Stärke waren, zu wissen, dass die Welt manchmal scheiße war und trotzdem zu lachen. Großvater und Serenity brachten die heiße Schokolade, schauten von dem einen zum anderen und blinzelten. Yugi und ich brachen wieder in Gekicher aus. Es war albern und irrwitzig und wunderschön. Es war einfach bei heißer Schokolade und mit Freunden zu verdrängen, was mir noch bevorstand, aber mir war bewusst, dass das hier nur eine kurze Auszeit war. Das Auge des Sturms. Ich seufzte und setzte meine Tasse ab, als mein Handy vibrierte. ›Wovor hast du am meisten Angst?‹, stand da. Anonym. Ich atmete zittrig ein, ob vor Furcht oder angestautem Zorn? Yugi beobachtete mich über seine Tasse hinweg und ich wusste, dass er sofort erkannte, dass etwas nicht stimmte. Mehr als eh schon nicht. »Wir müssen los«, sagte ich und spülte den Kakao meinen Rachen herunter. »Wohin müsst ihr?«, fragte er. »Nein, nein. Wir«, wiederholte ich und deutete mit meiner Hand einen Kreis an, der ihn miteinschloss. »Achso, also wohin müssen wir?«, wollte er wissen, ehe er es mir gleichtat und seine Tasse leerte. Er fragte nicht, warum, nur danach wann es losging. »Ach, nochmal jung sein«, hörte ich seinen Großvater noch seufzen, als wir uns gemeinsam durch die Ladentür nach draußen in den strömenden Regen drückten.   Eine gute Viertelstunde später lief ich vor dem Gebäude hin und her, ohne aufzusehen. Ein Déjà-vu. Ich kickte einen Kieselstein vor mir her, als könnte der mir die Entscheidung abnehmen, wann ich genug Nerven gesammelt hatte, um für meine Arschigkeit einstehen zu können. »Joey, wenn du noch lange brauchst, dann könntest du nachkommen«, schlug Serenity trocken vor. »Es regnet.« Die beiden standen da, allmählich durchnässt und beobachteten mein zielloses Treiben. Ich schnaufte, kickte den Kieselstein noch einmal so, dass er endgültig ins Gebüsch rollte, drückte meinen Brustkorb heraus und klingelte. »Ja?«, fragte seine Stimme durch die Gegensprechanlage und noch durch das Knistern hindurch hörte ich seine Eltern im Hintergrund streiten. »Ich bin‘s«, erwiderte ich und wartete darauf, dass er mich beschimpfte, mich unwirsch loswerden wollte, anschrie oder einfach ignorierte. »Ich komm runter«, sagte er stattdessen und das Klicken verriet mir, dass er den Hörer wieder eingehängt hatte. Vielleicht war es einfacher mit Wut umzugehen, weil sie alle anderen Gefühle verdrängte. Stattdessen stand ich hier und spürte, wie sich in meinem Bauch undefinierbare Empfindungen verknoteten. Tristan kannte mich am längsten. Wir hatten gemeinsam unzählige Dinge erlebt, Sachen, auf die wir stolz waren und Erlebnisse, für die wir uns schämten. Es war immer klar gewesen, dass wir im selben Team spielten. Jetzt wankte diese Gewissheit. Er sagte nichts und ich wusste nicht, was ich auf sein Schweigen antworten sollte. Wir standen einander gegenüber, als wartete der eine darauf, dass der andere seine Pistole zog. »Ich liebe sie.« Ich starrte ihn an. Er zog sich seine Kapuze tiefer ins Gesicht. Der Regen prasselte auf uns herab und mich beschlich eine Ahnung aus dem Hinterhalt, dass ich verdammt viel in letzter Zeit verpasst hatte. »Hä? Was – wie?« Tristan antwortete nicht auf mein Gebrabbel, sondern schlenderte zu meiner Schwester und nahm ihre Finger zwischen seine. Ich schluckte. Das Kauderwelsch bei meinem Magen stürmte wie ein Tsunami durch meine Glieder. Das konnte doch nicht wirklich wahr sein. Das konnte keine Liebe sein. Liebe war – sein Blick verschmolz mit ihrem Lächeln – keine seichte Verbundenheit, keine oberflächliche Zusammenkunft. Was hatten die beiden schon gemeinsam? Wie gut kannten sie sich wirklich? Woher wussten sie, dass diese Emotion, die sie gerade empfanden, nicht unter den Blicken anderer zerbrechen würde? An ihren eigenen Erwartungen und denen anderer nach und nach verätzen würde? Bis nichts mehr übrig blieb, von dem, was sie einmal gewesen waren, außer schmerzhafter Erinnerungen. »Joey?«, fragte Serenity und ich hörte dieses Zögern in ihrem Ton, ganz anders als vorhin noch. Woher wusste sie, dass diese Zweifel nicht doch das Gerüst an Vertrautheit wie Rost zerbröseln würden? »Und woher weißt du, dass du sie auch noch nächste Woche liebst oder nächstes Jahr?«, keifte ich und dehnte das Verb mit all meiner Überzeugung, dass das kein Lieben war. »Am Ende wirst du ihr weh tun und wofür? Weil alles ein Missverständnis war oder eben nicht reicht für die Zukunft. Das ist es nicht wert.« Tristan schaute in den Himmel. Ich folgte seinem Blick, als stünde dort eine Antwort, aber ich fand nichts außer schweren Wolken, die uns den Blick in den Himmel verwehrten. Mein Blick wanderte zurück zu ihm. Die dicken Tropfen fielen in sein Gesicht. »Wieso sollte es das nicht wert sein?« Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder. War das sein Ernst? Keine Beteuerungen, dass seine Liebe ewig halten würde. Dass meine Schwester die Eine war. Dass wahre Liebe am Ende immer siegte. »Keine Ahnung, was nächstes Jahr ist«, sagte er. »Aber jetzt und heute und bestimmt auch morgen und übermorgen liebe ich sie, wie gestern und vorgestern und die Tage davor.« Er zuckte die Schultern, strich meiner Schwester eine Strähne aus dem Gesicht und lächelte, obwohl sie es unmöglich sehen konnte, erwiderte sie sein Lächeln. »Es gibt nie eine Gewähr«, sagte sie, »aber sollen wir uns deswegen nicht trauen, etwas zu fühlen?« Jedes Versprechen konnte gebrochen werden. Jedes Gefühl sich zu Ignoranz und Distanz häuten. Manchmal hinterließ Liebe nur Schmerz, manchmal nur Leere. Aber vielleicht war sie es wert? Ich atmete tief ein und Yugi stieß mir mit dem Ellenbogen in die Seite. Ich räusperte mich. »Okay, also du liebst ihn. Du liebst sie. Also so echt?«, brach aus mir hervor und Tristan warf mir einen angepissten Blick zu. Ich hörte Yugi leise seufzen. »Ich brauche nicht deine Erlaubnis oder deinen Segen«, knurrte Tris und wandte sich zum Gehen. Meine Hand schnellte hervor und ich packte seine Schulter. »Ich weiß«, seufzte ich, »ich weiß. Ich weiß aber nicht, was ich – also wie ich –« Der Stoff seiner Jacke war so nass, dass ich das Wasser zwischen meinen Fingern spürte, deren Kuppen so kalt waren, dass ich sie kaum mehr spürte. Trotzdem ließ ich ihn nicht los. Die Furcht, dass er verschwinden und sich nie wieder nach mir umsehen würde, wuchs und drückte auf meine Kehle. Wir waren doch immer im selben Team gewesen. Jede Auseinandersetzung, jede Meinungsverschiedenheit hatten wir mit einem Nicken, einem Handschlag bereinigen können. Dieses Mal war es anders. »Ich war ein Arsch. Es tut mir leid.« »Es tut dir leid. Also so echt?«, parodierte er meine Worte. Ich verdrehte die Augen, ließ aber nicht los und erwiderte seinen Blick, in dem Zorn waberte. »Ich war ein Arsch und Idiot und natürlich braucht ihr nichts von mir und so, aber ich bin voll bei euch.« Mein Verhalten anderen gegenüber war das Letzte – vor allem, wenn ich glaubte, im Recht zu sein. Mit einer Selbstgerechtigkeit und Sturheit, als wäre ich allein gegen den Rest der Welt. Die Sache war, dass ich oft genug nicht im Recht war. »Wenn ihr das wollt«, fügte ich hinzu und blinzelte unsicher in ihre Richtung. »Dir ist klar, dass damit nicht die ganze Sache geklärt ist«, erwiderte Tris ohne einen Hauch von Scherz. »Ja«, sagte ich, denn ich war unterwegs, versuchte die Dinge zurechtzurücken, meine Gedanken zu sortieren, meine Gefühle zu ordnen, für meine Fehler einzustehen und nicht mehr vor der Verantwortung davonzurennen, das zu verändern, was ich konnte. »Leute, ich brauche eure Hilfe«, flüsterte ich. »Es wurde auch Zeit«, schnaubte Tris und drückte meinen Kopf zwischen seine Arme und Brust. Yugi lächelte und Serenity schaute, als wäre sie bereit, jeder Spur zu folgen, ohne zu fragen, wohin sie führte. Mein Weg war verschlungen. Manchmal verlor ich den Pfad aus den Augen, aber die Sache war, dass ich ihn nicht allein finden musste. Kapitel 77: ... bin nicht genug -------------------------------  __________________________________________   Das Wichtige bedenkt man nie genug. Johann Wolfgang von Goethe __________________________________________           Ich feierte gerne. Geburtstage, Weihnachten, Halloween – egal welchen Anlass. Ich feierte jedoch nie mich selbst, denn dafür gab es keinen Grund. Der Gedanke war mir vielleicht auch einfach nie gekommen, weil es so absurd war. Es war eine Tatsache, dass ich nie genug war. Zumindest hatte ich das oft genug gehört, um es zu glauben.   »Nur eine Frage«, sagte Tris, »müssen wir dafür weiter so dramatisch im Regen stehen oder können wir dir auch irgendwo helfen, wo es trocken und warm ist?« Mein Blick schweifte über ihn und die anderen; wie wir hier standen, die Arme verschränkt und an uns gepresst, die Jacken durchnässt. Der Regen tropfte von meinem Pony in meine Augen, meine Finger waren taub wegen der Kälte und trotzdem war ich so zufrieden wie schon lange nicht mehr. »Heißer Kakao?«, fragte Yugi. »Die genialste Idee heute würde ich sagen«, erwiderte ich und wir schlenderten gemeinsam in Richtung Spielladen.   Als ich in Yugis Zimmer auf seinem Bett lungerte, meine Finger die warme Tasse umklammernd, hatte ich wieder das Gefühl. Ich stellte mir vor, dass sich so andere Menschen fühlten, wenn sie zu Hause waren. Jemand riss die Tür auf und ich verschüttete beinahe den Kakao über meinen Schoß. »Alter!« »Was habe ich verpasst?«, fragte Thea ohne Begrüßung und ließ ihre Tasche auf den Boden fallen, setzte sich auf den Schreibtischstuhl und ihr Blick hüpfte von einem zum anderen. »Ich bin ein Arsch. Yugi ist genial. Wir sind bei Kaibas Turnier angemeldet. Kaiba und ich haben einen riesen Streit. Ich bekomme anonym Messages, die mich richtig anpissen. Tristan liebt Serenity. Und ich versuche, alles wieder auf die Reihe zu kriegen.« Thea schaute mich an, als wäre sie kurz davor Papier und Stift hervorzukramen, um einen Plan aufzustellen. »Das klingt nach einem ganz normalen Tag in deinem Leben«, erwiderte sie trocken und bedankte sich bei Yugi, der ihr einen heißen Kakao eingoss. Ich seufzte und ignorierte das Vibrieren meines Handys, denn ich wusste, was ich sehen würde. In dem Moment zog Tris seins aus der Hosentasche und Yugi griff nach seinem Smartphone auf dem Beistelltisch neben seinem Bett. Beide erstarrten. Ich sah es in ihren Bewegungen, die einen Ticken unnatürlicher und an ihren Mimiken, die eine Spur aufgesetzter wirkten. »Er hat wieder etwas gepostet«, stellte ich fest und erwartete gar keine Bestätigung, die inzwischen völlig überflüssig war. »Er hat uns getagged«, murmelte Tris, ich schnaubte und dann fing ich an zu lachen und konnte nicht mehr aufhören – wie absurd war das alles? Ich wollte unbedingt berühmt sein! Wie lange hatte ich Kaiba deswegen beneidet, gehört zu werden, von so vielen Menschen, bekannt zu sein, Menschen zu beeinflussen, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie existierten – ich lachte so hart, dass mir die Tränen in die Augen stiegen – und jetzt erlangte ich diesen Ruhm, den ich nicht wollte, der mir das Gefühl von Erbrochenem die Speiseröhre hochjagte – und dann starrte ich irgendwohin an die Decke und schwieg. Bis vorhin hatte ich noch geglaubt, endlich alles herumreißen zu können. Einen wirklichen Schritt zu machen, der etwas bewirkte, aber vielleicht war das alles nicht genug. Vielleicht lag es nicht in meiner Macht. Alles war mir irgendwann über den Kopf gewachsen. Was sagte das über mich? Vielleicht war das der Unterschied zwischen Kaiba und mir. Er schaffte es, mit allen Seiten seiner Berühmtheit umzugehen. Ich ging darin unter. Vielleicht war ich nicht gut genug. »Weißt du, was mich echt irritiert?«, fragte Tris und legte seine Finger ans Kinn. »Momentan pisst mich außerhalb von diesem Zimmer so ziemlich alles an. Da musst du schon mehr ins Detail gehen«, erwiderte ich trocken. »Dass Christian es so krass auf dich abgesehen kann.« Tristan runzelte die Stirn und ich ließ seine Worte in meinen Gedankengängen wie ein Echo widerhallen, um sie zu begreifen. Irgendwie hatte ich hingenommen, dass Christian mich in den Fokus seiner absurden Gemeinheiten stellte, aber Tris hatte Recht. »Und diese Nachrichten. Es geht dauernd um Kaiba, klar, aber vor allem um dich und dass Kaiba dich irgendwann verraten wird oder du ihm trotz allem am Arsch vorbeigehst. Dass das Leben nicht fair ist und blabla«, fuhr er fort und blinzelte immer wieder auf sein Smartphone. »Klingt das für dich nicht auch danach, als hätte Christian das selbst erlebt?« Ich schnappte mir einen Keks von Yugis Beistelltisch, um etwas mit meinen zitternden Händen tun zu können. »Was meinst du?«, wollte ich wissen und schmatzte. Thea verdrehte die Augen, aber sagte nichts dazu. »Ich weiß es nicht. Aber das ist alles doch viel zu krass, als dass es nichts Persönliches wäre, oder? Glaubst du echt, er macht das alles und ist ansonsten völlig unbeteiligt?« In unserem Schweigen, gehüllt in Gedanken, die niemand aussprach, hörte man nur mein Kauen, während ich nachdachte. »Aber ich kenn den Typen nicht einmal. Außer, dass wir auf dieselbe Schule gehen, haben wir nichts gemeinsam.«   »Und Kaiba?« »Das hätte er mir gesagt, wenn er ihn kennen würde. Ich bin mir sicher, dass er nicht einmal seinen Namen kannte vor dieser ganzen Geschichte.« Meine Freunde tauschten Blicke. Kaiba hätte es mir gesagt – vor unserem letzten Streit. Mein Inneres verknotete sich. Vielleicht war es unser allerletztes Gespräch gewesen. Aber egal, wie wir manchmal drauf waren, wenn es hart auf hart ging, dann gab es da dieses Band zwischen uns, das kein Streit zerreißen konnte. Oder? »Wir brauchen eindeutig mehr Informationen«, sagte Thea, was bisher unausgesprochen im Raum stand. Ich hatte gespürt, wie sich zwischen unseren Silben etwas verändert hatte. Vielleicht war dieses Mal etwas zerrissen, das auch kein Knoten mehr zusammenbinden konnte. »Glaubst du, Kaiba kennt all seine Angestellten? Jeden, mit dem er mal Stress hatte? Wer ist eigentlich für die Entlassungen zuständig?«, fragte Tris und schlurfte seinen Kakao. »Keine Ahnung.« Ich stellte mir vor, wie Kaiba böse lachend beliebige Menschen mit einem Tritt vor die Tür der KC setzte. Das war natürlich Unsinn. Er würde das selbstverständlich delegieren und jemand mit der Position eines ›Stellvertretenden vor die Tür Beförderer‹ müsste die eigentliche Aufgabe übernehmen. Vielleicht würde es mich in Zukunft treffen und die Tür zu ihm würde für immer geschlossen bleiben. »Du glaubst echt, er hat für Kaiba gearbeitet? Nie im Leben. Er wollte ja nicht einmal mich. Als Mitarbeiter.« Meine Freunde tauschten schon wieder einen Blick. »Nicht, dass ich besonders qualifiziert gewesen wäre, aber – ihr wisst schon, was ich meine.« Bei ihren Mimiken fürchtete ich, dass sie viel zu viel interpretierten und viel zu wenig wussten. »Und irgendjemand aus Christians Familie? Freunde?«, stocherte Thea weiter. »Irgendeine Verbindung zu Kaiba muss es geben, wenn er so auf ihn fixiert ist.« Ich zuckte mit den Schultern. Ich kannte Christian nicht, wusste nur, dass er ein Arsch war, das hatte mir bisher genügt. Aber mir wurde bewusst, dass das nicht reichte, um ihn zu besiegen. Und genau das wollte ich tun. Gegen ihn ein für alle Mal gewinnen in diesem bizarren Spiel aus Lügen und Fakten. Und eine neue Chance haben. »Dann wäre Kaiba doch ein guter Start«, erwiderte Thea, als könnte sie meine Gedanken lesen. »Gut, wer fragt den?«, fragte ich und schob mir zwei Kekse in den Mund. Meine Freunde schauten mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und ich spürte, wie meine Gesichtszüge Gleis um Gleis entgleisten. »Nein, Moment. Echt nicht. Wir hatten einen mega krassen Streit. Er wird mit mir keine zwei Wörter wechseln«, sagte ich, verschluckte mich an den Keksen und hustete. Vielleicht war das ein Omen. Ein schrecklicher Blick in die nahende Zukunft. Der Sarkasmus ließ sogar meine Gedanken triefen. »Außer vielleicht ›tötet ihn‹«, murmelte ich, nachdem ich meinem Kekstod knapp entronnen war. Tris hatte nicht einmal den Anstand, sein Grinsen zu vertuschen. »Ihr habt keine Ahnung, was ich ihm alles an den Kopf geworfen habe«, flüsterte ich und hielt mich an dem halb abgebissenen Keks fest, als könnte er mich davor bewahren, in der Erinnerung an unser Gespräch wie in einem Moor zu versacken. »Ich denke, wir haben da doch die ein oder andere Idee«, murrte Tris, sein Amüsement mit einem Male wie weggeblasen, und winkte dann ab, als hätte er seinen Gedanken nicht absichtlich ausgesprochen. Vielleicht wollte er mir gerade auch nur nicht noch mehr auflasten. Mir war aber klar, dass unser Gespräch nur aufgeschoben war. »Ich dachte, du wolltest alles in Ordnung bringen«, erwiderte Thea in ihrer typischen ›keine Ausreden‹-Manier. »Ich dachte, ihr helft mir«, murrte ich, doch spürte dabei dieses Stechen aus Schuld. Niemand musste mir zur Seite stehen. In letzter Zeit hatte ich hier jeden verletzt und das in den Augenblicken oft mit voller Absicht, ohne Rücksicht auf die Folgen meiner Worte und Taten. Und trotzdem saßen sie hier und schmiedeten mit mir abstruse Pläne. »Wir helfen dir. Hilfe zur Selbsthilfe nennt man das.« Sie zwinkerte mir zu und ich wollte sie mit dem Kopf voran in die Toilette tunken. So etwas tat ich natürlich nicht. Nicht mehr. Und natürlich wusste ich trotz des Chaos in meinem Inneren, dass Thea Recht hatte. Nicht, dass ich das laut zugeben würde. »Na gut«, murrte ich. »Gleich morgen –« Thea räusperte sich. »Gleich heute«, korrigierte ich mich mit einem finsteren Blick, »gehe ich zu ihm. Die Frage ist, ob ich wieder lebend zurückkomme.« Serenity kicherte, Thea schnaufte amüsiert, Tristan grölte. Nur Yugi warf mir einen mitfühlenden Blick zu.   Manche Dinge konnte man nicht mehr zurücknehmen, manchmal war eine Entschuldigung nicht genug, aber nur ich war in der Lage es zu versuchen, also stand ich hier und starrte auf sein Namensschild. Wer Kaiba an einem Wochenende in seinem Zuhause im Villenviertel suchte, kannte ihn verdammt schlecht. Natürlich saß er um die Uhrzeit in seinem Büro, das alles in Domino zu überragen schien und sein ohnehin zu großes Ego noch weiter in die Höhe trieb. Meine Befürchtung war, dass er eines Tages vor lauter aufgeblasenem Getue in die Luft steigen und davon treiben würde und dann stünde am nächsten Tag in der Zeitung ›Seto Kaiba – übertrieben großes Genie nur von seinem eigenen übertrieben aufgeblasenem Gehabe überflügelt‹ oder so. Was mich dagegen überraschte war, als mich die Security ohne meine irrwitzige Erklärung, warum ich unbedingt mit dem ach-so-tollen Seto Kaiba an einem Wochenende in seinem Büro sprechen musste, ins Gebäude ließ – statt mich festzuhalten, um mich von der Polizei verhaften zu lassen. »Keine Sorge, mich lässt er auch warten«, sagte jemand und ließ sich hinter mir auf den Sitz im Wartebereich fallen. Mokuba schaute mich an und neigte seinen Kopf. »Ich habe noch nicht geklopft«, grummelte ich und knetete meine Hände. »Seit wann klopfst du?«, fragte Mokuba verschmitzt, dann seufzte er. »Okay, was hast du dieses Mal gemacht?« »Er hat es dir doch bestimmt erzählt.« Mokuba schüttelte den Kopf. »Er erzählt mir schon lange nicht mehr alles«, murmelte er. Ich starrte an die Wand gegenüber, die in einem perfekten Weiß gestrichen war – ein abstraktes Bild, blau und weiß, zierte den Flur – und ich fragte mich, ob irgendein Mensch überhaupt jemandem alles erzählen konnte. Ob wir nicht alle aus Puzzleteilen bestanden, die wir versuchten zusammenzusetzen und jeder puzzelte ein bisschen an dem Ganzen herum. Ohne Abbildung, ohne Anleitung. »Warum glaubst du, war ich es? Und nicht er?« Mokuba zuckte die Schultern, als wäre das offensichtlich. »Dann würdest du einfach durch die Tür platzen. Es muss also etwas sein, das dich hier warten lässt. Und wie die ganze KC weiß, ist das nicht irgendeine Etiquette. Also hast du etwas gemacht, was dich zögern lässt. Du hast ein schlechtes Gewissen.« Ich war noch immer der Meinung, dass solche Wörter wie Etiquette nichts im Wortschatz eines Kindes zu suchen hatte. Aber dann betrachtete ich Mokuba von der Seite. War er noch ein Kind? Hörten Kaibas grundsätzlich früher auf Kinder zu sein und wachten eines Tages als kleine Erwachsene auf? »Ich bin mir sicher, dass er seinen Teil dazu beigetragen hat«, fuhr er unbekümmert fort. »Wenn ich nur wüsste, wer wann mit was angefangen hat, dann wäre es vielleicht leichter, jedem die richtige Portion Schuld zuzuschieben«, murmelte ich. Mokuba schnaufte amüsiert, obwohl hinter diesem Satz eine komplizierte Wahrheit steckte. Vielleicht gerade deswegen und weil manches nur mit Humor zu ertragen war. Mit einem Seufzen erzählte ich ihm, was zwischen Kaiba und mir hin und her geflogen war und weil ich gerade dabei war, erklärte ich auch, dass ich plante, die Angelegenheit mit Christian endgültig zu beenden. »Mh.« Wahrscheinlich war das die einzig angemessene Reaktion. »Und was hast du so über ihn bisher herausgefunden?« »Naja, das Waisenhaus und so. Und Sarah hat ein bisschen –« »Nicht über meinen Bruder«, seufzte Mokuba, »über Christian.« »Ah. Nur das, was wir eh schon wussten. Er ist ein Bully und ich bin momentan sein Lieblingsopfer. Aber wenn wir ihn nur hart genug treffen, dann hört er vielleicht auf. Wir brauchen halt irgendetwas, was ihn richtig fertig macht.« Tatsächlich hatte ich mich bisher eher auf meine Probleme als deren Lösung konzentriert. Doch das war vorbei. »Das ist einfach«, erwiderte Mokuba erschreckend abgeklärt. »Was macht man als erstes, wenn man etwas über einen Menschen herausfinden möchte?« »Mit ihm reden?«, schlug ich vor. »Manchmal bist du wirklich naiv.« Mokuba zog sein Smartphone aus der Jackentasche und öffnete alle möglichen Social Media Apps. Ich schlug mir innerlich gegen die Stirn. Natürlich. Wir mussten ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen. »Kannst du dich in seine Social Media-Accounts hacken oder was?« Vor meinem inneren Auge sah ich uns wild tippend an Laptops, grüne Zahlen flimmerten über die Bildschirme und wir trugen Brillen. Aus irgendwelchen Gründen. Mokuba schaute mich mit verengten Augen an. »Fragst du das ernsthaft?« Meine Hacker-Fantasien verblassten. »Naja«, murmelte ich ernüchtert und starrte auf dieses grässliche Bild abstrakter Kunst. Ich verabscheute diese nichtssagenden Formen. Was sollte das überhaupt darstellen? »Natürlich kann ich das«, riss mich Mokubas Stimme aus meinen Überlegungen. »Aber das ist in den meisten Fällen nicht einmal nötig. Lass uns mal schauen, was er alles so hochgeladen hat oder – was meist viel interessanter ist – was seine Freunde so in ihren alten Alben haben.« Nicht der erste Moment, in dem ich unheimlich froh war, dass Mokuba in meinem Team spielte. Jemand stieß die Tür auf und ich zuckte zusammen, wie ein Kind, das bei einer Dummheit erwischt wurde. »Was machst du hier?«, grollte Kaiba wie ein Gewitter, das aufzog. »Nichts«, antwortete ich mit der offensichtlichsten Lüge in der gesamten Kommunikation der Menschheit und wandte mich ohne ein weiteres Wort zum Gehen. Niemand rannte mir hinterher. Kein Wort fiel, um mich aufzuhalten. Ich floh und niemand hielt mich fest. Das war okay, wiederholte ich in meinen Gedanken. Vielleicht war es nicht genug. Das alles, was zwischen uns war. Vielleicht waren wir ein Augenblick, der mit unserem letzten Gespräch verlöscht war.   Momente blitzten in meinem Kopf auf, als ich im Bett lag und versuchte, alles von mir zu schieben. Ich wälzte mich hin und her und spürte etwas an meinem Fuß. Instinktiv zuckte ich zurück. Mit rasendem Herzen schaltete ich die Nachttischlampe ein, tastete zwischen den Stoff nach dem knisternden Ding und zog einen Briefumschlag unter meiner Decke hervor. Das Emblem der Kaiba Corporation prangte auf dem Papier. Wie kam das hierher? Mein Blick wanderte über das Chaos in dem Zimmer, in dem der Verpackungsmüll noch immer auf dem Boden verteilt lag, wie eine Show abstrakter Kunst. Hatte dieser Brief der Dueldisk beigelegen? Hatte ich das beim Auspacken echt übersehen? Ich betrachtete den Brief, als wäre eine Explosion darin versteckt. Obwohl Kaiba meinen Tod sicherlich eleganter inszenieren würde. Ich wog ihn hin und her, als gäbe es tatsächlich eine Alternative zu dem Offensichtlichen. Ich riss ihn auf. ›Diese Dueldisk ist nicht für drittklassige Duellanten geeignet. S. K.‹, stand da in seiner feinen Schrift wie aus einem Lehrbuch zur Kalligraphie. Dieser Arsch. Dieses arrogante Arschloch. Ich hatte es so oft aus seinem Mund gehört, diese abfällige Bemerkung, als wäre ich kein vollwertiger Teilnehmer diverser Turniere gewesen. So oft waren da diese Blicke von Menschen gewesen, Kommentare von Leuten. Irgendwann glaubte man selbst, dass man es nicht schaffen konnte, dass man nicht genug war. Irgendwann verlor man den Kampfgeist und gab sich den Meinungen anderer hin. Ich zerknüllte den Brief. Aber das hatte ich lang genug getan. Ich war verdammt nochmal Joey Wheeler und ich würde nicht mehr nicht an mich glauben. Es war Zeit für das Finale. Kapitel 78: … bin skrupellos ---------------------------- __________________________________________   [...] Auch Typen die ich einst mal sah, brachten beste Freunde in Gefahr, sie waren skrupellos und dreist, charakterlich total vereist. [...] © Horst Rehmann __________________________________________           Ich verstand keinen Spaß. Wenn Menschen verletzt wurden, die mir nahestanden, tat ich alles, um die Gerechtigkeit für sie wiederherzustellen. Ich griff an, um sie zu verteidigen, denn manchmal gewann man nur ohne Skrupel. Darin waren Kaiba und ich uns erschreckend ähnlich.   Montagmorgen schlenderte ich über den Schulhof, kickte einen Kieselstein vor mich her und wartete. Die Sonne stierte herunter und die Luft trug bereits früh am Morgen die Botschaft der Hitze, die das Gras zu Stroh verbrannte. Ich strich mir meinen Pony zurück und während ich Ausschau hielt, überschwemmte mich eine Gänsehaut, die gar nicht zum staubigen Wetter passen wollte. Die Schule war für mich wie eine viel zu enge Jacke, an der jeder riss und während ich versuchte, damit klarzukommen, dass sie mir nicht passte, verzog sich der Stoff und die Nähte und drückten meinen Brustkorb zusammen wie ein Korsett. Ich atmete tief durch, um die Platzangst zu kontrollieren und zählte. Ich kam bis acht, als Mokuba vor mir auftauchte. »Du bist tatsächlich hier«, begrüßte er mich und ich schnaubte. »Natürlich. Als würde ich mich davor drücken, pf.« Mokuba warf mir einen Blick zu, der mich mit den Schultern zucken ließ. »Ich meine – ab jetzt und so, ich muss die Dinge jetzt echt regeln. Es reicht mir, Sachen aufzuschieben.« »Und was sagt mein Bruder dazu?«, fragte er und ich fuhr zusammen. »Eine Sache nach der anderen«, grummelte ich, klammerte meine Finger um den Schulranzen, durch den die verdammte DuelDisk in meine Nieren drückte und er legte seine Hand auf meine Schulter, als wollte er mir von seiner Unerschütterlichkeit ein paar Gramm abgeben – oder als befürchtete er, ich würde doch abhauen. »Gut, dann diese Sache zuerst«, begann er und zückte sein Smartphone und streckte es mir hin. »Social Media vergisst nie.« Im Vordergrund standen zwei Freundinnen, die scheinbar grölten, Plastikbecher in die Luft reißend, völlig uninteressant. Was meinen Fokus auf sich zog, war der Hintergrund des Fotos. »Aber das ist nicht möglich«, murmelte ich. Jemand hatte ihn im Hintergrund des Fotos getagged. Er stand da an jemanden gelehnt, ihre Blicke ineinander verwoben. Ihre Finger berührten sich. Mein Kiefer klappte auf. »Wir könnten es etwas aufpolieren und dann an alle in der Schule senden«, schlug Mokuba vor. »Ein bisschen die Helligkeit korrigieren und so.« Ich starrte die Person auf dem Bild an. »Das wird ihn heftigst treffen«, flüsterte ich, als wollte ich niemanden spoilern. Mokuba screenshotete das Bild, bearbeitete es in einer App, regelte die Helligkeit hoch, korrigierte die Farbsättigung und legte einen Filter darüber. Es wäre beinahe so etwas wie Kunst gewesen, ginge es nicht um die Person, um die es eben ging. »Was willst du jetzt damit tun?«, fragte Mokuba, während er mir das bearbeitete Foto sendete und ich zögerte. »Ich weiß es nicht«, murrte ich, obwohl ich ihn doch rächen sollte, für mich selbst einstehen und endlich alles herumreißen. Der Schulhof füllte sich, wie Fliegen, die sich um einen Hundehaufen sammelten. Ich verzog meinen Mund. »Und was hast du jetzt vor?«, fragte Mokuba. Ich atmete ein, ließ meinen Blick über das Schulgelände wandern; wie viele Stunden ich hier eingekesselt gewesen war, wie oft ich mir ausgemalt hatte, einfach zu verschwinden und nicht mehr zurückzukehren. Wie eng es hier war. Ich atmete aus. »Ein bisschen Alltag vielleicht, bevor sich alles ändert«, antwortete ich, zog meinen Rucksack über eine Schulter, spürte, dass sich die DuelDisk gegen meine Bewegung lehnte und beobachtete, wie Yugi neben Thea auf uns zuschritt, Tris die Hand hob, als wäre alles wieder, wie es sich gehörte und mein Herz pochte in meinen Beinen. Ich hätte fast so zu tun können, als wäre meine Tour der Gerechtigkeit erfolgreich, wäre nicht in diesem Moment ein weißer Mantel am Schultor aufgeblitzt. Zu fliehen war mein erster Impuls, aber kein Protagonist in einem Videogame würde vor dem Endboss abhauen, also straffte ich meinen Rücken, schulterte meinen Rucksack und stierte in seine Richtung. Meine Knie wurden absolut nicht weich. Meinen Bauch überschwemmten keine eiskalten Wellen. Meine Hände kneteten nicht den Stoff meines Shirts, um irgendetwas zu finden, das mir Halt gab. Er schaute mich an. Nicht an mir vorbei, ließ seinen Blick nicht über mich schweifen, um an mir vorbeizuschreiten, als wäre ich nur ein Schüler von vielen. Er sah mich. »Wheeler«, sagte er statt einer Begrüßung, mein Atem stotterte. In Filmen begann an dieser Stelle ein Themesong und jeder Zuschauende wusste, jetzt käme der Höhepunkt ihrer Begegnung und endlich würde sich alles so fügen, wie es sich doch alle von Anfang an gewünscht hatten, weil er die richtigen Worte fand, um seine Gefühle, seine Fehler, seine Gedanken und Hoffnungen und alles, was zwischen ihnen stand, in wunderschön melodische Silben zu packen. Aber in der Realität spielte keine Hintergrundmusik. Es gab keine Sätze, die ausdrücken konnten, was wir waren. Und ich erstarrte. »Bis später, Mokuba«, sagte er, drückte die Schulter seines Bruders und nickte den anderen kurz zu, als würde er nicht gerade mit jedem Zentimeter, den er an mir vorbeischritt, ein Puzzleteil meines Daseins herauspicken und hinter sich verstreuen. Irgendein total berühmter Schriftsteller hatte sicherlich genau für diese Situation die Worte geschrieben, die diese Szene herumreißen würden. Poetische Erklärungen, dass der Mensch fehlerhaft war in einer fehlgeleiteten Welt, in der Strukturen herrschten, die uns zu Ungerechtigkeiten antrieben und zu Sätzen, die die Menschen verletzten, die wir am meisten beschützen wollten, Menschen, die uns ähnelten und sich gleichermaßen dermaßen von uns unterschieden, dass wir uns gegenseitig beflügelten und gleichzeitig die Flügel stutzten. Dass wir zueinander gehörten, aber uns niemals innehätten, weil wir uns selbst gehörten. Dass wir uns jeden Tag auf die Suche nach der Balance begaben, so dass die Luft uns trug und nicht der Sturm unter sich begrub. Ich fuhr herum, öffnete den Mund, aber in meinem Kopf kläffte lediglich ein Golden Retriever. Meine Finger ballten sich, doch ich schaffte es nur aus der Ferne zu beobachten, wie er sich entfernte. Meter für Meter, Gefühl um Gefühl. »Joey«, flüsterte Yugi und ich wusste nicht, seit wann die Stimme in meinem Kopf, wenn ich glaubte, etwas doch schaffen zu können, nicht mehr die seine war. »Es tut mir leid!«, schrie ich ihm hinterher und Kaiba verharrte, ohne zurückzublicken. Stattdessen wandten sich mir andere Gesichter zu, manche, die mir vorher noch nie aufgefallen waren in dieser Masse an halbfremden Mimiken. »Manchmal bist du ein Arsch und manchmal ich und dieses Mal war ich es und es tut mir leid. Und ich weiß, das sind nur Wörter und ich bin echt nicht so gut mit Wörtern wie du, weil du ein verdammt eloquenter Arsch bist und ich eher so der Arsch mit Bleistift, aber ich wollte keiner sein und –« Ich verschluckte mich an diesen Silben, die in meinen Gedanken noch Sinn ergaben, aber in dem Augenblick, in dem ich sie über den Schulhof kreischte, nur noch Gebrabbel war. »Und meistens sind wir keine Ärsche, sondern –« Die DuelDisk quetschte sich in meinen Rücken und die Wut, die mich gestern Abend noch in ihren Klauen hatte, verrauchte, als ich ihn über die Köpfe teilanonymer Teenager anstarrte und etwas begriff. »Du hast sie mir gesendet.« Er fuhr sich durchs Haar und endlich schien mein innerliches Chaos äußerlich auf ihn abzufärben. »Kommst du jetzt mit oder soll ich hier noch weiter auf dich warten?«, rief er, eine Hand in der Hosentasche, die andere um den Griff des Aktenkoffers. »Ja«, erwiderte ich, »also nein.« Ich stolperte halb über meine eigenen Füße, nuschelte ein »bis gleich, Leute« und folgte meinem Bauchgefühl, bis ich neben ihm stehen blieb, meine Schulter einen Moment seine berührte und wir gemeinsam ins Schulgebäude traten. »Ich meine«, murmelte ich, »du hast sie mir gesendet.« Er verdrehte die Augen. »Es mag wahrscheinlich wirklich eine unglaublich unverständliche Information für dich sein, aber ich kann deine Gedanken nicht lesen. Andernfalls wäre ich sicherlich schon dem Wahnsinn verfallen.« Mit einer Bewegung ließ ich den Rucksack von meiner Schulter in meine Arme gleiten, riss den Reißverschluss auf und starrte die Dueldisk an, als sähe ich sie zum ersten Mal, entknüllte den Zettel, die Worte stachen in meine Augen, quetschten sich in mein Bewusstsein. ›Diese Dueldisk ist nicht für drittklassige Duellanten geeignet. S. K.‹ »Du willst immer noch, dass ich an dem Turnier mitmache?«, fragte ich statt einer Antwort. »Das ist nicht die Frage.« »Sondern?« Er zwickte sich zwischen seine Augenbrauen, als versuchte er, Kopfschmerzen zu bändigen, dann blieb er mitten im Eingangsbereich stehen, wandte sich zu mir, die Schulglocke ertönte, an uns vorbei drängelten sich Schülermassen, doch wir verharrten unbeweglich. »Was. Willst. Du?«, betonte er jede Silbe. Und irgendwo in meinen Gedanken ploppten Erwiderungen auf diese Frage auf, wie Kieselsteine, die der Fluss wegspülte. Ich versuchte, nach ihnen zu greifen, aber zog nur schlammiges Wasser durch meine Finger. Unsere Mitschüler strömten an mir vorbei und ich spürte, wie ich in dieser Masse unterging. Ich war so lange nur einer von vielen gewesen. Was wollte ich? Nicht, was hatte ich getan? Oder was hatte ich nicht getan? Nicht, wo hatte ich versagt? Nicht, was hatte ich versäumt? Was wollte ich? Kein Blick zurück, sondern direkt in seine Augen. Nicht, wer warst du? Sondern, wer willst du sein? Das Wasser klärte auf und ich sah die unzähligen Steinchen zwischen all den Möglichkeiten glitzern. Nicht, wer denken die anderen, müsstest du werden? Sondern, was willst du? »Ich will meinem Vater helfen, ich will raus hier, nicht raus aus dem Gebäude, ich meine, wirklich irgendwo ganz nach da draußen, in die Welt, etwas sehen, ich will beim Turnier mitmachen, ich will irgendwas mit Kunst studieren und ich will mit dir zusammen sein.« In einem Film liefe Hintergrundmusik, stattdessen lauschte ich dem Rauschen in meinen Ohren, die mit jeder Sekunde, in der er nichts erwiderte, heißer brannten. Irgendein total berühmter Schriftsteller hatte sicherlich genau für diese Situation die Worte geschrieben, die diese Szene herumreißen würden. »Bin ich dir peinlich?« Er presste seine Lippen aufeinander und griff sich ins Haar, als suchte er Halt. Ohne ein Wort wandte er sich ab. Natürlich. Auf manche Fragen brauchte man nichts zu sagen, um sie zu beantworten. »Gut«, murmelte ich und spürte wie mein Herz mir in die Kniekehlen sackte. Obwohl ich wütend sein wollte, denn Wut war besser als dieses Gefühl gerade, füllte Leere meinen Bauch. »Du begreifst es nicht, Wheeler«, murmelte er, fuhr sich durchs Haar, griff mit seinen Fingern hinein, als wäre die ganze Szene zum Haare raufen. »Alles, was du tust, wird beobachtet, dokumentiert und kommentiert. Jeder wird eine Meinung über dich haben. Wenn du in einigen Wochen oder Monaten«, ich machte ein geringschätziges Geräusch und ich glaubte, seine Mundwinkel zuckten, »oder Jahren nichts mehr von mir wissen willst, wirst du trotzdem das Internet voller Bilder von uns haben. Momente, die jedem anderen nur selbst gehören, werden für jeden sichtbar festgehalten. Jeder«, er räusperte sich, »deiner zukünftigen Partner oder Partnerinnen wird es sehen können. Sie werden googlen und Dinge finden, die du lieber für dich behalten würdest oder ihnen selbst erzählen.«  Er seufzte. »Wenn du das hier irgendwann nicht mehr willst, wirst du trotzdem dein Leben lang damit klarkommen müssen. Denn es wird niemals ganz verschwinden.« Ich lachte leise. »Natürlich wird es das nicht.« Dafür hatten wir zu viel zusammen durchgemacht. »Ich hatte echt lange keinen Plan und vielleicht merke ich in ein paar Wochen, Monaten oder Jahren, dass ich etwas Anderes will«, ich zuckte die Achseln, »aber du hast nicht gefragt, was ich wollen werde, sondern was ich will. Die Frage ist jetzt, was willst du?« Kaiba war ein verdammt eloquenter Mensch. Ihm traute ich zu, einer dieser Schriftsteller zu sein, die genau die rechten Worte für genau diese Situation formulierten. Ein Komponist, der die passende Hintergrundmusik auf seinen wireless Kopfhörern abspielte und eine Alltagsszene in einen Filmmoment verzauberte. Doch er sagte gar nichts. Dann spürte ich, wie seine Fingerkuppen meine berührten, erst wie ein Windhauch, dann wie sein unerschütterlicher Griff. »Wir sind seltsam, oder?«, lachte ich, schaute uns an, wie wir da auf dem leeren Schulflur standen. »Lediglich zwei Ärsche, die spät dran sind«, erwiderte Seto, seine Finger in meine verschlungen. Und genau so kam ich zum ersten Mal in meinem Leben nicht allein zu spät zum Unterricht. Endlich wusste ich wieder, wer ich sein wollte. Er wird dich verlassen und von dir wird nichts mehr übrig sein, blinkte die anonyme SMS auf, während ich eine Mind-Map erstellte und ich wusste, was ich wollte. Alle um euch herum werden darunter leiden, wenn du ihn nicht zuerst fallen lässt. »Er hat es nicht anders verdient«, tippte ich unter meinem Tisch ins Handy und stellte das Meme online. Du wirst es bereuen, so wie es Mokuba bereut. Ich verstand keinen Spaß. Wenn Menschen verletzt wurden, die mir nahestanden, tat ich alles, um die Gerechtigkeit für sie wiederherzustellen. Ich griff an, um sie zu verteidigen, denn manchmal gewann man nur ohne Skrupel. Nur dann schaffte ich es, endlich der zu werden, der ich sein wollte. Darin waren Kaiba und ich uns erschreckend ähnlich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)