Was wir sind von Jaelaki (Seto & Joey | Puppyshipping) ================================================================================ Kapitel 66: ... bin auf deiner Seite ------------------------------------ __________________________________________   Jeder Mensch hat seine schwache Seite. Sprichwörtliche Redensart   __________________________________________           Ich war keine Führungspersönlichkeit. Dafür brauchte man Charisma, geniale Fähigkeiten und einen Plan. Ich war eher der Typ, der morgens aufwachte und nicht wusste, was mittags anstand. Ich folgte. Aber nicht denen, die glaubten Führungspersönlichkeiten zu sein, sondern lieber meinem eigenen Bauchgefühl. Kaiba führte. Aber nicht die, die glaubten, eine Führungspersönlichkeit zu brauchen, sondern lieber die, die auch allein klarkamen.   Wir schwiegen eine ganze Weile. Jeder hing seinen Gedanken nach. Sarah war bei meiner Mutter. Ab und zu hörten wir sie lachen oder in der Küche herumwerkeln. Wahrscheinlich tranken sie Kaffee und redeten über uns. Bei dem Gedanken stülpte sich mir der Magen um. Was würde meine Mutter Sarah erzählen? Würde das Sarahs gute Meinung von mir verändern? Oder umgekehrt. Was würde Sarah meiner Mutter sagen? Mir platzte fast der Kopf. Es wäre also totaler Schwachsinn zu glauben, es wäre jetzt plötzlich alles gut. So lief das nicht im Leben. Das passierte nur in schlechten Soaps und diesen Büchern, in denen komischerweise immer ein armes Mädel mit einem reichen Geldsack durchbrannte und ihm alles verzieh, nachdem er sie total verarscht hatte. Welcher halbwegs klarer Mensch würde so eine Beziehung wollen? Das würde mir nie passieren. »Ja, Joey hat Recht«, murmelte Mokuba. Ich schaute ihn an und er seufzte, ließ sich auf mein Bett fallen und starrte an die Decke. Dann begann er zu erzählen. Immer schneller, immer mehr, als hätte sich der Wortschwall über Wochen aufgebaut und würde jetzt endlich wie ein Ventil geöffnet. »Christian hat öfters in der Schule oder auf dem Heimweg versucht mit mir zu reden. Er war höflich und alles, aber irgendwie hatte ich keine Ahnung, was er wirklich will und es war mir auch ehrlich gesagt egal, also habe ich mich nie länger mit ihm unterhalten. Irgendwann auf dem Schulfest hat er mir gesagt, dass er mich bewundert. Wie ich es aushalte mit –« Er schnaubte. »– mit meinem Bruder. Dass er selbst ja durchdrehen würde, immer nur in der zweiten Reihe zu stehen. Dass ich das nicht verdient hätte, dauernd übersehen zu werden.« Mein Blick wanderte von Mokuba, der immer noch auf meinem Bett lag und die Zimmerdecke fixierte, zu Kaiba, der aus dem Fenster starrte und doch so präsent war, als rechnete er jeden Augenblick damit, Rede und Antwort stehen zu müssen. »Dabei ist das für mich gar keine Sache. Und das habe ich ihm auch gesagt«, fuhr Mokuba fort und machte eine Bewegung als würde er Christians Bemerkungen wegwerfen. Ich runzelte die Stirn. Mokuba wollte gar nicht wirklich im Mittelpunkt stehen? Sein Problem war nicht, ein berühmtes Genie als Bruder zu haben? »Ich wollte nie den ganzen Medienscheiß mitmachen müssen wie du«, sagte Mokuba und jetzt schaute er Kaiba an, dessen Blick zu ihm sprang. »Das ganze dumme Geschwätz in den Zeitungen und jeder denkt, er weiß am besten Bescheid und dabei haben die alle doch gar keine wirkliche Ahnung.« Mokuba verdrehte die Augen und über Kaibas Lippen huschte ein Grinsen. »Jeder kommentiert, wann wo mit wem du übers Wetter redest und was du dabei anhast.« Ich hatte diesen Medienzirkus nur kosten dürfen und es ging mir schon auf die Eier. Kaiba machte das mit, seitdem er zwölf war. So gesehen war es kein Wunder, dass er ein egozentrischer Arsch geworden war. Ich presste meine Lippen aufeinander, um bei dem Gedanken nicht zu grinsen. »Und dann kommt natürlich noch das Geschäftliche dazu. Der eigentliche Job. Immer oben mit dabei zu sein, sich nicht von der Konkurrenz fertig machen lassen, ständig neue Ideen zu entwickeln, umzusetzen, zu vermarkten und erfolgreich damit sein zu müssen. Immer Druck und Meinungen von allen Seiten.« Kaiba seufzte. Ein Geräusch, das er so selten von sich gab, dass ich es an einer Hand abzählen konnte. Er setzte sich auf meinen Schreibtischstuhl, schlug beide Beine übereinander und lehnte die Fingerspitzen aneinander. »Mir war nicht klar, dass du –« »– keine sechs Jahre mehr alt bist und ein bisschen weißt, wie das läuft? Und dabei habe ich noch gar nichts zu dir selbst gesagt.« Kaiba sah aus, als hätte Mokuba ihm offenbart, er hätte gewisse Magazine unter dessen Bett gefunden. Oder eine verschlüsselte Datei auf einem geheimen Computer mit äußerst pikanten Details. »Glaubst du echt, ich wüsste nicht, dass du dich selbst am heftigsten kritisierst?«, fragte Mokuba und hob eine Augenbraue. Früher hätte mich so ein Kommentar aus allen Wolkenkratzern mit dem Logo der Kaiba Corporation gerissen. Ein Typ, der so jung aus eigenen Kräften Millionär geworden war, würde sich doch selbst nie fertig machen können, oder? So einer musste begreifen, wie weit er es gebracht hatte. Wahrscheinlich dachte so jemand, er könnte nichts mehr falsch machen, weil er so viel gewonnen hatte. »Du sagst immer, wir wären ein Team. Dass uns niemand auseinanderbringen kann. Du hast mir damals versprochen –« »Dass ich es niemals zulassen würde, dass uns jemand trennt. Dass ich dich nie allein lassen würde.« Aber wer so viel gewann, hatte auch eine Menge zu verlieren. »Ja«, hauchte Mokuba und räusperte sich. »Aber zu einem Team gehören mindestens zwei Menschen. Und ich kapiere einfach nicht, warum du nicht kapierst, dass ich auf deiner Seite bin. Aber dauernd stößt du mich weg.« Manchmal brauchte es keine Feinde, die uns an unserem Glück hinderten. Keine obskuren Pläne von Dritten, um uns von unserem Weg abzubringen, von den Dingen wegzulocken, die doch eigentlich am wichtigsten waren. »Du redest nicht mehr mit mir, wenn du nicht klarkommst. Früher hast du mir alles anvertraut. Jetzt sperrst du dich in dein Büro und manchmal sehe ich dich tagelang nicht oder nur ganz kurz, weil du so spät nach Hause kommst. Wenn überhaupt.« Ich sah, wie Kaiba kurz seine Augenlider zupresste, als hätte er einen Hieb abbekommen. »Und manchmal vergisst du anscheinend, dass ich dir auch Sachen sagen will. Aber ich weiß nicht, wie. Manchmal glaube ich, dass du mich gar nicht siehst oder hörst.« Kaiba öffnete seinen Mund, aber schloss ihn wieder. Vielleicht, weil er begriff, dass er Mokuba spätestens jetzt zuhören musste. Vielleicht, weil er nicht wusste, was er dagegenhalten sollte. »Und manchmal habe ich das Gefühl, du guckst mich an und siehst nicht wirklich mich, sondern mich als ich sechs Jahre alt war.« Ich wusste, wie er als Kind ausgesehen hatte. Obwohl er noch immer etwas Kindliches hatte, konnte man inzwischen erahnen, dass das nicht mehr lange so bleiben würde. »Sarah hat mir Fotos gezeigt.« Vor meinen Augen erschienen sofort Bilder. Mokuba der lachend die Hand seines großen Bruders hielt und die eines Mannes, der ihnen unglaublich ähnlichsah. Mokuba, der die Arme um die Beine einer jungen Frau schlang. »Fotos von Mama und Papa«, erklärte Mokuba und lächelte. Kaibas Mimik glich einer steinernen Maske. »Ich war unendlich glücklich deswegen. Sie haben da auch so froh ausgesehen – wir alle. Es war so ein wunderschönes Gefühl irgendwie, die Bilder zu sehen und plötzlich waren Mama und Papa – das klingt voll bescheuert, aber da waren sie real. Und dann war ich –« Mokuba schluckte. »– unendlich traurig«, sagte Kaiba langsam. Wenn man bei der Erinnerung an jemanden in Glück schwamm, aber gleichzeitig in Schmerz zu ertrinken drohte. Wenn die Freude von Trauer durchwebt war und jede Erinnerung bittersüß. Mokuba nickte stockend. Wenn man sich fragte, ob es Erinnerungen waren oder doch nur Hirngespinste, die man sich wieder herbeisehnte, die aber niemals real gewesen waren, sondern nur einem Kindergehirn entsprangen, das sich eine heile Familienwelt wünschte. Ich biss auf meine Lippe. »Ich war richtig traurig, weil für einen ganz kurzen Moment habe ich mich gefragt, was wäre, wenn –« Da war ein Zittern in Mokubas Stimme, das bis über meinen Rücken kroch. »Wenn sie jetzt da wären? Wenn sie die ganzen Jahre da gewesen wären?« Mokuba, der im Schatten des Blitzlichtgewitters stand, hinter seinem Bruder. Seto Kaiba, der nicht mehr lächelte. »Du hattest es versprochen«, murmelte Mokuba und starrte wieder an die Decke. Kaiba hatte nicht zugelassen, dass sie im Waisenhaus getrennt worden waren. Er hatte dafür sein eigenes Leben in die Hand eines skrupellosen Geschäftsmannes gelegt, wenn man den Zeitungsberichten glauben durfte. »Du hast mir damals versprochen, mich nicht allein zu lassen.« Wenn jemand Mokubas Gefühle begriff, dann wohl sein großer Bruder. »Und ich hatte versprochen, immer auf deiner Seite zu sein«, fuhr er fort. Wenn ein Unfall fast alle Menschen, von denen du gedacht hast, dass sie dich niemals verlassen würden, von deiner Seite reißt, dann klammerst du dich an die Menschen, die noch da sind. »Ich denke, wir haben es endlich geschafft, unsere Versprechen beide zu brechen.« Aber was, wenn auch die dich im Stich lassen? Mit wenigen Schritten stand Kaiba direkt vor Mokuba, legte seine Finger um dessen Handgelenke und zog ihn hoch, bis Mokuba vor ihm auf der Bettkante saß. Kaiba ging in die Hocke, auf Mokubas Augenhöhe und sah ihn an. Es war nichts zu hören, bis auf unsere Atemzüge, und dann Worte, die ich Seto Kaiba das erste und einzige Mal aussprechen hörte. »Es tut mir leid.« Ich starrte ihn an, dann Mokuba, dann wieder Kaiba. Mokuba wollte aufspringen und wegrennen, sich nicht umschauen und diesem Satz entkommen, der bewies, dass sein Bruder nicht perfekt war. Dass er Fehler machte. Dass er diese bereute. Dass er kein Arschloch war, dem es egal war, wenn er jemandem wehtat. Zumindest glaubte ich für einen Moment, dass Mokuba das tun wollte. Aber er blieb. Sie sahen sich an und in diesem Moment hatte ich das Gefühl, einen gewaltigen Teil einer Unterhaltung vor meinen eigenen Augen zu verpassen. Dann schmiss Mokuba seine Arme um Kaibas Schultern und drückte sein Gesicht an dessen Brust. »Ich konnte einfach nicht«, murmelte Kaiba und lehnte sein Kinn auf Mokubas Kopf. »Ich weiß«, flüsterte Mokuba in sein Hemd. »Ich weiß es ja, aber es tat trotzdem weh. Ich habe mich so scheiße gefühlt. Als würde der einzige Mensch, der vielleicht verstehen könnte, warum, mich absichtlich ignorieren.« Kaiba schwieg und starrte an die Decke. Und ich beobachtete die beiden, wie sie da halb in der Hocke, halb auf der Bettkante einander in den Arm nahmen. Langsam lösten sich die Stricke, die sich in den letzten Wochen immer mehr zugezerrt und immer weniger Bewegungsfreiheit ermöglicht hatten. Bis keiner mehr einen Schritt auf den anderen zumachen konnte. »Ich habe noch Videoaufnahmen«, sagte Kaiba der Zimmerdecke. »Von unseren Eltern. Vielleicht magst du sie dir ansehen. Mit Sarah vielleicht.« Ich traute mich nicht zu atmen, als könnte ich die beiden mit einer falschen Bewegung verschrecken und diesen Moment zerstören. »Vielleicht«, sagte Mokuba. »Vielleicht können wir sie auch irgendwann zusammenansehen?« »Ja«, erwiderte Kaiba steif. »Vielleicht.« Menschen trauerten unterschiedlich. Manche standen um Gräber herum und fühlten sich den Verstorbenen nahe. Andere erinnerten sich in der Straße, in der sie aufgewachsen waren, an ihre Eltern, rangen mit dem bittersüßen Gefühl der Freude und Trauer. Dachten beim Duft an Plätzchen an gemeinsame Weihnachtstage oder bei den Pommes im Schwimmbad an Sommertage, die sie nie vergessen würden. Menschen trauerten unterschiedlich lange. Und das war okay. Solange man die Gefühle nicht in sich abband und versuchte, sie zu ersticken. Irgendwann war der Zeitpunkt da, an dem man loslassen musste, um wieder atmen zu können. »Irgendwann bestimmt«, fügte Kaiba hinzu und ich nahm einen tiefen Luftzug. Es würde nie wieder so sein wie früher. Manche Erlebnisse veränderten uns für immer. Manche Entscheidungen ließen unsere Bindung zu Menschen so zerstückelt zurück, dass wir es nicht wieder schafften, das Puzzle zusammenzusetzen. Wir saßen auf der Kante meines Bettes, Mokuba in der Mitte, als bräuchte er eine Stütze zu beiden Seiten. Jeder hing seinen Gedanken nach und zum ersten Mal seit Wochen hatte ich das Gefühl in Gegenwart der beiden Brüder frei atmen zu können. »Dieser Christian«, begann Kaiba. Bis zu diesen Worten. Sein Ton war sanft, als streichelte seine Stimme über zerbrechliches Glas. Doch ich spürte wie sich ein Blizzard um ihn herum aufbaute. »Was hat er mit dir gemacht, Mokuba?« Manchmal gelang es uns, das Puzzle wieder zusammenzusetzen. Aber Puzzleteile fehlten, die wir nie wiederfinden würden. Ich glaubte, »nichts« hätte Mokuba am liebsten geantwortet. Und ich konnte es ihm angesichts von Kaibas Mimik nicht verübeln. Aber Mokuba hatte lange genug geschwiegen. Manchmal war es in Ordnung, dass sich Puzzle änderten, dass nicht mehr alle Teile so zusammenpassten wie vorher. Und letztlich war es Zeit, dass Mokuba selbst es aussprach. Manchmal fanden wir erst so heraus, dass das Puzzle auch ein ganz anderes Bild ergeben konnte. »Er hat mich gemobbt und letztens hat er mich mit ein paar anderen auf dem Schulhof geschlagen.« Obwohl es mir vorhin schon herausgerutscht war, hatte es aus Mokubas Mund nochmals eine ganz eigene Wirkung. Seto Kaiba schien eine dämonische Aura zu umgeben, mit der er Christian ohne Weiters hätte verschlingen können. Ich sah es schon vor mir. Die Szene. Die Schlagzeilen. Vermisst. Nie wieder aufgetaucht. Unerklärlich. Täter nicht ermittelbar. Während Kaiba in seinem Büro hoch über Domino ein gehässiges Lachen von sich stieß. Mokubas Worte rissen mich aus meinen vielleicht nicht ganz so absurden Gedanken. »Christian war mein Freund. Er hat mir zugehört und war für mich da. Er hat nie etwas dafür verlangt.« Wenigstens sprach Mokuba von der Vergangenheit. Aber am liebsten hätte ich ihn geschüttelt. »Wir haben viel über mich gesprochen. Natürlich auch immer mal wieder über euch.« Ich stutzte. Nicht nur über Kaiba? Auch über mich? Wusste Christian deswegen so viel? »Aber in letzter Zeit ist er immer wieder auf die Firma gekommen, wollte dauernd etwas dazu wissen. Wer was macht und wem wie viel gehört und was es mit dem Turnier auf sich hat. Er hat gemeint, ich kann ihm doch vertrauen.« Mokuba schnaubte. »Und als ich ihm gesagt habe, dass es ihn nichts angeht, ob es stimmt, dass du Gozaburo die Firma weggeschnappt hättest, ist Christian zum ersten Mal richtig wütend geworden.« Ich lugte vorsichtig nach rechts und musterte über Mokubas Kopf hinweg Kaibas Mimik. Ich rechnete damit, dass sich Kaiba hinter seiner Maske verschanzte, in sich zurückzog und uns ausschloss von seinen Gefühlen und Gedanken, um diese schmerzhaften Erinnerungen auszuhalten. Er hatte seine Beine übereinandergeschlagen, die Stirn auf die Hand gestützt und seine Schultern bebten. Als ich Kaibas Gesichtszüge jedoch bemerkte, klappte mir der Kiefer herunter. Er versuchte mühsam, ein Grinsen zurückzuhalten und als er mich ansah – ich musste reichlich dämlich schauen – brach er in Lachen aus. Vielleicht hatte ich es jetzt doch geschafft. Mokuba und ich wechselten einen Blick. Seto Kaiba hatte endgültig den Verstand verloren. »So ein schwachsinniger Idiot«, gab der von sich. »So ein erbärmlicher Schwachkopf.« Er sagte das so, als wäre Christians Vermutung ein Beweis dessen eklatanter Inkompetenz. »Hä?«, fragte ich. »In der Zeitung hat doch gestanden, dass der dir seine Firma nicht überlassen wollte?« Kaibas Gelächter verebbte. »Habe ich gehört«, fügte ich bei seinem Blick hinzu. Er musterte mich, lehnte sich zurück und in diesem Augenblick füllte er den gesamten Raum mit seiner Präsenz. Als gehörte alles ihm, als läge jede Entscheidung in seiner Hand. »Du hast gehört, dass jemand etwas in einer Zeitung gelesen hat, das vor Jahren aktuell gewesen ist?« Ich zuckte die Schultern. Mokubas Blick wanderte von Kaiba zu mir und zurück, als beobachtete er ein höchst interessantes Match. »Okay«, sagte ich und gab auf. Sollte Kaiba doch diese Runde gewinnen. Was auch immer für eine Runde, was auch immer er gewann. »Ich hab’s selbst in der Zeitung gelesen.« Wahrscheinlich hätte ich Kaibas Unglaube persönlich genommen, wenn ich es nicht insgeheim geteilt hätte. »Ja, ich lese Zeitungen. Ich teile sie seit Jahren aus. Da bleibt’s nicht aus, dass ich manchmal einen Blick riskiere, okay?« »Manchmal«, wiederholte Kaiba so, als hätte ich ihm eröffnet, manchmal nachts aufs Dach zu klettern und dort nackt Disco-Fox zu tanzen. Ich verdrehte die Augen und begann dann zu grinsen. »Natürlich immer, wenn es um dich geht.« Kaiba verdrehte die Augen, aber hörte auf, weiter nachzubohren. »Was die Zeitungen da spekuliert haben, war meistens schwachsinnig«, sagte er nüchtern. Vielleicht war es Mokubas überraschter Blick, vielleicht mein »Hä? Wie?«, das ihn weitersprechen ließ. »Gozaburo wollte, dass ich die Firma irgendwann übernehme. Ich war seine Trophäe. Schau her, Welt, was ich erschaffen habe. Das war sein Lebensmotto. Welches er durch die Kreation eines perfekten Nachfolgers komplettieren wollte.« Ich rührte mich nicht, als fürchtete ich, Kaibas Redefluss durch eine unbedachte Reaktion zu stoppen. Anscheinend erging es Mokuba ähnlich. »Er hatte alles erreicht, was man als Geschäftsinhaber erreichen kann. Er war reich, besaß Aktien erfolgreicher Unternehmen und war selbst Vorstandvorsitzender seiner selbst gegründeten Firma. Er wollte aber mehr.« Was konnte man mehr haben wollen? Geld, Ruhm, Prestige, einen Namen, der einem alles Mögliche eröffnete. »Er wollte eine Dynastie.« Gozaburo Kaiba wollte einen Erben, der sein Vermächtnis fortsetzte. Irgendwie konnte ich das sogar verstehen. Wenn man sein Leben lag für etwas schuftete, wollte man dann nicht, dass es weiter Bestand hatte, selbst, wenn man starb? »Ich habe mit ihm einen Deal gemacht. Mokuba und ich haben eine Zukunft gebraucht. Und ich wollte dir die beste Zukunft geben, die ich dir geben konnte.« Kaiba schaute seinen kleinen Bruder lange an. Vielleicht hoffte er, dort Verständnis zu finden. Verständnis, dass er vor Jahren eine Entscheidung getroffen hatte, die er für die beste hielt. Dass er sein Versprechen hatte halten wollen, auch, wenn er es nicht geschafft hatte. Ich wusste nicht, was er in Mokubas Augen alles entdeckte, aber als er weitersprach, klang seine Stimme weniger gepresst. »Als ich vierzehn wurde, gab er sein Einverständnis. Und ich wurde teilhabender Geschäftsführer.« Letzteres war mir bekannt. Jeder wusste das, der den Namen Kaiba kannte. Aber Seto Kaiba hatte schon viel früher damit begonnen, seine Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Die Zeitungen damals priesen den kleinen Jungen, der sich mit nur neun Jahren das Programmieren selbst beibrachte. Als Kaiba mit zehn Jahren erste eigene Spiele programmierte und sich mit zwölf Jahren um technische Probleme in der Firma von Gozaburo kümmerte, nannten ihn die ersten Zeitungen das ›Wunderkind‹, ›den Mozart der Technik‹ und ›Gutenberg der modernen Technologie‹. Natürlich hatte ich lange Zeit nicht gerafft, was sie damit ausdrücken wollten. Aber inzwischen verstand ich, er war die Ausnahme der Regel, ein Revolutionär der Technik, der neue Standards für zukünftige Generationen setzte. Irgendwann würden Menschen über Seto Kaibas Erfindungen in Lexikonartikeln lesen, weil sie die Grundsteine für eine völlig neuartige Technologie waren. Wenn ein Dreizehnjähriger sich in Webdesign vertieft und eigene Browser-Games programmiert, dann ist das für viele Außenstehende ein Hobby. Wenn ein Vierzehnjähriger die ersten eigenen Millionen scheffelt, begreifen die meisten, dass sie sich damit geirrt haben. »Die meisten wissen, dass er so entschieden hat. Aber die wenigsten wissen, wie er zu der Entscheidung gekommen ist.« Kaiba atmete tief durch. »Er hat mir die Aufgabe gegeben, genug Startkapital für ein eigenes Startup-Unternehmen aufzutreiben und ihm die Summe zu präsentieren. Innerhalb von einer Woche. Er hat gemeint, wenn ich das schaffe, werde ich alles von ihm erben.« Einen Teenager, der sein Leben lang nach familiären Bindungen gesucht hatte, mit einem Erbe zu ködern, das das öffentliche Zeichen von Zugehörigkeit war. »Er dachte, einem Vierzehnjährigen würde niemand freiwillig Geld geben. Und er hatte Recht. Keine Bank der Welt würde einem Vierzehnjährigen genug Startkapital geben, nicht ohne einen Vormund, ohne Sicherheiten. Ich habe nur zwei Personen gekannt, die es mir frei zur Verfügung gestellt hätten, wenn sie so viel Geld gehabt hätten. Und die, die es hatten, hätten es mir niemals einfach so gegeben. Von außen musste es so aussehen, als hätte er gewollt, dass ich scheitere.« Ich lauschte seinen Worten. Es war, als erlaubte er mir einen Blick in eine Vergangenheit, die er vor all der Öffentlichkeit verborgen hielt. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass er das nicht gewollt hatte. Er wollte seine Firma in kompetente Hände geben und er wollte sichergehen, dass er jemandem die Firma gab, der so denken konnte, wie er.« Kaiba sprach es wie etwas Minderwertiges aus. »Es war ein Test, ob ich über Leichen gehen würde.« Ich schnappte nach Luft. »Das war metaphorisch gemeint.« Und starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. »Ich habe niemanden umgebracht, Wheeler. Nicht wirklich.« Ich spürte, wie mein Augenlid nervös zuckte. »Wheeler«, brummte er. »Ja, ja. Schon klar. Also was hast du gemacht?« Obwohl das gar nicht so klar war. Was zur Hölle meinte er mit ›nicht wirklich‹? »Ich habe mich nicht auf Banken verlassen.« Ich verdrehte die Augen. Hatte ich wissen wollen, was er nicht getan hatte? »Oder das Gutdünken irgendwelcher Snobs.« Mir blieb das Lachen im Hals stecken, als ich seinen Blick erwiderte. Er meinte das nicht selbstironisch oder als Scherz. Damals war er ein Teenager gewesen, der vom Wohlwollen eines reichen Unternehmers abhängig war. Dieses Gefühl musste so tief in ihm verankert sein, dass er verdrängte, dass er selbst zu so einer Figur geworden war. »Auf wen hast du dich dann verlassen?« Kaiba hob sein Kinn. »Auf mich selbst.« Natürlich. Seto Kaiba brauchte keine Hilfe. Er wusste alles selbst und kam allein klar. »Und auf Mokuba.« »Ich habe mich in die Rechner der Firma gehackt, alle möglichst interessanten Daten von Vertragspartnern, Kunden und natürlich von Gozaburo selbst gespeichert.« Kaiba erzählte das, als berichtete er von einem Schulausflug vor ein paar Jahren. »Und ihm gesagt, ich bräuchte zwei Millionen Euro. Sollte er sie mir nicht geben, würden sensible Daten über nicht ganz legale oder moralisch einwandfreie Geschäfte die Presse erreichen. Nach drei Tagen hatte ich also einen Weg gefunden, das Geld zusammenzubekommen.« Ich war keine Führungspersönlichkeit. Dafür brauchte man Charisma, geniale Fähigkeiten und einen Plan. Manchmal einen skrupellosen. »Moment. Warum zwei?« Ich raffte nicht, wie man ohne Gewissen, mit dem Leben anderer spielen konnte. Wie man Machtspiele genoss. Warum man so weit im Voraus plante, dass sich das Leben zweier Kinder darin verfingen, bis sie Erwachsene waren. Für den Rest ihres Daseins. »Weil ich großzügig war.« Ich war eher der Typ, der morgens aufwachte und nicht wusste, was mittags anstand. Ich hatte noch nie geplant, irgendwelche Verwandten oder Bekannten um zwei Millionen Euro zu bringen. Vielleicht erkannte ich deswegen nicht die Großzügigkeit darin. »Die Daten wären so viel mehr wert gewesen. Er wusste, dass ich das wusste.« Kaiba schaute aus dem Fenster, als sähe er die Vergangenheit vor sich. Seine Stirn gekräuselt, seine Lippen aufeinandergepresst, als versuchte er mühsam Worte nicht aus Versehen zu verlieren. Vielleicht tat es gut nach so langer Zeit, darüber zu reden? »Und weil ich damals geglaubt habe, ich würde Mokuba eine Million Euro schulden.« Aber vielleicht riss es auch Narben wieder auf. »Das war natürlich absoluter Schwachsinn.« Kaiba lachte auf, wie jemand, der die Pointe eines Witzes absolut geschmacklos fand. »Was ich ihm schulde, kann man nicht in Geld messen. Das mag vielleicht sentimental klingen, aber das ist es nicht.« Ich glaubte, zu begreifen, was er meinte. Manchmal half alles Geld nichts, weil das Problem eine andere Art von Armut war. Einsamkeit, Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit. »Und dann hat er dir die zwei Millionen gegeben.« Kaiba schüttelte sachte den Kopf. »Er hat gesagt, die Frist liefe noch vier Tage. Er hat mich –« Ganz weit weg in Gedanken wirkte er. Als überfielen ihn Gedanken, die er lange Zeit unter Verschluss gehalten hatte. »– isoliert.« Mokuba musterte seinen Bruder. Ich glaubte so etwas wie Sorge darin zu erkennen. »In der Zeit hat er mir alles Mögliche versprochen«, sagte Mokuba. »Vier Millionen Euro, als wäre das doppelt so gut wie Setos zwei Millionen. Häuser, Autos, Spielzeug. Dass ich alles erben würde. Dass nur noch ich im Mittelpunkt stehen würde.« Mokuba schnaufte, als wäre all das nichts. »Ich sollte nur Seto dazu bringen, zu sagen, er hätte die Aufgabe nicht geschafft. Er sollte aufgeben.« Ich war der Typ, der nicht aufgab. Kaiba war auch so einer. Aber während er führte, folgte ich lieber. Aber nicht denen, die glaubten Führungspersönlichkeiten zu sein, sondern meinem eigenen Bauchgefühl. Was musste das für eine Qual gewesen sein? Allein gelassen, nicht anerkannt, nie genug, die Brüder gegeneinander ausspielend. Am liebsten hätte ich eine Zeitreise unternommen und den kleinen Seto in den Arm genommen. Aber das war natürlich schwachsinnig. Seto Kaiba saß hier vor mir. Irgendwie hatte er es geschafft. Aber auf welche Kosten? »Während der vier Tage hat er mir genau ein Angebot gemacht. Er hat es ein Hausmädchen ausrichten lassen«, sagte Kaiba und fuhr sich durch sein Haar. »Würde ich aufgeben, würde er Mokuba nicht auf ein Internat in die Vereinigten Staaten senden.« Ich riss meine Augen auf. »Aber – das ist ja Erpressung!«, rutschte mir empört heraus. Kaiba schnaufte und betrachtete mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Als hätte Gozaburo nicht die Mittel und Skrupellosigkeit besessen, um noch viel krassere Dinge durchzuziehen. Verlegen wich ich seinem Blick aus. Erpressung hatte eine Zeit lang sogar zu meinem Standardrepertoire gehört. Dafür musste man nicht viel haben, man musste nur wissen, wie man sein Gegenüber treffen konnte. Nicht einmal unbedingt körperliche Gewalt war notwendig. Jeder Mensch hing an etwas. Jeder hatte einen Schwachpunkt. »Am sechsten Tag kam er spätabends, nachdem ich ihm mitteilen ließ, ich hätte mich entschieden«, fuhr Kaiba nüchtern fort. »Er hat mich gelobt. Zum ersten und einzigen Mal.« Kaiba schaffte es nicht ganz, die Bitterkeit aus seiner Stimme zu verbannen. »Und mir gesagt, dass ich die Entscheidung nicht bereuen würde. Dass man im Leben Prioritäten setzen musste und dass ich Mokuba vielleicht sogar einmal im Jahr besuchen dürfte.« Kaiba führte. Aber nicht die, die glaubten, eine Führungspersönlichkeit zu brauchen, sondern lieber die, die auch allein klarkamen. »Er hat gesagt, dass die Daten, die ich gespeichert hatte, für mich zukünftig von äußerster Bedeutung, aber als Druckmittel wertlos seien. Würde das an die Presse gelangen, würde das meinem Erbe nämlich erheblich schaden. Damit hätte ich also bewiesen, dass ich zwar durchaus dachte, wie er, aber dass es in diesem konkreten Fall ein Patt war.« Vielleicht war es auch nicht wichtig, wer wen führte und wer folgte. »Er hat erst eine Woche später verstanden, dass es absolut kein Patt war, sondern schachmatt. Das hat er immer erst gesehen, wenn es schon zu spät war.« Vielleicht war entscheidend, wer an deiner Seite stand. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)