Was wir sind von Jaelaki (Seto & Joey | Puppyshipping) ================================================================================ Kapitel 62: ... bin kein Waise ------------------------------ __________________________________________   Dein Vater hat Dich vergessen, Dich und die Mutter Dein; Du bist, du armer Waise, Auf der weiten Erde allein! © Joseph Christian Freiherr von Zedlitz   __________________________________________           Ich war kein Stratege und hatte keinen Führungsstil. Das einzige, was ich erfolgreich führte, war der Rekord im Verlust von Arbeitsblättern. Meine Strategie lautete viel zu oft »Augen zu und durch« und »der Lautere behält Recht«. Ich ging Sachen frei Schnauze an. Aber trotz anderslautender Gerüchte verabscheute ich Gewalt als Mittel zum Zweck.   »Du solltest nach Hause gehen.« Es klang nicht nach gut gemeint. Es klang, als wollte er mich loswerden und obwohl ich so tat, als würde ich es verstehen, schmerzte es. Ich hatte keine Ahnung, wie ich es schaffte, nicht zu kapieren – wirklich, wirklich zu begreifen – dass Seto Kaiba niemand war, der einen einfach in sein Leben ließ. Klar, manchmal bekam man Einblicke. Schnipsel, die man zusammensetzte. Mit denen man so tun könnte, als begriff man, was in ihm vorging. Er pfiff auf jede Meinung – außer seiner eigenen. Letztlich ging es Kaiba vielleicht doch nur um sich selbst. Aber war das nicht bei fast allen Menschen so?   Ein paar Stunden später lag ich im Bett in dem Zimmer, in dem ich so tat, als gehöre ich hierher. Ich rollte mich von einer Seite auf die andere und seufzte. Dann schälte ich mich aus der Matratze und kramte kopfüber die Kiste unter meinem Bett hervor. Kopien von Zeitungsartikeln und Bildern, zwei kleine Jungs, deren Zukunft so schrecklich ungewiss und doch so voller Möglichkeiten gewesen war. Vielleicht auch nicht. Vielleicht hatte Kaiba gewusst, dass sie sonst keine Chance gehabt hätten. Ich strich über Titel von Zeitungsartikel, während sich Mokubas Worte in meinem Kopf wiederholten. So wie du. Mein Kopf pochte und ich wünschte mir, Mokuba würde sehen, was ich wirklich war. Ich griff nach einem Bild, auf dem sie so jung wie auf keinem anderen aussahen. Im Vordergrund Gozaburo Kaiba, der Seto nach vorne zu schieben schien. Ich kniff meine Augen zusammen. Aber im Hintergrund konnte ich sie sehen. Sarah stand dort, eine Hand auf Mokubas Schulter. Er schaute zu ihr hoch. Und ich wusste, daran hatte sich seither nicht viel verändert.   Es ging gut. Die nächsten Tage schafften wir es, Mokuba zu begleiten – egal, wohin. Es war als hätten wir uns dazu entschieden, seine Schatten zu werden. Aber mir wurde schnell klar, dass das keine Lösung auf Dauer war. Obwohl sich Christian Mokuba nicht mehr näherte, wusste ich, dass er nur auf den richtigen Moment wartete. Das war das gewesen, was ich früher gemacht hätte. Bei dem Gedanken wallte Übelkeit in mir hoch. Als wir im Pausenhof standen, ich mir ein Sandwich in den Mund schob und überlegte, wie wir die Sache endlich klären könnten, vibrierte plötzlich mein Handy in meiner Hosentasche. Einmal, zweimal, dreimal. Ich runzelte die Stirn. Tris schaute mich an und ich zuckte die Schultern. Yugi erzählte gerade etwas von neuen Turnierregeln und Thea lauschte ihm, als gäbe es sonst keine interessanten Dinge mehr auf der Welt. Ich war mir sicher, ihr waren Kartenspiele eigentlich egal. Viermal, fünfmal. Genervt zog ich das Handy aus der Hosentasche und entsperrte es. Nachrichten von einem nicht gespeicherten Kontakt. Mein Blick raste über die Zeilen. »Kaibas Schlampe! xD Kriegst deinen Arsch wohl nicht voll. Wie fühlt sich sein Schwanz an? Geldgeiler Hurensohn. Bezahlt er dich pro Stunde?« Sechsmal. »Du wirst schon sehen, was du davon hast.« Zuerst wollte ich lachen, dann hörte es nicht auf. Mein Handy schien in eine Dauervibration zu verfallen und der Strom an Nachrichten riss nicht ab. Es waren unbekannte Nummern oder anonyme. SMS und Whatsapp-Nachrichten. Ich dachte, ich stünde über so etwas. Ich hatte echt geglaubt, mich würde so etwas nicht wirklich kriegen. »Joey, hey? Alles okay?« Tristan schlug mir sachte gegen den Oberarm und grinste. Ich verzog keine Miene und zeigte ihm mein Handy. Sein Grinse fiel in sich zusammen. Yugi warf einen Blick drauf und atmete tief ein. »Das ist dann wohl sein nächster Schritt«, sagte Thea und wir wussten alle, wen sie meinte.   Es ging nicht gut. Die nächsten Tage versuchte ich mit Mokuba zu reden und es stellte sich heraus, dass ich nicht der einzige war, dessen Handy mit widerlichen Nachrichten geflutet wurde. Mokuba tat es mit einem Schulterzucken ab. »Ich habe jetzt halt eine neue Handynummer.« Am liebsten hätte ich mir gegen die Stirn geklatscht, aber so oft, wie ich das inzwischen wollte, konnte es nicht gut für meine Gesundheit sein. »Mokuba, du kapierst doch, dass das nicht die Lösung ist, oder?«, fragte ich und folgte ihm durch den Flur in seinem Zuhause in die Küche. »Sie werden irgendwann damit aufhören.« Vielleicht hatte er Recht. Wann hatte ich damit aufgehört? Aber vielleicht würden sie nicht eher stoppen, bis er am Boden lag, so sehr, dass er nicht mehr von alleine aufstehen könnte. Und das war keine Metapher. Vielleicht würden sie ihn auch nicht körperlich fertigmachen, aber es gab schlimmere Arten Menschen anzugreifen. Er streckte sich, um an eine Packung Cornflakes zu kommen, sein Shirt rutschte nach oben und ich sah die Blutergüsse. Er zuckte zusammen und hielt sich seinen Brustkorb. »Was –«, stammelte ich und zog das Shirt ein Stück nach oben. Mokuba wand sich, drückte meine Hände weg und wollte seine Rippen bedecken, aber es war zu spät. Ich hatte es gesehen und ich würde es nicht vergessen. »Das ist nichts«, sagte er und ich spürte eine Wut, die meine Gedanken verdunkelte. »Was willst du beweisen?«, knurrte ich. »Dass du es schaffst, verprügelt zu werden?« Er sank in sich zusammen. Ich sah, wie jedes meiner Worte ihm Schmerzen zufügte, aber ich konnte nicht aufhören. »Sie werden nicht aufhören! Hörst du? Sie werden dich fertigmachen und jeden, der dir wichtig ist. Es ist ihnen scheißegal, was sie anrichten! Und am Ende –« »Er hat es nicht einmal mitbekommen!«, schrie er plötzlich und ich machte einen Satz zurück. »Er sieht mich nicht! Er sieht mich nicht mal an! Er weiß von nichts und er fragt mich nichts und so ist es halt!« Mokubas Mimik schwankte zwischen Zorn und Schmerz und meine Wut verpuffte irgendwo dazwischen. Ich stand da mitten in der Küche und Kaibas kleiner Bruder neben mir und er wich meinem Blick aus. Ich betrachtete seinen Hinterkopf und wie er sich mit dem Ärmel über das Gesicht wischte und ich so tat, als würde ich es nicht mitbekommen. Er atmete schwer ein und das Zittern in seinem Atemzug schnürte mir den Brustkorb zu. »Versprich mir«, flüsterte er plötzlich, als hätte er mit dem Ausbruch eben seine Energie verloren, »dass du ihm nichts sagst.« Er drehte sich zu mir und sah mir ganz entgegen seines Tons trotzig ins Gesicht. Als kämpfte er mit sich selbst, was er fühlen sollte. Und ich fragte mich, wann dieser kleine Junge, der seinen großen Bruder in den Himmel gehoben hatte, so auf den Boden der Tatsachen aufgeknallt war. Er schaute zu mir hoch, ein Arm über seine Brust gekreuzt und kaute auf seiner Lippe herum. »Ich verspreche es«, seufzte ich.   Als Kind war ich der festen Überzeugung, dass Lehrer nach dem Unterricht aufhörten zu existieren. So ähnlich war es mir mit den Angestellten der KC gegangen. Natürlich wusste ich, dass das Blödsinn war. Aber Sarah in ihrem Bürostuhl wirkte wie eine andere Person als die, die gerade in ihrem Wohnzimmer neben mir auf dem Sofa saß. Ich schlurfte an einer Cola, mein Blick glitt über die altmodische Einrichtung und die modernen Stücke dazwischen, die wirkten, als hätte sie ein Blinder zusammengewürfelt und Sarah erzählte davon, wie das anstehende Turnier alle in der KC an den Rand des zumutbaren Stresses drängte. Sie lachte über Zeitpläne und Deadlines und nörgelte über Korrekturen und Rechtschreibfehler, fehlende Hintergründe, die irgendein Genie nicht mitkopiert hatte und beinahe auf den Flyern gefehlt hätte. Ich lauschte und hörte nicht wirklich zu. »Joey?« Mein Blick suchte ihren und als ich sie anschaute, kratzte ich verlegen meinen Hinterkopf. »Sorry, was hast du gesagt?« Sie seufzte und setzte ihren Kaffee auf die Untertasse auf den Beistelltisch und während sie das tat und schwieg, runzelte sie die Stirn, schaute mich an und atmete tief durch. »Du bist wegen Mokuba hier, stimmt’s?« Ich wich ihrem Blick aus. »Warum solltest du sonst hier auftauchen? Am Wochenende, wenn du viel lieber mit deinen Freunden draußen herumlungern könntest.« »Ich lungere nicht nur rum.« Sie lachte. Nicht dieses Lachen, das mich innerlich ausrasten ließ, weil es so klang, wie jemand, der sich über meine Dummheit amüsierte, sondern das Lachen, das mich beruhigte. Das mir versicherte, dass es nicht schlimm war, was auch immer ich getan oder gesagt hatte. Dass es völlig okay war, vielleicht sogar gut. Dass irgendwie alles gut werden würde. »Das weiß ich doch. Aber wofür sind Wochenenden sonst da, Schätzchen? Wenn man ein normales Leben hat. Normal ist gut«, betonte sie. »Ein Leben mit Freizeit und Freunden. Zeit, um herumzulungern oder eben auch nicht.« Sie schenkte sich noch einen Kaffee in ihre Tasse und gab Zucker und Milch dazu und während sie das tat, als wäre alles okay, drückte der Kloß in meinem Hals immer mehr meine Kehle. Ich öffnete den Mund, aber wusste nicht, wo ich anfangen sollte, was sie wusste, was sie wissen durfte und wo mein Versprechen anfing – und aufhörte. »Ich versuche«, begann ich stockend, »zu verstehen, warum Kaiba –«, in meinem Kopf kramte ich angestrengt nach einer anderen Umschreibung, aber ehe mein Hirn etwas fand, stolperten die Worte aus meinem Mund, »– so ein Arsch ist.« Sarah schaute von ihrer Kaffeetasse auf und ich beobachtete, wie sich das Grinsen langsam auf ihren Lippen ausbreitete, dann brach sie in Lachen aus. Ich zuckte die Schultern und grinste, erwiderte ihr ansteckendes Lachen und schließlich saßen wir hier zusammen in ihrem Wohnzimmer und lachten, bis wir nach Luft japsten. Als würde sich etwas in meinem Inneren lösen, ein Knoten, der mir die Luft abgeschnürt hatte. Jedes Mal, wenn sich unser Blick traf, begannen wir wieder zu glucksen. Dann wurde es still. Als wäre die Luft aus einem Ballon hinausgeströmt. »Mokuba geht es nicht gut«, sagte ich langsam. »Um ehrlich zu sein geht es ihm richtig scheiße und ich bin mir sicher, dass es Kaiba auch nicht gut geht. Die beiden –« »Warum glaubst du, ich könnte etwas daran ändern?« Ich starrte sie an. Sarah rührte in der Tasse, ohne mich anzuschauen. Das Lachen von vor wenigen Minuten war wie aus ihrem Gesicht gekehrt. »Weil – weil – du kennst sie schon so lange und –« »Ich konnte ihnen damals nicht wirklich helfen, ich glaube kaum, dass sich das geändert hat.« »Du weißt wenigstens, was passiert ist«, murmelte ich. »Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nicht, warum Kaiba manchmal dicht macht, obwohl er eben noch ganz normal da war. Und warum Mokuba so verdammt stur ist gerade. Er will sich nicht von Kaiba helfen lassen. Sie reden immer noch nicht miteinander.« Sarah schloss für einen Augenblick die Augen. Vielleicht zählte sie auch bis zehn? Vielleicht würde sie gleich explodieren und mich aus ihrer Wohnung werfen. »Und ich –« Ich schluckte. »Ich habe Mokuba etwas versprochen«, sagte ich. »Ich glaube, ohne dich schaff‘ ich’s nicht, das Versprechen zu halten. Und dann würde ihm keiner mehr den Rücken freihalten. Verstehst du? Und er braucht gerade unbedingt jemanden, der ihm den Rücken freihält.« Sarah erhob sich, verließ das Zimmer und ich saß alleine zwischen dem Duft von Kaffee und dem Geschmack von Cola auf der Zunge. Die Stille, während man auf etwas wartete, raubte mir den Atem. Ich wusste nur nicht, worauf ich wartete. Das Lachen von eben schien in weiter Vergangenheit, als wäre ich plötzlich aufgewacht und erinnerte mich an einen verblassenden Traum. Mein Blick glitt über die eingerahmten Bilder an den Wänden. Es waren Artikel über die Kaiba Corporation, Auftritte von Kaiba, mal jünger mit großen Augen, mal älter mit kühlem Blick. Im Schrank standen Fotorahmen. Auf allen waren Mokuba und Kaiba als Kinder und ein blondes Mädchen, das ich nicht wiedererkannte. »Er hat seine Sachen einfach zurückgelassen.« Ich fuhr herum. Sarah war wieder in den Raum getreten, hielt eine Box vor ihrer Brust und schaute mich an. Ich fühlte mich ertappt, obwohl ich nur alte Fotos in ihrem Schrank betrachtete. Verlegen trat ich von einem auf das andere Bein, aber Sarah machte keine Anstalten, mich deswegen zu rügen. Sie setzte sich wortlos zurück auf das Sofa und kramte in der Box. Neugierig ließ ich mich neben ihr nieder. »Ich habe sie aufgehoben, weil ich gedacht habe, dass er irgendwann darüber wegkommt.« Sarah schnaubte. »Nein, das natürlich nicht. Wie soll man auch über so etwas wegkommen? Aber dass er eines Tages die Bilder anschauen kann, dass er sie wieder anschauen will.« Sie reichte mir einen dünnen Stapel an Bildern, manche verwackelt, manche überbelichtet. Aus einer Zeit, in der Bilder noch nicht digital entstanden, sondern erst nach der Entwicklung aussortiert worden waren. Kaiba und Mokuba als Kinder, als Babys. Auf manchen Fotos grinste auch das blonde Mädchen der Kamera entgegen. »Seto hat dazu geneigt, nach Perfektion zu streben. Er war selbstbewusst, aber gleichzeitig unsicher. Ich weiß. Das klingt seltsam. Aber gehört das nicht gerade zu jedem Menschen dazu? Diese kleinen Ungereimtheiten?« Kaiba, wie er Mokuba auf der Schaukel anstieß. Das blonde Mädchen half ihm. Kaiba, wie er Hand in Hand mit Mokuba am Strand etwas in den Sand schrieb. Kaiba, wie er mit der Schultüte vor einer Tafel stand. Erster Schultag stand darauf. Und dann waren da auf einmal nicht nur Kaiba und Mokuba. Eine Frau mit langen, braunen Locken und ein Mann mit schwarzem Haar winkten in die Kamera. Auf dem nächsten Foto schlang Kaiba seine Kinderarme um den Bauch der Frau, die unübersehbar schwanger war. Ein Foto weiter ritt Mokuba auf den Schultern des Mannes. Sie lachten in die Kamera und Kaibas Zahnlückengrinsen wirkte so fremd, dass ich bezweifelte, dieser Junge auf dem Bild würde gut zehn Jahre später zu dem Menschen werden, den ich zu kennen glaubte. »Und besonders, wenn deine Eltern plötzlich sterben und du das Gefühl hast, allein in der Welt zu sein. Mit deinem kleinen Bruder, der nur noch dich hat.« Seine Eltern. In meinem Kopf füllte dieses Wort alle Gedanken. Das waren seine Eltern. »Ich glaube, Seto hat es sich nie gegönnt, um seine Eltern zu trauern, um das ganze Leben, das er an einem Tag hinter sich lassen musste. Er war erst acht Jahre, als sie gestorben sind. Mokuba gerade mal vier.« Auf den Bildern lachten sie alle. Sie wirkten so sorglos, als hätten sie nicht nur noch wenige Jahre zusammen. Aber woher sollten sie das wissen? »Wie –?« Meine Stimme klang seltsam. Als hätte sie nicht damit gerechnet, gebraucht zu werden. Ich räusperte mich. »Wie sind sie –« Sarahs Blick verfing sich in einem der Fotos. Gedankenverloren strich sie mit dem Daumen über die drei Kinder darauf. »Sie waren auf der Heimfahrt nach einem tollen Wochenende im Ferienhaus am Meer. Vielleicht kam der andere Wagen deswegen ins Schleudern, weil der junge Mann angetrunken war, wir wissen es nicht. Vielleicht wäre nichts passiert, hätte er nicht mit seinen Kumpels getrunken. Vielleicht hätte es nichts geändert.« Sie lachte auf, wie jemand, dem eher nach dem Gegenteil zumute war. »Er hat den Wagen gestreift, dann ist er frontal in ihr Auto geprallt. Er ist schwer verletzt worden, genauso wie Seto und Mokuba auf der Rückbank. Ihre Eltern sind noch an der Unfallstelle gestorben. Genauso wie –« Sie kniff die Augen zusammen, atmete zittrig aus und ich betrachtete das Bild, um das sie ihre Finger krampfte. Mich beschlich eine Ahnung, die ich nicht abschütteln konnte. Ich wollte nicht fragen, aber ich wollte verstehen. »Sarah«, murmelte ich, »wer ist das blonde Mädchen?« Sie sah mich nicht an, sie fixierte das Foto, als spräche sie zu ihm. »Meine Tochter Amy. Sie hat das Meer geliebt.« Sie lächelte, aber ich sah die Tränen in den Augenwinkeln. Sie nahm mir eines der Fotos aus der Hand, das die junge Frau mit den braunen Locken zeigte. Ihre Augen strahlten hell und erinnerten mich an Kaibas, die Form und Farbe. Aber der Ausdruck war so komplett anders. Der Blick der Frau war voller Leichtigkeit. »Sie war meine beste Freundin – Lilien, Setos und Mokubas Mutter«, murmelte Sarah. »Wir waren schon seit unserer Kindheit befreundet. Wir hatten noch so viele Pläne. Sie wollte einen Süßigkeitenladen eröffnen. Für Kinder.« Sarah lachte und strich über ihre Augen. »Kannst du dir den Blick ihrer Eltern vorstellen? Sie kam aus einer konservativen Familie, alles Juristen und Leute, die Doktorentitel sammelten wie andere Briefmarken – oder DuelMonster-Karten.« Ich konnte mir gut vorstellen, wie diese Frau ganz unerschrocken ihren Weg ging, wie sie gegen ihre Familie rebellierte und andere inspirierte, niemals den eigenen Traum aus den Augen zu verlieren. »Auf der Uni traf sie dann auf Taro. Die beiden haben ihren Familien ganz schön Kopfzerbrechen gemacht. Sie haben trotzdem geheiratet und für einige Jahre waren sie glücklich, bekamen zwei wunderbare Kinder und es hätten noch so viel mehr Jahre werden sollen.« Sarah legte das Bild zurück in die Box und starrte an die Wand. »Ich hätte so viel mehr für Seto und Mokuba machen müssen. Aber –« Sie hatte ihre Tochter verloren, gerade so wie Kaiba und Mokuba ihre Eltern. Nein, sie hatte nicht ausschließlich ihre Tochter verloren, sondern auch ihre beste Freundin. »Ich hatte damals schreckliche Gedanken, war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt und mit all dem –« Sie konnte es nicht in Worte packen und ich bezweifelte, dass ich nachvollziehen konnte, was das alles bedeutete. »Seto war ein liebevolles Kind. Er war zu intelligent für sein eigenes Wohl, das stimmt. Und er hätte alles für Mokuba getan.« Ich betrachtete die Fotos in meiner Hand. Mokuba grinste, während er auf dem Rücken seines großen Bruders ritt. Mokuba lachte, während er seine Arme um Kaiba schlängelt. Mokuba sah hoch zu seinem Bruder, während der ein selbstgebasteltes Ding in die Kamera hielt. »Vielleicht hat er das. Vielleicht hat er zu viel getan.« Der kleine Junge löste sich vor meinem inneren Auge in seine Pixel auf, verschwand und ließ eine Box voller Erinnerungen zurück. »Ich weiß nicht, ob es dir hilft«, sagte Sarah, »aber wenn ich die beiden heute sehe, sehe ich immer noch die beiden kleinen Jungs von den Fotos.« Mein Blick fiel auf das blonde Mädchen und ich schwieg. Vielleicht war es deswegen besser zu glauben, Angestellte der Kaiba Corporation hätten kein Leben außerhalb der Firma. Weil es das sorgsam aufgerichtete Bild zerstörte. Weil es einem klar machte, dass das alles Menschen waren mit ihren eigenen Geschichten. Und manche Geschichten hatten kein Happy End.   Man weiß nie, welche Geschichte der Andere mit sich herumschleppt. Welche Menschen in seinem Leben eine so wichtige Rolle spielen, dass ihr Verlust eine Lücke hinterlässt, die niemals wieder gefüllt werden könnte. Welche Kommentare oder Worte eine so tiefe Bedeutung besitzen, dass sie etwas wecken, das man nicht wieder zum Schlafen wiegen kann. Manche Sätze reißen Wunden auf, die nicht wirklich verheilen, sondern nur vernarben. Manchmal weiß man das alles erst, wenn es zu spät ist.   Wir saßen in Mokubas Zimmer, wo ich so tat als würde ich Hausaufgaben machen, während Mokuba aus dem Fenster starrte und ab und zu meine Matheaufgaben für mich ausrechnete. Eigentlich erklärte er sie mir, aber ich starrte ihn nur an und achtete kaum auf seine Worte. »Hast du keine auf?«, fragte ich irgendwann, während ich den Bleistift auf einem Finger balancierte. »Mh?« »Hausaufgaben und so?« Er schrieb Zahlen und Buchstaben auf. »Doch, doch«, meinte er bloß. »Mokuba«, murrte ich. »Ist schon okay.« Ich bezweifelte das, aber schwieg und fragte mich, was seine Eltern wohl dazu gesagt hätten. Darauf würde ich wohl aber nie eine Antwort bekommen. Durch die Wand konnten wir Kaibas genervte Stimme hören. »Sofort!«, keifte er in einen Hörer. Mokuba schwieg, ignorierte das alles, als wäre Kaiba bloß in meiner Vorstellungskraft in dem Zimmer nebenan. »Ihr solltet einfach mal miteinander reden«, sagte ich und Mokuba hielt inne. »Offen und ehrlich. Es bringt doch nichts mit den ganzen Vorwürfen und so.« Er sah mich nicht an. »Genauso gut könnte ich mit der Wand reden«, behauptete Mokuba. »Wobei –« Jetzt drehte er seinen Kopf und schaute an mir vorbei durch das Fenster, wo sich unter uns der Garten entfaltete. In den Baumwipfeln saßen Vögel und zwitscherten. Unten plätscherten ein Teich und ein Brunnen und dazwischen blühten Blumen. Es war das verdammte Paradies. »Die Wand ist wenigstens da.« Aber waren die Menschen nicht irgendwann aus dem Paradies geflogen?   Es ist verrückt, wie Menschen zu zweit aneinander vorbeileben können. Verrückt, wie sich die Außenansicht von der inneren unterscheidet. Schmerzhaft, wie Menschen, die sich nahestehen, auseinanderdriften und zu zweit einsam werden. Aber genau das konnte ich gerade beobachten. Es war als würde nur ich begreifen, was passierte, ein stiller Beobachter, ein Zuschauer im Kino. Wie diese Szenen, bei denen man genau weiß: nein, macht das nicht, nein, tut was Anderes! Aber die Darsteller halten sich an ihr Skript. Kaibas Finger huschten über die Tastatur, dann löschte er das, was er eingegeben hatte und hämmerte auf die Enft-Taste ein, als wäre es deren Schuld. Er nahm einen Schluck Kaffee (obwohl es ganz sicher keine Kaffeezeit mehr war) und fingerte an der Kanne, als er sich mehr einschenkte, während Mokuba mit der Gabel in der Lasagne herumpulte. Ich saß mit am Esstisch und wünschte mir irgendwie woanders zu sein. »Verdammt!«, murrte Kaiba. Braune Flüssigkeit ergoss sich über seine Hose. Seine Finger zitterten, er griff nach Servietten und fuhr sich genervt durchs Haar. Kaiba war nicht nervös. Kaiba war immer souverän. »Okay.« Ich dehnte das Wort, so dass es drei Silben hatte. Nur wenn er es eben doch nicht war. »Komm mal runter. Was ist los?« Ich reichte ein paar Servietten, die er mir ungeduldig aus der Hand riss. »Ich bin absolut ruhig«, zischte er. Mokuba schnaubte. Das einzige Zeichen, dass er Notiz von dem nahm, was sich bei seinem Bruder an der Seite des Esstischs abspielte. »In zwei Wochen beginnen die Eröffnungsspiele der Kaiba-Championships.« Ich wusste nicht, worauf er hinauswollte. Wahrscheinlich, dass er viel zu tun hatte und auf so dumme Kommentare meinerseits verzichten konnte. Er klopfte seine Finger ungeduldig auf die Tischoberfläche, als wartete er auf etwas Offensichtliches. Ich wusste nicht auf was. »Also?«, fragte er, als ich ihn nur schweigend anschaute. Genauso wenig, wie was das mit mir zu tun hatte. »Hä? Was soll –« Außer natürlich, dass ich Yugi anfeuern würde. »Ob du jetzt teilnimmst oder nicht«, unterbrach er mich unwirsch. Mir fiel der Kiefer herunter. »Was – ich – der –« Ich schaute überfordert zu Mokuba, der meinen Blick eine Sekunde erwiderte und dann wieder seinen Teller fixierte. »Ich habe mich nicht angemeldet«, sagte ich mit einem Schulterzucken. Natürlich wusste Kaiba das. Kaiba wusste alles über seine Turniere und Teilnehmer beziehungsweise Nicht-Teilnehmer. »Der Anmeldeschluss war ja schon vor Wochen und –« Er schaute mich an, als wäre ich ein Depp. Natürlich wusste er auch, wann der Anmeldeschluss war. Er war der VERDAMMTE VERANSTALTER! »Ich spreche nicht von den Vorrunden, Wheeler. Ich spreche von dem interessanten Teil.« »Aber nur Yugi und –« Er sah mich mit hochgezogenen Brauen an und langsam wühlte ein Sturm in meinem Magen. Wie eine Vorahnung, der man nicht ganz traute. »Du – meinst –« »Das Turnier kommt auch ohne deine Teilnahme aus, keine Sorge. Solltest du dennoch –« Ich wollte gerade antworten. Versuchsweise eine coole Antwort, die nichts von diesem inneren Tsunami offenbarte, von diesem Glücksgefühl, das einen ganz bescheuert im Kopf machte, als ich eine Bewegung im Augenwinkel sah. Mein Kiefer klappte nach unten, als Mokuba eine Schachtel Zigaretten auf den Tisch legte, ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche fischte und die Kippe vor mir und seinem Bruder mitten im Esszimmer anzündete. »Was zur –« Mein Blick fuhr zurück zu Kaiba, der sah aber nur mich an. Ignorierte er allen Ernstes die Show, die sein kleiner Bruder abzog? »Hey, das ist echt nicht cool«, bemerkte ich und Mokuba zog die Brauen hoch. »Das sagst grade du?« »Ich habe nie geraucht«, behauptete ich und bog die Wahrheit etwas. Natürlich hatte ich mal geraucht, aber da war ich nicht so jung wie Mokuba gewesen und außerdem hatte ich es nach wenigen Monaten schon wieder aufgegeben. Es galt also nicht wirklich. Und ich würde mich sicherlich jetzt nicht in den Abgrund werfen, während Kaiba mich beobachtete, als würde er mich wie ein Insekt zerquetschen, würde ich das Falsche sagen. »Da wirft man nur Geld zum Fenster raus. Das habe ich lieber für – das ist ja jetzt egal.« Es war nicht pädagogisch wertvoll jetzt darüber zu diskutieren, ob Alkohol besser war als Zigaretten. Alkohol, den man für den Vater nach der Schule schnell in den Kühlschrank stellte, weil man hoffte, dass er dadurch aus dem Loch kletterte. Was natürlich absoluter Unsinn war. Aber da war diese unsinnige Hoffnung gewesen, dass er eines Tages lächeln würde. Absolut unsinniger Bullshit natürlich. »Mokuba.« Kaibas Stimme war sanft, so sanft wie der Wind im Sommer, aber seine Augen waren kalt, eiskalt, wie ein zugefrorener Weiher. Das Esszimmer war so ruhig, als stünden wir im Auge eines Wirbelsturms. »Wenn du rauchen möchtest, dann gehe bitte nach draußen.« Eine Gänsehaut kletterte meinen Nacken hinauf. Mokuba stierte seinen Bruder an, legte die Zigarette an die Lippen und sog daran. »Du hast mir gar nichts zu sagen!« Und dann kippte die eisige Stille. Wir standen mitten in einem tosenden Tornado. Mit wenigen Schritten stand Kaiba über Mokuba, schlug ihm die Zigarette aus der Hand, hielt ihn mit der anderen an der Schulter fest. »Ich habe dir eine Menge zu sagen, solange du minderjährig bist.« Er schrie nicht. Kaiba schrie nie, wenn er wirklich wütend war. Es wurde gefährlich, wenn er leise sprach, mit dieser Samtstimme, gefüllt mit Gift. »Du bist nicht mein Vater!«, knurrte Mokuba und riss seine Hand aus der seines Bruders. Es war wie ein Peitschenhieb. Ich sah es in Kaibas Mimik, in seiner ganzen Körperhaltung. Kaiba hob seine Hand und für einen erschreckend langen Augenblick glaubte ich, er würde es tun. »Kaiba«, sagte ich langsam (meine Stimme klang ganz seltsam fremd in meinen Ohren) und stand plötzlich zwischen den beiden. Ich ging Sachen frei Schnauze an. Aber trotz anderslautender Gerüchte verabscheute ich Gewalt als Mittel zum Zweck. »Seto«, flüsterte ich und berührte seine Schulter. Er stand da wie eine Statue. Mokuba starrte ihn an, auf seinen Wangen ein hektisches Rot und seine blauen Augen schwammen plötzlich. »Geh«, sagte Kaiba. Er schaute an Mokuba vorbei und einen Moment lang dachte ich, er redete mit mir. »Geh in dein Zimmer.« Mokuba gehorchte. Bis zur Küchentür schritt er mit erhobenem Kopf, dann knallte er die Tür hinter sich zu und ich hörte, wie er die Treppe nach oben rannte. Stille. Ich zögerte. Zuerst wollte ich Mokuba folgen, ihn trösten und sagen, dass sich alles wieder einrenken würde. Aber dann sah ich Kaibas Mimik. Wie die Fassade bröckelte. Sein Blick klebte an der zugeschlagenen Tür. »Manchmal frage ich mich, was Gozaburo getan hätte«, murmelte er und ich schluckte. »Es ist absurd. Weil ich ganz genau weiß, was er angerichtet hat.« Er wischte sich mit seiner Hand übers Gesicht und lachte auf. Dieses Lachen, das mir einen kalten Schauer verursachte, weil es so freudlos war. Ich stand ganz nah bei Kaiba, so nah, dass die Luft vibrierte. »Er war ein hervorragender Geschäftsmann. Aber ein liebloses Arschloch als Vaterfigur.« Ich atmete ein und atmete Seto. »Manchmal denke ich, er hat letztlich doch gewonnen. Er hat mich zu seinem perfekten Nachfolger modelliert.« »So ein Blödsinn«, murmelte ich. »Du bist manchmal ein Arsch, aber ganz sicher kein so großer wie der.« Er sah mich an und hob eine Augenbraue, ich zuckte die Schultern, grinste verlegen, blieb aber bei meiner Aussage. Mit lieblosen Arschlöchern kannte ich mich schließlich aus. »Ihr müsst einfach mal reden. So richtig. Momentan redet ihr sowas von aneinander vorbei. Ich glaube, Mokuba fühlt sich halt alleine und ich meine, wir wissen, dass du nicht mit Liebesschwüren und so einem Scheiß um dich schmeißt, aber –« »Wir?«, fragte er. »Ich meine – also – Mokuba und – allgemein –«, stotterte ich und spürte wie mir Hitze ins Gesicht schoss. »Ich denke, er will deine Aufmerksamkeit.« Ich räusperte mich und lachte verlegen auf. »Wenn ich mir so überlege, was ich alles für einen Scheiß dafür gemacht habe.« »Für meine Aufmerksamkeit?« »Träum weit-« Er zog mich an sich und für einen Augenblick blieb mir die Spucke weg. Er legte seine Stirn auf meine Schulter, ich atmete den Duft seines Shampoos und fühlte ein Vibrieren an meinem Schlüsselbein, als Kaiba in sich hineinlachte. Da war eine Berührung mehr als drei Worte. »Er vermisst dich«, murmelte ich und kraulte ihm durch sein Haar. »Ich weiß«, flüsterte er. »Ich ihn auch.« Es war erschreckend, wie alleine zwei Leute gemeinsam sein konnten. Wie weit entfernt voneinander, obwohl sie im selben Haus wohnten. Wie schwer es sein konnte, jemandem zu sagen, dass man ihn vermisste. Meine Gedanken wanderten zu meiner Familie, während ich Setos Wärme atmete und spürte, wie er in Erinnerungen gefangen war. Vielleicht an Eltern, die von einem Tag auf den anderen nicht mehr da waren, an Väter, die die Lücken nicht füllten, an Kinder, die in Löcher fielen und es nicht schafften, sich heraus zu kämpfen, ohne viel zu viel von sich zu verlieren. An Söhne, die zurückblieben und alleine zu Männern werden mussten. An Väter, die keine Väter waren. »Wenn du ihn so hasst, warum hast du seinen Namen behalten?«, flüsterte ich. »Ich hasse ihn nicht«, erwiderte er gegen mein Shirt. Erst nach einem Moment sprach er weiter. »Der Name hat mir Möglichkeiten eröffnet. Es war nicht so sehr das Geld – auch wenn das natürlich hilfreich war – es war aber vor allem der Name, der mir so vieles ermöglicht hat.« Er atmete tief durch und ich spürte seinen Atemzug über meine Haut wandern. »Und er hat Mokuba ein sorgloses Leben bieten können.« Ich schnitt eine Grimasse. Darüber ließe sich streiten. Er atmete tief ein und setzte sich auf einen der verlassenen Stühle, ließ mich aber keinen Moment lang los, sein Arm um meine Hüfte. Die Lasagne vergessen auf dem Tisch. Zeuge unserer unausgesprochenen Vertrautheit. Ich stand da, meine Beine an seine Knie gepresst. Obwohl ich nichts sagte (oder gerade deswegen), sah er hoch zu mir. »Gerade du solltest das begreifen. Ich hatte damals nicht viele Optionen.« Ich seufzte. Natürlich tat ich das. Der Name gab ihnen Halt. Er zeigte ihnen, wo sie hingehörten. Er versprach ihnen, Erfolg und finanzielle Freiheit. Und vielleicht war es für Kaiba, das erste Mal im Leben gewesen – nach dem Tod seiner Eltern – dass er sich nicht mehr hilflos fühlte. Ich verstand es. Auch, wenn es mir Magenschmerzen bereitete, das zugeben zu müssen. Wie es war, wenn Menschen einen nicht kannten, aber schon geurteilt hatten. Wie musste das für Waisen sein, die niemanden hatten, außer einer Institution, die unterfinanziert und überfordert war? Kaiba hatte sein Leben und das seines Bruders selbst in die Hand genommen. Er hatte die Schubladen gesprengt und den für ihn vorgezeichneten Weg verlassen. Das hätte ganz schön daneben gehen können. Vielleicht war es das. Der Name Kaiba war nicht nur eine Hilfe. Er war eine Bürde. Ich verstand noch nicht genau, was es ganz genau bedeutete. Wie sehr Gozaburo aus dem kleinen Jungen den jungen Mann heute geformt hatte, aber ich ahnte es. Vielleicht würde ich es nie ganz begreifen. »Und jetzt?«, fragte ich, wie jemand der die Orientierung verloren hatte. Meine Gedanken schwammen zwischen alten Fotografien, Zeitungsausschnitten und Schlagzeilen und dieser Familie, die ein Unfall auseinandergerissen hatte. Wer wäre Seto heute, wenn seine Eltern noch leben würden? Wenn aus dem kleinen Junge ein Teenager hätte werden dürfen und kein Erziehungsberechtigter? Vielleicht konnte es niemand wirklich begreifen, wie er in diese Situation gerutscht war. Wahrscheinlich nicht einmal Mokuba. »Bist du glücklich?« Es rutschte mir heraus. Ich kniff die Augen zusammen. Da war kein Vorwurf in meinen Worten, kein versteckter Angriff. Nichts, nur mein ehrliches Interesse und vielleicht ein bisschen Resignation. Aber vielleicht provozierte die Antwort zu viel Ehrlichkeit. Kaiba starrte mich einen Augenblick lang an, als hätte ich ihn gefragt, ob er im Foyer der KC mit mir nackt einen Tango tanzen wollte. »Jetzt gerade?«, fragte er. Für andere wäre das alles absurd gewesen. Jetzt, kurz nach der Situation mit Mokuba. Jetzt, während dieser kleinen Ewigkeit, in der die beiden so aneinander vorbeilebten. Natürlich war Kaiba da nicht glücklich. Aber das meinte ich auch nicht und das wusste er. »Mit deinem Leben – und so –« Er schnaufte und es klang wie ein missglücktes Lachen. »Ich bin ein erfolgreicher Geschäftsmann. Ich bin reich und berühmt.« Ich schnaubte, denn ich kannte ihn zu lange, dass er mit solchen Erwiderungen eine Antwort auf die eigentliche Frage vermeiden konnte. Und er wusste das. »Echt? Ist mir bisher gar nicht aufgefallen«, erwiderte ich. Er verdrehte die Augen, lehnte sich vor, seinen Kopf an meinen Bauch und ich stand da und wollte diesen Moment festhalten, in die Länge ziehen, aufnehmen und immer wieder spüren. Vielleicht wollte ich in diesem Augenblick meine Frage zurücknehmen, vielleicht wollte ich es gar nicht so genau wissen. Es war einfacher nicht zu begreifen, warum Menschen waren, wer sie sind. Seto Kaiba konnte ein Arsch sein, er war manchmal viel zu perfektionistisch und erwartete auch von seinen Mitmenschen zu viel und manchmal war er viel zu arrogant und erwartete von seinen Mitmenschen zu wenig. Er konnte rücksichtslos sein, mit Worten einen so schmerzhaft genau treffen, dass man glaubte, nicht mehr atmen zu können. Er konnte einen wegstoßen, einen verbannen mit einem Blick und aus seiner ganzen Welt verjagen. Er konnte aber auch ganz anders sein. So wie in diesem Augenblick, mit einer Geste einen so genau treffen, dass man glaubte, nicht mehr atmen zu können, weil er mich in seine Welt holte, die so viel mehr war als das, was man von außen sah. »Ich bin nicht unglücklich«, flüsterte er. »Das ist nicht dasselbe«, murmelte ich. Ich war nicht erfolgreich – nicht im traditionellen Sinn. Das einzige, was ich erfolgreich führte, war der Rekord im Verlust von Arbeitsblättern. Erfolg machte viele Menschen glücklich, aber erfolgreich sein zu müssen, machte Menschen krank. Es gab bestimmt genug Leute, die damit nicht klarkamen, die an den Erwartungen anderer zerbrachen oder sich selbst verloren. Ich selbst hatte mich oft genug verloren gefühlt. Nicht, weil die Erwartungen anderer zu hoch waren – sie waren zu niedrig gewesen. Und trotz dieses gravierenden Unterschieds waren Seto Kaiba und ich vielleicht gar nicht so verschieden. Er griff in mein T-Shirt, zog mich zu sich, so dass ich mich zu ihm beugte. Als hielt er sich an diesem Augenblick fest. »Aber manchmal«, murmelte er gegen meine Lippen, »bekommt man nicht mehr als eine Ahnung davon. Ein Gefühl, wie es sein könnte.« Ich wusste, wie scheiße es sein konnte. Diese Tage, wenn einen nur dieses Wie-es-sein-könnte aufstehen ließ. »Manchmal muss das gut genug sein.« Und ich wusste manchmal selbst nicht, was mich glücklich machte. Ich wusste oft nur, was mich unglücklich machte. Meine Strategie lautete »Augen zu und durch« und »der Lautere behält Recht«. Und oft genug bekam ich auf meine vorlaute Schnauze. »Auch für Mokuba?«, fragte ich und damit zerbrach dieser perfekte Moment. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)