Was wir sind von Jaelaki (Seto & Joey | Puppyshipping) ================================================================================ Kapitel 47: … bin ein Angestellter ---------------------------------- __________________________________________   Auch unter Lügnern gibt es angestellte und selbständige. © Art van Rheyn    __________________________________________           Ich wusste, wie ich die Wahrheit so auslegte, dass ich damit leben konnte. Wahrheit war sowieso nichts Objektives. Wahrheit lag im Auge des Betrachters. Ich verdrängte das, was ich nicht sehen wollte und betonte das, was mir passte. Ich war ein Lügner. Aber sind wir das nicht alle?   Eins. »Eine Zusammenarbeit. Sie profitieren von Joey Wheelers«, hier machte er eine Pause, »Enthusiasmus und er von Ihrem Professionalismus.« Zwei. Tiefer Atemzug. Drei. Wir saßen in Kaiba Büros und ich zählte innerlich bis zehn. Zum dreizehnten Mal. Um ja nicht zu explodieren. Vier. Herr Le saß links von mir, die Hände im Schoß gefaltet, als würde er beten. Wahrscheinlich ging es ihm nicht viel anders als mir. Und ich sagte mir gedanklich all die super Chancen auf, die ich durch dieses Projekt bekam, während Kaiba und Sarah abwechselnd das Vorgehen erklärten. Fünf. Raus aus meinem Viertel. Sechs. Mit den reichsten Personen der Stadt diskutieren. Sieben. Anerkennung. Lob. Geld. Acht. Mich und mein Talent beweisen. Neun. Diese Blicke. Die sich von »Gossenkind« in »begabter Angestellter« wandelten. Zehn. »Mit allem Respekt, aber –«, wandte Herr Le ein und Sarah runzelte ihre Stirn. Aussagen, die so begannen waren normalerweise alles andere als respektvoll. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Herr Wheelers Skizzen sind –«, er räusperte sich, »speziell. Sicherlich findet sich Verwendung für seine Ergebnisse bisher in der Kampagne, aber seine Mitarbeit ist dafür nicht zwingend er-« »Das Animation Studio hat deutlich gemacht, dass seine Mitarbeit sehr wertvoll ist«, widersprach Sarah und ihre Armketten klirrten wütend. Herr Le schnaubte. Er erinnerte mich an ein beleidigtes Kind. Es wäre lustig gewesen, wäre ich nicht so angepisst. »Glauben Sie mir«, scharrte ich und verschränkte meine Arme hinterm Kopf, »ich hab Besseres zu tun, als hier den ganzen Tag zu streiten ob und was ich hier zu suchen hab.« Herr Le warf mir einen Blick zu, der ganz deutlich machte, dass er das bezweifelte. Kaibas Blick war nicht feindselig, aber im Kern schaute er genauso. Ich verdrehte die Augen und sprang vom Stuhl. »Ich bin dann unten im Studio. Mailo meinte, er wollte mir gern noch was zeigen.« »Wheeler, setz dich wieder hin.« Kaibas Ton dudelte keine Widerworte und Herr Le warf mir einen selbstzufriedenen Blick zu, bei dem ich ihm am liebsten auf die Schuhe gespuckt hätte. »Aber –«, widersprach ich trotzdem. »Herr Wheeler, setzen Sie sich hin und vergessen Sie nicht, in wessen Büro Sie sich gerade befinden.« Ich starrte Kaiba an und öffnete den Mund, aber er fuhr fort, ohne mir die Gelegenheit zu geben, etwas zu antworten. »In dem Ihres Vorgesetzten, verstanden?« Mein Blick hüpfte zu Sarah, die mich mit ausdrucksloser Miene musterte. Ich zuckte die Schultern und warf mich zurück auf den Stuhl. Es folgte eine halbe Stunde Vortrag über Zusammenarbeit und Ziele und die Werte der Kaiba Corporation. Innerlich zähle ich dreiundvierzig Mal bis zehn und verfluchte Kaiba jedes Mal, wenn er mich siezte.    Die nächsten Tage wanderte ich zwischen den Animation Studios und der Marketing-Abteilung hin und her. Miller – Herr Les Scherge, blond, groß und immer mit Fliege – führte mich in das Online-Marketing ein und erzählte etwas von Clips und Reichweite und Social Media. »Visuell, verstehen Sie?« Ich nickte mit gehobenen Augenbrauen, dann schüttelte ich langsam den Kopf. »Bilder, Videos, GIFs. Die Menschen sind visuelle Stimulation in unserer modernen Welt gewohnt! Farben! Dynamik! Andernfalls geht die Werbung in einer Flut anderer Reize unter. Das Angebot ist überwältigend!« Ich wünschte mir, es wäre schon Mittagspause. Ich hatte nämlich überwältigenden Hunger. Herr Millers Redeschwall nahm nicht ab, obwohl seine Mimik ausdrückte, wie wenig er annahm, dass ich verstand, was er da laberte. Ganz Unrecht hatte er nicht. »Natürlich ist das Timing ebenfalls entscheidend und die Frequenz. Social Media sind schnelllebig. Neues veraltete innerhalb von Minuten. Neuer Input ist daher –« Input war vielversprechend. Ich hoffte, es gäbe Burger in der Kantine.   »Joey! Hey! Setz dich zu uns!« Mailo wedelte mit seiner Hand, als ich mit meinem Tablett planlos da stand und mich nach einem Platz umschaute in der gut besuchten Kantine, die von Anzügen und Krawatten besetzt war. Tische standen an der Glasfront, die Ausblick auf den Vorplatz bot, oder an brusthohen Trennwänden, die aus Milchglas und Aquarien bestanden. Ich ignorierte die Blicke, die an meinen Shorts und meinem T-Shirt mit Aufdruck hängen blieben und stapfte an den langen Tisch, an dem als einziger niemand einen Anzug trug. Mailo und die ganze Truppe grinsten mich an. Ich zurück. »Das sieht sehr gesund aus«, behauptete Maya mit hochgezogenen Brauen. »Hast du Reis und Gemüse genommen? Ich hab Nudeln und Gemüse mit Bolognese.« »Ja, Reis und Gemüse. Zumindest glaube ich, dass das Grüne Gemüse ist. Und Hühnchen. Oder sind das Pilze?« Wir schauten uns einen Augenblick lang an, dann brachen wir in Gelächter aus. Uns trafen abschätzige Blicke, die ich mir von der Schulter schüttelte.   Kaiba konnte überall arbeiten. Er aß nie in der Kantine – entweder er aß in seinem Büro oder er war tatsächlich ein Roboter, der sich nur an die Steckdose anschließen musste, beides denkbar – aber ab und zu saß er mit irgendwelchen Vorstandsmitgliedern oder Abteilungsleitern oder wem auch immer dort an einem der Tische und besprach sicherlich super wichtige Dinge. Dinge, die ich nie verstehen würde, nicht einmal dann, wenn er es mir persönlich erklärt hätte. Dabei hatte er immer seinen Laptop oder ein Tablet. Ab und zu saß er dort so versunken in seiner Arbeit, dass es schien, als existierte er in einer Parallelwelt, in der er das Geräusch des Geschirrs und das Geplauder in der Mensa nicht wahrnahm – oder mich. Ich zwang mich, Kaiba nicht anzuglotzen, während er ganz woanders war. In den Animation Studios lenkten mich schon Mayas Witze ab oder wenn jemand an mir vorbei ging. Kaiba war da ganz anders. Oder mich aus Versehen anblinzelte. Kaiba war ganz woanders. Und die Erinnerung, seine Lippen auf meinen, schien wie ein Witz, den jemand erzählte, um mich zu verspotten. Wie ein Unfall, den ich nicht vergessen konnte, aber an den ich mich nicht erinnern wollte. Hatte ich mir die Nähe nur eingebildet? War das alles nur ein Missverständnis? Ein Zufall? Ein Unfall? In meinem Magen krochen Raupen. Mit einem Seufzen stand ich auf. »Hey, Joey! Alles klar?«, hakte Maya nach und ich nickte. »Jopp, ich brauch nur gerade ein ruhiges Plätzchen oder so. Meine Aufmerksamkeit –« Ich verzog den Mund. Sie kicherte. »Naja, kann nicht jeder ein Büro haben wie Herr Kaiba persönlich«, stichelte sie und kolorierte weiter digital an einem der Poster. Ich starrte sie an, dann packte ich meine Papiere und Stifte und das Tablet, das ich nur für meine Arbeit in der KC verwendete, und wandte mich zum Gehen. »Bis später!«, rief sie mir hinterher und ich hob die Hand.   Kaibas Büro war in einem der obersten Stockwerke, wo sich kaum jemand hin verirrte. Was natürlich nicht am Standort lag, sondern ganz einfach an dem Geldsack selbst, den niemand – wie ein wildes, unberechenbares Tier im Gehege – provozieren wollte. Ohne anzuklopfen, riss ich die Tür auf. Außer mir natürlich. Kaiba massierte seine Nase, dann die Schläfen. »Ich arbeite hier, Wheeler«, knurrte er, ohne aufzusehen. »Ja, ich doch auch«, erwiderte ich verärgert. Jetzt blickte er mich über die Bildschirme hinweg an. Seine Augenbrauen verschwanden in feinen Bögen unter seinem Pony. An seinem Mundwinkel zupfte Zorn und Hohn. Aber das irritierte mich kein bisschen. Ich lud meine Papiere und Stifte und das Tablet auf dem Couchtisch ab und ließ mich daneben nieder. »Wheeler«, begann er und seine Stimme klang wie ein drohendes Gewitter. Ich wedelte mit der Hand, als verscheuchte ich eine lästige Fliege. »Ich hab kein Büro und in den Animation Studios ist es so hektisch zur Zeit, tausend Fragen und alles und ich kann da einfach nicht denken.« Ich deutete mit meinem Finger auf meinen Kopf, um meine Notlage zu verdeutlichen. »Wofür müsstest du denken?«, hakte er nach, aber sein Blick sagte ganz deutlich, dass es ihn nicht interessierte, dass er nur aus Gewohnheit spöttelte. Das hielt mich natürlich nicht von einer Erklärung ab. »Ist doch klar. Wie ich das«, ich zeigte wieder auf meinen Kopf, »und das«, mein Zeigefinger rutschte auf Brusthöhe, »hier drauf bekomme.« Ich wedelte mit einem Papier. Kaiba atmete tief ein. Und aus. Dann lehnte er sich langsam in seinem Bürosessel zurück und starrte an die gegenüberliegende Wand, als stünde dort, wie er es schaffte, mich nicht durch die Fensterfront zu kicken. Oder wie er es schaffte, ohne dass es jemand mitbekam. »Wenn du nur ein Wort sprichst, lass ich dich rauswerfen«, knurrte er und das Klackern der Tastatur füllte wieder das Büro. »Jopp, kein Problem«, erwiderte ich mit einem breiten Grinsen und breitete mein Zeug aus, dann sah ich auf. »Sag mal. Krieg ich was zu trinken?« Ich sah, wie sich sein Blick verdüsterte. »Nein«, scharrte er, aber mein Grinsen schmälerte das um kein Stück. »Und hör auf zu summen!«   Die Tage vergingen und irgendwann war es Alltag. Kaibas Sekretärin grüßte mich freundlich und seine Berater nickten mir zu. Wenn ich die Kaiba Corporation betrat, grüßten mich immer mal wieder Mitarbeiter der Animation Studios und ab und zu sogar welche der Marketing-Abteilung. Herr Le sprach mit mir nur mit zusammengekniffenen Lippen, aber er kannte meinen Namen. Jeder in der Kaiba Corporation kannte meinen verdammten Namen. Ich musste grinsen bei dem Gedanken und badete in dem Gefühl, so etwas wie berühmt zu sein. »Natürlich kennen die deinen Namen«, behauptete Maya und stocherte in ihren Nudeln herum, »du bist der, den Kaiba angeschleppt hat!« »Was? Er hat mich nicht –« »Er hat sogar für dich gestimmt!« Ich versuchte das Flattern in meinem Magen zu ignorieren. Es war lächerlich. »Er hat für mein Video gestimmt. Für unser Video!«, verbesserte ich. »Du bist das Gesicht der Werbekampagne«, entgegnete sie. »Bald wird jeder in der Stadt dein Gesicht kennen. Und viele deinen Namen.« In meinem Bauch explodierten kleine Raketen, während wir zurück zu den Studios schlenderten.   »Und dann haben wir eine ganze Sequenz digital animiert! Das ist so megacool!«, brüstete ich mich vor Sarah, die Skizzen auf dem Boden ihres Büros hin und her schob, daran vorbei balancierte und kolorierte Versionen an Stellwände pinnte. »Wärmer oder kühler?«, fragte sie ab und zu oder: »Heller? Besser mit Zoom auf euch? Ich denke, das in den Hintergrund und dieses werden wir darüber legen.« Ich nickte, antwortete ja oder nein oder vielleicht mit zusammengekniffenen Augen und schiefgelegtem Kopf. In meinem Bauch tanzte das Gefühl, ernst genommen zu werden und ich gewöhnte mich daran, wenn mich Leute nach meiner Meinung fragten – und sich dafür bedankten. Ich glaubte, mit jedem Tag Kaiba einen Schritt näher zu kommen. Und dann klingelte irgendwann mein Phone und der Anruf katapultierte mich zurück in die Gosse.   Ich saß im Schneidersitz in Kaibas Büro auf dem Boden – so wie jeden Nachmittag – und starrte auf meine Papiere und fluchte leise vor mich her. Manchmal spürte ich seinen Blick auf mir oder glaubte zu fühlen, wie seine Augen durch den Raum wanderten und über mich. »Wheeler«, knurrte Kaiba und ich schnaubte. Stille. Ich spürte die Blicke auf mir, obwohl nur Kaiba und ich hier waren. Das Getuschel und die Komplimente. Die Worte meiner Mutter dröhnten in meinem Kopf, obwohl ich sie durch die Arbeit hier ertränken wollte. Ich verfluchte meine Skizze und meinen Stift und dass ich vergessen hatte, meinen Radiergummi mitzubringen. Etwas traf mich am Kopf. »Hey! Spinnst –« In meinem Schoß lag ein Radiergummi. »Halt endlich die Klappe«, brummte Kaiba, während er am PC tippte. »Oder verschwinde. Am besten beides. Ich kann nicht denken, wenn deine Präsenz –« Ich verengte meine Augen, schnappte mein Zeug und polterte aus dem Büro. Wir spielten das Spiel in den nächsten Tagen auf ähnliche Weise. Jeden verdammten Tag. Die Worte bohrten sich in meinen Schädel und die Blicke in meinen Rücken.   Es war so ruhig, dass ich die Grillen zirpen hörte und das Plätschern des Teichs. Der Wind strich durch die Baumkrone über mir. Mein Nacken war schon ganz steif durch die unbequeme Position gegen den Baumstamm, aber gleichzeitig spürte ich so eine Ruhe in mir, dass ich mich nicht bewegte. Als könnte ich sie dadurch zerbrechen. Wie einen Traum, der für immer verflog, wenn man erst einmal aufwachte. Man konnte nicht zurück. Niemals. Die Blicke würden mich weiterhin verfolgen. Mit jedem Tag fühlte ich mehr Augenpaare auf mir ruhen, das Getuschel hinter meinem Rücken war längst kein Flüstern mehr. Stattdessen hörte ich Gerüchte und Behauptungen, es wäre alles wahr. Mit einem Quietschen schreckte ich hoch, als etwas auf meine Beine fiel und riss die Augen auf. Kaiba ragte über mir, ein Wassereis zwischen den Lippen. Für einen Augenblick war ich davon überzeugt, ich würde halluzinieren. Dann kniff ich die Augen zu. Er war immer noch da. »Ich bin krank, Geldsack, einen Magen-Darm-irgendwas«, maulte ich, aber schnappte mir das Wassereis, das er mir zugeworfen hatte, und lehnte mich wieder zurück. Mein Schädel brummte etwas, doch ich hätte trotzdem in der KC auftauchen können. Ich wusste das, Kaiba wusste das. Wahrscheinlich hatte sogar Yugi meine scheinheilige Entschuldigung durchschaut. Aber gleichzeitig stieg das Gefühl in mir hoch, ich würde kotzen, wenn ich heute dorthin gegangen wäre. Als hätte es sich alles in meinem Magen und meinen Lungen angesammelt und wartete nur darauf hervorzubrechen. »Wie ich sehe«, spöttelte er und ließ sich neben mir im Gras nieder. »Ich hab mich bei Sarah gemeldet. Ich schwänz nicht, Eisschrank«, knurrte ich, ehe er mir so etwas hätte vorwerfen können, aber er schwieg, als hätte ich nicht das passende Passwort genannt. »Was machst du hier?«, drängte ich, weil er einfach neben mir saß, sein Wassereis lutschte und schwieg. »Schaust du bei allen deinen Angestellten vorbei, wenn sie krank sind?«, höhnte ich, doch er klatschte mir keine spöttische Bemerkung an die Stirn. Stattdessen lehnte er sich zurück, stützte sich mit seinen Armen hinter dem Rücken ab und schaute in den Himmel, als wollte er ihm etwas erklären. Mein Blick wanderte über sein Gesicht, seinen Hals, sein Kinn, seine Lippen. Ich wandte mich ab, als hätte ich mich verbrannt. »Es ist ganz normal«, behauptete er plötzlich und ich runzelte die Stirn. Ich bezweifelte, dass irgendetwas, was mit ihm zu tun hatte, normal war. »Hä?«, machte ich und mied seinen Anblick. Ich hatte das Gefühl, er sprach Koreanisch mit mir – oder ich war inzwischen so gut dabei, seine Anordnungen und Aussagen selektiv zu ignorieren, dass ich ein Teil unseres Gesprächs total verpasst hatte. Beides möglich. »Aber du gewöhnst dich daran, Wheeler. Du musst sie lediglich übertreffen und den Rest ignorieren.« Ich legte meinen Kopf schief, während ich am Wassereis saugte. »Woran?«, hakte ich nach. »Ich hab echt keinen Plan, was –« »Die Erwartungen«, schnitt er mir das Wort ab, »und die Blicke.« Jetzt schaute ich ihn doch an. Der Wind spielte mit seinem Haar, während er stur in den Himmel stierte. Es waren nur fünf Worte, aber es war so, als hätte er gerade eine Karte hervorgekramt, die er sonst niemandem zeigte. Die er sonst nicht einmal selbst anschaute. Ich schwieg. Erwartungen. Waren die das, die mir die Übelkeit in den Magen und die Lungen hoch trieb? Blicke. Ich fuhr mir durchs Haar und seufzte. Es war anstrengend. Es war, als wäre ich unter Dauerbeobachtung – von allen Seiten. Meinen Freunden, meiner Familie, Fremden. Und vor allem mir selbst. »Ich brauch Geld«, begann ich langsam und atmete tief durch. Das vor Kaiba zuzugeben war, als würde ich Yugi gestehen, ich wäre in Thea verknallt. Nein, es war anders. Denn Yugi würde eine Schwäche nie gegen einen ausnutzen. Ich sah, wie Kaibas Brauen seine Stirn nach oben kletterten. »Wer braucht das nicht«, entgegnete er. Ich betrachtete ihn mit gestützten Lippen, aber er korrigierte nichts. »Ich mein, ich brauch viel mehr Geld, als ich grade hab.« »Offensichtlich.« Ich plusterte meine Wangen auf, aber noch ehe, ich hätte explodieren können, fuhr er fort. »Mit der Kampagne wirst du –« »Bis vor Ende der Sommerferien. Ich brauch's, bevor die Schule wieder anfängt.« Kaiba schnaubte. »Dann such dir einen Job«, erwiderte er und in diesem Moment ploppte etwas in meinem Hirn und mein Blick weitete sich. Natürlich. Das war die Idee. Naheliegend und doch genial. Ich bräuchte einen Ferienjob – nicht wie im Spielladen unregelmäßig, sondern jeden Tag – sofort, bei dem ich ein paar hundert Scheine verdiente, in einer Zeitspanne von ein paar Wochen. Meine Begeisterung machte eine Crashlandung. Wo sollte ich jetzt noch einen Ferienjob herbekommen? Am besten noch gestern. Ich schwieg und Kaiba schaute auf und mein Blick fiel auf ihn und ich schlug mir an die Stirn. »Kaiba!«, fing ich an und er schlug seine Augenlider auf und zu, als wüsste er, was kommen würde. »Du leitest eine Firma!« Ich war noch nie in meinem Leben so begeistert von dieser Tatsache gewesen. Durch Kaibas Mimik zuckte Spott, Unglaube und etwas, das mich an jemanden erinnerte, der auf seine Zunge gebissen hatte. Jeder andere hätte in seinem Gesicht wahrscheinlich nur den Hohn erkannt. »Wheeler. Nachdem deine Hirnaktivität jetzt offensichtlich völlig auf dem Nullpunkt –« »Ich brauch Geld!«, schnitt ich ihm seine Beleidigung ab, für die ich nicht mehr als ein Gesichtszucken übrig hatte. »Fragst du mich gerade ernsthaft nach einem Job? Während du blau machst?« Er musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen, während ich mich zwang, seinem Blick nicht auszuweichen. »Ich bin krank«, erwiderte ich mit einem Zucken um meinen Mundwinkel. Er schnaubte. »Spar, Wheeler. Dann kannst du dir deine nächsten Boosterpacks eben erst nächste Woche kaufen. Du wirst es überleben.« Ich sprang auf, schritt hin und her, während ich wild mit den Händen wedelte. »Es geht nicht um –« Mein Atem ging schwer, als wäre ich stundenlang gerannt. Ich versuchte mich zu beruhigen, aber mit jeder Minute, in der seine Worte in der Luft hingen und ich nicht die passenden fand, zog sich meine Lunge mehr und mehr zusammen, bis sich alles in einem Schrei entlud. »Wenn ich mir kein eigenes Zimmer leisten kann, dann muss ich zu meiner Mutter ziehen«, brüllte ich und vergrub meine Finger in meinem Haar. Stille. Erwartungen. Blicke. Alles hing zusammen. Ich hörte die Worte meiner Mutter in meinem Kopf und sah ihren Blick vor meinen Augen. Der Anruf, der ankündigte, dass ich packen sollte – ich fragte mich, was, ich besaß kaum etwas – und dass sie erwartete, dass ich einsähe, dass es so nicht weiterginge. Ihren Blick, den ich nicht sah, als sie ging – verschwand mit Serenity an der Hand. Stille. Ich sank zurück ins Gras, stützte meine Schläfen mit beiden Händen, als würde mein Kopf andernfalls zerspringen, meine Knie angezogen. »Lass mich bei dir arbeiten, Kaiba. Ich mein, mehr«, murmelte ich gegen meine Beine. Es war keine Bitte, es war eine sture Herausforderung. Er schnaubte. Schon wieder. »Und als was möchtest du arbeiten? Als Briefbeschwerer?« »Was zur Hölle ist ein –« Er wischte meinen Kommentar mit seine Hand zur Seite und massierte seine Nasenwurzel. »Ich kann – Sachen abtippen«, schlug ich lahm vor. »Oder putzen! Ich kann –« Ich schaute mich hilfesuchend in Garten um, als stünde irgendwo in einem der Büsche, was ich arbeiten könnte. »Ich mach alles. Echt.« Kaiba hob die Augenbrauen. »Fast alles«, verbesserte ich schnell. Immerhin sprach ich hier mit Kaiba. »Bitte«, presste ich zwischen meinen Lippen hervor, als würde es mir Schmerzen verursachen. Und irgendwie tat es das auch – ich spürte die Kopfschmerzen schon durch mein Gehirn preschen wie ein Tornado. All die Diskussionen, die auf mich zukommen würden, all die Blicke, die mir Kaiba zuwerfen würde und die mir den letzten Nerv raubten. Auf die schlechte Art, nicht die gute. »Wie viel brauchst du?«, fragte er über die Silben meines Wortes hinweg und es klang so, wie er im Konferenzsaal sprach. Nüchtern. Kalkulierend. Aufmerksam. Als durchleuchte er sein Gegenüber, während er gleichzeitig seine eigenen Worte verschloss. »Miete für drei Monate, die Kaution halt und – die Miete«, schloss ich leise. »Hast du schon ein Zimmer in Aussicht?« Ich schaute ihn lange an, dann schüttelte ich den Kopf. Er seufzte und wandte sein Gesicht gen Himmel, als zählte er innerlich bis zehn. Gut, ich war also am Arsch. Schon klar. »Mokuba macht morgen diese Spielenacht«, er sagte es, als würde er seine Erlaubnis dazu jetzt schon bereuen und mein Blick schoss zu ihm, »mit Freunden.« Es klang, als handelte es sich um eine Unterart besonders ekliger Nacktschnecken. Diese roten mit dem orangenen Schleim zum Beispiel. »Seine soziale Entwicklung ist immerhin von absoluter Bedeutung. Ich erwarte dich morgen zurück in der KC. Sei pünktlich.« Er erhob sich und ich öffnete den Mund, starrte ihm aber nur stumm nach, als könnte ich die Buchstaben auf meiner Zunge nicht zu Wörtern zusammenfädeln. Wie war das Gespräch von meiner Situation zu Mokubas Spielenacht mit Freunden abgebogen? »Hey, Kaiba! Was zur –« Er verschwand durch die Hintertür und ich zuckte die Achseln. Aus dem würde ich sowieso nichts Sinnvolles mehr herauskriegen. Mit einem Plumps ließ ich mich zurück ins Gras fallen.   »Und dann ist er einfach gegangen?« »Jopp. Ich mein. Ich wollte ihm erst nach, aber – dann hätte ich ihn nur angemeckert und er mich und dann hätte er gesagt Köter, hör auf deine Flöhe aufzuregen und ich Geldsack, lass dir mal dein Roboterhirn untersuchen und ich wäre auch nicht schlauer als vorher gewesen.« Ich zuckte die Schultern, soweit ich das konnte, während ich meine Arme hinter meinem Kopf verschränkt hatte und auf Yugis Bett lag, den Blick starr an die Decke, dann schaute ich ihn an. Auf Yugis Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Was?«, hakte ich nach. »Nichts, nichts.« Ich verengte meine Augen. »Was?«, beharrte ich, aber Yugi brach nur ein Kichern aus, schnappte sich einen Manga und steckte seine Nase zwischen die Seiten. Und damit schien die Sache für ihn abgehakt. Es wäre vielleicht glaubwürdig gewesen, hätte er nicht immer wieder scheinbar grundlos angefangen zu lachen. »Yugi«, brummte ich. »Ich glaube nur«, begann er langsam, »dass sich alles zum Guten wenden wird.« Ich starrte ihn an. So etwas übertrieben Optimistisches hatte ich selbst aus seinem Mund schon lange nicht mehr gehört. Erst als ich im dunklen Zimmer lag und mich von der einen auf die andere Seite drehte, kam mir der Gedanke, dass Yugi wohl nicht alle Karten auf den Tisch gelegt hatte. Denn das machte er nie unbedacht.   Wenn man Kaibas Villa von außen betrachtete, raubte es einem den Atem. Da waren natürlich der Garten und der Pool und das Gebäude selbst, die Garage und die Autos die ab und an davor parkten. Aber erst, wenn man sich innen umsah und die Fassade hinter sich ließ, erkannte man die wahre Pracht. Die Fresken und die Detailliebe, die niemals altbacken oder übertrieben wirkte. Weiß, Beige und Blau – in allen möglichen Tönen – herrschten vor und trotz der Anonymität, die Kaiba in den weniger intimen Räumen seines Hauses aufrecht erhielt, könnte man seine Leidenschaften durchschauen, wenn man ihn kannte. Der Weiße Drache mit Eiskalten Blick war ein wiederkehrendes Element, ebenso Fotografien von Mokuba – aber niemals zusammen mit Kaiba. Kaibas Villa beeindruckte, während ich nicht einmal ein eigenes Zimmer hatte. Eiskalte Finger griffen in meine Gedärme. Jemand riss die Eingangstür auf, bevor ich sie auch nur hätte berühren können und Mokuba fiel mir in die Arme. »Du bist da! Du bist die Rettung!«, rief er und ich tätschelte seinen Rücken und fragte mich, ob Yugi vielleicht doch irgendwie Recht haben könnte. »Ähm, ja?« Er zerrte mich mit beiden Händen in die Küche, wo Kaiba mit dem Rücken zu uns stand, eine Packung und eine Dose haltend, abwechselnd blickte er sie an. Seine Hemdärmel waren nach oben gekrempelt, aber trotzdem wirkte er mit seiner schwarzen Stoffhose, den Lederschuhen und dem blütenweißen Oberteil völlig fehl am Platz. Völlig perfekt. »Ich habe das Kino vorbereiten und Mais kaufen lassen. Mokuba, ich bezweifele, dass Spaghetti mit –«, er las es von dem Glas ab, als sähe er es zum ersten Mal, »Tomatensoße das höchste Maß darstellt, das wir bieten sollten. Aber wir könnten etwas weitaus – Angemesseneres zubereiten lassen.« Dann drehte er sich um und schaute mich an, als wäre das alles meine Schuld. Sein Blick raubte mir den Atem – vor Ärger. Ich krempelte gedanklich schon meine Ärmel hoch, um meinen Zorn loszulassen, als Mokuba heftig den Kopf schüttelte. Seine Locken flogen wild umher und auf seinen Wangen breiteten sich gleichzeitig eine Röte und ein Lächeln aus. »Keine Angestellten«, erinnerte ihn Mokuba streng, »ich will einfach nur normal sein. Ohne irgendwelche Bodyguards oder Hausangestellte! Spaghetti mit Tomatensoße sind perfekt.« Mein Blick schweifte durch die offene Küche, die größer war als die Wohnung, in der ich aufgewachsen war, an den Statuen von Drachen und den Fresken der Decken entlang, in den Garten mit Teich und Pool und Springbrunnen, Bäumen und Bänken, zu Seto Kaiba, an dem alles absolut nicht durchschnittlich war. Und dann zurück zu Mokubas entschlossenem Gesicht, als wäre sein oberstes Ziel, heute Abend alles verschwinden zu lassen, das ihn unnormal erscheinen ließ. Ich fragte mich, ob er irgendwo tief drinnen einsah, dass das in Gegenwart von Kaiba unmöglich war. »Als erstes benötigen wir einen Topf, Wasser und etwas Salz«, erklärte Kaiba mit gehobenem Kinn und klang, als spräche er von einem neuen Business-Projekt, während er ein paar Küchenschränke öffnete, dann noch ein paar weitere. Und noch mehr. Er ignorierte, als sein Phone vibrierte, ignorierte es, als es wieder vibrierte und legte statt abzuheben, seine Stirn in Falten und blieb dann mitten in der Küche stehen, als würde er sich erst jetzt klar darüber, wo er war. »Mokuba, wo stehen die Töpfe?«, fragte er mit zusammengepressten Lippen und Mokuba und ich wechselten einen Blick, dann wandte sich Mokuba an mich, schaute mich von unten mit seinen großen, blauen Augen und ich wusste, ich hatte verloren. »Joey, du kannst Spaghetti und Popcorn machen, oder?«, fragte er und ich hielt ihm grinsend meinen Daumen entgegen.   »Popcorn, Nachos, Cola«, zählte ich auf, »und – am wichtigsten – Eis. Alles da!« Die Leinwand im Keller war nicht so groß wie die eines richtigen Kinos, aber groß genug, um meine Augen beinahe herausfallen zu lassen. Die Sitze waren gepolstert und großzügiger als die im örtlichen Kino, man konnte sie verstellen und sich bequem in eine halb-liegende Position bringen. Ich stellte Schüsseln voller Popcorn auf die Klapptische der Sitze, Nachos, Cola und allerlei Süßigkeiten. Mokubas Augen strahlten, während Kaibas Augen ihn anstrahlten. Und mir wurde klar – nicht zum ersten Mal – dass Kaiba alles versuchen würde, um Mokuba glücklich zu machen. Dass er dafür über seinen eigenen Schatten sprang, dass er Spaghetti kochen würde. Dass er sogar Hilfe zulassen würde, um Mokuba einen perfekten, einen ganz normalen Abend mit Freunden zu ermöglichen. Als Kaiba meinen Blick bemerkte, verengte er seinen, dann klingelte sein Handy und er schritt eilig nach oben. »Joey«, murmelte Mokuba und trat von einem Bein aufs andere, während er Popcorn aus der Schüssel stibitze. »Ich will gern, dass meine Freunde nicht denken, ich wäre – irgendwie –« – verwöhnt. – ein reiches Balg. – der kleine Bruder vom Geldsack. Mir fielen auf der Stelle dutzende Möglichkeiten ein, die Mokuba vermeiden wollte. Aber nicht das, was er dann hervorbrachte. »Anders.« Manchmal wirkte er so durchdacht, so erwachsen, dass ich vergaß, wie jung Mokuba eigentlich war. »Als Kind hab ich mir manchmal gewünscht, dass die KC abbrennt und Seto deswegen nicht mehr dorthin geht.« Seine Worte klangen in meinem Gedächtnis und mir wurde bewusst, dass nicht nur Kaiba Opfer gebracht hatte für das Leben, das sie führten. Dass jeder Opfer im Leben brachte. Aber war es überhaupt für die beiden möglich so etwas wie Normalität zu haben? Ich legte meine Hand auf seinen Kopf. »Weißte, ich glaub, deine Freunde mögen dich, genauso, wie du bist. Mach dir keinen Stress.« Das Lächeln, das sich daraufhin auf seinen Lippen ausbreitete, ließ mich schwören, jeden kleinen Penner, der es wagen sollte, Mokuba den heutigen Abend zu vermiesen, mir eigenhändig vorzuknöpfen. Er hängte sich um meine Hüfte und ich schwor, ihn nicht zu enttäuschen. Niemals.   Wenn man Kaiba betrachtete, verlor man sich in seinem Charisma, seinen verdammt blauen Augen und den bescheuerten Kommentaren, die er machte. Seine Arroganz stank bis zum Himmel und sein Reichtum katapultierte ihn manchmal an den Rand des gesunden Menschenverstandes. »Lass uns auch eine Runde zocken«, rollte irgendwann über meine Lippen, während wir von hinten beobachteten, wie Mokuba und seine Freunde auf dem riesen Bildschirm eines der neuesten Spiele der Kaiba Corporation spielten. Es war einer dieser Kommentare, die man am liebsten sofort wieder zurücknehmen würde. Ich lehnte an der Wand, Kaiba stand rechts von mir. Unsere Schultern berührten sich fast, aber auch nur fast. Seine Hände steckten in den Hosentaschen, sein Blick starr auf die Jungs und das Mädchen gerichtet. Sie johlten und kicherten und dazwischen raschelten immer wieder die Packungen voller Süßigkeiten. Ich konzentrierte mich auf das Game auf der Leinwand, aber all meine Sinne richteten sich auf diese zehn Zentimeter, die Kaiba und mich trennten. Kaiba schnaubte nur und ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass das alles an Antwort war, was ich bekommen würde. »Ich dachte, das ist eine Spielenacht«, murrte ich. »Nicht für dich«, widersprach er und zog sein Phone aus der Hosentasche. »Du arbeitest. Oder wofür möchtest du bezahlt werden?« Hitze stieg mir den Nacken entlang. »Moment, hast du mich als Mokubas Babysitter eingestellt? Wann?« »Was dachtest du? Dass ich dich dazu einlade? Du bist nichts weiter als ein Angestellter, Wheeler.« Damit wandte er sich um und ließ mich stehen, während er sein Handy ans Ohr hob. Ich starrte ihm nach. Natürlich nicht. Es war mir egal, ob unsere Beziehung rein beruflich war – nur auf Verträgen basierte. Es war absolut okay für mich, für ihn nur ein weiterer Angestellter zu sein. »Joey, Joey! Haben wir noch Popcorn. Hey, was –« Ich straffte meine Schultern, winkte ab und grinste Mokuba zu, aber es fühlte sich an, wie eine Maske.   Fünf Stunden später lag ich halb-tot auf einem der Sitze und stopfte mir die Popcorn-Reste in die Wangen, während Mokuba mit geröteten, aber glänzenden Augen plapperte. »So genial! Du bist richtig cool, Joey! Meine Freunde fanden den Abend genial und dich und alles!« Nach dem Hoch, auf dem ich wegen Mokubas Worten trieb, rammte mir Kaiba ein Tief in den Magen, als er mir einen Scheck ausfüllte. Wir standen in der Eingangshalle, Mokubas Freunde waren gegangen und Mokuba lag im Bett, als Kaiba sein Scheckbuch aus der Brusttasche kramte und ohne ein Wort begann zu schreiben. Seine Finger umklammerten den Füller, als suchte er Halt, aber er zitterte nicht. Die Ärmel waren noch immer – oder wieder? – hochgekrempelt und seine Adern hoben sich bläulich gegen die helle Haut seiner Unterarme ab. Sie wirkte so weich, so ein krasser Gegensatz zu der Härte in seinen Augen. Wenn man Kaiba betrachtete, haute einen seine Distanz und Kälte in den Magen. Er führte so weit vorne, dass ihn niemand einholen konnte. Niemand, der normal war. Alles an ihm war überdurchschnittlich. Auch, wenn Mokuba für einen Abend so tun konnte, als wäre er ein normales Kind. Die Wirklichkeit sah anders aus. Genauso, wie ich für eine Weile so tun konnte, als spielte ich in Kaibas Liga. Es war nichts als eine Lüge, wenn man sich sagte, man könnte Kaiba erreichen, man könnte die zehn Zentimeter überbrücken, ihm in die Augen sehen und nicht das Gefühl haben, dass er auf einen hinab sah. »Lass stecken«, presste ich hervor und griff nach der Türklinke. So oder so ähnlich – das hatte ich schon immer mal zu Kaiba sagen wollen. Und so ließ ich den Geldsack einfach mit dem Scheckbuch in der Hand stehen – wollte es so sehr. »Deine Anwesenheit in meinem Büro – stört mich beim Arbeiten.« Ich erstarrte und mein cooler Abgang zerplatzte wie ein Glas, das auf den Boden donnerte. »Warum kommst du ständig in mein Büro, Wheeler?« Weil ich einen ruhigen Platz zum Arbeiten brauchte, weil ich meine Gedanken dort am besten zusammenkriegte, weil ich – »Warum lässt du mich?«, presste ich zwischen den Zähnen hervor, ohne mich umzudrehen, starrte auf meine Hand an der Klinke und versuchte mit reiner Gedankenkraft, die Tür zu öffnen. Meine Muskeln versagten ihren Dienst, mein Wille blieb irgendwo zwischen Hirn und Nerven stecken. »Ich weiß es nicht«, gab Kaiba zu und meine Augen weiteten sich, dann presste ich die Klinke nach unten und verschwand. Das Gefühl, ich würde fallen, ließ mich nicht los. Er hielt mich nicht auf.   »Du hast falsch gelegen, Kumpel«, murrte ich am Abend, als wir beide schon lange im Bett lagen und Yugi schon schlief. »Wendet sich nichts zum Guten. Kaiba ist ein Arsch. Und bleibt einer.« »Ach, Joey«, murmelte Yugi und ich bekam einen halben Herzinfarkt, »wann hat dich das abgehalten, zu tun, was du für richtig hältst?« Ich starrte an die Decke und hörte zu, wie sich mein Herz beruhigte. »Was meinst du?« »Vertrau dir selbst, Joey.« Natürlich beantwortete das weniger Fragen, als neue durch meinen Kopf wirbelten.   In Kaibas Büro durchzog der Alltag unsere Arbeit. Ich verlief mich nicht mehr, wenn ich aufs Klo musste und die Sekretärinnen begrüßten mich mit meinem Namen und einem Lächeln auf den Lippen. Aber sobald ich die Tür wieder schloss, war ich mir sicher, dass die Gerüchteküche brodelte. Was sah Seto Kaiba in so einem wie mir? »– aus der Gosse«, hörte ich Herrn Le eines Tages zu einem Kollegen sagen. Ich hielt mitten in der Bewegung, ballte meine Finger zu Fäusten. In meinem rechten Ohr klang Yugis Stimme, Herrn Le zu ignorieren, den Kommentar zu schlucken und mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Mich überhaupt auf das Projekt zu stürzen und mich auf konstruktive Kritik zu beschränken, mir selbst zu vertrauen, was auch immer das hieß – nicht solchen stechenden Bemerkungen. Aber da war auch diese Stimme in meinem linken Ohr. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und schritt zu Herr Le und seinem Kollegen, hielt kurz vor seiner Nase. Ich war ihm so nah, dass ich seinen Atem auf der Wange spürte und meine Wut leckte an meinen Fäusten. Ich verdrängte das, was ich nicht sehen wollte und betonte das, was mir passte. Am liebsten hätte ich ihm meine Faust ins Gesicht gerammt. Wie oft hatte ich so meine Probleme gelöst? Und vervielfacht. »Vielleicht«, flüsterte ich, »aber ich trau mich wenigstens Leuten meine Meinung ins Gesicht zu sagen.« Ich senkte meine Fäuste und redete mir ein, dass ich nicht mehr derjenige war, der Probleme mit Schlägen löste. Dass ich hierher gehörte. Ich war ein Lügner, aber ich reckte mein Kinn, drückte ihn zur Seite und stolzierte an ihm vorbei.   Die nächsten Tage verliefen unspektakulär, zu unspektakulär. Natürlich hatte sich die Geschichte von der Begegnung mit Herrn Le verbreitet wie der Gestank von Fisch. Jeder Blick, jedes Getuschel, jeder, einfach verdammt jeder pisste mich an. Aber niemand sagte ein Wort. Ihre Augen sagten genug. Die Stimme in meinem linken Ohr stimmte ihnen zu. Ich hatte hier nichts verloren, ich war nur ein Kind aus der Gosse, wie sollte ich der Verantwortung gewachsen sein? Wie sollte ich hier überhaupt irgendetwas hinkriegen? Wie sollte ich Kaibas Erwartungen erfüllen? Es war still in mir. Als hätte ich mit der groben Behandlung gegen Herrn Le, alle Kraft verloren. Ich arbeitete leise vor mich hin, während ich die Leere in meinem Magen ignorierte, nicht einmal Maya oder Mailo störten mich mit Witzen oder einer Aufforderung, gemeinsam in der Mensa zu essen. Ich mied sie, genauso wie ich Kaiba mied. Bis der mich am Nachmittag in sein Büro bestellte. Maya machte große Augen und Mailo wünschte mir alles Gute, als müsste er sich auf längere Zeit von mir verabschieden. Mein Herz rutschte mir zwischen die Lungen und ich versuchte ruhig zu atmen. So schlimm würde es schon nicht sein. Kaiba saß hinter seinen Bildschirmen und tippte. In seinem Rücken Domino. Einen Moment fragte ich mich, ob ich mich jemals an den Anblick gewöhnen würde. An Dominos natürlich – nicht an Kaibas. »Herr Wheeler, setzen Sie sich.« Er sah mich nicht an, tippte nur weiter und ich schob den Mund vor. Seit wann würde ich mich einfach setzen, nur weil er es wollte? Warum siezte er mich? Warum verdammt siezte er mich? »Ich hab auch Zeug zu tun«, brummte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn ich meine Sachen packen soll, dann sag es mir einfach und –« »Wheeler, halt die Klappe und setz dich verdammt nochmal!« Ich starrte ihn an, meine Arme fielen zu beiden Seiten hinunter und ich blinzelte, während ich mich auf den Stuhl im gegenüber fallen ließ. Kaiba fluchte nicht, Kaiba hatte sich immer voll unter Kontrolle, Kaiba würde nie – »Was zur Hölle geht in deinem unterentwickelten Hirn vor sich?«, brüllte er plötzlich, als hätte sich alles hinter seiner eisernen Maske aufgestaut, und ich schrumpfte auf knapp fünf Zentimeter. »Erst verweigerst du deine Zusammenarbeit, dann drohst du einem leitenden Mitarbeiter? Dein Ruf in der Firma dringt bis zu meinen Ohren vor und –« »Wow! Tut mir echt leid, dass du dich mit mir abgeben musst!«, keifte ich zurück und sprang vom Stuhl auf. »Ich glaub, du begreifst nicht, was auf dem Spiel steht, aber dein Hundehirn –« Jetzt standen wir uns gegenüber, nur der Schreibtisch, der uns trennte. »Halt dein Maul! Wag es nicht, mich mit einem –« »– kann jede Information, die über Essen und Schlafen hinausgeht anscheinend nicht –« »Was weißt du schon? Du sitzt hier und über allen und –« »Deine Unzuverlässigkeit und deine Respektlosigkeit! Dann tauchst du einfach immer wieder in meinem Büro auf –« »Deine Ignoranz toppt doch alles, Kaiba!« »Ich hab dir jede Chance gegeben, um dich als Angestellter zu etablieren und –« »Du kapierst's einfach nicht! Ich will nicht nur dein bekackter Angestellter sein! Ich bin nicht nur ein Angestellter! Du hast mich geküsst, verdammte Scheiße! Hör auf mich zu ignorieren!« Stille. Eins. Meine Atemstöße durchbrachen die Stille, die in meinen Ohren dröhnte. Kaibas blaue Augen stierten mich an, als versuchte er, ein wildes Tier einzuschätzen, dann ließ er sich langsam zurück in seinen Bürosessel gleiten. Zwei. »Oh, bitte, und das fällt dir erst jetzt auf, Wheeler?«, spöttelte er und massierte seine Nasenwurzel. Entgegen der Ruhe in seinen Worten, der Distanz und des Hohns, überquollen in seinen Augen Ärger, Unglaube und etwas, das ich noch nie zuvor in seinem Blick gesehen hatte. Ich stand da, wie bestellt, und starrte auf ihn hinab und fühlte mich doch viel kleiner als er. Drei. Ich zählte innerlich und versuchte mich auf die Nummern zu konzentrieren. Um ja nicht zu explodieren. Vier. Oder auseinander zu fallen. Ich wusste, wie ich die Wahrheit so auslegte, dass ich damit leben konnte. Wahrheit war sowieso nichts Objektives. Wahrheit lag im Auge des Betrachters. Das Blau seiner Augen durchbohrte mich wie Dolche. Fünf. Raus aus meinem Viertel. Sechs. Mit den reichsten Personen der Stadt diskutieren. Sieben. Anerkennung. Lob. Geld. Acht. Mich und mein Talent beweisen. Neun. Diese Blicke. Die sich von »Gossenkind« in »begabter Angestellter« wandelten. Zehn. Ihn. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)