Was wir sind von Jaelaki (Seto & Joey | Puppyshipping) ================================================================================ Kapitel 36: … ist unpünktlich ----------------------------- __________________________________________   Die Liebe ist immer pünktlich da, die Erfahrung, sie zu schätzen, aber nicht. © Georgios Tsagkalidis   __________________________________________           Seto Kaiba schätzte Pünktlichkeit. Das war für ihn einerseits so eine Respektsache, andererseits lag es an seiner Ungeduld. Wer sich verspätete, nahm seine eigene Zeit wichtiger als die von Kaiba oder verschwendete Zeit, in der ein gutes Geschäft hätte abgeschlossen werden können. Seto Kaiba war niemals unpünktlich. Fast.   Die Nachtschwester auf der Intensivstation drückte ihren Rücken durch und senkte ihre Schultern, als sie vor uns stand, wie eine Raubkatze, die ihre Jungen beschützte, und dann ihre Brille zurecht rückte. »Die Besuchszeiten sind – oh, Herr Kaiba.« Sofort verbeugte sie sich und strich ihre weiße Uniform glatt, obwohl ich dort keinerlei Falten entdeckte. »Dann sind Sie der Sohn von Herrn Wheeler, nehme ich an.« Ihr Blick lag auf mir und ich zog die Schultern hoch. Sie betrachtete mich nur kurz, dann schnellten ihre Augen zurück zu Kaiba, der ihr keinen Moment Aufmerksamkeit zollte. Stattdessen tippte er auf seinem Smartphone herum. Also brummte ich zustimmend und fragte nach meinem Vater. »Wenn Sie mir bitte folgen würden.« Der Gang des Krankenhauses lag wie ausgestorben vor uns, nur die Nachtschwester und wir, als hätten wir uns wie in einem Horrorfilm verirrt. Es fehlte nur noch, dass sie sich eine Axt schnappte und als Psychopathin entpuppte. Mit jedem Schritt drückte etwas mehr auf meinen Magen und dann waren da diese unsichtbaren Gewichte, die jemand an meine Waden gehängt hatte. Wir blieben vor einem Zimmer stehen, dessen Tür ich nicht öffnen wollte. Mein Blick schoss zu Kaiba, doch es war die Krankenschwester, die mich ansprach. »Hören Sie«, begann sie und strich wieder über ihr faltenfreies Shirt. Dass sie mich siezte war irgendwie seltsam und passte doch perfekt in diese absurde Situation. Ich wollte mich übergeben. »Sagen Sie es mir einfach«, erwiderte ich und wusste, ich klang nicht halb so abgeklärt, wie ich wollte und wollte nicht halb so emotional wirken, wie ich es tat. Hier lag mein Vater. Der, der mich nie so akzeptiert hatte, wie ich war. Der, der mich bei jeder Gelegenheit kritisiert hatte. »Zuerst befürchteten wir, dass er versucht hatte – sich umzubringen.« Ich atmete tief ein. Der, der sich nie darum gekümmert hatte, wie ich im Winter angezogen war. »Aber das Gutachten ergibt, dass es Unachtsamkeit war. Er muss im Bett geraucht haben, die Kippe in den Papierkorb geworfen haben und dabei hat der sich entzündet.« Der, der mich beschimpft hatte.   »Er hat es nicht bemerkt, wahrscheinlich war er dafür zu betrunken und unterschätzte die Lage. Ein Nachbar hat die Feuerwehr verständigt.« Und der mich – gegen all meine Überzeugungen – geschlagen hatte. »Ihr Vater erlitt eine schwere Rauchvergiftung und Verbrennungen dritten Grades. Der Anblick kann schockierend wirken. Dass er überlebt hat, war –« Hier lag mein Vater. Die Krankenschwester fragte mich etwas. Zumindest glaubte ich das, denn sie sah mich so an und ich nickte, obwohl ich nicht wusste, was ich bejahte. Dann öffnete sie die Tür. Kaiba stand hinter mir – weit genug, um dezent zu verschwinden, nah genug, um – Ich griff nach seinem Ärmel und sah ihn nicht an. Er verschwand nicht. Er ließ sich von mir mitziehen und wir betraten den Raum.   Ein Mann lag in dem Bett. Sein Anblick brachte mich dazu, mich abzuwenden. Ich erkannte ihn nicht wieder. Er sah so schwach aus – mit all dem Verband im Gesicht und an den Armen. Der Rest seines Körpers lag unter einer Decke. Um ihn herum standen Geräte, deren Schläuche in den Armen des Mannes endeten und Graphen zeichneten irgendwelche Lebenssignale auf. Hinter mir wechselten Kaiba und die Krankenschwester Sätze, die in meinen Ohren völlig durch das Piepsen der Maschinen übertönt wurden. Er wirkte winzig in dem Bett, obwohl ich wusste, dass mich sein Schlag ausknocken konnte. Seine Hand war hier auf einmal klein und zerbrechlich. Ich wollte wütend sein. Ich wollte ihn hassen. Ich wollte ihn anbrüllen und ihm all die Schmerzen wünschen, die er mir zugefügt hatte – die physischen und die psychischen. Wortlos zog ich einen Stuhl näher an das Bett und saß da. Meine Augen starrten diesen Mann an. Jemand öffnete und schloss die Tür. Ich saß neben diesem Mann und dachte, ich müsste etwas fühlen. Hinter mir regte sich jemand und schien sich hinzusetzen. Ich überlegte, die Hand dieses Mannes zu berühren, weil man das doch so in Filmen sah. Ich tat es nicht. Ich saß einfach hier und wusste, dass es irgendwie nicht richtig war. Aber ich wusste nicht was. Vielleicht hätte ich mir denken müssen, dass es ihm recht geschah. Vielleicht hätte ich ihn verabscheuen müssen. Oder bemitleiden. Vielleicht hätte ich ihm verzeihen müssen. Glauben, dass alles wieder gut werden würde. Dass wir einen Neuanfang wagen könnten. Vielleicht hätte ich in Tränen ausbrechen müssen. Ich tat es nicht. Ich saß einfach hier. Und dann fragte ich, während ich diesen Mann im Bett nicht aus den Augen ließ, was nicht an ihn gerichtet war. »Du hast mal gemeint, dass du Krankenhäuser nicht magst – wieso?« Ich rechnete nicht mit einer Antwort. Ich hatte nur die Frage stellen müssen. Hinter mir schwieg Kaiba, den ich gegen jede Logik vor mir sah mit seinen verschränkten Armen und dem einen Bein über dem anderen. Und dem ernsten Blick, der nichts verriet, was er nicht verraten wollte. Und dann füllten seine Worte den Raum. »Meine Mutter ist in einem gestorben.« Ich nickte dem Mann im Bett zu und schwieg wieder. Vielleicht hätte ich Kaiba mein Beileid aussprechen müssen. Oder ihm sagen, dass es echt scheiße war. Vielleicht hätte ich Angst haben müssen, dass auch mein Vater in einem Krankenhaus starb. Vielleicht hätte ich –   »Ich hol mir einen Kaffee.« »Mh.« »Willst du auch einen, Hündchen?« »Mh.«   – etwas fühlen müssen. Weinen oder so. Aber ich saß einfach nur da. »Gewöhn dich nicht dran.« Kaibas Worte klangen nicht halb so scharf, wie sie es wohl sollten, als er mir einen Snickers in die Hände drückte und einen Pappbecher. »Das ist kein Kaffee«, sagte ich, nachdem der Duft von meiner Nase in mein Hirn vorgedrungen war. »Nein, das ist Kakao. Trink.« Ich tat es. Vielleicht weil es einfach war, einer direkten Anordnung zu folgen. Leichter als diesen vielen Vielleicht in meinem Kopf. »Hast du es bereut?«, fragte ich mit dem Becher zwischen meinen Fingern und dem Geschmack der Schokolade auf der Zunge, die so typisch nach Krankenhaus schmeckte – zu verdünnt. »Was bereut?« »Den Sieg gegen Gozaburo. Als du das Schachspiel gewonnen hast.« Ich hörte, wie er aufstand und ein paar Schritte machte. Wahrscheinlich stand er jetzt am Fenster, aber ich schaute mich nicht um. Seine Stimme genügte. »Das war noch nicht mein Sieg gegen ihn gewesen«, erwiderte er irgendwann. »Wann war der gewesen?« Er schwieg, dann spürte ich, wie er hinter mir stand. »Du solltest schlafen, Wheeler. Lass uns nach Hause gehen.« Er nahm mir den Becher aus der Hand mit der kalten Schokolade und obwohl mir überhaupt nicht nach Schlaf zumute war, ließen mich seine letzten Worte aufstehen und ihm folgen.   Was ist, wenn wir irgendwann wirklich so sind, wie andere glauben, dass wir sind, auch wenn wir es gar nicht so sind? Also im negativen Fall – zum Beispiel – wenn alle denken, dass man ein arroganter, eiskalter Geldsack ist? Und wann würde man einer werden?   Das Brummen des Autos beruhigte. Roland fuhr uns und wäre mein Hirn nicht vernebelt gewesen, hätte ich mich gefragt, ob er kein eigenes Leben hatte, keine eigenen Sorgen, vielleicht eine Freundin oder Frau oder einen Freund oder einen Mann und Kinder. Oder so. Ob er am Wochenende nicht normalerweise Hobbies nachging oder ob er sein Leben um Kaibas Leben herumplante. Ich nahm mir vor, ihn morgen danach zu fragen. Es war mir egal, indiskret zu sein. So etwas hatte mich noch nie gestört. Vielleicht würde ich Kaiba dann mal daran erinnern, dass Roland auch eine Freundin oder Frau oder einen Freund oder einen Mann und Kinder hatte. Wenn er welche hatte. Und dass er darauf Rücksicht nehmen müsste. »Wheeler, du schläfst hier jetzt nicht ein.« Ich nickte und schloss die Augen.   »Wheeler, wach auf. Wenn nicht, schläfst du im Auto. Sicherlich um einiges bequemer als eine Hundehütte.« Ich grummelte, blinzelte und spürte im nächsten Moment, wie mich jemand aus dem Sitz zog. Wie ein Zombie trottete ich Kaiba hinterher, starrte abwechselnd auf meine Schuhe und auf seinen Rücken. »Wenn du Mokuba aufweckst –« Ich bekam nicht mehr mit, was dann wäre, denn er öffnete gleichzeitig die Tür und meine Aufmerksamkeit zoomte auf das Gästebett. Ich ließ mich darauf nieder und starrte auf den Fußboden – keine Ahnung, wie lange. Kaiba warf mir einen Schlafanzug auf die Matratze, fragte, ob ich sonst noch etwas bräuchte. Als ich den Kopf schüttelte, befahl er mir, mich hinzulegen und zu schlafen.   In der Dunkelheit sah ich ihn. Er beugte sich zu mir strich mir eine Strähne aus dem Gesicht und flüsterte Worte, die ich nicht verstand. Flammen erhellten sein Gesicht und er fragte, warum mein Vater nicht gestorben war, wo es doch seinen Eltern im Krankenhaus widerfahren war. Ich sagte, dass ich es nicht wüsste. Yugi legte seine Hand auf meine Schulter und Tristan behauptete, dass es ihm mit Recht geschehe. Ich wusste nicht, ob sie Kaiba oder meinen Vater meinten, aber ich zweifelte. Vor mir erschien ein Bett, dem ich mich nicht nähern wollte, aber Tristan und Yugi lachten und zogen mich näher. Ich versuchte, mich loszureißen, aber ihre Finger krallten sich in meinen Arm und dann stießen sie mich Richtung Bett. Dort lag eine Person unter der Decke. Die Verbände verschleierten sein Gesicht. Die Stimme meines Vaters tönte in meinen Ohren, klagte mich an, ich müsste trauern, sonst würde er mir zeigen, was für ein nutzloser Bengel ich war. Ich sagte, dass ich es versuchen würde, aber ich fühlte nichts. Die Person regte sich unter der Decke, erhob sich, schob den Stoff zur Seite und zog eine Lage des Verbands nach der anderen runter. Seto Kaibas Haut hing in Fetzen von seinem Gesicht.   Mit einem Schrei erwachte ich und starrte in die Dunkelheit. Schweiß klebte meine Strähnen an den Nacken und das Schlafshirt, das mir zu groß war, an meinen Bauch. Ich rang nach Atmen, sog Luft ein, die nicht in meinen Lungen ankam, also setzte ich mich auf, doch es half nicht. Das Gefühl, gefangen zu sein, trieb mich aus dem Zimmer. Ich trottete den Gang entlang und wusste erst, wohin, als ich davor stand. Ich klopfte nicht. Ich drückte die Klinke hinunter und die Tür auf, stand einfach da und betrachtete das Doppelbett. Im Mondlicht sah ich die Umrisse seines Gesichts. Dann wandte er mir genau das zu. Vielleicht hätte ich verlegen sein müssen oder überrascht. Vielleicht hätte ich Hohn und Herablassung oder Zorn und eine Abfuhr erwarten müssen. Statt eines Wortes, schlug er die Bettdecke zurück und ich legte mich neben ihn ins Bett. In der Dunkelheit hörte ich seine Atemzüge, spürte die Körperwärme. Ich lag einfach da und starrte mit ihm an die Zimmerdecke. »Ich dachte lange, es war, als er endlich kapierte – als ich in seiner Mimik sah, dass er endlich begriff, dass seine Firma nicht mehr seine war. Aber ich gewinne jedes Mal, wenn ich nicht vor meinen Augen sehe, wie er mich ansah, wenn ich seinen Erwartungen nicht genügt hatte.« Ich überlegte, nach seiner Hand unter der Decke zu greifen, aber ich ließ es und schaute einfach weiterhin an die Decke.   Die Sonne schien und ich blinzelte irritiert, als ich auf dem Nachttisch nach der Uhrzeit schauen wollte, aber nur Akten und Dokumente entdeckte und mein Bein ein anderes berührte. Schlagartig wusste ich, wo ich war und schaute trotzdem neben mich, wo Seto Kaiba schlief. Er lag auf dem Bauch eine Hand hing aus dem Bett, die andere unter dem Kopfkissen vergraben, das er mir völlig weggezogen hatte. Die Decke bedeckte seine Beine bis zum Bauch. Mit meinen Füßen berührte ich seine Waden und mein Finger juckte es, die Strähne, die seitlich von seinem Kopf abstand, zu berühren. Meine Hand schwebte zu ihm, als er etwas knurrte und mein Arm zurückzuckte. Mein Herz raste.   »Nicht. Berühren«, stieß er hervor. Die Warnung zwischen jeder Silbe. »Du bist –« »Nicht reden«, murrte er. »Ich glaube –« »Klappe«, grummelte er. »Kann es –« Er schnaubte in sein Kissen. »Kann es sein, dass du ein Morgenmuffel bist?«, fragte ich und grinste seinen Hinterkopf an. Sein Haar stand dort von der Seite ab, sein Gesicht in das Kissen gedrückt, irgendwelche Laute dämpfend, die wohl Wörter waren. Ich verstand etwas wie Töle und Maulkorb. »Du bist zu früh«, fuhr er mich an. »Auch das ist Unpünktlichkeit, Wheeler. Du bist stets unpünktlich.« Ich atmete tief ein und lehnte mich gegen das Kopfteil des Bettes, von dort aus fiel mein Blick auf den Beistelltisch der Sitzgarnitur vor dem Kamin, wo ein Tablett mit einer Kanne stand, einer Flasche Organgensaft, zwei Tassen, zwei Gläsern und Keksen. »Darf ich was fragen?« »Erstens war das schon eine Frage und zweitens tust du das doch eh«, brummte er. »Macht die Haushälterin das Tablett fertig oder sind das kleine Feen, die in der Nacht –« Er fasste sich an den Kopf, drehte sich auf den Rücken und funkelte die Zimmerdecke an. »Halt einen Moment die Klappe. Danach läge es im Bereich der Möglichkeiten, dass sich vielleicht ein Augenblick ergibt, in dem ich eine deiner zahlreichen, überaus nervigen und grammatikalisch inkorrekten Fragen beantworte.« Mit einem Ruck setzte er sich auf und verschwand in einen angrenzenden Raum, wo ich das Bad vermutete.   Ich verschränkte meine Arme unter dem Kopf und betrachtete das Kopfkissen, wo noch immer eine Kuhle bewies, dass Kaibas Kopf dort gelegen hatte. Als er aus dem Raum nebenan trat, gab es keinen Beweis mehr dafür, dass sein Haar noch vor wenigen Augenblicken ausgesehen hatte, als hätten Vögel darin genistet. Er schenkte sich aus der Kanne ein, in der sich offenbar Kaffee befand und ignorierte meine Anwesenheit. »Trinkst du eigentlich jeden Morgen aus zwei Tassen und Gläsern?«, zog ich ihn auf, doch er kräuselte lediglich seine Lippen. »Nein. Meine Angestellten sind lediglich in der Lage, zu zählen. Eine Fähigkeit, die auch für dich ihren Nutzen hätte.« Mein Hirn verdaute diese Worte erst und dann spürte ich Hitze über meinen Wangen. Jemand war im Zimmer gewesen und hatte mich in Kaibas Bett – »Du solltest dich endlich aus dem Bett begeben oder du kommst zu spät zur Schule. Nicht, dass es etwas Aufsehenerweckendes wäre.« »Und du?«, fragte ich. Ich war hier schließlich nicht der einzige Schüler. Auch, wenn Kaiba gerne so tat, als ob. »Mit dem Auto dauert die Fahrt zwanzig Minuten, während deine Fahrt mit dem Bus –« »Willst du mich verarschen?«, warf ich ihm an den Kopf, doch statt eines Wortgefechts, zog mir Kaiba mit einem Zucken um den Mundwinkel die Bettdecke weg. »Du lässt mich nicht mit dem Bus fahren.« Es klang mehr nach einer Frage, als ich gewollt hatte. Er verdrehte die Augen. »Ich würde mich an deiner Stelle beeilen. Andernfalls ja, dann fährst du mit dem Bus.« Das traute ich ihm zu, also hüpfte ich aus dem Bett und wollte mich in das Zimmer nebenan begeben, als er mir den Weg versperrte. »Was?«, fragte ich gedehnt, doch er erwiderte kurzangebunden, dass das Gästebad direkt vom Gästezimmer aus begehbar wäre. Ich verdrehte die Augen.   Als ich den Schlafanzug im Bad auszog, bemerkte ich, dass er Kaiba gehören musste. Seine Initialen waren im Kragen eingestickt. Ich schlüpfte in die Klamotten von gestern und begab mich zurück zu Kaibas Schlafzimmer. Dort traf ich auf – niemanden. Verstimmt tauchte ich in der Küche auf, wo Mokuba frühstückte und Kaiba in der Zeitung blätterte.   »Hi, Joey!« Mokuba begrüßte mich, als würde ich jeden Morgen bei ihnen in der Küche auftauchen. Kaiba musste ihn vorgeimpft haben. Ich murmelte eine Begrüßung und vermied Blickkontakt. »Willst du auch Nutella?«, fragte Mokuba mit Fröhlichkeit in seiner Stimme. Ich ließ mich neben ihm auf einen Stuhl fallen und schmierte mir so viel Nutella aufs Brot, dass es Nutella mit Brot war und nicht umgekehrt. Kaiba quittierte das mit hochgezogenen Augenbrauen über die Zeitung hinweg. Ich kaute wortlos die Brotscheiben. Mokuba erzählte etwas von seinem Kumpel, der total gerne, aber ziemlich mies DuelMonsters spielte. Ich nickte und versuchte mich, auf Mokubas Worte zu konzentrieren statt auf die Tatsache, dass ich die Nacht in Kaibas Bett verbracht hatte und er mich jetzt ignorierte, als wäre das alles ganz normal – oder eben nichts. Es war nicht nichts. Aber was war es?   »Mokuba, mach dich fertig für die Schule«, wies Kaiba seinen Bruder irgendwann mitten in einem dessen Redeschwalle an. Mokuba schob seinen Mund vor, aber tat wie geheißen. Er rückte vom Stuhl und trottete die Treppe nach oben. Ich starrte meinen Teller an und dann die Zeitung, hinter der sich Kaiba von mir abschirmte. »Und jetzt?«, fragte ich einen Artikel über die aktuelle Bildungspolitik. »Tun wir wieder so, als wäre nichts? Ich will es nur gerne wissen, dass ich mich auch angemessen wie n Arsch benehme.« Ich schob meine Arme ineinander und funkelte die Zeitung an. »Tu nicht so, als wärst du wütend auf mich.« »Ich bin wütend auf dich!« Und schnaubte. »Warum?«, fragte er und blätterte eine Seite weiter. Mir blieb fast die Spucke weg. »Du ignorierst mich! Schon wieder!« »Ich rede mir dir, Wheeler. Das ist das komplette Gegenteil von Ignorieren. Wenn du es im Duden nachschlagen –« »Spar dir die blöden Kommentare«, knurrte ich und drückte die Zeitung nach unten, krallte meine Finger in das Papier und zerknüllte es. »Und hör auf damit!« Sein Blick bohrte sich in meinen. »Womit?«, knurrte er. »Mich zu ignorieren!« Am liebsten hätte ich mit meinem Fuß aufgestampft. »Was soll ich tun, Wheeler? Wie soll ich mich verhalten?« Ich wollte ihm an den Kopf knallen, er sollte aufhören, so ein Arsch zu sein, aber als ich ihm in die Augen sah, verpufften die Worte in meinem Mund. Die Frage war ernst gemeint. Er wusste nicht, was er tun sollte. Ich zog meinen Arm zurück, doch die Zeitung blieb zerknittert, wo ich das Papier hinuntergedrückt hatte. »Ich weiß es nicht«, gab ich zu und fixierte die Dellen in den Artikeln. Ich ließ mich zurück auf den Stuhl fallen und langte an meine Stirn. Wir schiegen und ich spürte Kaibas Blick auf mir. »Er stirbt vielleicht«, hauchte ich der Decke entgegen. »Und es ist mir egal.« Ich spuckte das letzte Wort geradezu aus, angeekelt, spöttisch. »Müsste ich deswegen nicht weinen? Oder traurig sein?« »Ich bin nicht die geeignetste Person, mit der du darüber reden –« Doch. Er war die einzige Person. »Als Gozaburo gestorben ist –« »Nein«, sagte er, bevor ich die Frage zu Ende stellte. Wir verfielen in verbittertes Schweigen. »Ich wäre dann soweit und –« Mokubas Stimme ließ uns beide aufsehen. Er stand an der Tür zur Küche und wusste offensichtlich nicht, ob er lieber draußen stehen bleiben oder wieder hineinkommen sollte. »Roland wartet schon am Tor«, sagte Mokuba und trat von einem Bein auf das andere, seine Schultasche geschultert und einem Blick, der von seinem Bruder zu mir wanderte – und zurück. »Roland fährt dich. Beeil dich, sonst kommst du zu spät.« Mokuba öffnete den Mund, doch dann schien er es sich anders zu überlegen, nickte und drückte sich in Kaibas Arme. Mokuba lächelte unbekümmert, drückte die Wange an die seines großen Bruders, der die Umarmung straff erwiderte, und presste sich danach an mich, seine Arme um meinen Rücken. Meine Augen weiteten sich, doch ich schloss meine Arme um ihn und murmelte eine Verabschiedung. »Okay. Also – bis später!«, erwiderte er. Ich starrte Kaiba an, während der seinem Bruder hinterherschaute und wartete, bis die Haustür einrastete, dann legte er die Zeitung zur Seite, faltete seine Finger vor sich auf dem Tisch und erwiderte meinen Blick. Doch ich hatte das Gefühl, er sah durch mich hindurch. »Hör zu, Wheeler. Ich sage es nur einmal. Du wirst nicht wieder bei deinem Vater einziehen. Deine Mutter wird informiert werden und dich unter ihre Obhut –« Seine Worte kamen bei mir an, aber das Gefühl, dass er es ernst meinte, ging irgendwo zwischen Ohr und Hirn verloren. »Das kannst du nicht –« »Es ist das Beste für –« Ich sprang auf und versuchte das hektische Gelächter, das sich meine Kehle hinauf quälte, hinunterzuwürgen. Stand in Kaibas Küche und lachte, dann schossen Tränen in meine Augen. Tränen der Wut. »Du hast keine Ahnung, was das Beste für mich ist! Hör auf so zu tun! Ich bin nicht dein kleiner Bruder, verdammt!«, spie ich ihm entgegen, hielt den Atmen und glaubte, ich müsste kotzen. Sein Mund presste sich zu einer Linie zusammen. »Ich dachte, du würdest mich irgendwie – verstehen!«, warf ich ihm vor und schritt aufgebracht durch das Zimmer. »Meine Situation und deine Situation sind nicht vergleichbar, Wheeler«, beharrte er und sein Ton war eisig. »Schon klar«, ätzte ich, »du bist toll und reich und wichtig.« Er erhob sich, die Hände auf die Tischplatte gestemmt und starrte sie an, als böte sie ihm Halt. Obwohl er leise sprach, hing so viel Wut in seiner Stimme, dass ich zusammenzuckte. »Gozaburo hat meine Ambitionen ausgenutzt und als ich mich irgendwann weigerte, mich emotional erpresst und psychisch unter Druck gesetzt.« Er fixierte mich jetzt, seine Zähne aufeinander gepresst, als kostete es ihn jede Kraft, nicht loszuschreien. »Hätte er mich geschlagen, wäre Mokuba wenigstens nicht in Gefahr gewesen. Gozaburo war in erster Linie eine Gefahr für meinen Bruder. Ich hatte nie Angst um mich selbst. Wäre es nur um mich gegangen – du trägst nur Verantwortung für dich und du hast noch immer deine Eltern!«   »Nein!«, brüllte ich. »Habe ich nicht! Kapierst du’s nicht? Mein Vater liegt im Koma und ich weiß nicht einmal mehr, wie meine Mutter aussieht! Sie ist für mich gestorben, als sie mich –« Er packte mich, zog mich heran und drückte mich gegen die Küchenplatte. »Meine Mutter starb bei der Geburt von Mokuba. Sie starb, Wheeler!« Etwas presste mir die Luft aus den Lungen und ich starrte ihn an. Sein Gesicht schwebte kalkweiß ein, zwei Hände breit entfernt vor meinem. Seine Lippen aufeinandergepresst und in den Augen wütete ein Sturm, der seine sonstige Teilnahmslosigkeit hinwegfegte. »Hätte mein Vater«, er spuckte das Wort voller Verachtung in mein Gesicht, »im Koma gelegen, wäre ich nur halb so erleichtert gewesen, als ich ihn eines Tages tot in seinem Zimmer fand. Mein Erzeuger hat Mokuba die Schuld am Tod unserer Mutter gegeben. Er hat Mokubas Geburt verflucht. Er konnte meine Zuneigung zu ihm nicht nachvollziehen und irgendwann tat er uns dankbarerweise den Gefallen und erhängte sich. Ich kam zu spät, um etwas dagegen zu machen.« Ich stierte in seine Augen und erkannte zum ersten Mal, dass sie leicht gerötet waren. Äderchen schlängelten in seinem Augapfel. Unter ihnen hingen schwärzliche Kreise. Da war keine – »Du hast nie um deinen Vater getrauert«, flüsterte ich erschüttert.   Seto Kaiba war niemals unpünktlich. Er schob nie etwas vor sich her, er erledigte Dinge punktgenau.    Mit einem Ruck riss er sich von mir los und rauschte aus der Küche. Meine Beine bestanden aus Gummi. Mit einem Ächzen rutschte ich an dem Küchenschrank hinab und vergrub mein Gesicht in den Armen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)