Zwei Seiten einer Medaille von Shino-Tenshi ================================================================================ Kapitel 19: ------------ Ich vergrub mich tiefer in meiner Jacke, als ich mich so klein wie möglich auf dem Sitz des Zuges machte. Zwischen meinen Beinen stand ein Rucksack, der nur mit ein paar Kleidungsstücken und anderen nötigen Kram gefüllt war. Mein ganzer Körper zitterte noch unter dem Adrenalin, das mir meine Flucht beschert hatte. Im Rückblick konnte ich nicht mehr sagen, wie ich aus meinem Fenster klettern konnte, doch es hatte irgendwie funktioniert und jetzt saß ich hier und wartete darauf, dass sich der Zug endlich in Bewegung setzte. Es war erneut Freitagabend. An sich würde es also kein Problem mit der Schule geben, aber ich wusste dennoch, dass meine Eltern mir die Polizei auf den Hals hetzen konnten. Mit einem leichten Ruck setzte sich der Zug endlich in Bewegung und ich spürte, wie ich mich langsam entspannte und seit langer Zeit mal wieder ein Lächeln auf meine Lippen einkehrte. Ich wusste nicht, was mich bei Tayaka erwarten würde und wenn ich ehrlich war, dann war es mir gerade auch total egal, wenn er ein Psychopath wäre, der mich in seinen Keller sperren würde. Alles war gerade besser als Zuhause zu sein. Ich sah mir noch einmal den Weg vom Bahnhof zu Tayakas Zuhause an. Die Strecke war nicht zu unterschätzen, aber ich würde es dennoch relativ zeitnah schaffen. Hoffentlich jagte man mich dann nicht weg. Vielleicht hätte ich mit Tayaka Nummern austauschen sollen, aber irgendwie hatte ich in dem Moment nicht daran gedacht. Ich wollte nur noch dort raus. Das leichte Takatak der Räder auf den Schienen hatte eine beruhigende Wirkung auf mich und ich spürte, wie ich mich langsam entspannte und seit langem mal nicht mehr auf der Hut war. Ich sah in die Finsternis und zeigte dem Zugbegleiter mein Ticket, als er zur Kontrolle kam. Alles lief nach Plan und ich konnte schließlich an meinem Ziel aussteigen. Sofort holte ich mein Smartphone aus der Tasche, um mir den Weg zeigen zu lassen, als ich auch schon eine Nachricht von Luzifer auf den Schirm hatte: „Wo bist du? Warum bist du nicht mehr online? Ist dein Alter wieder daran schuld?“ Ich seufzte schwer und entschied mich ihm nur eine kurze Antwort zu schicken, weil ich wusste, dass er eh vorher nicht aufhören würde: „Bin auf dem Weg zu Tayaka. Am Sonntag bin ich wieder daheim.“ Ich hoffte, dass er sich damit zufrieden gab, doch dieser Wunsch zersprang wie eine Seifenblase. „Wieso zu Tayaka? Was tust du da?!“ Ich drückte die Nachricht weg, doch immer wieder kamen ähnliche Texte und langsam ging er mir auf die Nerven, wodurch ich ein wenig aggressiv antwortete: „Mich vor meinem Vater verstecken! Wir können am Sonntag reden!“ „Warum kommst du dann nicht zu mir?“ Er ließ immer noch nicht locker, wodurch ich ein zorniges Knurren nicht unterdrücken konnte und ich mich erst einmal sammeln musste, um ihm nicht allzu schroff zu antworten. Immer Haltung wahren. Auch wenn einem der Gegenüber übelst auf die Nerven ging und das hatte Luzifer richtig gut drauf. „Du hast es mir nicht angeboten. Tayaka hat eine Auseinandersetzung mitbekommen und mir seine Adresse gegeben. Lass mich jetzt also bitte in Ruhe. Ich muss den Weg finden.“ Ich hoffte, dass die Geschichte damit wirklich beendet war, doch irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Luzifer wieder immens verärgert war, doch ich schob diese Empfindung so weit weg wie nur irgend möglich und konzentrierte mich auf meinen Weg. Es war ein komisches Gefühl mitten in der Nacht durch eine fremde Stadt zu irren, doch dank Boogle Maps kam ich meinen Ziel immer näher. Es war ein unauffälliges mehrstöckiges Apartmenthaus, doch es war mir egal. Solange ich nur für ein paar Tage mal aus meinem eigenen Zuhause rauskam, würde ich auch einen stickigen Keller nicht ablehnen. Also trat ich an den Eingang und suchte den echten Familiennamen von Tayaka um dann auf die Klingel zu drücken. „Ja?“ Es war die Stimme von Tayaka, die mich begrüßte und ich musste mich kurz räuspern, bevor ich antworten konnte: „Ich bin es. Gabriel.“ Sofort hörte ich das Surren des Türöffners und betrat den Raum, um dann schon nach einer offenen Tür Ausschau zu halten. Ich spürte, wie mit jeder Treppenstufe meine Nervosität zunahm. Ob es wirklich gut war hierher zu kommen? Mein Vater wird meine Flucht bestimmt nicht gut heißen. Aber andererseits. Schlimmer konnte es fast nicht mehr werden. „Hallo, Gabriel!“ Ich wurde von einem lächelnden Schwarzschopf an der Tür begrüßt und konnte fast nicht anders als diese Mimik zu erwidern. Es tat gut, dass man so freundlich empfangen wurde und ich fühlte mich fast schon heimisch ohne in der Wohnung angekommen zu sein. „Meine Eltern schlafen schon, aber denen erklären wir das Alles dann morgen beim Frühstück. Sie werden es bestimmt verstehen. Deine Jacke kannst du hier zu unseren hängen.“ Er grinste mich an und führte mich dann tiefer in die Wohnung. Sie wirkte auf den ersten Blick ein wenig klein, doch machte sie das auf eine sonderbare Art und Weise auch gemütlich. Ich fühlte mich fast sofort wohl. Ruhig folgte ich Tayaka tiefer in die Wohnung und konnte dann eine gedämpfte Stimme hören, doch wir gingen in den Raum daneben. „Ich dachte, dass deine Eltern schlafen. Da ist aber doch noch jemand wach.“ Ich ließ meinen Rucksack neben der Tür auf den Boden sinken und sah Tayaka irritiert an, doch dieser winkte ab. „Ach, das ist nur mein Bruder. Der telefoniert mit einem Freund oder Freundin. Keine Ahnung.“ Tayaka zuckte mit den Schultern und nahm dann kurz an seinem Schreibtisch Platz. Ich konnte den Bildschirm von Music Heroes sehen. Genauso wie die Avatare der anderen. Sofort wandte ich meinen Blick ab, als sich mein Herz leicht schmerzhaft zusammen zog und ich instinktiv mein Smartphone fester umschloss. Nein, diese Geschichte war vorbei. Luzifer war nur ein guter Freund und an diesen Gedanken musste ich mich nun wirklich endlich gewöhnen. Tayaka loggte sich schließlich aus und fuhr den Computer herunter, bevor er sich dann zu mir wandte. „Ich hab dir unsere Luftmatratze aufgeblasen und ein Kissen und Decke besorgt. Hoffentlich geht das in Ordnung aber so spontan konnte ich sowieso froh sein, dass ich sie bekam und nicht irgendeiner von Alexys Freunden sie belagert.“ „Alexy?“ Ich sah Tayaka irritiert an, wodurch dieser kurz auflachte. „Oh, tschuldige. Das ist mein Bruder. Mein Name ist Armin. Wie heißt du? Oder willst du lieber bei den Nicks bleiben?“ Ich ergriff seine Hand, doch irgendwie sperrte sich kurz etwas in mir, bevor ich dann doch trocken schluckte und nickte. „Nathaniel. Danke für deine Gastfreundschaft.“ „Kein Ding. Die Sache mit deinem Dad hat sich echt nicht gut angehört.“ Er machte ein zerknirschtes Gesicht, doch dann kehrte fast augenblicklich sein Lächeln zurück und er stand motiviert auf. „So, brauchst du irgendwas? Kann ich dir etwas bringen? Wasser? Essen? Bestimmt kann ich noch was auftreiben. Wir haben ganz sicher noch eine Tiefkühlpizza da.“ Eigentlich wollte ich ablehnen, doch im nächsten Moment begann mein Magen schon zu knurren und Tayaka nahm das sofort als Anlass an mir vorbei in Richtung Küche zu gehen. „Einmal Pizza, kommt sofort.“ Ich selbst blieb ein wenig verloren zurück und sah mich in dem kleinen Zimmer um. Gleich neben der Tür stand sein Bett. Gegenüber ein Fernseher auf seinem Regal, während meine Matratze den wohl letzten Rest des Zimmers einnahm und somit zwischen Bett und Schreibtisch lag. Definitiv sehr kuschelig, aber für das Wochenende würde es schon funktionieren. Mit einem Seufzer ging ich zurück und folgte dem geschäftigen Geräuschen in die Küche, wo Tayaka schon die zwei Pizzen aus dem Ofen holte und sie auf Teller verteilte, bevor er mir deutete Platz zu nehmen. Ich folgte seinem Wink und ließ es mir dann schmecken. Tayaka schwieg während wir aßen und auch ich hatte gerade kein Bedürfnis etwas zu sagen. Alleine hier zu sein ließ mich von Sekunde zu Sekunde ruhiger werden und ich spürte, wie das Zittern meiner Hände langsam verschwand. „Willst du noch etwas tun? Reden?“ Er sah mich ruhig an, als er die Teller in die Spülmaschine stellte und wir langsam zurück in sein Zimmer gingen. Mittlerweile war das gedämpfte Gespräch seines Bruders beendet und die Wohnung wirkte auf sonderbare Weise gruselig still, wodurch ich den Kopf schüttelte. Ich hatte Angst, dass ich die anderen Bewohner aufwecken könnte und mir somit ihren Unmut zu zog. „Na gut. Dann gehen wir halt schlafen. Morgen ist auch noch ein Tag.“ Er wirkte nur kurz enttäuscht, doch dann lächelte er mich auch schon wieder an, bevor wir uns dann umzogen. Ich selbst ging dafür ins Bad, um zu verhindern, dass Tayaka die blauen Flecken auf meinen Körper sah und so stand ich nun vor den Waschbecken und sah in den Spiegel. Der Anblick gefiel mir schon lange nicht mehr. Diese Angst in den Augen und die leicht hochgezogenen Schultern, doch jetzt wirkte mein Körper entspannt und auch meine Augen hatten wieder Hoffnung in sich. Etwas, was ich schon lange aufgegeben hatte dort jemals wieder zu erblicken, wodurch ich mir selbst kurz zulächelte, um dann zurück zu Tayaka zu gehen. Dieser lag schon in seinem Bett und zockte noch ein wenig auf einem Handhelden, doch legte er diesen sofort zur Seite als er mich erblickte. „Hast ganz schön lange gebraucht. Irgendwas interessantes gefunden?“ Er grinste mich breit an und ich brauchte erst ein paar Herzschläge bevor ich verstand, was er damit meinte, doch dann winkte ich ab. „Nein, ich... war nur kurz ein wenig in Gedanken. Danke für die Einladung.“ Ich lächelte ein wenig beschämt und kroch dann unter die Decke auf der Luftmatratze. „Keine Ursache. Manchmal muss man einfach raus. Dann sieht die Welt meist schon besser aus.“ Er schien noch ein wenig reden zu wollen und ich war mir sicher, dass er es auch tat, doch als diese Angst endgültig von meinen Schultern fiel und ich mich geborgen und sicher fühlte, konnte ich meine Augen nicht mehr offen halten. Seit langem erlaubte es sich mein Körper wieder in einen tiefen und erholsamen Schlaf zu fallen. Aus dem mich nichts reißen konnte. Wirklich gar nichts... 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