Nocturne von Prussianblue ================================================================================ Kapitel 1: Neumond ------------------ „Gefiel es dir nicht?“. Kaum, dass die Worte gesprochen waren, riss der Wind sie schon mit sich hinfort, trug sie durch die Straßen der Hauptstadt und verlor sie auf halber Strecke. Sekunden verstrichen, ehe Gilbert eine Reaktion zu zeigen schien, und beinahe machte er den Eindruck, als habe er Roderich nicht zugehört Doch das hatte er; tat er immer. Geduldig, wie Roderich es nun eben mit Gilbert war, wartete er auf eine Antwort, ganz gleich ob er eine erhalten sollte. So war es schon immer mit ihnen gewesen. Oder erst seit kurzem? Gilbert konnte sich an die Zeit davor kaum erinnern, hatte kein Bild im Kopf, wenn er an den gebürtigen Wiener dachte, als dieser noch ein Mensch gewesen war. Eben bevor Gilbert in sein Leben getreten war und es ihm anschließend genommen hatte. „Ich weiss nicht. Vielleicht.“. Gilbert wandte den Kopf um in die Augen zu blicken, die so unmenschlich wirkten wie die seinen; Augen, die ihn ansahen wie alle anderen. Doch diesmal schlich sich ein stummer Vorwurf in das tiefe Violett des Mannes neben ihn, und in einer entschuldigenden Manier zuckte Gilbert mit den Schultern. „Es war nichts Neues. Nicht … überraschend. Einfach–“, er suchte nach einem Wort um zu beschreiben, wie sich die Flut der Bilder, Eindrücke und Geräusche innerhalb weniger Sekunden in eine graue Masse zu mischen begann, und nichts mehr blieb, trotz der lebhaften Erinnerung der letzten Stunden. Aber er brauchte nichts erklären. Roderich verstand auch so, dass die Operette von Robert Stolz den Ansprüchen des Reinblüters nicht gerecht geworden war, und kommentierte dieser Erkenntnis lediglich mit seinem leisen Seufzen, das von seinen Lippen perlte, während er sich wortlos bei Gilbert einhakte, nachdem dieser ihm seinen Arm angeboten hatte. Tief atmete Gilbert die Nachtluft ein. Kühl und unerbittlich füllte sie seine Lunge, erinnerte ihn mit süßen Schmerz daran, was es bedeutete, zu leben. Doch trotz dessen, dass sein Blut kalt und seine Adern aus Eis waren, schlug sein Herz allen Widerständen zum Trotz. Denn es kannte nichts anderes. Im Gegensatz zu Roderich, dessen unmenschliches Dasein sich im Violett seiner Iriden äußerte, hatte Gilbert das Licht nie gekannt. Er wusste es nicht, was es bedeutete, die Wärme zu verlieren die die Sonne den Menschen versprach. Und vielleicht ging er auch aus diesem Grunde so sorglos mit seinem Geschenk um. Die meisten Jungvampire, so wie Roderich einer war, konnten sich schnell mit ihrem untoten Leben arrangieren. Andere wiederum fielen nur all zu schnell dem Wahnsinn anheim. Ein erfahrener Reinblüter konnte innerhalb weniger Nächte entscheiden, zu welcher Kategorie sein Schützling fiel, und daraufhin bestimmten, wie er mit diesem verfahren sollte. Dies konnte gelegentlich sehr unangenehm für alle Beteiligten werden, weshalb Gilbert es umso mehr begrüßte, wenn er an Jemanden wie Roderich geriet. Sie mochten sich nicht immer einig sein und manchmal streiten, doch Gilbert konnte sich der Treue des Jungvampires sicher sein. Und vielleicht war es nicht nur Treue die Roderich an Gilbert band. Ein Gedanke, den dieser geflissentlich ignorierte. Denn letztlich lebte er schon so, so viele Jahrhunderte und Niemand hatte lange an seiner Seite überdauert. Am Ende gingen sie alle früher oder später … zu Bruch. ____________________ Es war nahezu unmöglich Jemanden zu finden, wenn dieser nicht gefunden werden wollte. Und wenn derjenige es auch richtig anstellte, dann war es auch nicht zu schaffen. War es also Glück oder gar Fügung, dass Ivan nach nächtelanger Recherche und Suche endlich die Identität des Reinblüters hatte ausfindig machen können, der die Nacht zu seiner Ewigkeit gemacht hatte? Wollte Gilbert Beilschmidt nicht gefunden werden? Oder tappte Ivan blind in eine Falle, die das jahrhundertealte Wesen schon lange vor seiner Ankunft ausgelegt hatte? War dies vielleicht nur Teil eines großen Plans? All dies waren Fragen, die dem Russen durch den Kopf schossen und seine Bewegungen fahrig, seinen Blick gehetzt wirken ließen, während er sich in dem kleinen Kaffeehaus umsah, in welchem er saß. Gedanken, die ihm schon so viele Male zuvor gekommen waren, und ihn doch nicht hatten abhalten können die Reise von Moskau nach Wien anzutreten, um endlich, endlich ein Leben für all diejenigen zu nehmen, die für Gilbert schon ihr eigenes hatten lassen müssen. Für all die verlorenen Seelen, zu denen Ivan nicht nur sich selbst zählte. Und so kam es auch nicht in Frage, dass er nun, wo er so kurz vor seinem Ziel stand, einen Rückzieher machte. Ganz gleich ob er meinte zu spüren wie sein Herz einen Augenblick stehen blieb, als er glaubte den Reinblüter auszumachen, wie dieser gerade das Lokal Westend betrat. Bei der Aufmerksamkeit die Gilbert mit seinem Auftreten auf sich zog, musste Ivan sich zumindest keine Gedanken machen, dass sein Starren auffiel. Denn er schien nicht der einzige zu sein, der neugierig in die Richtung der Gäste blickte, die gerade zur Tür des heimelig wirkenden Cafés blickten. Beinahe hätte Ivan die Begleitung des Reinblüters übersehen, so sehr war er damit beschäftigt gewesen, seine Vermutung zu verifizieren. Doch wie sollte er sich irren? Die stechend roten Augen und das farblose Haar konnten nur zu einem Reinblüter gehören, und wie könnte er das selbstsichere Lächeln jemals vergessen, welches ahnungslose Opfer über die wahre, grausame Natur des Mannes hinwegtäuschen sollte, der dem brünetten Herrn an seiner Seite gerade aus dem Mantel half? … Moment. Für einen Augenblick konnte Ivan nicht ganz erfassen, in welcher Beziehung der fremde Mann zu dem Reinblüter stand, bis er in dessen Gesicht sehen konnte. In zwei Augen, die den seinen doch seit jener verhängnisvollen Nacht so ähnlich waren. Wut und Übelkeit stieg in Ivan auf, als er verstand, dass dies ein weiteres von Gilberts Opfern war, und nun zu sehen, wie dieses nun zu Kreuze kriechen schien und sich freiwillig mit seinem Mörder abgab …! Innerhalb weniger Sekunden verlor Ivan jeglichen Respekt vor dem fremden Mann, den er eventuell gehabt hätte. Da war lediglich nur noch Verachtung für das ungleiche Paar welches er von seinem Platz aus beobachtete, während er sich hinter einer obligatorischen Zeitung versteckte. Wie oft hatte sich Ivan diesen Moment ausgemalt? Er war sicherlich in Gedanken hunderte Male eine ähnliche Gasse entlang gegangen, an deren Ende sein Ziel auf ihn wartete. Ahnungslos und schutzlos. Und so fühlte es sich fast wie Routine an, als er Gilbert und dem Mann an seiner Seite mit ein wenig Abstand aus dem Café und anschließend durch die Straßen Wiens gefolgt war. Doch der Eindruck würde ihn nicht täuschen, wusste er es doch besser als einen gebürtigen Vampir zu unterschätzen. Er wusste, dass sein Vorhaben waghalsig, wenn nicht sogar selbstmörderisch war. Aber hielt ihn das auf? Stimmte es ihn um? Nein, denn auch wenn er die theoretische Möglichkeit besaß, umzukehren und in den Zug zu steigen, zurück nach Russland zu fahren, gab es für ihn de facto keine Rückkehr mehr. Und so verschwendete er auch keinen Gedanken an sein einstiges Zuhause, als er auf die beiden Männer zutrat. Nur am Rande realisierte er, dass sie stehen geblieben waren … und warteten. ____________________ Schon seitdem sie das Kaffeehaus verlassen hatten, wurde Gilbert das Gefühl nicht los, dass etwas Großes bevorstand. Es war nicht das erste Mal, dass er eine solche Vorahnung hatte. Die Luft um ihn herum fühlte sich anders an, als würde er durch ein Meer waten, und jeder Schritt forderte seine Konzentration. Sein Blut erhitzte sich und ein vertrautes Kribbeln ließ seine Fingerspitzen zucken. Auch Roderich bemerkte die Veränderung in der Haltung seines Gefährten und warf Gilbert einen fragenden, gleichwohl zweifelnden Blick zu, als dieser plötzlich stehen blieb. Es war nicht das abrupte Innehalten was ihn verwunderte, sondern das Lächeln auf den Lippen des Reinblüters, gepaart mit dem Blick, gerichtet in eine endlose Ferne. „Gilbert?“, wagte Roderich einen ersten Vorstoß in die Gefühlswelt des Deutschen. Und erneut wartete er geduldig, bis ihn die Stille des Augenblicks zu sehr aufrieb, er gar keine andere Wahl hatte als vorsichtig die Hand zu heben und sie dem Reinblüter behutsam auf die Schulter zu legen. Nur, dass seine Hand niemals den Stoff des Mantels berühren sollte, den Gilbert trug. Es waren nicht seine Finger, die sich fest in die Wolle gruben und den Körper des Deutschen mit einer plötzlichen Wucht gegen das Mauerwerk in dessen Rücken stießen. Es war nicht seine Erscheinung, die sich vor Gilbert aufbaute, immer größer, immer bedrohlicher, und– Da fiel er. Der Schuss. Ein Geräusch, nur den Bruchteil einer Sekunde andauernd, mit einem Echo das sich in die Ewigkeit zog. In eine Zeitlosigkeit, in welcher es schon beinahe lächerlich war, wie glasklar und lebhaft Roderich ein jedes Detail des Moments in sich aufnehmen konnte. Das blitzen der Pistole im fahlen Straßenlaternenlicht. Der Ausdruck in den Augen des Reinblüters, als desssen Schock und Schmerz geweiteten Augen zuerst an sich herunter blickten, bevor er aufsah, nicht zu Roderich, sondern zu seinem Angreifer. Seinem Mörder. Es hatte nur einen Herzschlag gebraucht, bis Roderich wieder Herr über seine Sinne war. Nur einen Atemzug, bevor er den Fremden – zu diesem Zeitpunkt hielt er ihn für einen gewöhnlichen Dieb, die Situation für ein Verbrechen aus Gier – nun selbst an der Schulter packte und ihn mit einem kräftigen Ruck von Gilbert wegzog. Und diesem damit allen Halt raubte. Wie ein leidendes Tier sank dieser mit einem kaum hörbaren Keuchen an der Wand hinab, presste sich dabei geistesabwesend die Hand die Rippen, obwohl zwischen seinen Fingern bereits all das Blut hervorquoll. Binnen eines Wimpernschlages war Roderich an seiner Seite, kniete neben ihn und zog Gilberts Hand weg, um die Wunde in Augenschein zu nehmen. Nur, dass er unter all den Schichten Stoff, die sich mit jedem vergehenden Augenblick immer mehr mit Blut vollsogen, wenig erkennen konnte. Kurz presste Roderich die Lippen aufeinander, ein Ausdruck von Sorge und aufkommender Panik, bevor ihn das Lachen, welches die Nacht zerriss, erstarren ließ. „Ist schon gut, Roderich.“. Dies war nicht die Stimme eines Sterbenden. Sondern die eines Mannes, dem man gerade einen guten Witz erzählt hatte, unbeschwingt und befreit, ja sogar hochgradig amüsiert. Und war Gilbert dies nicht auch? Sprach nicht Schalk und Belustigung aus seinem Blick, als er zu dem Fremden hoch blickte, der nicht minder verdattert dastand wie Roderich? Nur, dass der Angreifer seine Überraschung eilig hinter einer Maske aus Verachtung und Hass verbarg. Oh, und wie sich Gilbert an den Früchten seines kurzen Schauspiels zu erfreuen schien, ganz gleich ob des Schreckens, den er Roderich damit eingejagt hatte. Alles was dieser als Entschuldigung erhielt war eine kurze Berührung an der Wange, ein sanfter Blick, bevor sich Gilbert ein wenig ungelenk, aber auch nicht wie ein halb Toter wieder aufzurichten begann. Kurz hielt er inne, während Schmerz in seinen Augen aufflammte, und noch immer grinsend schnalzte er mit der Zunge. „Eine Silberkugel. Verdammt lästig. Sogar schmerzhaft. Und bei Euresgleichen tödlich.“. Erst jetzt schnellte Roderichs Blick zu dem dritten Mann herüber. Wie konnte ihm dies entgangen sein? Wie hatte ihm das unnatürliche Leuchten in den Augen des anderen nicht auffallen können? Das tiefe Violett, welches dem seinen zum verwechseln ähnlich sah? „Ein... Vampir?“, stieß Roderich hervor, atemlos, verwirrt, erzürnt. Welcher Mann, ganz gleich ob lebendig oder untot, war wahnsinnig genug um sie anzugreifen und dann auch noch zu versagen? Offenbar schien dem Fremden, ein großgewachsenener Mann mit blondem, weder kurzem noch langem Haar der gleiche Gedanke gekommen zu sein, war er doch im Begriff die Waffe ein zweites Mal zu heben, ehe Gilbert die Hand auf den Lauf legte und sie mit sanfter Gewalt wieder gen Boden richtete. „Das hat beim ersten Mal nicht geklappt. Sei nicht so dumm und verschwende noch weitere Kugeln. Die sind teuer.“. Und mit diesen Worten, zusammen mit einem selbstsicheren Lächeln, trat er an den anderen heran. ____________________ Oh, so hatte es nicht laufen sollen. Nein, Ivans ganzes Vorhaben war ja so, so schief gegangen. Hatte er tatsächlich gedacht, er könnte einen Reinblüter mit einer einfachen Silberkugel töten? Nun, offenbar schon. Schließlich hatte er doch in dessen Herz gezielt! Und doch stand besagter Reinblüter nun vor ihm, lächelte ihn siegesgewiss an, obgleich des Schwall an Blutes, welcher sich bereits über dessen Kleidung ergossen hatte. Ivan könnte erbrechen, direkt auf die polierten Schuhe Gilberts. Doch stattdessen schluckte er seine Wut, bewahrte sich seine eiserne Maske und blickte seinen einstigen Mörder direkt in die blutroten Augen. „Weisst du, ich sollte dich dafür töten. Würde dich dafür töten.“, begann Gilbert zu sprechen, seine Stimme ein Flüstern, ein Säuseln. Und Ivan begriff, dass dies hier nicht vorbei war. Er wusste, dass er verloren hatte und doch …! Der Ausdruck seiner Augen musste ihn verraten haben. Der unbändige Hass, die abgrundtiefe Abscheu. Das Anspannen seiner Muskeln war nur ein weiteres Indiz gewesen. Das Letzte, das Gilbert gebraucht hatte, um zu reagieren, und bevor Ivan realisieren konnte, was genau in diesem Moment geschah, spürte er, wie ihm das Silbermesser entrissen wurde. Und mit ihm der letzte Funken Kontrolle, den er vielleicht noch über die Situation gehabt hätte. Doch so blieb nichts als gleißender Schmerz, brennendes Weiß, welches sich explosionsartig in seinem Kopf ausbreitete, als dieser hart mit der Steinmauer kollidierte. Ein Knacken, in seinen Ohren viel zu laut und viel zu nah verriet ihm, dass er schon wieder gestorben war. Gestorben wäre. Denn trotz des Wissens, dass er tot war, nahm er viel zu deutlich war, wie nun er derjenige war der langsam auf die Knie sank, nur gehalten von dem Arm des Mannes, den er doch hatte töten wollen. Desjenigen, der ihn mit einer Mischung aus Wut und Belustigung ansah, und dessen Worte so unendlich weit weg klangen. Durch einen dumpfen Schleier drang die Stimme des Reinblüters zu ihm durch und ließ ihn zweifeln, sich wundern, innehalten: … Zimmer 115? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)