Alle Zeit der Welt von Palmira (oder: Blackwatch-Blues) ================================================================================ Prolog: -------- Es war passiert wie die meisten informellen Absprachen, von denen es pro Tag vermutlich Milliarden auf der Welt gab – man wurde gefragt, ob man da sein würde, und man sagte Ja und meistens kam es dann auch so. Jack hatte gefragt „Sehen wir uns?“ und es hatte keinen logischen Grund gegeben, Nein zu sagen. Dinge langsam angehen lassen. Bloß keine Hektik aufbauen. Sie hatten alle Zeit der Welt, oder so viel 'Zeit', wie man jemals hatte. Schlaf war immer das Erste, was man wegließ, und Gabriel hatte viel Schlaf weggelassen, um diese Verabredung einzuhalten. Sein Zeitplan ver- und entzerrte sich ständig mit dem Puls von Talon-Aktivitäten und Omnic-bezogenener Kriminalität, und er lebte dafür – es war erstaunlich schwierig, auch ein Leben daneben zu führen, aber es war machbar. Bisschen mehr Logistik und Diskretion. Und dann passierte einem das, was auch dem Rest der Welt ständig passierte: es kam etwas dazwischen und man stand dumm da. Präzise stand Gabriel vor einem zappeligen jungen Botschaftsassistenten, der es nicht wagte, ihm länger als zwei Sekunden in die blutunterlaufenen Augen zu sehen. Anfangs hatte das noch geklappt, doch je länger Gabriel schwieg, desto nervöser wurde der Kerl. „Es tut mir wirklich leid,“ wiederholte er steif. „Es handelt sich um eine Angelegenheit von internationa-“ „Junge.“ Das Schweigen war so effektiv, als hätte Gabriel eine Schrotflinte gezogen, die er aktuell nicht mal trug. Es hatte keinen Sinn, den Überbringer schlechter Nachrichten zu erschießen (oder wenigstens anzubrüllen), auch wenn Gabriel versucht war. Aber er wusste auch besser als die meisten, wie dumm es war, sich Feinde in den unteren Rängen zu machen, nur weil sie einem augenscheinlich nichts konnten. Dieser Knabe musste erst mal in seine verdammte Uniform reinwachsen, dann kamen sie dazu. Gabriel fuhr sich kurz über die tiefen Falten zwischen den Brauen, die sich dort eingegraben hatten, als könnte er die Muskelspannung mit den Fingern herausglätten. „Schon gut.“ Der Botschaftsassistent verzog das Gesicht zu einer Grimasse – bevor Gabriel ihn bremsen konnte, platzte er schon heraus. „Ich kann Ihnen ein Protokoll der letzten Sitzung zusammenstellen, wenn ich in Ihrem Namen einen Antrag auf Akteneinsicht erstelle-“ Das war die Sache, wenn man einen Ruf weg hatte: verhielt man sich entgegen der Erwartung freundlich, brach das förmlich eine Welle schlechten Gewissens los, für die Gabriel weder Zeit noch Verwendung hatte. Allgemein für Leute, die sich entschuldigten. Er hatte einen Jetlag von fünfzehn Stunden, ein halbes Dutzend wichtiger Anrufe zu tätigen und die Aufteilung seines ganzen inneren Teams zu koordinieren, und über all das legte sich die banale Gereiztheit, versetzt worden zu sein. Zum Teufel, Morrison hätte ihm das ja wenigstens selbst sagen können, anstatt ihm diesen Welpen hier vorzusetzen! „Wenn der Strike Commander wieder verfügbar ist, weiß er Bescheid,“ erwiderte Gabriel in aller Gemessenheit, das hieß, er knurrte. „Ich hab' zu tun.“ Er drehte sich auf dem Absatz und marschierte über die viel zu glänzenden Fußböden der Botschaft, die ihn nervös machten – wann hatte das angefangen? Er hatte spiegelnde Oberflächen nie besonders gemocht, kein Black-Ops-Agent tat das, doch jetzt fühlte es sich unwohl darauf, und unter seiner Haut kribbelte das Verlangen, seine Substanz zu lockern. Es war leichter geworden, mit jedem Übungsdurchgang und jeder Anwendung. Noch keine zweite Natur, und manchmal war noch dieses primitive Erschrecken da, wenn sein Körper sich auflöste. Aber Moira sagte, die Vitalwerte seien normal und vorbildlich, und wenn man keiner skrupellosen, zu gleichen Teilen ethisch flexiblen und genialen und auch potenziell wahnsinnigen Wissenschaftlerin mehr trauen konnte, wem denn dann? Moira würde es ihm nicht mal sagen, wenn sein Körper zerfallen würde, aber bis dahin war das Reaper-Programm es allemal wert. Gabriel hatte sein Team in der Lounge geparkt, also einem Aufenthaltsraum für Personen, die offiziell nicht da waren und die niemand kannte. Da solche Personen manchmal recht lange 'nicht da' waren, war der Raum ausgestattet mit einigen Annehmlichkeiten des täglichen Lebens. Sie hatten damit gerechnet, etwas länger hier zu sein. So begrüßten ihn unterschiedliche Grade von Überraschung, als er die Tür entriegelte und eintrat. Genji wischte zur Seite, was auch immer er auf seinem Tablet gemacht hatte, und die Düsen seiner mechanischen Gelenke surrten leise, als er die Ruheposition verließ. „Brechen wir auf, Commander?“ „Wie man's nimmt.“ Gabriel versuchte, nicht daran zu denken, was es ihn an Mühen gekostet hatte, seine drei wichtigsten Mitarbeiter hier zu versammeln, ohne dass sich davon nennenswert Einträge in den Akten oder Spuren auf Videomaterial befanden – McCree war zu sehr seine rechte Hand, um noch jemanden zu verarschen, gerade deswegen mussten seine Aktionen aber abgewogen werden. Genji und Moira durften keine öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sie waren alle herbestellt worden, für nichts. Und ihre Zeit war zu wertvoll, als dass Gabriel sie jetzt auf ihrem Arsch sitzen ließ, bis Jack geruhte, sie zu beschäftigen. Das hätte er sich vorher überlegen müssen. „Gan mhaith.“ Moira schlug die Beine in einer betont trägen Geste übereinander und das Buch in ihrer Hand zu, während McCree den Hut, den er sich zum Dösen ins Gesicht gezogen hatte, mit dem Daumen wieder nach oben schob. Gabriel hasste ihn für jede Minute Schlaf, die er auf diesem hässlichen grünen Sofa bekommen hatte. „Ja, ja.“ Die Flüche lernte man bekanntlich immer als Erstes. „Kein Feldausflug heute.“ „Man sollte meinen, dass wenn man uns herbestellt, eine gewisse Dringlichkeit besteht,“ bemerkte Moira betont neutral. Diese Neutralität hatte schon ganze Hautschichten neutralisiert. Es gab vermutlich einen Grund dafür – Overwatch war zwar in den letzten Jahren erheblich gewachsen, aber immer noch straff organisiert. Blackwatch zu versammeln, dann aber keine Einsatzbesprechung einzuleiten, war daher wohl die Nachwirkung eines größeren Bebens, nicht bloß einer Nachlässigkeit in der Bürokratie. Aber es ging Gabriel auf die Nerven. So wie jede Kollision mit den Grenzen seiner Befugnisse. „Wir werden hier deswegen nicht rumsitzen,“ brummte er und zog den Beanie vom Kopf, um sich über den Schädel zu reiben. Es wurde Zeit, das Haar wieder abzuscheren, aber wenn zum Schlafen keine Zeit war, dann auch nicht für diesen Krempel. „Von Abruf war keine Rede,“ und Jack sollte es besser wissen, als zu denken, dass er wortlos parierte. „Genji.“ Es war schwer, die Gemütsverfassung von jemandem abzuschätzen, der kein unwillkürliches Muskelzucken und kaum sichtbare Mimik hatte, doch er sah einen Schatten der allgemeinen Gereiztheit auch bei Genji. Selbst wenn der junge Mann nichts weiter tat, als den Kopf zu heben und Gabriel anzusehen. „Das Hauptquartier liegt mir schon 'ne Weile in den Ohren, dass sie dich durchchecken wollen, und jetzt haben wir Zeit.“ „Ich habe keinerlei Funktionsbeeinträchtigungen,“ erwiderte Genji kalt. „Gibt es Anlass zur Beanstandung?“ Das war das ewige Problem, wirklich – die MedBay schien sich wie eine Glucke auf den bisher weltweit einzigen Cyborg setzen zu wollen, um ihn warmzuhalten wie ein rohes Ei, das Weltgeschehen wollte vierundzwanzig Stunden Leistung, und dazwischen saß Gabriel in der wirklich wenig beneidenswerten Position, keinem den Vorzug zu geben und nebenbei noch Genjis Gefühle irgendwie zu berücksichtigen. Für Letzteres gab's nicht immer Bedarf, eher selten sogar, aber wenn es ihn mal gab, war kein Raum dafür. So wie jetzt. Gabriel wusste, dass etwas nicht stimmte, doch er hatte kaum eine Wahl. „Gibt's nicht,“ Gabriel warf seine Handschuhe über die Sofalehne und sah sich hoffnungsvoll nach einer Kaffeemaschine um. „Und möglichst will man Bescheid wissen, bevor es so weit ist. Mal davon ab – Doktor Ziegler ist eine gerissene Hexe und sagt mir immer nur, dass sie dich 'durchchecken' will. Weil sie weiß, dass ich dich sonst nur freistelle, wenn sie eine Modifikation verspricht.“ Genji schien darüber nachzudenken, und vielleicht hätte ihn das mit dieser Stallorder versöhnt. Wenn sie allein wären. Es hätte gut gehen können. „Für den Fall, dass es neue Technologie gibt – sollte ich Genji nicht begleiten?“ Moira griff neben sich auf ein Beistelltischchen und holte eine mattblaue Tasse hervor, in die sie zwei Stück Zucker gab. Gabriel, der inzwischen die Kaffee-Therme lokalisiert hatte, bekam die letzte Bestätigung seines Verdachts: Moira war immer nur nett, wenn sie etwas wollte. Als wäre das magische Wort in seiner Aussage wirklich 'Modifikation' gewesen. „Keine Zugangsberechtigung.“ Die Tasse nahm er trotzdem. „Waren Sie es nicht, die die Effektivität meiner medizinischen Anwendungen unter Zeitdruck bemängelt haben?“ Moira hatte die Tasse zwar losgelassen, doch ihr Blick folgte Gabriel, noch ein sanftes Gewicht auf seinen Schultern. Kein überflüssiger Druck in einer zu frühen Phase. Verdammt, sie wäre eine so begnadete Agentin, wenn es ihr nicht so kapital am Arsch vorbei ginge, was aus der Welt wurde. „Hab' ich das?“ Gabriel stellte die Tasse unter den Hahn der Therme und warf McCree einen Seitenblick zu. „Nun, wir leben. Sie sind offiziell immer noch persona non grata, Doc, ich kann Sie nicht für 'ne Besichtigung in die Labore schleusen.“ „Aber Sie kennen Leute, die das können,“ entgegnete Moira geduldig, als hätte sie es mit einem renitenten Patienten zu tun, dem sie noch nicht die Bettpfanne über den Kopf ziehen wollte. Noch. „Giorraíonn beirt bothar.“ „Heißt das 'Draufspucken tut's auch'?“ ließ McCree sich gelangweilt vernehmen. „Denn das isses, was dabei rumkommt. Müsst' ich mich drauf verlassen, dass du meine Gedärme wieder reinstopfst, wär' ich tot. Aber bisher sind wir auch so klargekommen.“ Moira lächelte ihn dünn an – sie wusste, dass sie den Angelhaken des Zweifels in Gabriels Fleisch verankert hatte, und jetzt wartete sie nur. „Noch. Aber dieser... zugegebene Mangel in meiner Technik bedingt, dass wir uns bei Einsätzen kaum weit auffächern können. Wir vergeuden Vorteile. Und solche, die keine übermenschlichen Attribute haben,“ dabei landete ihr geringschätziger Blick auf McCree, als müsste sie sich erinnern, dass er keine SEP-gegebenen Eigenschaften besaß, „könnten schwer verwundet werden.“ Gabriel hielt sich nicht mit dem Verrühren des Zuckers auf und trank die Hälfte der Tasse in einem Zug leer. Ah, körperwarmer Kaffee – genau der richtige Boost für das Minenfeld, auf das er sich hier begab! Warum nur. „Die Lösung für diese Probleme liegt da nicht auf irgendeinem OP-Tisch, O'Deorain. Antrag abgelehnt,“ knurrte er und zog sein Datapad aus dem Gürtel, um Genjis Freistellung ans Hauptquartier zu melden. Ein Funke Unwillen blitzte in Moiras verschiedenfarbigen Augen auf, klein und träge. Die meiste Zeit beugte sie sich Gabriels Autorität, doch seit sie ihre Versuchsreihe begonnen hatten, veränderte sich ihr Verhältnis. Sie ließ ihn wissen, dass es nicht nur um Heilung ging. Und es war... bizarr, wie sie sich beide diesen Scheiß antaten, doch in manchen Momenten begriff Gabriel Moiras Faszination. Und es beunruhigte ihn, wenn er es tat. „Tà,“ murmelte sie melodisch, täuschend desinteressiert. Sie wusste, dass er sie verstanden hatte. „Natürlich nicht. Es geht um die Anregung. Die Forschung kommt von mir.“ Moira neigte den Kopf leicht. „Habe ich Sie je enttäuscht, Commander Reyes?“ Die Antwort darauf hing stumm im Raum, und Gabriel erhaschte vage, wie sich etwas in Genjis Augenpartie wieder verschloss. Scheiße. Was sollte er mit dem Jungen nur anfangen. „Mal sehen,“ brummte Gabriel schließlich. „Dieser Lacroix ist kein Idiot. Er ahnt was.“ Aber wem machte er etwas vor? Selbst wenn Gérard Lacroix die Fäden zusammenführte, die interne Ermittlung konnte er nicht einschalten. Idealerweise arrangierte er sich mit Blackwatch, anstatt Jack seinen Verdacht vorzutragen, doch Gabriel konnte ihn noch nicht einschätzen. Nun, das würde sich bald ändern. „Dieser Franzose?“ McCree schnaubte und stand auf, um sich zu strecken. „Freu mich ja fast drauf, den kennenzulernen.“ Vorfreude ist ja bekanntlich die schönste Freude. Gabriel hätte viel dafür gegeben, diese Situation in einer weniger geräderten Verfassung zu lösen. „Wenn es keine Fragen gibt, mach dich auf den Weg, Genji. Je eher du wieder verfügbar bist, desto besser.“ Ein rein illusionärer Schmerz fuhr dumpf durch die kleine, sternförmige Narbe in seinem Oberschenkel, wo eine Kugel mal fast seine Beinarterie zerrissen hätte. „Und ja, verdammt. Geht beide, aber das heißt nicht, dass Sie auch reinkommen, Doc.“ Moira lächelte noch voller Genugtuung, während Genji schon aufgestanden war, um seinen Waffenkoffer zu holen. „Sie werden es nicht bereuen.“ Irgendwoher zauberte Gabriel ein grimmiges, scharfkantiges Lächeln. „Sie hoffentlich auch nicht, O'Deorain.“ Moira nickte huldvoll und erhob sich, um Genji ohne Eile nach draußen zu folgen – der Cyborg hatte sich zur besseren Tarnung Hose und Hoodie übergeworfen, und seine mechanischen Glieder hatten keine Muskelspannung in diesem Sinne, dennoch erkannte Gabriel eine Steifheit in seiner Haltung. Die Art Steifheit, die meistens etwas geglättet wurde, wenn sie in einen Einsatz gingen; wenn es klare Ziele gab und Konzentration und einen absoluten Fokus auf Kampf und Raffinesse. Das erdete Genji. Es brachte ihn nicht zur Ruhe, es half seinem vernarbten Kern nicht. Doch manchmal brachte es ihn zum Reden, manchmal war da ein Stück von dem Mann, der er früher gewesen war, und wegen irgendetwas kamen sie nicht dazu... Weil Jack sie hatte auflaufen lassen. Es war nicht so simpel. Aber Gabriel hatte gerade keine geistigen Kapazitäten für mehr Einsicht. Als die Sicherheitstür hinter den beiden ins Schloss fiel, war ihm bereits klar, er würde Moira Zutritt zum Labor verschaffen, und dann würde sie erbarmungslos Territorium erobern. Und Angela Zieglers Aufmerksamkeit, und die war eins der wenigen Dinge, die Genji nicht vollkommen egal zu sein schienen. Und es war noch nicht mal alles. Aber erst brauchte Gabriel eine kurze Unterbrechung und Kohlenhydrate. „Er is' nich' gut drauf.“ Irgendwann hatte McCree sich zu der kleinen Teeküche des Raumes bewegt, ohne dass Gabriel es gemerkt hatte – und mit den klimpernden Sporen und dem leisen Knarren von Leder war er eigentlich nicht zu überhören. Wissend, dass es nicht unbedingt nötig war, jetzt noch viel auf Formalität zu geben, ließ Gabriel sich in Moiras Sessel fallen – und zog prompt ihr Buch unter dem Hintern hervor, das dieses Weib natürlich liegen gelassen hatte. Jetzt hatte er sich an 'Träumen Omnics von elektrischen Schafen?' eine Delle im Arsch geholt. Gabriel grunzte gereizt und fegte das Buch auf den Boden. „Sag nur. Noch mehr Weisheiten, Cowboy?“ McCree knisterte mit Plastik herum und schnalzte leise mit der Zunge, was er häufig tat, wenn er sich mal einem Rauchverbot unterwerfen musste. „Aye. Das geht mächtig schief mit den beiden.“ Als Gabriel den Kopf drehte, um McCree anzusehen, lehnte der andere sich mit dem Ellbogen gerade auf einen Sandwichtoaster, um diesen zuzuhalten, während das Gerät gequält dampfte und Käse zischend an den Seiten heraustropfte. Der Anblick erinnerte Gabriel so verdammt an sich selbst. Damals, als McCree – Jesse – noch ein dürres Ding mit einem finsteren Blick und einer ungeheuren Wut im Bauch auf die ganze Welt gewesen war, als es noch hieß 'Das wird nichts'. 'Du verschwendest deine Zeit'. Und dann 'Bring ihm wenigstens nicht deine schlechten Angewohnheiten bei'. Gabriel hatte sich nie in diesem Jungen gesehen und es ignoriert, wie alle anderen das zu tun meinten. Aber jetzt... Doch, irgendetwas in McCree war wie er; nicht von ihm, bloß ähnlich. Und es erschien unangebracht, das überhaupt zu vergleichen, denn als er diesen zerzausten wilden Köter aufgegabelt hatte, war schon alles an Prägung gelaufen, Jesse war ein Irgendetwas, etwas Wütendes, Vergeudetes. Kein Gefäß. Schon gar nicht emotional beeinflussbar. Warum sollte sich irgendetwas an ihm so formen wie Gabriel? Aber etwas war da, vage und unbewusst, auch wenn die Dinge sich geändert hatten. Es ließ sich nicht wegblinzeln wegen einem blöden Sandwichtoaster und wurde nur schlimmer, als McCree den Toaster aufklappte und versuchte, die Käsefäden irgendwie wieder auf das Sandwich zu drapieren, damit sie nicht verloren gingen. Definitiv jemandes schlechte Angewohnheit. Was das Kommende nicht gerade einfacher machte. „Ich weiß.“ Gabriel achtete darauf, dass er keinen defensiven Ton anschlug. „Geht aber nicht anders. Sie hat Recht, was die Distanzen angeht, oder willst du dich in eine von Torbjörns Rüstungen werfen?“ McCree tippte sich würdevoll gegen die Krempe seines Stetson, bevor er das Sandwich mit einem angemessen furchteinflößenden Stiefelmesser aus dem Toaster hebelte. „Tù mandas, jefe. Aber das beißt uns noch in den Arsch.“ Irgendwann in seiner Karriere musste Gabriel vergessen haben, Englisch als einzig akzeptable Sprache festzulegen; es hatte angefangen als eine unkomplizierte Art, einen sechzehnjährigen Desperado anzuknurren und zurückgeknurrt zu bekommen, ohne dass sich jemand einmischte, und dann hatten Genji und Moira diese ungeschriebene Regel auch für sich ausgelegt. Es war nie so gedacht gewesen. All das... Eigensinnige. Gabriel kniff sich ins Nasenbein und öffnete seine blutunterlaufenen Augen weit genug, um McCree finster anzublicken, als dieser die Teeküche verließ. „Wag' das nicht.“ McCree grinste, seine weißen, ein wenig schiefen Zähne blitzten auf und klemmten die Unterlippe unter einem Eckzahn fest, als er das Sandwich in der Hand durchschlitzte und Gabriel ein Dreieck überließ (natürlich das Kleinere), bevor er sich wieder auf das Sofa fallen ließ und die Füße auf den Kaffeetisch legte. „Wenn's nur um den Franzecken geht, mach dir keine Sorgen. Ich krieg' den schon hin.“ McCree biss trotz des heißen, geschmolzenen Käses vom Sandwich ab, ein dünner Streifen Tabasco lief über sein Kinn und versickerte im Bart. „Planänderung.“ Obwohl das halbe Sandwich in seiner Hand das erste Warme und größtenteils Frische war, das Gabriel seit zwölf Stunden sah (und mit einem ständig auf Verbrennung ausgelegten Stoffwechsel wie seinem war das eine Zahl, die mal auf die Nerven gehen konnte), übte es im Moment keine besondere Anziehung auf ihn aus. Gott wusste, was auf diesen Sandwiches landete, wenn McCree sich langweilte – er hatte eine ungesunde Zuneigung zu bestimmten Fertigprodukten, die vermutlich aus seiner kurzen Kindheit stammte. Reinhardt war immer noch fassungslos, dass er künstliches Erdbeeraroma besser fand als tatsächliche Erdbeeren. Gabriel erkaufte sich ein paar Sekunden, indem er seinen Mund mit warmem Toastbrot, geschmolzenem Käse und einer Mischung aus Tabasco, Remoulade und Formschinken füllte. McCrees hatte ebenfalls eine Affinität für kalorienreiches Junkfood, von dem er früher wenig genug gehabt haben dürfte, die ihm sehr entgegenkam. „Ich kümmere mich um den Arsène-Lupin-Verschnitt. Du gehst nach Japan und trittst dem Drachen auf den Schwanz.“ McCree war vermutlich der beste Poker-Spieler, den Gabriel jemals getroffen hatte (und dazu gehörte, dass er auch sehr ordentlich beschiss), aber jetzt hob er ruckartig den Kopf und schob gleichzeitig die Hutkrempe aus den Augen, als hätte er ein verschwörerisches Zwinkern verpasst. „Was?“ Gabriel aß sein Sandwich und wartete, dass McCree sich ausrechnete, was das alles bedeutete. Der Junge war nicht mehr so blauäugig wie einst, und er hatte auch noch nie groß nachgefragt und gefordert, dass man ihm Zusammenhänge vorkaute. „Scheeeiße,“ brummte McCree nach immerhin nur zwölf Sekunden gedehnt. Zeit, in der Gabriel sein Sandwich aufgegessen und rigoros einen Funken Stolz unterdrückt hatte, der ihm albern vorkam. „Weiß Genji, dass...?“ McCree machte eine vage Geste zur geschlossenen Tür und stopfte sich stirnrunzelnd den Rest Sandwich in den Mund. Gabriel versuchte sich halbherzig an dem Blick, den Ana für solche Situationen reserviert hatte, gab es aber auf und füllte seinen Kaffee nach. „Nein.“ „Und dann hältst du's für 'ne gute Idee?“ Wenn ich es mir aussuchen könnte, nein. Gabriel erlaubte sich kein Selbstmitleid. „Zeig' dem Kerl einfach unsere Tür. So weit ich weiß, steckt der momentan noch in einem Rachefeldzug gegen diejenigen, die sich gegen die Shimadas gewandt haben, als der Clan zerfallen ist... Wir können ihm helfen. Aber wir sind bestimmt nicht die einzigen, die's angeboten haben.“ Er ließ sich mit seinem Kaffee wieder in den Sessel sinken, diesmal wieder mit gemessenen, präzisen Bewegungen. Nichts ließ eine Planänderung so fahrig und dämlich wirken wie ein Kommandant, der sich wie ein nasser Sack ins Polster knallte und erwartete, dann noch Autorität zu haben. „Auf kurz oder lang kriegt die Unterwelt von Ostasien wieder ein Gesicht, und du weißt, wie das läuft. Die alten Blutlinien sind legitimer als die Emporkömmlinge, da sie, leck mich oder so, schon immer da waren. Und Genji ist faktisch tot. Selbst wenn er Bock hätte, seinen Bruder herauszufordern, würde das eher schaden als nutzen. Hörst du zu?“ McCree hatte ein kariertes Taschentuch aus der Hosentasche gezogen und wischte damit die Klinge seines Messers ab, auch wenn man das Attribut 'sauber' deswegen noch lange nicht verleihen konnte. Er hatte den Kopf gesenkt, sodass der Hut seine Augen und das Nasenbein verdeckte, doch sein Mund bildete die verkniffene Linie von Widerwillen. Aber er hörte zu. Und Gabriel hatte keine Verwendung für trotzige Anfälle, auch nicht für fünf Minuten. „Ich weiß nicht, wie viel mit einem Typen anzufangen ist, der seinen eigenen Bruder absticht, weil's ein Haufen alter Säcke will. Aber ich will, dass du das kapierst, Jesse – dieser Hanzo kennt es nicht anders, der ist in die Kriminalität reingeboren. Klingelt da was?“ „Ich hab's mir ausgesucht,“ erwiderte McCree steif, der alte, fehlgeleitete Stolz. „Nen Scheiß hast du,“ Gabriel sagte es nüchtern, nicht mal gereizt, „und wie du selbst darüber denkst, ist dir überlassen. Aber du gräbst ihn aus und redest mit ihm, und vielleicht ist der Typ auch nichts für uns.“ McCree schob das Kinn einen Moment lang vor, seine Lippen bearbeiteten einen unsichtbaren Zigarrenstummel. „Und wenn's so is'?“ Gabriel blinzelte nicht einmal. „Dann beseitigen wir ihn.“ Er war nicht der Ehrenhafte hier; wenn er aus einem übernatürlich begabten Verbrecher Kapital schlagen konnte, tat er das, außerdem glaubte Gabriel an das Konzept vom Abarbeiten der Verbrechen, anstatt sie in einem Loch abzusitzen. Oder mit einer Kugel im Schädel davonzukommen. Entweder wandte Hanzo Shimada sich Blackwatch zu oder er ließ es bleiben, doch wenn er Letzteres wählte, war er ein gesuchter Krimineller wie alle anderen. Auch das würde McCree ausloten. Schwachstellen. Tote Winkel. Verhaltensmuster. Eine Menge Verantwortung – Unterhändler und Scharfrichter. Nicht ideal für Shimada den Älteren, dass die Verbindlichkeiten bei einer Person lagen, die keine überschäumenden Sympathien für ihn hegte, doch Gabriel wusste, dass McCree es sich dennoch nicht leicht machen würde. Zynisch, aber er dankte Gott für Menschen, die begriffen, dass man manchmal die Eier für die harten Entscheidungen haben musste. Und das bedeutete, dass es Personen gab, die man nicht am Leben lassen konnte, wenn man ein paar dutzend bis hundert andere Leben nicht versauen wollte. Die Art Entscheidung, die Gabriel lieber von Menschen fernhielt, und tief in sich drin wusste er, warum er es diesmal nicht tat. „Na schön.“ McCree schnaufte und lehnte sich wieder zurück, während er das Taschentuch zurückstopfte. „Hatte ja schon ewig keinen Urlaub mehr.“ „Nicht nur du.“ Etwas an seinem Tonfall musste nicht so beiläufig geklungen haben wie gewollt, denn McCree blickte ihm forsch ins Gesicht, die Augenbrauen wanderten ein winziges Stück nach oben. „Du denkst, oro hat Ärger?“ Jack hatte absolut immer Ärger. Meist wusste er gar nicht, wie viel Ärger er hatte. Und dann hatte der Ärger Jack. Dieses Auflaufen war kein Zufall, also würde Gabriel dem nachgehen wie der gute... Mitarbeiter, der er war. Auch wenn es bedeutet hatte, einem Cyborg ein Wochenende voller sanfter Grausamkeit zu bescheren, der personifizierten Gewissenlosigkeit Zugang zu einem geheimen Forschungslabor zu verschaffen und seine rechte Hand allein zu einem Rendezvous mit einem der gefährlichsten Männer Asiens zu schicken, um dem die Pistole auf die Brust zu setzen. Notfalls ganz wörtlich. Gabriel trank seinen Kaffee aus und stellte die Tasse auf den Tisch. „Ich will einfach nur ausschlafen, sonst nichts.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)