Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 61: Melanie ------------------- Unwillig musste ich einräumen, dass Josephine Recht hatte. Wenn man Greg als einen Mann betrachtete und nicht wie ich als eine Art Inventar, dann kam man kaum umhin, festzustellen, dass er wirklich ziemlich attraktiv war. Sein ständig verzaustes, eigenwilliges Haar hatte besonders in der Sonne einen hübschen Goldschimmer und umgab sein Gesicht mit den feinen, ebenmäßigen Zügen wie ein Heiligenschein. Irgendwie war das unglaublich passend, fand ich. Greg hatte seit jeher viel mehr von einem Engel als von einem Menschen. Eigentlich fehlten nur noch die Flügel... Seine ausdrucksstarken, katzengrünen Augen mit dem leicht rotbraunen Retinaring waren kaum sichtbar schräg gestellt, was sie aus der Masse der nichtssagenden 08/15-Glotzer heraushoben. Sie waren über alle Maßen interessant und wahrscheinlich neben all seinen anderen körperlichen Vorzügen das Schönste an ihm. Die Augen sind eben doch der Spiegel der Seele. Auch wenn Greg auf den ersten Blick ein Gesicht hatte, das dem eines Models ebenbürtig war, war es im Gegensatz zu seinem sportlichen Körper weit davon entfernt, perfekt zu sein. In seiner Kinnfalte verlief eine alte, fast verblasste Narbe, seine schön geschwungenen Augenbraunen waren für sein blondes Haupthaar und die blasse, feinporige Haut eigentlich einen Tick zu dunkel und an seinem linken Schneidzahn fehlte ein winziges Stück. Doch all diese kleinen Fehler machten ihn eigentlich erst wirklich anziehend. Sie nahmen seiner natürlichen Schönheit das Einschüchternde und ließen ihn attraktiver wirken als die Plastikmodels aus einschlägigen Zeitschriften. Und trotzdem war es nicht sein Gesicht, das meine Aufmerksamkeit fesselte, als ich aus der Dusche kam. Stattdessen gaffte ich mit großen, faszinierten Augen auf seinen hochgeschossenen, sportlichen Körper mit den festen, geschmeidigen Muskeln unter der hellen Haut. Ich ließ meinen Blick an ihm herab gleiten und blieb ganz besonders an seinem flachen Bauch hängen. Über einer schmalen, senkrechten Spur dunkler Haare, die frech über den Rand seiner schwarzen Badeshorts hinweg guckte, sah man deutlich seine ausgeprägte Muskulatur. Es war nicht direkt ein ausgewachsenes Sixpack wie man es von Bodybuildern kennt, aber es war unverkennbar ein Waschbrettbauch. Jos kleine Wampe war eigentlich immer das Einzige gewesen, das mich an ihm gestört hatte... Als ich mich bei dem Gedanken ertappte, Greg mit den Fingern über seine Bauchmuskeln zu streichen, um einfach zu testen wie sich das anfühlte, riss ich meinen Kopf nach oben und richtete meinen Blick mit einiger Anstrengung auf Gregs Gesicht, auf dem ein eigenartiger Ausdruck lag. Sämtliches Blut war aus seinen Wangen entwichen, wodurch seine Haut aschfahl wirkte, und seine leicht zitternde Unterlippe drückte stummes Entsetzen aus. Doch in seinen Augen brannte ein begehrendes Feuer wie ich es von Jo nur kannte, kurz bevor wir miteinander schliefen. Obwohl mir bei dem Gedanken, dass Gregs Gedanken womöglich in eine solche Richtung gehen könnten, mulmig wurde, spürte ich wie ein aufgeregtes Kribbeln meinen Rücken entlang rieselte. Plötzlich wurde ich von dem unbändigen Verlangen gepackt, Greg zu berühren – ihn auf eine Art anzufassen, an die ich bei ihm eigentlich nicht einmal denken sollte. Ich wollte mich fest gegen seinen statuenhaften Körper pressen, während er seine starken Arme um mich legte und... Ich biss mir von innen auf die Wange. Nein, ich würde nicht zulassen, dass Finchen auch in dieser Beziehung recht behielt. Ich liebte Johannes. Ich wollte keinen anderen Mann. Trotzdem war es auf einmal als hätte jemand zwischen Greg und mir unsichtbare Fäden gespannt, an denen dieser mich nun unaufhaltsam zu sich zog. Um diesen Bann wieder zu brechen, sprach ich ihn endlich an: „Alles okay mit dir? Du siehst aus als hättest du einen Geist gesehen.“ Leider brachten meine Versuche, wieder zur Normalität zurück zu finden, keinen Erfolg – im Gegenteil. Auch als ich Stunden später neben ihm am Beckenrand saß, hatte ich noch immer das drängende Bedürfnis, Greg zu berühren. Inzwischen war es so stark, dass meine Hände kribbelten. Vorsichtshalber setzte ich mich lieber auf sie, bevor sie sich noch selbstständig machten. Trotzdem konnte ich meinen Kopf nicht daran hindern, sich wie von selbst an Gregs Schulter zu lehnen. Er warf mir einen kurzen Seitenblick zu und lächelte verklärt, doch in seinen Augen lag ein so wehmütiger Ausdruck, dass es jedem, der ihn sah, das Herz zerreißen musste. Ich sah schnell wieder weg. Während Greg andere Badegäste beobachtete, dachte ich nach. Finchen Stimme hallte mir wie ein Dauerecho immer wieder durch den Kopf. „Im Grunde ist es nichts anderes als wäre er der nette Nachbarssohn, den du schon dein Leben lang kennst. Und mit dem würdest du doch auch schlafen, oder nicht?“ Irgendwo hatte sie Recht. Wäre Greg zufällig von einer anderen Familie adoptiert worden, hätte ich mich Hals über Kopf in ihn verlieben können und es hätte niemanden gekümmert. Interessanterweise irritierte es mich gar nicht, dass ich diese Worte – in Greg verliebt – denken konnte, ohne zu erschrecken. Ein Teil von mir schien bereits akzeptiert zu haben, dass es so kommen würde. Oder bereits so gekommen war? Doch was hatte Greg noch vor wenigen Tagen gemeint, als er gesagt hatte, meine Anwesenheit mache ihn krank? War es möglich, dass er diese unsichtbaren Fäden, die uns mit einer brutalen Gewalt zueinander zogen, auch spürte? Schon da gespürt hatte? War er so abweisend gewesen, weil er nichtgeschwisterliche Gefühle für mich hatte und befürchtet hatte, ich könnte ihn dafür verurteilen, wenn ich etwas davon gemerkt hätte? Ich betrachtete sein unbewegtes Gesicht aus den Augenwinkeln. Seine Augen waren auf irgendetwas in der Ferne gerichtet und ein kleines, spöttisches Lächeln lag auf seinen Lippen. Eine solche Reaktion hätte ihm zumindest ähnlich gesehen. Auch als er damals den heftigen Krach mit Chris gehabt hatte, hatte er sich trotzig und abweisend verhalten, anstatt einfach zuzugeben, dass er traurig darüber war, dass sein bester Freund aus der Stadt fortzog. Schlussendlich war die Freundschaft an Gregs halsstarrigem Verhalten gescheitert und beide Jungs waren mit schmerzendem Herzen zurückgeblieben. Dennoch war Greg das noch immer lieber gewesen, als zu seinen Gefühlen zu stehen und dann womöglich zurückgewiesen zu werden. Plötzlich musste ich heftig gähnen und Greg wandte mit einem breiten Grinsen den Kopf, sodass unsere Gesichter ganz nah beieinander waren. Liebevoll stupste er mir gegen die Nase, wobei sich seine Mundwinkel noch ein wenig weiter nach oben verschoben. „Was ist denn das? Bist du etwa schon fertig mit der Welt, Zwerg?“ Mein Körper reagierte, ohne dass ich es wollte, und ehe ich mich versah, war ich drauf und dran meinen eigenen Bruder zu küssen. Erst im letzten Moment erlangte ich die Kontrolle über mich zurück und wich schnell auf die Wange aus, doch für einen kurzen Augenblick hatte ich seinen Mund berührt. Ich schmeckte ihn deutlich, wenn ich mit der Zunge über die Lippen fuhr. Vielleicht war das nur Einbildung, doch mit heftig pochendem Herzen wurde mir etwas klar, als Greg sich seufzend verspannte. In dem augenaufschlagkurzen Moment, in dem sich unsere Lippen berührt hatten, hatte Greg sich mir entgegen gelehnt und seinen Mund einen winzigen Spalt breit geöffnet. Vermutlich war es bei ihm eine genauso automatische Reaktion gewesen wie bei mir, doch trotzdem machte sie mir etwas ganz deutlich: Früher oder später würde ich Johannes mit Greg, mit meinem eigenen Bruder betrügen. So heftig wie mein Herz schlug und mein ganzer Körper kribbelte, tippte ich eher auf früher. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)