Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 50: Melanie ------------------- „Dich habe ich nie vermisst.“ Gregs Stimme hallte mir noch immer durch den Kopf wie ein Albtraum, aus dem man einfach nicht aufwachen kann. Mit leerem Blick lehnte ich mich an die starke Schulter meines Freundes, der mir mit seiner typischen, unerschütterlichen Ruhe über den Rücken strich. Sein Gemurmel, es würde alles wieder gut werden, hatte er zum Glück wieder eingestellt. Ich war eh nicht so naiv gewesen, es zu glauben. Irgendetwas in mir schien kaputt gegangen zu sein, als mein Bruder mir mit dieser unglaublich feindseligen Stimme an den Kopf geknallt hatte, ich solle ihn in Ruhe lassen. Konnten Gefühle tatsächlich einfach so ins Gegenteil umschlagen? Früher hatte Greg mich geliebt, das wusste ich genau. Doch nun hatte ich eher das Gefühl, dass er mich aus tiefstem Herzen hasste. „Möchtest du heute Nacht hier bleiben?“ Jos Stimme riss mich aus meiner Gedankenwelt. Ich seufzte und ließ meinen Blick kurz durch sein Zimmer wandern, das mir beinah genauso vertraut war wie mein eigenes. Wir saßen auf der alten, ausgefransten, braunen Couch, die früher im Wohnzimmer seiner Eltern gestanden hatte, nun aber ihren Platz gleich neben Jos’ umfangreicher CD-Sammlung gefunden hatte. Passend dazu stand ein paar Meter von mir entfernt eine hypermoderne Stereoanlage, aus der jetzt irgendeine Punkband plärrte. An der Wand gegenüber quetschten sich ein schmaler Kleiderschrank, ein mit Papier überfüllter Schreibtisch und sein breites Futon-Bett mit dem kindischen Bayern-München-Bezug nebeneinander. Dann schüttelte ich den Kopf. „Nein, ich glaube, ich schlaf heute Nacht besser alleine. Ich bin so aufgewühlt, ich würde dich vermutlich permanent treten und schlagen.“ Ein Grinsen stahl sich in sein leicht rundliches Gesicht und seine grünbraunen Augen leuchteten. „Das wäre schon okay. Du weißt, dass ich es selbst dann schön finde, mit dir in einem Bett zu schlafen, wenn du mich nachts verprügelst.“ Unwillkürlich musste ich zurücklächeln und ein warmer Schauer durchrieselte meinen Körper, bevor ich ihn zärtlich auf die etwas zu schmalen Lippen küsste und mich noch tiefer in seinen Arm kuschelte. Er drückte mich sanft und ließ seinen Daumen liebevoll über meine Hand streichen. Hier bei ihm erschienen mir die früheren Geschehnisse des Tages total surreal, so als hätte ich nur schlecht geträumt oder einen nahe gehenden Film gesehen. Doch wenn ich wieder an Gregs wütend verzogenen Mund, seine eiskalte Stimme und vor allem an die Gemeinheiten dachte, die er mir an den Kopf geworfen hatte, fühlte ich sofort wieder einen heißen Stich im Herzen. Was hatte er damit gemeint, ich käme sowieso immer überall rein? Ich drehte den Kopf ein wenig, damit ich Johannes besser betrachten konnte. Es tat gut, dass er so vollkommen anders aussah als mein Bruder. Jo war eher klein und untersetzt, während Greg groß und schlank war und sich mit der Geschmeidigkeit eines durchtrainierten Sportlers bewegte. Jos dunkelbraune Locken umspielten locker sein Gesicht und lenkten ein wenig von seinen schmalen Lippen und der Nase ab, die eine Spur zu breit war. Alles in allem war Johannes vor allem im Vergleich zu Greg keine Schönheit, aber er hatte diese unglaublichen Augen, in die man sich einfach verlieben musste. Außerdem hatte ich mich vom ersten Augenblick an bei ihm geborgen gefühlt – etwas, das ich zumindest momentan nicht von meinem Bruder behaupten konnte. Am liebsten wäre ich doch einfach über Nacht hier geblieben, aber irgendetwas zog mich trotzdem nach Hause. Vielleicht war es die kindliche Hoffnung, dass Greg wie ausgewechselt sein würde, sobald ich wieder da wäre, und ich endlich wieder den Bruder hätte, den ich schon so lange schmerzlich vermisste. Als ich zu Hause ankam, war es bereits stockdunkel und am Himmel leuchteten Tausende Sterne. Für einen kurzen Moment legte ich den Kopf in den Nacken und hielt nach einer Sternschnuppe Ausschau. Jo zog mich sanft in seinen Arm und blickte ebenfalls nach oben. „Bist du sicher, dass ich nicht mit rein kommen soll?“ In seiner Stimme schwang so viel Sorge mit, dass ich beinah ein schlechtes Gewissen bekam, dass ich mich mittags nicht ein bisschen beruhigt hatte, bevor ich zu ihm gefahren war. Ich war so vollkommen aufgelöst bei ihm angekommen, dass er mir noch immer nicht wirklich glaubte, dass es mir wieder besser ging und ich mich stark genug fühlte, meinem Bruder wieder zu begegnen. Ich wandte mich in seinen Armen um, sodass ich ihm ins Gesicht sehen konnte, und küsste ihn. „Ja, ich bin mir sicher. Und ich ruf dich morgen wie versprochen an, großes Indianerehrenwort.“ Er lächelte unglücklich und strich mir über die Wange. „Das hoffe ich. Schlaf gut, Süße.“ Dann küssten wir uns ein letztes Mal zum Abschied und Jo verschwand in der Dunkelheit. Einen Moment lang sah ich ihm hinterher, dann holte ich tief Luft und versuchte mich selber davon zu überzeugen, dass ich meinen Freund nicht angelogen hatte. Ich konnte das! Ich konnte Greg wieder unter die Augen treten. Und ich konnte ihn ignorieren, wenn es das war, was er wollte. Im Flur war es fast noch dunkler als draußen, da durch das Nordfenster kaum Mondlicht fiel. Dennoch schaltete ich die Deckenleuchten nicht ein. Irgendwie hatte diese Düsternis etwas seltsam Tröstliches an sich. Ich fühlte mich so einfach wohler. So leise wie möglich schlich ich die Treppe hinauf, um mich in meinem Zimmer zu verkriechen und möglichst niemandem zu begegnen – schon gar nicht meinem Bruder. Ich war schon fast an meiner Tür, als ich bemerkte, dass aus Gregs Zimmer ein schmaler Streifen Licht fiel. Für einen kurzen Moment stand ich unschlüssig in der Dunkelheit und kaute auf der Unterlippe. Ich hatte mir geschworen, meinen Bruder zu ignorieren. Doch galt das auch dann, wenn er meine Anwesenheit gar nicht bemerken würde? Auf leisen Sohlen schlich ich auf seine Tür zu, um durch den winzigen Spalt vielleicht einen Blick auf ihn werfen zu können, als ich die Stimmen hörte. Mein Herz pochte vor Aufregung so laut, dass ich kein einziges Wort verstand. Ich hatte noch nie irgendwo gelauscht, doch dieses Mal konnte ich mich einfach nicht zusammen reißen. Ich presste mich dicht an die Wand, sodass mein Ohr fast direkt am Türspalt lag, und zwang mich, ruhig zu atmen, um mich nicht zu verraten. Doch als ich endlich nicht mehr nur mein laut rauschendes Blut hörte, war es als hätte mir jemand urplötzlich den Boden unter den Füßen entzogen. Gregs Stimme drang zwar nur recht undeutlich an meine Ohren, doch ich hörte trotzdem wie müde und unendlich traurig sie klang. Aber viel mehr als seine Stimmlage erschütterten mich seine Worte: „Ich werde gleich morgen früh wieder abreisen. Das ist einfach besser so. Mels Anwesenheit macht mich krank.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)