Sünde von Labrynna ================================================================================ Kapitel 49: Gregor ------------------ Ich streckte mich auf meinem alten Jugendbett aus und seufzte. Obwohl es Jahre her war, dass ich hier gelegen hatte, fühlte es sich trotzdem immer noch vertraut an. Gedankenversunken strich ich über die blaubunt gemusterte Leinenbettwäsche. Genau dieselbe war damals aufgezogen gewesen, als ich gegangen war. Dass meine Mutter sie zwischendurch nicht gewaschen hatte, erschien mir mehr als unwahrscheinlich. Vermutlich wollte Mutter mir eher das Gefühl geben, als wäre ich niemals weg gewesen. Wie Recht sie damit hatte... Auch drei Jahre Abwesenheit hatte keine Distanz zu meinem Fluch gebracht. Erbärmlich. Eigentlich hätte ich jetzt sofort Vroni anrufen müssen, um ihr zu erzählen, wie mein erstes Aufeinandertreffen mit meiner Familie gewesen war. Das hatte ich ihr fest versprochen. Dennoch ignorierte ich mein Handy, das in meinem Rucksack steckte, und starrte an die Decke. Vielleicht würden diese wild durch meinen Geist wirbelnden Gefühle und Bilder mit der Zeit wieder verschwinden – so wie es damals gewesen war, als ich das Palästina-Tuch ausgepackt hatte, das Mel mir in London gekauft hatte. Ich versuchte, mir einzureden, dass ich Vroni nur deshalb nicht anrufen wollte, weil ich sie nicht unnötig aufregen wollte. Doch tatsächlich hatte ich einfach ein wenig Angst vor ihrer Reaktion. Wahrscheinlich würde sie mich verlassen, auch wenn sie vorher etwas anderes gesagt hatte. Doch das würde ich ihr nicht übel nehmen. Wer will schon mit jemandem zusammen sein, von dem man ganz genau weiß, dass er eigentlich jemand anderes liebt? Also lag ich statt zu telefonieren auf dem Bett, starrte an die Decke und hasste mich. Wie hatte ich nur so töricht sein können, zu glauben, ich würde je über Mel hinweg kommen? Ein einziger Blick hatte gereicht, um meine Gefühle in all ihrer Widerwärtigkeit wieder aufblühen zu lassen. Ich hatte es nie geschafft, Mel zu vergessen. Alles, was ich getan hatte, war, dass ich meine Liebe zu ihr schlicht und ergreifend verdrängt hatte. Ich hatte sie in irgendein Fach meiner Seele gesteckt und mich danach beständig geweigert, diese Schublade auch nur einen winzigen Spalt weit aufzuziehen. Doch das hatte nichts mit wirklichem Verarbeiten zu tun. Ein einziger Augenaufschlag hatte gereicht und meine Jahre mit Vroni waren bedeutungslos geworden. Ich liebte Mel noch immer und würde es vermutlich auch noch bis an mein Lebensende tun. Dennoch klammerte ich mich stur an die immer kleiner werdende Hoffnung, dass dieser Emotionsschwall wieder abebben würde, sobald ich mich an Mels Anblick gewöhnt hätte, dass ich dann auch wieder mit diesem leisen Kribbeln in der Magengegend an Vroni denken konnte. Als es klopfte, zuckte ich unwillkürlich heftig zusammen. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie vertieft ich in meine eigenen Gedanken gewesen war. Bevor ich antworten konnte, öffnete sich die Tür und Mel steckte ihren Kopf durch den Spalt. „Darf ich rein kommen?“ Genervt rollte ich mit den Augen. Wozu diese Frage? Sie war doch schon so gut wie drin. Als ich den Kopf wandte, um sie anzusehen, zog sie bereits die Tür hinter sich zu. Ich warf ihr einen bösen Blick zu, der sie kurz innehalten ließ. „Darf ich?“ „Was fragst du mich eigentlich noch? Du bist doch schon drin. Außerdem kommst du doch sowieso immer überall rein.“ Der kaum verhohlene Hass in meiner Stimme erschreckte mich beinah selbst. Mir war gar nicht klar gewesen, dass ich ein wenig wütend auf meine Schwester war, weil sie mich in diese vertrackte Situation brachte, einfach indem sie existent war. Mel biss sich auf die Unterlippe und betrachtete mich kritisch aus ihren großen, moosgrünen Augen. Ich drehte wieder den Kopf, starrte mit aufeinander gepressten Lippen an die weiß gestrichene Decke und wünschte mir, ich hätte meine Sonnenbrille nicht abgenommen. Doch die lag nun außer Reichweite auf meinem alten Eichenholzschreibtisch. Dabei waren meine Augen schon immer der Körperteil gewesen, den ich einfach nicht unter Kontrolle halten konnte. Sie hatten mich schon öfter verraten als mir lieb war. „Was ist eigentlich mit dir los?“ Mel stand noch immer ziemlich unsicher mitten im Raum, so als hätte mein vernichtender Blick von vorhin sie dort festgeklebt. „Was soll schon los sein?“ Meine Stimme war ein tiefes Grollen voller Abscheu. „Du bist endlich wieder zu Hause. Du solltest dich freuen.“ „Aha.“ Für mehrere Herzschläge herrschte Stille, doch dann drang aus der Mitte des Raums ein Geräusch an meine Ohren, das mir einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Mit einem schnellen Seitenblick musterte ich das Häufchen Elend, das sich in mein Zimmer gestohlen hatte. Mel hatte sich ihr langes Haar vors Gesicht fallen lassen und starrte auf den Boden, während ihr zum vermutlich x-ten Mal am heutigen Tag die Tränen übers Gesicht liefen. So war sie immer gewesen... Bei jeder kleinsten Kleinigkeit hatte sie angefangen zu heulen und war zu mir gelaufen gekommen, damit ich das Problem für sie löste. Und ich hatte sie mit der Innbrust tiefster Liebe beschützt... Mel schlang sich die Arme um den Oberkörper, so als könnte sie ihren Brustkorb dadurch daran hindern, sich in unkontrollierten Schluchzern zusammen zu krampfen. Als sie wieder zu sprechen begann, zitterte ihre Stimme so sehr, dass ich Schwierigkeiten hatte, sie zu verstehen. „Aber du freust dich nicht. Ich versteh’ das nicht. Hast du uns denn gar nicht vermisst?“ Unwillkürlich zog sich mein Magen zu einem kleinen Knoten zusammen. Natürlich hatte ich meine Familie vermisst – Mel ganz besonders. Doch das war Teil meiner Strafe, die ich mir selbst auferlegt hatte. Paps war der Meinung gewesen, dass man diese Sache auch anders hätte lösen können, doch ich hatte auf diesen Weg bestanden. Ich hatte ganz bewusst leiden wollen, in der Hoffnung, meine Schuld oder meine Schande abstreifen zu können. Doch das war nicht geschehen. Natürlich nicht... Dafür war Beides viel zu groß. Ich setzte mich auf und musterte Mel mit dem kältesten Blick, den ich mir aufzwingen konnte. „Mutter und Paps habe ich vermisst. Sehr sogar.“ Als hätte ich an einem unsichtbaren Faden gezogen, hob sich schlagartig ihr Kopf und sie starrte mich aus geweiteten Augen an. Man konnte richtig sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete, als sie meine Worte stumm wiederholte. „Du... du meinst... das heißt…“ Während sie stammelnd versuchte, einen ganzen Satz zwischen ihren bebenden Lippen hervor zu pressen, stand ich auf und griff nach meiner Sonnenbrille. Falls es Mel irritierte, dass ich diese in einem geschlossenen Raum aufsetzte, so sah man es ihr nicht an, als ich mich zu ihr umwandte. „Richtig. Dich habe ich nie vermisst. Nicht eine Sekunde. Und jetzt geh mir nicht weiter auf den Wecker. Ich versuche, es zu genießen, dass ich wieder hier bin. Los, hau ab! Lass mich in Ruhe!“ Meine Stimme war wie Packeis – hart und tödlich kalt. Mel gaffte mich noch einige Sekunden fassungslos an, dann verschwand sie türeknallend aus meinem Zimmer. Kaum dass sie gegangen war, gaben meine weichen Knie nach und ich sackte kraftlos auf den Boden. Ich zog die Beine an, legte den Kopf auf die Knie und vergrub die Finger so heftig in meinen Haaren, dass es schmerzte. Warum konnte sie mich nicht in Ruhe lassen? Warum zwang sie mich, ihr weh zu tun? Warum passierte das alles eigentlich mir? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)