Am Rand der Welt von Alaiya ================================================================================ Auf der Straße nach Blönduós ---------------------------- „Wann sind wir da?“, fragte Abby, die auf ihrem Kindersitz angeschnallt auf der Sitzbank des Wohnmobils saß. „Noch knapp eine Stunde“, meinte Casey mit einem kurzen Blick über ihre Schulter, ehe sie sich auf die verlassene Straße vor ihnen konzentrierte. Es regnete. Sie hatten auch nicht die ganze Zeit perfektes Wetter haben können, weshalb es sie wenig störte. Dennoch hatte sie lang genug auf der Insel gelebt, um zu wissen, dass die Straßen bei Regenwetter oft tückisch sein konnten. Selbst die Hauptstraße, die um die gesamte Insel herum führte, überflutete schnell mal, gerade wenn die Temperaturen dabei warm genug waren, dass sich etwas Schmelzwasser dazu gesellte. Gerade hier, zwischen Varmahlid und Blönduós, wo sich zu beiden Seiten der Straße die Berge in die Höhe erhoben, hatte sie selbst schon einmal erlebt, dass die Straßen nicht immer perfekt waren. Doch was konnte man bei einem so wilden Land erwarten? Zumindest sah die Straße vor ihr dramatisch aus: Die grauen Wolken wirkten stürmisch, das Gras am Rand der Straße wehte leicht im Wind und das dunkle Gestein bildete einen starken Kontrast dazu. Eigentlich wäre es ein perfektes Setting für einen Fantasy-Film. „Sind wir bald da?“, kam es keine zwei Minuten später wieder von Abby. „Wir sind da, wenn wir da sind“, meinte Tristan seufzend und sah aus dem Fenster. „Mir ist langweilig“, meinte seine kleine Schwester. „Warum spielen wir nicht ein Spiel zusammen?“, schlug Dagny, die neben Abby saß, vor. Von Tristan war die einzige Antwort ein genervtes Stöhnen. „Kein Spiel.“ Abby schien ihm diesbezüglich also zuzustimmen. „Ich will was malen.“ „Das geht nicht während der Fahrt“, sagte Casey, drehte sich aber nicht um. „Warum nicht?“, fragte Abby, als hätten sie dieses Gespräch nicht schon zwei Mal gehabt. „Weil es zu gefährlich ist“, antwortete Dagny sanft. Der grummelnde Ton, der als nächstes erklang, war Antwort genug. Tristan seufzte, laut genug, als dass auch Casey es über das Prasseln des Regens hinweg hören konnte. „Ich habe eine Idee, Ab. Ich könnte dir ein Märchen erzählen.“ Als Abby das nächste Mal antwortete, hatte ihre Stimme einen schnüffelnden Unterton. „Okay“, meinte sie im Tonfall einer Dame, die einem Freier eine letzte Chance gewährte. „Ähm“, Tristan zögerte. Auch wenn Casey ihn nicht sehen konnte, war sie sicher, dass er die Stirn runzelte. „Es war einmal ein junger Prinz namens Ring.“ „Warum hieß der Ring?“, fragte Abby sofort. „Weil er halt so hieß“, erwiderte Tristan. „Das ist aber ein komischer Name!“ „In dem Land, in dem der Prinz lebte, war der Name nicht komisch“, meinte Tristan. „Okay.“ Abbys Stimme klang schmollend. Tristan schien für einen Moment zu überlegen. „Jedenfalls ging der Prinz Ring eines Tages ein gefährliches Biest mit seinen Freunden jagen …“ „Was für ein Biest?“, fragte Abby und entlockte Tristan damit ein leicht genervtes Stöhnen. „Was weiß ich“, erwiderte er. „Irgendeins.“ Er schien unschlüssig zu sein. „Ein großer Bär. Und jetzt lass mich die Geschichte weiter erzählen.“ „Aber ich finde die Geschichte langweilig“, erwiderte Abby. „Ich habe ja nicht einmal richtig angefangen.“ „Ich will aber eine Geschichte mit einer Prinzessin!“, entgegnete Abby mit Nachdruck. Tristan seufzte genervt. „Hier kommt ja auch eine Prinzessin vor, wenn du mich soweit kommen lassen würdest, Ab.“ „Ich finde die Geschichte aber blöd!“ Casey kam nicht umher leise zu kichern, auch wenn sie die Frustration ihres Sohns gut verstehen konnte. Immerhin hatte er versucht ein guter großer Bruder zu sein – etwas, wofür sie ihn später loben würde. Doch hatte sie Abby und früher auch einmal ihm oft genug Geschichten erzählt, um dergleichen Verhalten zu kennen. „Findest du nicht, du bist ein bisschen gemein zu ihm?“, fragte Dagny sanft. Abby antwortete nicht sofort, sah sie wahrscheinlich erst einmal schmollend an. Auch wenn Casey sie gerade nicht sehen konnte, so konnte sie es sich doch vorstellen, wie ihre Tochter die Ärmchen verschränkte, ehe sie antwortete: „Die Geschichte ist halt doof und hat einen doofen Prinzen.“ „Vielleicht würde sie aber besser, wenn du ihn erzählen lässt“, meinte Dagny. „Nein“, beharrte Abby stur. „Ich habe eh keinen Bock mehr“, grummelte Tristan. Nun war es Dagny die Seufzte und Casey war sich sicher, ein wenig Ratlosigkeit aus dem Seufzen zu hören. „Soll ich dir eine Geschichte erzählen?“, bot sie schließlich an. „Geht die um einen Prinzen?“, fragte Abby. „Nein, das ist die Geschichte einer Prinzessin“, antwortete Dagny. „Einer Prinzessin, die Magie beherrscht hat.“ „Hmm.“ Abby schien über das Angebot nachzudenken. „Kannst du mir nicht eine richtige Feengeschichte erzählen, Mama?“, fragte sie dann. Jetzt seufzte auch Casey. Sie hatte die Kindergeschichten der Feen gehört – und sie waren nicht unbedingt für Kinder geeignet. „Hör dir doch erst einmal die Prinzessinnengeschichte an, Liebling“, meinte sie und sah kurz zu ihnen zurück, ehe sie sich wieder auf die verlassene Straße vor ihnen konzentrierte, die noch immer so dramatisch aussah wie vorher. Der Regen kam nun in dünneren Tropfen, dafür aber heftiger vom Himmel und machte es schwer weit zu sehen. „Ooooookay“, gab Abby langgezogen nach und ein dumpfes Geräusch sagte Casey, dass sie sich wahrscheinlich zurückgelehnt hatte. Dagny räusperte sich. „Okay.“ Sie überlegte für einen Moment. „Es war einmal eine Prinzessin namens Geirlug, die zusammen mit ihrem Eltern in einem fernen Königreich lebte.“ Dagny erzählte die Geschichte stark betont, wie man es von Geschichtenerzählern kannte. „Als Geirlug noch ein ganz kleines Mädchen war, so wie du, kam ein Drache und hat versucht sie zu stehlen.“ „Warum?“, fragte Abby. „Weil er damit den König erpressen wollte“, antwortete Dagny, als hätte sie sich auf eine solche Frage vorbereitet. „Jedenfalls hat er versucht Geirlug zu entführen, doch Geirlugs Vater hat es geschafft, den Drachen zu vertreiben. Und als der Drache geflohen ist, ist ihm ein anderes kleines Kind, ein kleiner Junge aus den Klauen gefallen.“ „Wieso?“, kam es wieder von Abby. „Weil er den Jungen vorher geklaut hat.“ Casey lächelte. Sie kannte die Geschichte und wusste, dass sie normal aus der Sicht des Prinzen erzählt war, selbst wenn sie im Märchenbuch unter dem Titel „Geirlug, Tochter des Königs“ geschrieben stand. Doch viel musste man wohl nicht verändern, um die Perspektive an Geirlug anzupassen. Vielleicht hätten sie Abby öfter einmal aus dem Märchenbuch vorlesen sollen. Dagny fuhr mit der Geschichte fort: „Der Junge war Grethari aus dem benachbarten Königreich, aber weil Geirlugs Vater Gretharis Vater nicht leiden konnte, entschloss er sich, dem König Grethari davon nichts zu sagen und den Jungen selbst großzuziehen.“ „Das ist gemein“, kommentierte Abby. „Sein Papa und seine Mama haben sich sicher Sorgen gemacht.“ „Das haben sie bestimmt“, bestätigte Dagny. „Sie haben gedacht, der Drache hätte ihn entführt.“ „Dann mag ich Geirlis Vater aber nicht“, meinte Abby. Casey musste grinsen, da sie wusste, wie die Geschichte weiter ging. „Jedenfalls wuchsen Geirlug und Grethari als Bruder und Schwester auf, aber eines Tages starb Geirlugs Mutter“, fuhr Dagny fort. „Nein!“, rief Abby aus. „Doch. Und der König war sehr, sehr traurig“, erklärte Dagny. Daraufhin schwieg Abby. Wahrscheinlich hatte sie wenig Mitleid mit ihm. „Aber schließlich traf er eine andere Frau, die er heiraten wollte“, erzählte Dagny die Geschichte weiter. „Doch Geirlug war intelligent und hat erkannt, dass sie eine böse Hexe war, die einen Pakt mit einem Dämon gemacht hatte.“ Das war eine Ergänzung à la Dagny. Sie hatte immer schon „Hexen“ in Märchen um ähnliche Aspekte ergänzt, da, wie sie immer wieder gesagt hatte, Hexen nun einmal nicht per se böse waren und ein Kind, dass in einer magischen Welt aufwuchs das auch nie denken sollte. Wahrscheinlich hätten die Dämonen diese geänderte Geschichte allerdings ähnlich behandelt. „Woher wusste sie das?“, fragte Abby natürlich wieder. „Weil die neue Frau so hübsch war und jeder weiß, dass man keinen hübschen Frauen trauen soll“, kam es in schmollendem Tonfall von Tristan. Dagny seufzte amüsiert. „Nein, natürlich nicht“, sagte sie mit Nachdruck. „Geirlug wusste es, da sie selbst magisch begabt war. Sie hatte keinen Mentor, aber sie hatte sich selbst etwas beigebracht und konnte so zum Beispiel Geister sehen und sah daher auch, wie der Dämon immer in der Nähe der neuen Frau blieb.“ „Also hat der König sie nicht geheiratet“, schloss Abby. „So einfach ist das in Märchen nie“, kommentierte Tristan. „Da hat er Recht“, gab Dagny zu. „Der König glaubte seiner Tochter nämlich nicht und heiratete die neue Frau trotzdem und sie war eine schlechte und gemeine Königin unter der das ganze Land litt. Und als der König ihr Einhalt gebieten wollte, vergiftete sie ihn.“ „Da hätte er auf Geirli hören sollen“, meinte Abby. „Und den Prinzen nicht entführen sollen.“ Dagny lachte. „Hätte er vielleicht.“ Casey sah auf ihr Navi. Es sollte nicht mehr weit sein, bis sie in Blönduós ankamen. Derweil lauschte sie Dagny, als diese fortfuhr. „Die Königin wollte dann auch Geirlug und Grethari töten, aber Geirlug war darauf vorbereitet. Sie hatte nämlich weiter Magie gelernt. Und als die Königin sie angriff konnte Geirlug sich und Grethari verteidigen und hat gegen die Königin gekämpft. Sie hat erst nur versucht zusammen mit ihrem Bruder zu entkommen, indem sie sich und Grethari in Orcas verwandelt hat.“ „Cool!“, kommentierte Abby und entlockte ihren beiden Müttern damit ein Lachen. „Aber die Königin konnte das auch. Also hat sie sich in einen großen, großen Haifisch verwandelt und hat die beiden verfolgt! Aber Geirlug hat gegen sie gekämpft. Die beiden haben lang gegeneinander gekämpft, doch am Ende hat der Orca, Geirlug, den Haifisch besiegt und getötet. Geirlug und Grethari sind an Land geschwommen und haben sich wieder in Menschen verwandelt. Aber wo sollten sie hin? Ihre Familie war ja tot.“ „Dann sollten sie halt zu Gretris Familie!“, sagte Abby. Wieder lachte Dagny. „Dazu kommen wir gleich.“ Sie räusperte sich. „Die beiden sind so durch das Land geirrt, bis sie – ohne es zu wissen – zum Land von Gretharis Eltern kamen. Dort erkannte jemand den vermissten Prinzen. Die Leute haben die Geschichte verbreitet und irgendwann wurden die beiden vom König persönlich abgeholt. Und so fand Grethari heraus, dass er ein Prinz aus diesem Königreich war. Geirlug fühlte sich aber schlecht, weil ihre Eltern den Prinzen entführt hatten und wollte daher gehen, doch der König – Gretharis Vater – bat sie zu bleiben. Schließlich bat auch Grethari sie bei ihm zu bleiben und so blieb sie in diesem Königreich, wo sie fortan als Heldin gefeiert wurde.“ „Ende?“, fragte Abby. „Ende“, bestätigte Dagny. Casey lächelte. Dagny hatte das eigentliche Ende der Geschichte, die an dieser Stelle sich noch eine Weile um die sich entwickelnde Romanze zwischen Geirlug und Grethari drehte, ausgelassen. Immerhin brauchte nicht jedes Märchen eine Hochzeit zum Schluss. Und vielleicht, so dachte sie, als sie das nächste Straßenschild durch den Regenschleier hindurch sah, war das auch ganz gut. „Wir sind gleich da“, verkündigte sie und erntete dafür Jubbeln und zwei erleichterte Seufzer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)