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Yu-Gi-Oh! The Last Asylum

von

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Turn 52 - Demise

Turn 52 – Demise

 

 

Am späten Nachmittag erreichte der Zug, in dem Anya und ihre Freunde saßen, den Livingtoner Bahnhof. Mit ihren Koffern beladen stiegen die Drei, angeführt von der Blonden, aus dem Waggon und schlenderten über den Bahnsteig. Von Nick war weit und breit keine Spur zu erkennen, aber Anya überraschte das nicht. Wer wusste schon, was der Chaot während ihrer Abwesenheit alles angestellt hatte?

 

Vor der Treppe, die hinunter ins Erdgeschoss des Bahnhofs führte, blieb Matt plötzlich stehen. Anya und Zanthe drehten sich neugierig zu ihm um, als sie bemerkten, dass seine Hand zwar auf dem Geländer lag, welches die Treppe teilte, er aber nicht weiterging.

„Ist was, Summers?“, fragte Anya irritiert.

„Über ein halbes Jahr ist es jetzt her“, murmelte der mit gesenktem Blick, „hier habe ich Tara Lebwohl gesagt.“

Zanthe spitzte die Ohren. „Tara? Wer ist-?“

Doch Anyas plötzlicher, fester Griff um seinen Oberarm unterbrach ihn. „Stell keine Fragen, Nervensäge. Er will einen Moment allein sein.“

„Wenn du meinst“, seufzte Zanthe und zuckte mit den Schultern, bevor er sich unter Anyas Führung wieder den Stufen zuwendete. Nicht zuletzt weil sie ihn unsanft in deren Richtung stieß.

Das Mädchen sah noch kurz zu Matt zurück, der ihr als Zeichen seines Dankes zunickte. Sie sagte zwar nichts, aber ihr Blick sprach Bände. Zerbrich' dir nicht den Kopf darüber, teilte sie ihm still mit. Dann drehte sie sich auch um und folgte Zanthe nach unten.

 

Draußen vor dem Bahnhof befand sich ein Parkplatz. Während Matt seiner Schweigeminute nachkam, erklärte Anya dem Werwolf was damals vorgefallen war.

„Es war kurz nachdem der Turm von Neo Babylon durch uns zerstört wurde“, sprach sie angespannt, da sie für gewöhnlich ungern alte, dazu noch unschöne Erinnerungen mit anderen teilte, „eine Immaterielle namens Urila wurde dadurch aus ihrem Gefängnis befreit und wollte die ganze Stadt umbringen. Hat die Leute in Dämonen verwandelt.“

„Wie geht denn so etwas?“, staunte Zanthe nicht schlecht.

Die beiden schlenderten zu einem Hot Dog-Stand unweit des großen Flügeltors aus Eiche, welches in das Innere des Bahnhofs einlud und immer offen stand. Während sie Zanthe zuerst bestellen ließ, erzählte sie die Geschichte weiter.

„Keine Ahnung, sie hat wohl einen Zauber aus so'nem komischen Buch genommen, das sich in Matts Besitz befindet.“ Sie machte eine Kunstpause. „Jedenfalls war zufällig Matts Freundin Tara zu diesem Zeitpunkt in Livington. Komischer Zufall. Urila hat sie zu ihrem Gefäß gemacht und sie dabei ziemlich übel zugerichtet.“

Sie unterbrach die Story kurz, als sie selbst bestellte und allen Ernstes feststellen durfte, dass Zanthe keinen müden Cent mit sich führte. Nur sehr widerwillig für beide bezahlend, beließ sie es bei einem blöden, vor sich hin genuschelten Kommentar.

Mit ihren Hot Dogs in der einen und den Koffern in der anderen Hand, stellten sie sich etwas abseits auf den Parkplatz. Herzhaft biss Anya in die längst überfällige Mahlzeit und redete schließlich mit vollem Mund weiter. „Ih hae keie Ahnun wie Matt ie ieder in einem Stü-“

„Anya, man redet nicht mit vollen Mund“, belehrte Zanthe sie genervt, „ich verstehe kein Wort.“

Das Mädchen schluckte den Bissen herunter und funkelte ihr Gegenüber böse an. „Also ob mich das juckt. Ich esse wie ich will.“

„Wie ein Schwein?“ Matt trat hinter Zanthe hervor, womit für die beiden die Erzählstunde automatisch beendet war. Anklagend sagte er: „Ihr hättet mir ruhig auch einen mitnehmen können.“

Anya nickte nach links. „Da drüben. Aber sag mir, dass wenigsten du dich nicht bei mir durchschnorren musst.“

 

Die beiden Jungs aber reagierten nicht mehr. Sie sahen jemanden hinter Anya an und als diese sich umdrehte, stand sie Nick gegenüber. Welcher ihr nebenbei bemerkt viel zu nah auf die Pelle rückte. Sofort trat sie ihm gegen sein Schienbein.

„Wie oft noch, Harper!? Nicht von hinten anschleichen, wenn dir deine Knochen lieb sind!“

Der verzog nur schmerzhaft das Gesicht und hielt sich kurz die getroffene Stelle, ehe er die Drei knapp begrüßte.

„Warum hat das so lange gedauert?“, motzte Anya sofort drauf los. „Wir warten hier schon seit einer gefühlten Ewigkeit.“

Zanthe und Matt hinter ihr hoben synchron die Hand hoch und zeigten Nick mit ihren gespreizten Fingern, dass gerade einmal fünf Minuten vergangen waren.

„Heute war'n stressiger Tag“, meinte der hoch gewachsene, zerzauste junge Mann gleichgültig, „können wir los? Ich habe noch was zu erledigen und eigentlich keine Zeit. Mein Wagen ist da drüben.“

Als Nick über die parkenden Wagen zum Straßenrand zeigte, fiel Anya ein blutdurchtränkter Verband um seine rechte Hand auf, der bis weit über sein Gelenk reichte.

„Aber ihr könnt meinetwegen noch aufessen.“

„Harper, was hast du denn da gemacht?“, warf sie ein.

Sofort zog Nick den Ärmel seines ungebügelten, weißen Hemdes über den Verband, um zumindest den größten Teil der Verletzung zu verbergen. „Mich vorhin geschnitten.“

„Biste jetzt unter die Ritzer gegangen oder was?“

„Nein, es ist … komplizierter“, erwiderte ihr Freund aus Kindheitstagen und sah herüber zu den beiden Jungs. Besonders Matt nahm er ins Visier. „Manchmal passieren Unglücke, nicht wahr?“

Der schwarzhaarige Dämonenjäger nickte zustimmend. „Solange es nur Unfälle in der Küche sind, ist es ja halb so wild.“

„Natürlich.“ Nicks Stimme hatte einen seltsamen, schneidenden Ton angenommen. „Andererseits, die eigenen Missgeschicke hält man am liebsten geheim.“

Matt bemerkte es scheinbar gar nicht. „Mir ist so etwas nicht peinlich. Als Küchenhilfe im Waisenhaus hab ich mich irgendwann dran gewöhnt.“

Schließlich wandte sich Nick vielsagend mit den Augen rollend von den anderen ab und trottete bereits zum Wagen. Die Hot Dogs hinunter schlingend, folgten Anya und Zanthe ihm eilig, mit Matt als Schlusslicht.

„Der ist ja heute mal wieder ganz komisch drauf. Grassiert im Moment irgendwas, dass all meine Freunde neuerdings total launisch oder gleich fucking Weirdos sind?“, murmelte Anya zu Zanthe, der ihr aber auch keine befriedigende Antwort liefern konnte.

 

-~-~-

 

Nick fuhr den weißen Chrysler Neon die Einfahrt hinauf, direkt in die offen stehende Garage hinein. Kurz darauf stiegen die Vier aus dem Wagen und es dauerte keine fünf Sekunden, da platzte Anya bereits der Kragen.

„Harper!“, fauchte sie ihn von der Beifahrerseite an. „Was wollen wir hier!? Du solltest mich nachhause fahren. Heißt so viel wie zu mir, nicht zu dir!“

Nick sah sie über das Dach des Wagens in der dunklen Garage abwartend an. „Und weiter?“

„Bring mich-!“

Scharf schnitt er ihr ins Wort. „Hast du je einen Gedanken daran verschwendet, dass es im Moment nicht die beste Idee ist, bei dir Zuhause zu wohnen?“

Verdutzt blinzelte das Mädchen. „Was meinst-“

„Du wirst von einem unsterblichen Dämonen verfolgt, der nichts lieber täte, als dich und alle in deiner Nähe in klitzekleine Stückchen zu schneiden.“ Nick schnalzte mit der Zunge. „Ich bin mir ziemlich sicher, wenn er an der Tür klingelt, wird deine Mutter ihm mit ihrem wundervollen Lächeln aufmachen. Willst du das?“

Leider verstand Anya nicht ganz, worauf er hinaus wollte. Also übernahm das Zanthe, der hinter ihr stand. „Was er sagen will: Es ist das Beste für deine Mum, wenn du dich eine Weile von ihr fern hältst, um diesen Stoltz nicht auf sie aufmerksam zu machen.“

„Oh!“ Anya ging ein Licht auf. „Daran habe ich gar nicht gedacht!“

Der Werwolf hinter ihr seufzte mitleidig. „Natürlich nicht …“

Im Gegensatz dazu war Matt erstaunt von Nicks eigenem Handeln. „Aber es ist okay, wenn du stattdessen deine Eltern in Gefahr bringst?“

„Was mit denen geschieht, ist mir völlig gleichgültig“, erwiderte der Größte in der Gruppe in einer Eiseskälte, die selbst die beiden Streithähne erschaudern ließ, „abgesehen davon ist mein Vater im Moment auf einer Tagung und kommt so schnell nicht wieder. Bedankt euch bei seiner Affäre. Und Mum wird sich freuen, mal anderen Leuten als mir auf die Nerven gehen zu können.“

 

Die Drei verdutzt hinter sich lassend, ging Nick ungestört um die Motorhaube, an Anya vorbei und öffnete eine Tür, die ins Innere des Hauses führte. Nebenbei drückte er auf einen Schalter und ließ das Garagentor hinunter fahren.

„Tolle Familienverhältnisse“, staunte Zanthe, als es zunehmend dunkler wurde.

Matt gesellte sich neben ihn. „Bin ich froh, nicht sein Bruder zu sein.“

Selbst Anya pfiff anerkennend. „Wow Harper, aus dir wird ja doch noch'n Mann. Aber im Ernst, in meinem Freundeskreis ist das total normal.“

Der Kopftuchträger – heute strahlte besagte Kopfbedeckung in knalligem Rot – musste auflachen. „Echt?“

„Na ja“, begann Anya schulterzuckend und folgte nun mit den anderen beiden im Gepäck Nick ins Haus, „überleg' mal. In Nicks Familie hassen sie sich gegenseitig, Abbys leibliche Eltern sind tot, genau wie Big Als, dann haben wir noch Matt, dessen Schwester seinen Dad umgenietet hat …“

„Musste das sein?“, brummte Matt, der verständlicherweise nicht so gerne an seine Vergangenheit erinnert werden wollte.

„Oh, Redfields Mutter lebt auch in Paris als Designerin. Aber die zählt nur halb, weil die Ehe intakt ist, nur sehen die sich eben nicht so häufig“, plapperte Anya einfach weiter. „Ah ja und ich? Dad hab ich auch schon bestimmt'n Jahr nicht mehr gesehen. Die Einzigen, bei denen es wirklich läuft, sind Butchers Familie und eventuell noch das Pennerkind-Imperium.“

Zanthe kam nicht umher, ein amüsiertes Glucksen von sich zu geben. „Hast wohl'n Händchen dafür, dir solche Freunde anzulachen.“

„Wem sagste das?“

„Und deine Familie, Zanthe?“, hakte Matt neugierig nach, während sie einen kleinen Vorraum durchquerten, in dem Waschmaschine, Trockner und ein Schrank voll mit Putzmitteln und Ähnlichem standen.

Der Werwolf winkte ab und blieb kurz stehen, sodass der Dämonenjäger ihn überholte. „Meine Eltern waren okay, auch wenn ich mich kaum noch an sie erinnern kann. Sind schon lange tot.“

„Wie alt bist du eigentlich?“ Interessiert drehte sich Matt im Laufen zu Zanthe um.

„Du fragst mich Sachen“, lachte der vergnügt auf, „geboren 1871. Rechne es dir aus.“

Anya kam nicht umher, einen galligen Kommentar abzugeben. „Wow, seit über 100 Jahren in der Pubertät. Das hat bisher nur Levrier geschafft.“

Strike, gleich zwei Seitenhiebe auf einmal! Anya bekam gleich bessere Laune. Und scheinbar wollte die ewige Nervensäge in ihrem Ohr ihr beweisen, dass sie falsch lag, indem sie allen Zweifeln erhaben reagierte. Nämlich gar nicht.

 

Ausgelassen gegenseitige Sticheleien austauschend, durchquerten die Drei einen Flur. Nick war schon vorgegangen, um die Sache mit seiner Mutter zu klären.

Als Anya sie kurz darauf in das Wohnzimmer führte, saßen Mutter und Sohn auf dem Sofa und sahen zusammen Fernsehen.

„Ihr könnt bleiben“, meinte Nick lässig.

„Ja! Setzt euch!“ Seine Mutter drehte sich zu den Neuankömmlingen um und winkte sie mit einer Tüte Chips in der Hand herüber. Kurze, dunkelrot gefärbte Haare, eine böse Hakennase, erinnerte sie Anya immer wieder an einen Geier, der um seine Beute kreiste. „Das große Millionen-Quiz fängt gleich an!“

„Hi, Mrs. H!“, grüßte Anya sie träge.

„So schnell ging das?“, flüsterte Matt ihr erstaunt ins Ohr, während Zanthe die Einladung prompt annahm und sich zu der Frau aufs Sofa warf.

Anya antwortete ebenso leise. „Frag nicht, Summers. Denk dir deinen Teil einfach.“

„Na ja, ganz nett scheint sie wohl zu sein.“ Kurz mit der Schulter zuckend, gesellte sich Matt ebenfalls zu den anderen. „Schon lange her, dass ich ferngesehen habe. Ein bisschen Entspannung tut jetzt sicher gut. Für heute lassen wir es gut sein, oder?“

Zanthe lud sich seine Futterluke bereits mit Chips voll. „Da kannst du Gift drauf nehmen.“

Seinerseits erhob sich Nick, den Blick auf den Flachbildfernseher gehaftet, über den gerade der Vorspann der Quizsendung flackerte. „Anya, kann ich dich kurz-“

„Nicht jetzt, Harper, die Show fängt an!“

Verdutzt durfte er im selben Atemzug feststellen, dass Anya ebenfalls auf dem Sofa saß, oder besser gesagt dessen Lehne, und sich von Matt die Chips geben ließ. Seit wann verbrachte Anya Bauer freiwillig Zeit mit seiner Mutter!? Anya hasste Mrs. Harper wie die Pest!

„Ist wichtig“, startete er einen neuen Versuch.

„Ich will das jetzt sehen!“, keifte die zurück. „Dachte, du hast sowieso noch was Wichtiges vor!?“

„Ja!“, nickte seine Mutter mit diebischem Vergnügen grinsend. „Lass die arme Anya, sie ist erschöpft von der langen Reise!“

Resignierend seufzte der junge Mann. Da war nichts zu machen. Musste er Anya eben später von seinen ganzen Entdeckungen berichten, sofern sie jene überhaupt interessierten. Manchmal könnte er sie-!

Verstimmt drehte er sich um und verließ die Wohnstube. „Ich bin oben in meinem Zimmer, falls mich jemand sucht.“

 

-~-~-

 

Ganz zu Nicks Ärgernis hatte ihn niemand gesucht. Bis spät in die Nacht vergnügten sich die Vier dort unten, machten ausgelassen sprich lautstark zusammen Essen, schauten fern, machten sich einen Mitternachtssnack, schauten weiter fern, und immer so weiter.

Irgendwann früh morgens kam seine Mutter dann auf die Idee, ihre Gäste auch mal einzuquartieren. Zanthe und Matt teilten sich das Gästezimmer, während Anya freiwillig das Sofa nahm – um näher bei der Glotze zu sein, wie sie unverhohlen zugab.

 

Als Nick gegen 8 Uhr des nächsten Tages die Treppen hinunter stieg, sah er schon, dass Anya mit ausgestrecktem Arm auf dem Sofa lag und vor sich hin schnarchte. Die Decke war verrutscht, das Mädchen lag auf dem Rücken und träumte vermutlich gerade von irgendwelchen Orks, die sie niedermetzelte, wenn man den unregelmäßig auftretenden, grunzenden Geräuschen aus ihrem Mundwerk trauen konnte.

Der dünne junge Mann, noch in Boxer Shorts und weißem Shirt, trat an sie heran und zog ihr die Bettdecke ordentlich über den Körper. Sie hatte sich nicht mal umgezogen, lag in schwarzen T-Shirt und ihrer Weste da.

Aber Nick lächelte versöhnlich. Er konnte ihr einfach nicht böse sein, so sehr er es wollte. Womit er vermutlich der einzige Mensch auf Erden war, sogar noch Abby hinter sich zurücklassend.

 

Doch sein Blick verhärtete sich. Für ihn gab es eine Sache zu klären und er hoffte, dies möglichst unauffällig über die Bühne bringen zu können. Nick drehte sich um, schlich durchs Wohnzimmer, ging an der Treppe vorbei und betrat einen kleinen Flur mit nur zwei Zimmern. Das rechte war lediglich ein kleines Bad für Besuch, wohingegen das linke das dazugehörige Gästezimmer war.

Nick öffnete vorsichtig die Tür. Er spähte hinein, sondierte angespannt die Lage. Das Zimmer war recht klein und hell gehalten, in jenen Pastelltönen, die seine Mutter am liebsten überall sehen würde. Die beiden Koffer der Jungs lagen offen auf dem Boden, allerdings herrschte trotzdem eine erstaunliche Ordnung, wenn man bedachte, dass zwei junge Chaoten darin hausten. Sie hatten das Doppelbett auseinander gezogen, um nicht unmittelbar nebeneinander liegen zu müssen. Ihnen gegenüber befand sich ein großer Schrank mit Spiegel, dazu zu beiden Seiten der Betthälften Nachttische, auf denen die Decks und in Matts Fall auch dessen Brieftasche lagen.

 

Auf leisen Sohlen stahl sich Nick hinein. Zanthe lag im rechten Bett, die Decke weit über sich geschlagen. Matt hingegen mochte es offenbar auf dem Bauch zu schlafen, genau wie bei Anya hing auch sein linker Arm die Bettkante hinab. Zu diesem beugte er sich hinab, hob ihn vorsichtig an, konnte jedoch nicht entdecken, wonach er suchte. Und den Rest seines Körpers abzuchecken erschien Nick zu riskant. So ließ er den Arm behutsam wieder sinken.

Vorsichtig schlich er daraufhin an Matt vorbei, machte einen Bogen um dessen Arm und erreichte seinen Nachttisch. Matts schwarze Deckbox in die Hand nehmend, öffnete Nick sie neugierig. Er musste es mit eigenen Augen sehen. Doch während er die Karten eine nach der anderen nach oben schob, wurde er zunehmend unruhiger.

Wo war sie!? Sie musste doch darunter sein! Doch als Nick mit dem Extradeck fertig war, traf ihn die Erkenntnis: Die gesuchte Karte war hier nicht zu finden. Was ihn dazu brachte, über Inkarnationen zu grübeln. Er hatte Anya nie gefragt, ob jene nur dann eine feste Form annahmen, wenn sie gebraucht wurden oder ob sie, nachdem sie geboren worden waren, kontinuierlich existierten. Sie hatte ihm nur erzählt, dass die Inkarnationen nach dem Tod der Immateriellen verschwunden waren, aber das konnte auf diese Situation bezogen vieles heißen.

Allerdings gab es doch etwas, das Nicks Aufmerksamkeit beim zweiten Durchlauf erregte. So stieß er zwar nicht auf -jene- Karte, dafür bemerkte er aber, dass Matt eine andere integriert hatte.

„[Steelswarm Roach]?“, wunderte er sich im Flüsterton.

Waren nicht alle Steelswarm-Monster Matts verschwunden, nachdem Urila den Dämonenjäger kurzzeitig kontrolliert hatte? Wieso besaß Matt dieses dann noch? Lag es daran, dass es seine alte Paktkarte gewesen war und dementsprechend einen besonderen Status innehielt?

Wie auch immer, Nick war nicht gewillt, Matts Treiben einfach nur mit anzusehen. So nahm er die Karte [Evilswarm Ouroboros] und entfernte sie kurzerhand aus dem Deck des Dämonenjägers, indem er sie sich unbemerkt in die Tasche seiner Boxer Shorts steckte.

Er spürte nichts. Da war kein unangenehmes, unerklärliches Gefühl irgendeiner Dunkelheit, wie Anya sie während des Duells mit Urila beschrieben hatte. Vielleicht war damals jene Immaterielle die Quelle gewesen, doch mittlerweile müsste es einen anderen Grund dafür geben. Kurzum: Wenn es dieses Dunkelheit noch gab – und dessen war sich Nick ziemlich sicher – dann ging sie von Matt aus, nicht von der Karte. Daher war es das Beste und einzig Richtige, sie ihm abzunehmen. Ohne Ouroboros würde er keine Inkarnation mehr durchführen können und genau das war auch Nicks Absicht.
 

„Was machst du da?“

Es kam so unvermittelt, dass Nick zurückschreckte und dabei gegen die Wand stieß, wobei er die Deckbox schnell auf den Nachttisch zurücklegte. Nur einen Sekundenbruchteil später hob Matt seinen Kopf an und musterte sein Gegenüber aus halb zusammengekniffenen Augen.

Nick fackelte gar nicht lange. Er griff nach etwas, das im Bund seiner Boxershorts steckte, versetzte Matt einen Stoß mit seiner bandagierten Hand und drückte ihn konsequent auf den Rücken. Und ehe der sich versah, hatte er ein blitzblank geputztes Küchenmesser an der Kehle.

„Ich weiß ganz genau, was mit dir los ist“, zischte Nick voller Verachtung den verdutzten Matt an. „Red' dich gar nicht erst raus. Was hast du gemacht, um so eine Karte in deinen Besitz zu bringen!?“

Matt blickte in Nicks funkelnde Augen, wobei er die seinen nun weit aufriss. „Wovon redest du!?“

„Sei leise!“, drohte ihm Nick. Zanthe sollte nichts davon mitbekommen. Im Flüsterton fügte er hinzu: „Tu nicht so. Ich rede von deiner Inkarnation!“

Der zerwühlte Schwarzhaarige weitete die Augen noch ein Stück. „Was erzählst du da?“

„Ich habe sie gesehen, während des Duells mit Drazen. Du hast sie belogen, nicht wahr!? Drazen ist nicht zu Staub zerfallen, du hast ihn umgebracht!“

„Nein!“, widersprach Matt, blickte Nick selbst dann widerspenstig an, als dieser die Klinge so fest in die Haut des jungen Mannes drückte, dass Blut über dessen Hals rann.

Doch Nick löste den Druck, als Zanthe ein Geräusch von sich gab, das irgendwo zwischen „Ja“ und „Mjam“ einzuordnen war. Dabei machte der vollkommen in seine Bettdecke Verhüllte Anstalten, sich umzudrehen.

Nick ließ daher von Matt ab, aber hielt ihm das Messer unter die Nase. „Egal was du vor hast, wenn du Anya schaden willst, wirst du es mit dem schlimmsten Dämon von allen zu tun bekommen. Mir! Ich weiß mehr über dich und deine Familie als dir bewusst ist und ich werde dieses Wissen benutzen, sollte es auch nur den geringsten Anlass geben, deine Loyalität gegenüber Anya infrage zu stellen.“

„Du bist doch völlig durchgedreht“, erwiderte Matt zornig, obschon man seiner völlig perplexen Mimik entnehmen konnte, dass er Nick gar nicht recht folgen konnte.

Der drehte sich von ihm ab. „Wir reden ein anderes Mal weiter. Und dann wirst du die Wahrheit sagen.“

 

Damit verschwand der Hausherr aus dem Zimmer.

Matt fasste sich an seinen Hals, der Angstschweiß stand ihm auf der Stirn geschrieben. Nie hätte er damit gerechnet, dass Nick derart durchdrehen konnte.

„Wieso hast du mich nicht gewarnt?“, flüsterte der Schwarzhaarige immer noch erschüttert von dem eben Erlebten.

„Weil ich keine Ahnung hatte, dass er so ein Freak ist?“ Zanthe richtete sich auf, das lange, schwarze Haar über die Schultern liegend. „Junge, wenn der und Anya jemals ein Kind kriegen, haben wir den neuen Fürst der Hölle gefunden.“

Der Dämonenjäger sah völlig überrascht, geradezu erschrocken herüber zu dem Werwolf, der vielsagend zurück starrte. Im Anschluss nickte Matt zögerlich. „Allerdings … kein Wort davon zu Anya, hast du mich verstanden? Ich regele das alleine, offenbar hat er etwas missverstanden.“

„Hat er das?“, fragte Zanthe zu Matts eigener Überraschung erstaunlich misstrauisch.

„Hat er. Oder glaubst du ihm etwa?“ Die Augen des jungen Mannes verengten sich zu Schlitzen. „Denkst du, ich würde Anya vor einem irren, unsterblichen Dämon retten, wenn ich ihr in Wirklichkeit schaden will?“

Ein Schulterzucken später hieß es: „Ich glaube, hier hat jeder so seinen Dreck am Stecken. Meinetwegen, ich halte die Klappe. Aber nur unter einer Bedingung …“

„Und die wäre?“, fragte Matt skeptisch.

 

-~-~-

 

„Was ist denn mit dir passiert, Summers?“, fragte Anya belustigt, als die ganze Sippe zu viert am langen Frühstückstisch saß. Sie spielte auf den Schorf an, der sich an Matts Hals befand.

Der rieb darüber und log: „Bin beim Rasieren abgerutscht.“

Gleich daraufhin warf die Blonde Zanthe einen 'Ich-hab-dir-doch-gesagt-du-bildest-dir-was-ein'-Blick zu, den jener mit undeutbaren Kopfschütteln zur Kenntnis nahm.

Nick, der neben Anya saß und gerade sein Brötchen mit Senf beschmierte – ja, Nick Harpers Geschmack trieb so manch Unwissendem die Tränen in die Augen – funkelte den jungen Mann ihm gegenüber feindselig an und schwieg.
 

Anya rührte in ihrem Joghurt herum und erwähnte beiläufig: „Ich habe heute übrigens etwas vor, weshalb ich euch Knalltüten eine Weile allein lassen muss.“

Sofort begann Zanthe zu kichern. „Hat es was mit -ihm- zu tun?“

Das Mädchen, welches gerade den Löffel im Mund stecken hatte, zog diesen schlagartig heraus. „Woher weißt du das!?“

„Nur so ein Gefühl“, antwortete ihr Gegenüber und zwinkerte verschwörerisch.

Nick wurde hellhörig. „Von wem redet ihr?“

„Von Anyas neuem Freund.“

„Er ist nicht mein Freund!“, betonte Anya sofort sauer. „Nur ein Bekannter, der mir mal geholfen hat. Ich habe ihm ein Duell versprochen. Und meine Therapeutin hat neulich gesagt, Versprechen soll man halten.“

Matt konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Lass mich raten, sie heißt nicht zufällig Abby mit Vornamen?“

Die zusammengekniffenen, vor Ärger gefährlich aufblitzenden Augen des Mädchens drücken aus, dass es sich sehr wohl um ihre beste Freundin handelte. Wer sagte schließlich, dass Moralpredigten nicht auch am Telefon ausgesprochen werden konnten? Wobei Anya zugeben musste, im Vorteil zu sein: Noch nie hatte Abby es bisher geschafft, jene auch zu Ende zu bringen, ehe Anya aufgelegt hatte.

„Und wer ist das?“, bohrte Nick nach. „Kenn' ich ihn?“

„Keine Ahnung, ein Mechaniker, Logan heißt er … Was geht dich das überhaupt an, Harper!?“

„Hast du was dagegen, wenn ich mitkomme?“, fragte Nick mit einem Male deutlich aufgeschlossener. „Ich würde gerne zusehen.“

Anya starrte ihn wenig begeistert von der Seite an. „Muss das sein?“

 

„Nimm's ihm nicht übel“, scherzte Matt böse und sah Nick dabei ebenfalls an, jedoch deutlich provozierender, „er ist eben eifersüchtig.“

„Irgendwer muss schließlich auf sie aufpassen“, erwiderte der stets zerzaust aussehende, junge Mann an den Dämonenjäger gewandt.

„Klar, er wird sie bestimmt vergewaltigen, wenn du nicht hinsiehst.“

„Deswegen sehe ich hin.“

„Siehst du auch was anderes als Hirngespinster?“

„Sag du es mir, Matt.“
 

Während die beiden sich zunehmend aggressiver gegenüber einander verhielten, löffelte Anya genüsslich ihren Joghurt aus. So gefiel ihr das, Zank und Zoff schon zum Mittag. Fast wie in den guten, alten Zeiten, als sie noch durch die Gänge der Livington High schlurfte und den Urin roch, der so manches Bein herablief, wenn sie ihre Runde machte. Was war nur aus der glorreichen High School-Zeit geworden, dass sie es jetzt genoss, mit solchen Deppen an einem Tisch zu sitzen?

Einerseits vermisste sie es, andere nach Herzenslust zu tyrannisieren, auf der anderen Seite fühlte sie, wie sie sich immer mehr von ihrem alten Selbst entfernte. Eine Veränderung, von der sie sich nicht sicher war, ob sie ihr behagte.

 

Zanthe stieß ihr, genervt von dem Streit zwischen Matt und Nick, mit der Fußspitze gegen das Schienbein und riss sie aus ihrer Nostalgie.

„Mach was!“

Augenblicklich trat Anya mit doppelter Wucht zurück und sorgte so dafür, dass der ganze Tisch erschüttert wurde, weil ihr Gegenüber so vor Schmerz zusammenzuckte, dass seine Knie von unten gegen das Holz stießen.

Sofort war Ruhe.

Das schmerzende Bein an den Stuhl ziehend und festhaltend, raunte Zanthe: „Ghar! Doch nicht so!“

„Wieso, hat doch funktioniert?“, zuckte Anya unbedarft mit den Schultern. Immerhin, es hatte ihr Spaß gemacht, ihn zu treten. Vielleicht war sie doch noch nicht ganz in der Spießerliga angelangt und ein Comeback als Livingtons Terminatrix nicht völlig ausgeschlossen?

Trotzdem sah sie ein, dass es das Klügste wäre, die beiden Streithähne für eine Weile zu trennen, ehe sie sich noch wie die Tussifreundinnen von Redfield die Augen auskratzten.

Anya stöhnte genervt. Sie wollte doch heute einfach mal einen Tag für sich haben! Aber unter diesen Umständen wäre es besser, wenn sie Nick mitnahm.
 

„Okay, sperrt die Lauscher auf!“, verkündete sie und sprang auf. „Summers und Flohpelz, ihr habt für heute die ehrenvolle Aufgabe, diese Pseudo-Michonne für mich ausfindig zu machen. Wie hieß sie doch gleich, Eddy?“

„Edna. Und wie sollen wir das anstellen?“, fragte Zanthe wenig erfreut.

Anya zuckte mit den Schultern. „Summers, du bist auch ein Dämonenjäger. Telefonier' 'n bisschen 'rum oder so.“

„Ich kenne keine Edna“, erwiderte der jedoch perplex.

„Dann mach dich schlau! Ich bin jetzt jedenfalls weg! Harper, du kommst mit! Irgendwer muss mich ja hinfahren.“

Immerhin ein halbwegs guter Grund, den Deppen mitzunehmen, sagte sich Anya. Oh wie sie hoffte, auf dem Weg zu Logans Werkstatt auf irgendeine barbusige Schrulle zu treffen, um Nick loszuwerden. Egal wie hoch sein IQ war, seine Perversionen stellten jenen locker in den Schatten.

 

-~-~-

 

Nick hielt auf der weiten, leerstehenden Fläche vor der kleinen Werkstatt, die direkt am Stadtrand lag. Das linke Garagentor dieser stand weit offen, gewährte den Blick auf einen weißen Porsche. Anya fielen beinahe die Augen raus, als sie ausstieg und den Wagen ihrer Träume erblickte, wenn man von der Farbe mal absah.

„Was zum-!? Wer würde dem Zwerg so ein teures Teil anvertrauen!?“, staunte sie, als sie die Tür zuschlug. „Dagegen stinkt die Karre deines Alten ab, Harper.“

„Wenigstens gehört sie ihm dafür auch“, erwiderte der unbeeindruckt. „Wo ist er denn nun, dein sogenannter neuer 'Freund'?“

Selbst der sonst eher gleichgültigen Anya entging die schon fast höhnische Bemerkung Nicks nicht, aber sie machte sich nichts daraus. Es gab noch viele Seiten, die sie an Brainiac-Nick nicht kannte, vermutlich gehörte diese besitzergreifende dazu, jetzt, da er sie ausleben konnte. Was sie wiederum doch störte, denn die Vorstellung, dass Nick sie als sein 'Revier' betrachtete, war für Anya mehr als nur irritierend. Abstoßend traf den Nagel am ehesten auf den Kopf, denn der junge Mann war nun wirklich nicht das, was sie sich unter einem Beschützer vorstellte, der ihrer ebenbürtig war. Nicht Nick, und wenn er noch so viele Millionen von reichen Promikonten abstauben konnte. Hirn ersetzte keine Muskelmasse, etwas, das Anya immer bevorzugen würde.

 

Deswegen lachte sie sich auch leise ins Fäustchen, während die beiden über den leeren Parkplatz schlenderten. Nick im Fitnessstudio, das wär's! Nein, selbst wenn er einen Körperbau wie Logan besaß, das … nein. Einfach nein.

„Igitt“, nuschelte sie leise, als sie sich erst richtig bewusst wurde, -worüber- sie gerade allen Ernstes nachdachte.

„Was ist?“, fragte er sie, ihre Rechte flankierend.

„Nichts“, log Anya verstimmt, „hab nur gerade Gedanken an Beziehungen verschwendet. Du weißt schon, mit Liebe und diesem Kack.“

Nick kam nicht umher, nun selbst aufzulachen. „Du weißt gar nicht, wie froh es mich macht, dass sich deine Einstellung diesbezüglich nicht verändert hat.“

Anya blieb abrupt stehen und drehte sich zu ihm um. „Huh? Wieso?“

„Nur so. Weil wir da einfach gleich denken“, meinte er gut gelaunt und schlurfte an ihr vorbei.

 

Zusammen betraten sie schließlich das Innere der Werkstatt. Es stank nach Öl und anderem Zeug, das Anya nicht definieren konnte. Verbrannter Gummi vielleicht?

Sie sah zur Werkbank, die links an der Wand stand, dann zum Porsche, herüber zu einer leeren Hebevorrichtung weiter hinten im Inneren.

„Wo ist der Kerl?“

„Wenn er nicht hier ist, können wir ja gehen“, schlug Nick umgehend vor.

Anya schüttelte aber den Kopf. „Harper, der wandelnde Meter muss irgendwo hier sein. Denkste, der lässt dieses Teil hier einfach so unbeaufsichtigt rumstehen?“

Zur Verdeutlichung trat sie näher an den Porsche. „Ich frag' mich, wem der wohl gehört. Ob es demjenigen was ausmacht, wenn ich da ein paar Kratzer reinritze? Natürlich erst -nach- einer kleinen Spritztour.“

Sofort zierte ein bitterböses Grinsen ihre Lippen. Wenn sie ihre alte Boshaftigkeit schon nicht mehr an den Leuten aus ihrem Umfeld ausließ, dann wenigstens an ihrer Umwelt. Nicht, dass sie am Ende noch völlig ihr Mojo verlor! Wäre doch geil, GTA mal mit realistischer Grafik zu spielen!

„Keine gute Idee“, vermieste Nick ihr tonlos die Laune, „wenn er dich erwischt, bist du bestimmt nicht mehr seine 'Freundin'.“

Da war es, schon wieder! Was hatte Nick für ein verdammtes Problem!? Jetzt ging es ihr doch auf die Eierstöcke.

 

Aber ehe Anya ihre entbrannte Wut in eine entsprechende Form wenig unterhaltsamer Schimpftiraden verwandeln konnte, wurden die beiden unterbrochen. Unvermittelt kam Logan von irgendwoher hinter dem Porsche hervor. In dreckigem Blaumann gekleidet, schulterte er ein schmutziges Handtuch.

„Du hier? Dachte, du wolltest 'ne Weile Urlaub machen?“

„Der ist ja wirklich so klein, wie du ihn mir beschrieben hast“, stichelte Nick unvermittelt drauf los.

Anya verspürte den dringenden Zwang, ihren Freund ohne Apostrophe dafür zu schlagen. Aufgrund eines Gefühls, mit dem sie selbst noch so gar keine Erfahrungen gemacht hatte. Peinliche Berührtheit.

„Ich hab gesagt, so groß wie ich“, knurrte die im Vergleich zu Nick einen Kopf kleinere Anya, fügte dann noch für Logan hinzu: „Wollte ja nicht lange weg sein.“

Zu ihrer Beruhigung zeigte sich Logan wie üblich von derartigen Scherzen unbeeindruckt. „Und wer ist der da?“

„Anyas Freund.“

Diesmal hatte er es ordentlich, ja fast schon zu ordentlich betont.

„'Ein' Freund“, korrigierte sie ihn reflexartig, „wollte zusehen. Ich hoffe nämlich für dich, dass du Zeit hast. Ich hab nämlich wenig, also sei zufrieden, dass ich sie für dich erübrige!“

Der Schwarzhaarige mit den, Zitat Anya 'Mörderkoteletten', zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Redest du von dem Duell?“

„Von was denn sonst!?“, regte sich das Mädchen auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Also, was ist?“

Logan zuckte mit den Schultern. „Meinetwegen, viel zu tun ist im Moment ohnehin nicht. Ich will mich nur schnell umziehen.“

„Dann beeil' dich!“

 

Wenige Minuten später standen die beiden sich auf dem Vorplatz der Werkstatt gegenüber. Auf der Straße neben ihnen herrschte reger Betrieb, sie befanden sich unweit der Stadtausfahrt Süd, wie sie inoffiziell hieß.

Nick lehnte etwas abseits an seinem weißen Chrysler Neon und beobachtete Anya und Logan, wie sie die Apparate an ihren Armen aktivierten. Es waren beides schwarze D-Pads identischer Bauart. Sein Blick wanderte herüber zu dem schwarzen Motorrad, welches ebenfalls auf dem Parkplatz stand und Logan gehörte, denn von dort hatte er den Apparat geholt. Er musterte die Maschine mit einem missbilligenden Blick.

 

Logan hatte sich ein kariertes Shirt und eine schwarze Lederjacke angezogen, passend zu seinen bereits abgetragenen Jeans. Er fixierte Anya. „Bin überrascht, dass du so scharf auf dieses Duell bist. Hatte bisher den Eindruck, du würdest dich drücken wollen.“

Mit einer abwinkenden Geste grinste Anya ihn frech an. „Ich? Eine Anya Bauer drückt sich vor gar nichts.“

Im Gegenteil, insgeheim hatte Anya sich zunehmend auf dieses Duell gefreut. Was nicht immer so war, anfangs empfand sie den Gedanken daran wirklich als lästig. Aber Logan war kein übler Typ, wie sie zugeben musste. Da er außerdem noch Anfänger war, würde sie ihre eigenen Fähigkeiten durch ihn besser einzuschätzen lernen. Es gab also nichts gegen ein kleines Spielchen einzuwenden.

„Hoffen wir es“, murmelte der Schwarzhaarige.

„Duell!“, riefen beide anschließend synchron.

Nick verschränkte derweil die Arme und behielt Logan im Auge. Seine abwartende Haltung wirkte auf den ersten Blick gespannt, doch wenn man genauer hinsah, wurde anhand von Mundwinkeln und den leicht zugekniffenen Augen deutlich, dass er nicht allzu viel von Logan leistungstechnisch erwartete. So als würde er sagen: „Mechaniker … na klar.“

 

[Anya: 4000LP / Logan: 4000LP]

 

„Hey, Zwergnase“, raunte Anya erhaben, bereits völlig im Geschehen vertieft, „weil du noch'n Noob bist, kannste meinetwegen anfangen.“

Logan stieß einen gedämpften Lacher aus. „Ganz so unerfahren bin ich nicht. Aber nehm' das Angebot an.“

Nick derweil ließ perplex seine Arme sinken. Murmelte: „Das hat sie doch noch nie-!?“

Beide Kontrahenten nahmen fünf Karten auf, ehe der dunkelhaarige Mann schließlich nachzog. Ein kurzer Blick auf sein Blatt genügte, um ihn ein Monster auswählen zu lassen, welches er auf sein D-Pad legte. „'beschwöre [Battlin' Boxer Headgeared]!“

Zu Logans Rechten baute sich ein schlanker Boxer auf, dessen dunkelblauer Oberkörper derart durchtrainiert war, dass jener wie Stein anmutete. Sein Kopf wurde durch einen roten Kopfschutz abgedeckt, welcher ihm seinen Namen gab.

 

Battlin' Boxer Headgeared [ATK/1000 DEF/1800 (4)]

 

„Bei seiner Normalbeschwörung schickt er einen Boxer von meinem Deck auf den Friedhof“, erklärte Logan weiter, nahm aus jenem ein passendes Ziel und schob es konsequent in den entsprechenden Schacht seiner Duel Disk. „Kannst weitermachen, Kleine.“
 

„Wer ist hier klein!?“, fauchte Anya sofort wutentbrannt und riss die nächste Karte von ihrem Deck, welches immerhin in Logans D-Pad steckte. Was Anya aber nur allzu gerne vergaß. „Schau dich mal an! Kommst du überhaupt in irgendwelche Clubs rein? Außer, du gehst aufrecht unter dem Türschlitz durch!?“

Logan reagierte gar nicht, was Anya umso fuchsiger machte. „Schön, ignorier' mich ruhig, Gimli! Mal sehen, was du dazu sagst! Ich aktiviere [Gem-Knight Fusion] und verschmelze damit [Gem-Knight Garnet] mit [Gem-Knight Crystal] von meiner Hand!“

Über Anya tat sich ein Strom aus aberdutzenden Edelsteinen auf, in den die Abbilder ihrer beiden Krieger gezogen wurden. „[Gem-Knight Garnet], du bist das Herz, [Gem-Knight Crystal], du die Rüstung! Vereint euch!“

Ein grelles Leuchten trat aus dem Wirbel aus, dann landete mit einem Satz ein Ritter in knallroter Rüstung und blauem Umhang vor Anya. Er schwang stolz seine Lanze. „Lass es krachen, [Gem-Knight Ruby]!“

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 DEF/1300 (6)]

 

„Hau ihn aus dem Ring!“, befahl Anya und zeigte auf Logans Monster. „Sparkling Lance Thrust!“

Gehorsam sprintete Ruby los und holte mit der Lanze nach Headgeared aus. Doch dieser wich mit einem flinken Schritt zur Seite aus und lenkte den Angriff mit einem geschickt platzierten Boxschlag von sich weg.

„Was geht'n hier ab!?“

Auf Anyas Frage hin antwortete ihr Gegner: „Bisschen Training. Einmal pro Zug wird [Battlin' Boxer Headgeared] nicht durch Kampf zerstört, wenn er in Angriffsposition liegt.“

Funken flogen von Rubys Lanze und erwischten Logan, der jedoch nicht einmal mit der Wimper zuckte.

 

[Anya: 4000LP / Logan: 4000LP → 2500LP]

 

„Oh, wie schön für dich“, raunte Anya zynisch, „Zug beendet!“

 

Logan zog sofort auf und legte anschließend eine andere Karte auf seine Duel Disk. „[Battlin' Boxer Glassjaw]!“

Im Gegensatz zu Headgeared war der nun erscheinende Boxer ein wahrer Hüne von äußerst muskulöser, grüner Gestalt. Anya runzelte argwöhnisch die Stirn bei seinem Anblick.

 

Battlin' Boxer Glassjaw [ATK/2000 DEF/0 (4)]

 

Logan nickte in ihre Richtung. „Angriff, [Battlin' Boxer Glassjaw]!“

Trotz seiner klobigen Statur war Glassjaw erstaunlich flink zu Fuß und holte mit der Faust aus, als er Ruby erreicht hatte. Die begann mitten im Hieb zu brennen. Als Antwort hob der Ritter seine Lanze und wehrte den Schlag spielend leicht mit jener ab.

„Pah, was soll das denn werden?“, tönte Anya großkotzig.

„Indem ich [Battlin' Boxer Counterpunch] von meinem Friedhof entferne, verstärke ich temporär den Angriff eines Boxers um 1000.“

 

Battlin' Boxer Glassjaw [ATK/2000 → 3000 DEF/0 (4)]

 

Die Flammen um Glassjaws Boxhandschuh schienen in diesem Moment regelrecht zu explodieren, was dazu führte, dass Rubys Lanze unter der Wucht des Schlages in der Mitte durchbrach und er die volle Ladung direkt in die Brust geschlagen bekam. Anya fluchte dabei laut. „Shit!“

Kaum hatte sie geendet, wich sie erschrocken zurück, da ihr völlig entgangen war, wie sich [Battlin' Boxer Headgeared] an sie herangeschlichen hatte. Seine Faust ging durch ihren Unterleib hindurch, ohne aber Schmerzen zuzufügen. Trotzdem krümmte sie sich rein aus Reflex.

„Das war dann der direkte Angriff“, sagte Logan nebenher.

 

[Anya: 4000LP → 3500LP → 2500LP / Logan: 2500LP]

 

„D'nke“, knurrte das Mädchen und richtete sich auf. „Hab ich auch gemerkt! Dafür brech' ich dir mindestens einen Knochen, Mistkerl!“

Spätestens jetzt hatte sie längst verdrängt, dass ihr das Duell eigentlich Spaß machte. Platt gerollt vom Ehrgeiz persönlich, gefüllt mit Anyas Ego und garniert mit einer saftigen Priese Boshaftigkeit. Ungefähr das wäre ihr Duellstil, würde man ihn mit einer Frühlingsrolle vergleichen.

Logan aber schreckte das nicht ab, er streckte den Arm weit aus. „Da es unklug wäre, Glassjaw auf dem Feld zu behalten, wenn nur ein Angriff ihn durch seinen negativen Effekt automatisch zu Fall bringt, werde ich eine Xyz-Beschwörung durchführen. Ich erschaffe das Overlay Network!“

Seine beiden Monster lösten sich in flammenrote Lichtstrahlen auf und stiegen in die Höhe, wo sich ein schwarzer Wirbel öffnete und sie willkommen hieß.

„Aus meinen beiden Stufe 4-Boxern wird ein Rang 4-Monster! Xyz Summon! [Battlin' Boxer Lead Yoke]!“

Mit einem Satz landete aus dem Galaxienstrom vor ihm eine hünenhafte Gestalt, noch kräftiger als sogar Glassjaw, vor ihrem Besitzer. Dabei war es erstaunlich, dass die Kreatur überhaupt so gebeugt stehen konnte, waren sein Hals und die Arme doch fixiert von massiven Stahlpfeilern, die er auf dem Rücken trug und mit Handschellen an ihnen gefesselt war. Wie ein Gefangener mutete er an. In jedem der beiden Träger befand sich eine Leuchtsphäre.

 

Battlin' Boxer Lead Yoke [ATK/2200 DEF/2000 {4} OLU: 2]

 

Logan schmunzelte. „Kannst weitermachen … Kleine.“
 

Seine Gegnerin mahlte regelrecht mit ihrem Kiefer. „Alter … du traust dich was! Jeder andere wäre jetzt längst tot!“

„Und warum nicht ich?“

Anya reckte erstaunt den Kopf nach hinten. Das war, so ungern sie es auch zugab, eine berechtigte Frage. Wieso zur Hölle verschonte sie ihn vor der Anya Bauer-Premium-Wut!? Es gab keinen größeren Volltrottel! Selbst Summers war da noch unterwürfiger. Und Big Al zählte sowieso nicht, der lief eh nicht richtig im Oberstübchen. Dieser Typ da gehörte mit Boy George-Musik gefoltert für seine Dreistigkeit, sich ihr permanent zu widersetzen!

„Keine Ahnung“, brummte sie träge, ihren inneren Monolog wie immer auf das Wesentliche reduzierend. „Keine Lust heute.“

„Hm“, bekam sie nur als Antwort zurück.
 

„Deswegen verlierst du jetzt trotzdem!“, fauchte sie sofort im Anschluss, wieder zu ihrem liebgewonnenen Freund zurückfindend, der schlechten Laune. „Draw!“

Schwungvoll zog sie und zeigte im Anschluss sofort die Karte vor. „Kannst dich auf ein Date mit einem alten Bekannten freuen! Zauberkarte [Monster Reborn]!“

Sie legte jene sofort in ihr D-Pad ein und keinen Moment später stieg aus dem Boden ihr [Gem-Knight Ruby] hervor, frisch dem Grabe entsprungen.

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 DEF/1300 (6)]

 

„Sparkling Lance Thrust!“, befahl sie auf der Stelle und zeigte auf Logans unterdrückten Boxer.

Unter lautem Kampfgeschrei rannte ihr roter Ritter auf Lead Yoke zu und schlug mit seiner Lanze nach ihm. Sein Gegner wandte sich dabei ab, sodass einer der Metallpfeiler getroffen und zerstört wurde – nicht aber Lead Yoke selbst. Um den entbrannte stattdessen eine flammende Aura.

 

[Anya: 2500LP / Logan: 2500LP → 2200LP]

 

„Wieso lebt der noch!?“

Logan zeigte [Battlin' Boxer Headgeared] vor, welchen er unter seinem Xyz-Monster hervorgezogen hatte und nun in den Friedhofsschacht bugsierte. „Auf Kosten eines Xyz-Materials kann ich verhindern, dass [Battlin' Boxer Lead Yoke] oder einer seiner Trainingspartner zerstört wird. Obendrauf gibt’s 800 Angriffspunkte.“

 

Battlin' Boxer Lead Yoke [ATK/2200 → 3000 DEF/2000 {4} OLU: 2 → 1]

 

Anya nahm irritiert einen Schritt zurück. „Uh, so war das nicht geplant …“

Sofort sah sie eindringlich ihr Blatt an. „'kay, dann eben anders! Ich setze ein Monster und zwei Karten verdeckt! Zug beendet!“

Neben ihrem Ruby materialisierte sich in horizontaler Lage das verdeckte Monster, hinter ihnen die anderen beiden Karten. Damit hatte Anya ihr gesamtes Blatt ausgespielt.

 

Nick indes beobachtete nur mäßig interessiert, wie die beiden sich in ihrem 'Freundschaftsspiel' gegenseitig übertrumpften. Dabei war schon seinem abweisenden Blick, den er immer dann aufsetzte, wenn er Logan betrachtete, anzumerken, wie wenig er von Anyas neuem Freund hielt.

Es war nicht etwa so, dass er Anya keine anderen Freunde gönnte, im Gegenteil. Aber da war etwas, was er an Logan nicht mochte. Nicht die Tatsache, dass er sich von ihren Gebärden unbeeindruckt zeigte, dafür verdiente er sogar eine Auszeichnung. Nein, was Nick so an ihm störte, war die Tatsache, dass … er Anya gefallen könnte. Mehr noch, dass er ihr längst gefiel. Denn seine Sandkastenfreundin hatte es in ihrem Blick, auch wenn sie es selbst noch gar nicht zu begreifen schien. Dieses Funkeln in den Augen, wenn Logan sie ignorierte. Diese ungewohnte Zurückhaltung, wenn er ihr frech kam. Und die Tatsache, dass sie sich für das interessierte, was er erzählte, wie sie selbst auf der Fahrt hierher zugegeben hatte. Etwas, das man einer Anya Bauer höchstens im Alkoholrausch zutrauen würde – Gott schütze uns, wenn sie erst volljährig wurde!

Das letzte Mal, als sie einem Mann derart viel Aufmerksamkeit zukommen ließ, wurde sie am Ende mit gebrochenem Herzen und Blut an ihren Händen zurückgelassen. Und Nick ahnte, dass zumindest Ersteres wieder passieren würde. Denn was sollte ein Mann wie Logan schon mit ihr anfangen können? Spätestens dann, wenn er die Wahrheit über sie erfuhr, würde er sie zurückweisen, ungeachtet seiner Haltung zum Übernatürlichen. Das hatte Nick im Blut.
 

So biss er sich verbittert auf die Lippen, wissend, dass er nichts dagegen tun konnte, ohne alles nur noch schlimmer werden zu lassen. Hoffentlich täuschte er sich. Bis vor Kurzem hätte er noch damit leben können, wenn es wenigstens Matt wäre, für den Anya sich interessiert. Bei dem war er sich sicher gewesen, dass sie ihm nicht scheißegal war. Doch seit seiner Entdeckung war er froh, dass die Beziehung der beiden rein platonisch war. Denn Matts Motive und Hintergründe waren für ihn ein Rätsel.

Wieso eine Inkarnation und woher? Immer wieder ging es ihm durch den Kopf. Wer stand hinter Matt, oder eher, was? Kaum ein anderer hatte Anya so oft geholfen, damals wie heute. Das erkannte Nick an. Umso mehr musste er hinter Matts Geheimnis kommen, unbedingt.

Ob es richtig gewesen war, ihm so frei heraus im wortwörtlichen Sinne ein Messer an die Kehle zu legen? Das hatte Nick nicht geplant gehabt, er wollte ursprünglich nur die Inkarnation von [Evilswarm Ouroboros] mit eigenen Augen sehen und an sich nehmen. Das Messer hatte er nur mitgenommen, falls Matt aufwachen und ihn angreifen sollte. Zumindest Ersteres war auch eingetreten, doch … Nick gestand sich selbst ein, in letzter Zeit ziemlich impulsiv zu handeln. Er musste vorsichtiger werden, denn diese Aktion war, genau wie die mit Valerie, viel zu undurchdacht gewesen.

Umso mehr lasteten all seine Erkenntnisse und Erlebnisse auf Nicks Schultern, da er sie bisher niemandem anvertraut hatte. Würde er Anya davon erzählen was Matt getan hat oder was der Sammler -wirklich- war, so könnte sie das am Ende nur dank ihres Dickschädels ins Verderben reißen. Sie war einfach nicht der Typ für eine vorsichtige Herangehensweise … was sollte er tun?

Dass Nick derart vor sich hin grübelte bekamen die anderen beiden gar nicht mit.

 

Logan zog und analysierte kurz das Spielfeld, ehe er sagte: „Muss zugeben, das Duell ist in Ordnung. Aber wirklich gut bist du nicht.“

„Ach ja!?“ Man konnte den Farbwechsel in Anyas Gesicht regelrecht mitverfolgen. „Und du!? Kriegst es ja nicht mal fertig, was anderes außer Monster zu spielen!“

„Habe ich schon gewonnen?“ Der knapp Eins-sechzig große Mann zuckte mit den Mundwinkeln, als Anya ihn verwirrt anstarrte. „Eben. Bin auch nicht besser als du.“

Baff davon, dass kein überheblicher Spruch gekommen war, blieb Anya glatt die Spucke weg. Indes machte Logan weiter. „Ich beschwöre [Battlin' Boxer Rabbit Puncher].“

Ein eher hagerer Boxer betrat den Ring, dessen markantestes Merkmal neben den durchwühlten, roten Haaren der gasmaskenähnliche Kopfschutz war, den er an hatte.

 

Battlin' Boxer Rabbit Puncher [ATK/800 DEF/1000 (3)]

 

Befehlend streckte Logan den Arm aus und zeigte auf Anyas gesetztes Monster. „Wenn [Battlin' Boxer Rabbit Puncher] Gegner in Verteidigungsposition angreift, zerstört er sie, bevor der Schaden berechnet wird.“

Anya sah ihn zunächst perplex an, begriff aber schnell, was dies bedeutete, als der Boxer des Schwarzhaarigen grazil über das Spielfeld huschte und seine Faust in der Karte ihres Monsters versenkte. Diese zersprang in tausend Stücke. Wohlgemerkt ohne aufgedeckt zu werden.

„Fuck“, entfuhr es ihr, „wieso wurde [Morphing Jar] nicht geflippt!? Was ist das für ein Scheiß!?“

So konnte sie die fünf Karten nicht ziehen, die er ihr vermacht hätte. Von wegen Anfänger, dieser Typ duellierte sich fast besser als Redfield oder das Pennerkind und das wollte was heißen! Wenigstens bekam er jetzt auch keine fünf neuen Karten, selbst schuld!

„Nennt sich Regeln. Kennste wohl nicht besonders gut“, stichelte Logan und rief sofort im Anschluss: „beim zweiten Mal tut es nicht mehr so weh. [Battlin' Boxer Lead Yoke], zerstöre [Gem-Knight Ruby]!“

Den nun vom Gewicht der Metallsäule freigewordenen Arm schwingend, stürmte der gebeugt laufende Boxer auf Anyas Ritter zu und zerschmetterte ihn regelrecht mit seinem Hieb. Anya wich keuchend zurück.

 

[Anya: 2500LP → 2000LP / Logan: 2200LP]

 

„Da's dir wohl zu langweilig ist, wenn ich nur Monster spiele, setze ich diese Karte verdeckt“, verkündete Logan, „mach dein Ding, Kleine.“

Deren Feld war nur noch mit zwei gesetzten Karten gefüllt, anders als ihre Hand, die leer war. Wie sollte sie da ihr Ding machen, fragte sich Anya wütend. Er hatte auch gut reden, hatte er ein noch fast volles Blatt mit vier Karten.

Und dann dieses 'Kleine' …!
 

„Ich bin verdammte Durchschnittsgröße“, fauchte sie bis aufs Blut provoziert, „du bist ein Fall fürs Kuriositätenkabinett, Mini-Me. Ich hab Ameisen gesehen, die waren größer als du!“

„Komisch, wieso interessiert dich meine Größe so?“, erwiderte er über alle Beleidigungen erhaben. „Möchtest du, dass ich mich für dich auf einen Hocker stelle?“

„Ja, damit ich dich runterstoßen kann, Mistkerl!“, zischte Anya und griff nach ihrem Deck. „Fucking-Mega-Draw!“

In einer ausholenden Bewegung zog sie und betrachtete die neue Karte im Anschluss, welche ihr zumindest ein diebisches Grinsen entlockte. Dann schwang sie den Arm über ihre verdeckten Karten aus, von denen die linke aufsprang, eine Zauberkarte, auf der ein Rubin, ein Topaz und ein Saphir abgebildet waren, die aus einem Wirbelsturm voller Edelsteinen in Richtung des Betrachters schossen. „Ich brauch noch mehr! Und zwar dank [Gem-Trade]. Mit dieser Zauberkarte verbanne ich ein Gem-Knight-Fusionsmonster, wenn eine Karte auf meinem Friedhof liegt, die ein solches beschwören kann.“

Unnötig zu erwähnen, dass [Gem-Knight Fusion] diese Karte war. Das Bestmögliche erwartend, nein sogar insgeheim einfordernd, griff Anya erneut nach ihrem Deck. „Und für jeden Intervasall von drei Stufen des verbannten Gem-Knights darf ich eine Karte ziehen, muss dafür aber auch jeweils eine Draw Phase aussetzen!“

Da sie sich von [Gem-Knight Ruby] trennte, dessen Stufe 6 war, durfte sie zweimal aufziehen. Als Symbol dieses Akts tauchte auf Anyas Brusthöhe ein faustgroßer Rubin auf, der in zwei Teile zerbrach. Sie riss die Karten förmlich vom Deck, während er verschwand. Und spätestens jetzt, da sie schon auf ganze drei Handkarten kam, war ihr Grinsen derart bösartig und vielsagend, dass vermutlich in ganz Livington alte Opfer Anyas spüren konnten, wie ihre physischen und Schrägstrich oder emotionalen Narben zu schmerzen begannen.

Unvermittelt holte sie zwei Karten aus ihrem Friedhof hervor und präsentierte sie in kämpferischer Haltung. „Ich bin noch nicht fertig mit Aufstocken! Indem ich [Gem-Knight Crystal] vom Friedhof verbanne, erhalte ich [Gem-Knight Fusion] von dort zurück!“

Dementsprechend landete das normale Monster in ihrer Hosentasche, während sie [Gem-Knight Fusion] zu ihrem restlichen Blatt steckte.

Schließlich atmete sie tief durch, hielt ihre nunmehr vier Handkarten vor der Brust.

„Alter, wenn ich mit dir fertig bin, wirst du nochmal'n Stück geschrumpft sein, auch wenn das nicht mehr möglich ist!“, protzte sie kurz darauf überheblicher denn je und war dabei schon im Begriff, wieder den Arm auszuschwingen.

Logan regte sich kaum, brummte nur: „Hmm.“

„Ganz recht, widersprech' gar nicht erst! Verdeckte Falle! [Return From The Different Dimension], welche jetzt möglichst viele von mir verbannte Monster beschwört, auch wenn ich dafür die Hälfte meiner Lebenspunkte zechen muss!“

 

[Anya: 2000LP → 1000LP / Logan: 2200LP]

 

Zwei Dimensionslöcher öffneten sich vor Anya, in ihnen sah man nur ein Gemisch bunter Farben. Doch dann sprangen aus ihnen [Gem-Knight Ruby] und [Gem-Knight Crystal], ein Ritter in weißer Rüstung mit kristallinen Schulterplatten, hervor.

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 DEF/1300 (6)]

Gem-Knight Crystal [ATK/2450 DEF/1950 (7)]

 

„Die beiden gehen mir in der End Phase zwar wieder flöten, aber wen juckt's? Bis dahin bist du sowieso nur noch Pampe unter meinem Schuh!“, prahlte Anya ungehemmt weiter. Sie streckte den Arm weit aus. „Ich aktiviere Rubys Effekt und opfere damit Crystal, um Rubys Power um Crystals zu erhöhen!“

Der weiße Ritter löste sich in weißen Funken auf, die sein Kamerad mit seiner Lanze absorbierte.

 

Gem-Knight Ruby [ATK/2500 → 4950 DEF/1300 (6)]

 

Indes konnte sich Nick ein verschmitztes Schmunzeln nicht verkneifen. Unter seinem Alter Ego hätte er jetzt sicher einen lahmen Crystal Meth-Witz gerissen, aber er war froh, es nicht mehr zu müssen. Niemand ahnte, wie anstrengend es war, sich permanent als dämlichster Mensch der Welt auszugeben. Er fragte sich insgeheim, ob es noch Verwendung für jenen Nick gab, nun da die wichtigsten Menschen in seinem Leben eingeweiht waren.

„Heh … man kann nie wissen“, lautete sein Schluss.

Aber Anya hatte nicht übertrieben. Sie würde Logan mit dem nächsten Angriff auseinander nehmen, vorausgesetzt, er konnte nichts tun um das zu verhindern. Es machte ihn stolz zu sehen, welche Fortschritte sie bereits gemacht hatte, auch wenn sie ihre Kopf-durch-die-Wand-Philosophie wohl nie ablegen würde.

Gerade wollte er Anya anfeuern, während sie befahl, [Battlin' Boxer Rabbit Puncher] und damit Logan den Gnadenstoß zu versetzen, da klingelte sein altes Handy. Erschrocken holte er es aus der Innentasche seiner Jacke hervor. Während es in seiner Hand vibrierte, starrte der junge Mann es entgeistert an, wurde zunehmend blasser, was sowieso kaum möglich war.

„Willste nicht rangehen?“, raunte Logan mit leicht genervtem Unterton.

Nein, wollte Nick ihm sagen. Nicht, wenn er sich absolut sicher war, dass niemand die Nummer des Geräts kennen sollte.

Es hörte nicht auf. Nick entschloss sich, den Wagen zu Umrunden, damit die anderen beiden ungestört vom Telefonat ihr Duell fortsetzen konnten. Und nicht mithören würden. Er hob ab.

 

„Wie ich gerade sagte, nachdem Harpers nerviger Bimmelkasten aus dem letzten Jahrhundert mich unterbrochen hat: Du bist erledigt!“ Anya streckte den Arm aus. „Dein Rabbit Puncher wird jetzt wirklich zum Hasenfuß! Ruby, beende es! Sparkling Lance Thrust!“

Mit seinen gerade einmal 800 Angriffspunkten konnte der Gasmasken tragende Boxer den Angriff nicht genug abfangen, um Logans Niederlage zu verhindern, dachte Anya zuversichtlich. Ihr Krieger ließ seine Waffe einmal über dem Kopf kreisen, ehe er auf den Boxer zu schnellte. Nur leider den falschen, wie Anya erschrocken feststelle, als ihr Ritter ausholte und nach [Battlin' Boxer Lead Yoke] schlug.

„[Shift]!“, rief Logan, dessen Fallenkarte aufgesprungen war. „Sie ändert das Ziel deiner Effekte und Angriffe.“

Lead Yoke drehte dem angreifenden Ruby den Rücken zu, dessen Lanze daraufhin in den übrig gebliebenen Pfeiler gerammt wurde und diesen zum Zerbersten brachte. Logan regte sich nicht im Angesicht der Spitze jener Waffe, die ihren Weg in seine Richtung fortsetzte und einen halben Meter vor seiner Brust in ihrer Bewegung verharrte.

 

[Anya: 1000LP / Logan: 2200LP → 250LP]

 

Mit der gigantischen Fessel verschwand das Xyz-Material darin, das Logan abhing und erklärte: „Lead Yoke schützt sich vor dem KO und wird wieder um 800 Angriffspunkte stärker. Außerdem habe ich Glassjaw auf den Friedhof geschickt, wodurch ich jetzt einen Boxer vom Friedhof erhalte.“

Er zeigte Anya [Battlin' Boxer Headgeared], den er seiner Hand hinzufügte. Das Mädchen knirschte mit den Zähnen, als der nun völlig freie Lead Yoke seine Muskeln anspannte und Ruby mit einem Faustschlag wegstieß.

 

Battlin' Boxer Lead Yoke [ATK/3000 → 3800 DEF/2000 {4} OLU: 1 → 0]

 

Das Heulen eines Motors erklang. Anya und Logan drehten sich überrascht zur Seite, sahen wie Nick das Fenster der Fahrertür herunter fahren ließ und sie ansah. In seinen Zügen stand tiefste Anspannung geschrieben. „Ich muss dringend weg. Sorry Anya, du musst leider zu Fuß nachhause. Oder lass dich von deinem neuen 'Freund' fahren.“

Was er wieder mit dieser gewissen Prise Abneigung betonte.

„Huh!? Aber sonst geht’s dir gut, Harper!?“, fauchte das Mädchen baff. „Was soll der Scheißdreck denn, hat deine Mu-!?“

Doch Nick ignorierte sie und setzte seinen Chrysler in Bewegung, drehte auf dem Parkplatz und verschwand ohne Erklärung.

 

Der Mechaniker lachte bitterböse auf. „Scheinbar hat's dem nicht gefallen, wie wir spielen.“

Unter einem ärgerlichen Stirnrunzeln wandte sich Anya ihrem Gegner zu. „Tch! Mich einfach sitzen zu lassen. Der kann was erleben! Dem ramme ich meine Faust so tief in den Arsch, bis er freiwillig mit mir als Bauchrednerin auftritt!“

Oh ja, und das war nur der Auftakt zu Nicks persönlicher Hölle, sponsored by Anya Bauer. Wie konnte der es wagen, mitten in ihrem Duell abzuhauen!? War sie wirklich so schlecht, dass es ihn langweilte oder hatte da gerade irgendeine Bank angerufen, die seine Betrügereien aufgedeckt hatte? Sie wollte es wissen, verdammt!

Logan zuckte mit den Schultern. „Bringt nichts, sich jetzt darüber aufzuregen. Lass uns weitermachen.“

Er erntete ein ärgerliches Schnaufen. „Ja …“

 

Anyas Laune besserte sich auch nicht gerade dadurch, dass Logan ihr die Suppe versalzen und den Angriff knapp überstanden hatte. Mit dem Unterkiefer mahlend, betrachtete sie angestrengt ihre Handkarten. Sie musste etwas tun, denn Ruby würde am Ende des Zuges wieder in die Verbannung verschwinden.

Energisch zog sie [Gem-Knight Fusion] aus ihrem Blatt und rammte diese in das D-Pad an ihrem Arm. „Ich verschmelze Ruby und [Gem-Knight Alexandrite] von meiner Hand und lasse sie zu [Gem-Knight Citrine] werden!“

Wie immer, wenn das Mädchen äußerst erbost war, vergaß sie dabei ihren selbst ausgedachten Beschwörungsspruch und ließ lediglich durch einen gen Himmel gerichteten Schwenk mit der Hand einen Strudel aus Edelsteinen erscheinen. Ruby stieg in die Luft auf und ließ sich mit ausgestreckten Armen einsaugen, danach folgte ihm der in silberner Rüstung steckende Alexandrite. Keinen Moment später flatterte ein blauer Umhang durch die Luft, dessen Träger mit einem Satz vor Anya landete. Glühend rot erstrahlten die Oberarme des Ritters in bronzener Rüstung, der lässig ein Breitschwert, bestehend aus ebenso flackerndem Magmagestein, schulterte.

 

Gem-Knight Citrine [ATK/2200 DEF/1950 (7)]

 

„Heute nur ein Kurzauftritt für dich, Citrine!“, verlautete Anya autoritär und schwang den Arm weit aus. „Denn ich benutze den Effekt meines [Angel Wing Dragons] im Extradeck und schicke das Licht-Monster [Kuriboss] von meinem Deck auf den Friedhof! Damit wird [Kuriboss] als Empfänger behandelt, der gerade für eine Synchrobeschwörung benutzt wird!“

Nachdem sie die Karte ihres [Kuriboss'] in den Friedhofsschlitz geschoben hatte, ballte sie eine Faust und streckte jene in die Höhe. „Stufe 1 und Stufe 7 ergeben Stufe 8! From the light of a different world, the herald of starlight decends upon the ravaged land! By discarding a single star, I call upon you!“

Weit über dem Mädchen glänzte es und ehe Logan sich versah, erblickte er einen riesigen, goldenen Ring, in dessen Innerem eine wässrige Oberfläche schimmerte. Citrine stieg in die Luft auf und durchquerte jene Masse, ohne auf der anderen Seite wieder aufzutauchen.

„Synchro Summon!“

Stattdessen streckten sich von dem Ring vier weiß befiederte Schwingen. Gleichzeitig schoss von vorne ein schlanker Drachenkopf hervor, an dessen Nacken ein goldenes Kragengestell befestigt war. Aus der anderen Seite schnellte sein langer, weißer Schweif, bis beide Parteien einen ganzen Körper ergaben.

„Shine forth, [Angel Wing Dragon]!“

Unter majestätischem Gebrüll verkündete der Drache, nun einsatzbereit zu sein und richtete dabei wie eine Kobra sein Haupt auf.

 

Angel Wing Dragon [ATK/2700 DEF/2000 (8)]

 

Derweil kniff Logan die Augen zusammen und kratzte sich am Kinn. „Könnte schwierig werden.“

„Oh das wird es“, versprach Anya sehr überzeugt von sich, „und fertig bin ich auch noch nicht! Da ich noch gar keine Normalbeschwörung getätigt habe, hole ich das jetzt nach und rufe [Gem-Armadillo]!“

Ohne lange zu zögern knallte sie jenen auf ihr D-Pad. Unter Angel Wing tauchte ein beinloses Gürteltier auf, das mithilfe von Düsenantrieben vom Erdboden abhob. Anya derweil griff nach ihrem Deck und suchte eine Karte von dort hervor, die sie Logan zeigte. „Wenn der beschworen wird, erhalte ich einen Gem-Knight auf mein Blatt!“

 

Gem-Armadillo [ATK/1700 DEF/500 (4)]
 

Dieser war kein geringerer als [Gem-Knight Turquoise]. Und Anya grinste plötzlich wieder so diabolisch, wie sie es immer tat, wenn sie sich im Vorteil wähnte. Wenn alles andere fehlschlug, würde Turquoise sie retten! Doch dazu brauchte sie etwas.

„Effekt von [Gem-Knight Fusion] auf meinem Friedhof! Ich erhalte sie zurück, indem ich Citrine verbanne!“ Sie steckte das Fusionsmonster in ihre Hosentasche und ihre Zauberkarte wieder ins Blatt zurück. Nur um dann eine andere von dort zu nehmen und in das D-Pad einzulegen. „Die da setze ich. Jetzt bin ich aber durch!“

Zischend materialisierte sich der Schnellzauber vor ihren Füßen. Das Grinsen wurde noch breiter. Der würde sich wundern, freute sich Anya. Niemand trotzte ihr, wenn sie erst ihre Turquoise-Kombo durchzog!

 

Davon schien Logan gar nichts zu ahnen. Sein Blick haftete an [Angel Wing Dragon], den er interessiert betrachtete. „Netten Brummer hast du da.“

„Jep“, erwiderte Anya unter stolz geschwollener Brust, „mein Ass-Monster!“

„In einem Deck voller Fusionsmonster ist er dein Ass-Monster?“, staunte Logan und richtete seinen fragenden Blick auf Anya. Dann zuckte er die Schultern. „Nun, was auch immer für dich am besten funktioniert.“

Plötzlich sah Anya auf ihr D-Pad. So lange hatte sie Angel Wing noch nicht, aber es machte Spaß, ihn zu beschwören, weil es so einfach und nahezu immer möglich war. Er machte ihr Deck noch abwechslungsreicher, was ihr gut gefiel. Was sie wiederum selbst ein wenig überraschte, war sie doch sonst kein Freund von Veränderungen.

Der Anflug eines Lächelns stand ihr im Gesicht geschrieben. Und verschwand augenblicklich, als sie sich gewahr wurde, warum sie Angel Wing überhaupt besaß.

„Wenn er nicht funktioniert, werde ich sterben“, murmelte sie geistesabwesend vor sich hin.

„Du meinst, du verlierst“, korrigierte sie Logan.

Anya sah auf, dann aber mied sie seinen Blick, indem sie zur Seite starrte. „Is' doch dasselbe.“

„Hm. Nein.“

 

Es dauerte einen Moment, ehe sie sich ihm wieder zu wandte und mit einem kurzen Nicken bedeutete, er solle seinen Zug endlich beginnen.

Das tat er auch, ohne weiter auf ihre Worte einzugehen und zog auf sechs Handkarten auf. Eine davon legte er sofort auf sein zu Anya identisches, schwarzes D-Pad. „Den habe ich vorhin zurückbekommen, wenn du dich noch erinnerst! [Battlin' Boxer Headgeared]! Und er schickt bei seiner Beschwörung einen Trainingspartner auf den Friedhof: [Battlin' Boxer Rib Gardna].“

So tauchte der blaue, drahtige Boxer mit dem roten Kopfschutz wieder auf.

 

Battlin' Boxer Headgeared [ATK/1000 DEF/1800 (4)]

 

Logan nahm eine Karte, die unvermittelt aus seinem Deck hervorstand und schob sie in den Friedhofsschlitz. Anschließend zeigte er eine Zauberkarte vor: „Jetzt aktiviere ich [Batllin' Boxing Spirits]! Im Austausch gegen die oberste Karte meines Decks kann ich einen Boxer in Verteidigung reanimieren!“

So nahm er eine Karte ab und schickte sie auf den Ablagestapel, ehe er mit einer Handbewegung [Battlin' Boxer Rib Gardna] erscheinen ließ: Einen massiven Boxer in einem braunen Bodysuit, dessen klobiger, unförmiger Körper eine erstaunlich gute Zielscheibe abgab.

 

Battlin' Boxer Rib Gardna [ATK/100 DEF/1400 (3)]

 

Unerwartet streckte Logan den Arm in die Höhe. Sein eben erst beschworener Boxer und dazu noch der kleine, flinke [Battlin' Boxer Rabbit Puncher] verwandelten sich in rote Lichtstrahlen. „Ich öffne das Overlay Network! Aus meinen beiden Stufe 3-Monstern wird ein Rang 3-Monster! Xyz Summon!“

Beide wurden in ein schwarzes Loch gezogen, welches sich inmitten des Feldes auftat. „[Battlin' Boxer Cheat Commissioner]!“

Aus dem Wirbel heraus trat eine dubiose Gestalt, gekleidet in einem schwarzen Mantel. In der einen Hand einen Schlagstock für disziplinarische Maßnahmen, hielt er in der anderen ein grünes Megafon, dessen Ende mit spitzen Zähnen gespickt war. Um den Schiedsrichter kreisten zwei leuchtende Lichtsphären.

 

Battlin' Boxer Cheat Commissioner [ATK/0 DEF/1300 {3} OLU: 2]

 

Logan betrachtete einen Moment sein Blatt, als ob er sich über seine nächste Aktion nicht ganz schlüssig war, ehe er entschlossen nach zwei nebeneinander steckenden Karten griff und jene vorzeigte. „Ich aktiviere zwei Exemplare dieser Karte. Sie nennt sich [Solidarity] und erhöht die Angriffskraft meiner Monster eines bestimmten Typs, wenn all ihre gefallenen Kameraden auf dem Friedhof denselben besitzen.“

Überrascht verschränkte Anya die Arme. Der Hände haltende Kreis der fünf Ojama-Geschwister auf dem Artwork der Karten entlockte ihr bestenfalls ein müdes Grinsen. „Übst wohl schon den Zwergenaufstand, was? Komm sag schon, um wie viel werden sie stärker?“

„Pro [Solidarity] um 800. Wie du dir sicher denken kannst, besteht mein Deck nur aus Kriegern.“

Da klappte der Blondine dann doch die Kinnlade hinunter, als sie sich unter Mühen ausrechnete, was das wirklich bedeutete. „So viel!?“

Logan legte die beiden Karten in sein D-Pad ein, woraufhin jene sich vor seinen Füßen in aufgedeckter Lage materialisierten. Seine drei Boxer begannen in roter Aura aufzuleuchten.

 

Battlin' Boxer Lead Yoke [ATK/3800 → 5400 DEF/2000 {4}]

Battlin' Boxer Headgeared [ATK/1000 → 2600 DEF/1800 (4)]

Battlin' Boxer Cheat Commissioner [ATK/0 → 1600 DEF/1300 {3}]

 

„Shit“, fluchte Anya leise vor sich hin. „Der will mich platt walzen!“

„Selbst die Schwächsten können stark sein, wenn sie die richtigen Freunde haben“, sinnierte Logan geradezu philosophisch, was zu einem auf den ersten Blick eher bodenständigen Mann wie ihm gar nicht passen wollte.

Seine Gegnerin wiederum sann eher danach, erst mit einem patzigen Spruch zu kontern, doch unverhofft fing sie an, die Bedeutung seiner Worte und der Karte auf sich zu beziehen. Ohne den Beistand anderer wäre sie jetzt nicht hier. Hieß das wiederum, dass sie schwach war?

Als würde Logan ihre Gedanken in jenem Moment erahnen, sagte er: „Man ist nicht schwach, weil man Hilfe annimmt. Und du brauchst welche, stimmt doch, oder?“

Blinzelnd sah Anya ihn an. Dann ballte sie mit ihrer herabhängenden Hand unbewusst eine Faust. Sie löste jene jedoch recht schnell wieder und grinste gelassen. „Pft, jetzt auch noch unter die Pfarrer gegangen oder was!? Wir duellieren uns hier aus Spaß, nicht um meine Seele zu retten!“

Logan lachte kurz auf und nickte dann knapp. „Bah, hast natürlich recht.“

Und obwohl er davon abließ, blieb bei Anya ein fader Beigeschmack. Schwäche … was war das überhaupt für sie, jetzt wo sie darüber nachdachte?

 

Sie hatte jedoch keine Möglichkeit, alsbald zu einem Ergebnis zu kommen, denn Logan streckte den Arm aus. „Dann zeig mal was du noch so drauf hast, Kleine!“

„Ich bin beschissene Durch-schnitts-grö-ße!“, keifte Anya unverzüglich zurück.

Gekonnt ignorierte er ihren Einwurf und rief: „[Battlin' Boxer Lead Yoke], greife ihren [Gem-Armadillo] an!“

Nun frei von seinen Fesseln, schlug der größte und massigste der Boxer nur einmal in die Luft, um eine Druckwelle zu erzeugen, die Anyas fliegendes Gürteltier voll erfasste. Dessen Herrin schwang panisch den Arm aus. „Verdammter Kackmist, ich bin erledigt, wenn der durchgeht! [Angel Wing Dragon], nimm du den Angriff dank deines Effekts entgegen!“

Elegant glitt der schlangenhafte Drache hinab und platzierte sich schützend vor Anyas anderem Monster. Die Druckwelle traf ihn und schleuderte ihn in Anyas Richtung, doch bevor er sie mit ins Unglück riss, zersprang er fünf vor zwölf in tausend Teile.

 

[Anya: 1000LP / Logan: 250LP]

 

„Sorry Kumpel, Angel Wing verhindert auch, dass du mir Schaden in Kämpfen mit ihm zufügst.“

Trotzdem zog Anya die Stirn kraus. So stark, wie Lead Yoke jetzt war, gab es kaum mehr etwas, das ihn noch aufzuhalten vermochte. Sein nächster Angriff würde fatal enden, das stand fest.

„Bin noch nicht fertig. Effekt von [Battlin' Boxer Cheat Commissioner] aktivieren!“, rief Logan plötzlich und riss die beiden Xyz-Materialien unter besagtem Monster hervor.

 

Battlin' Boxer Cheat Commissioner [ATK/1600 DEF/1300 {3} OLU: 2 → 0]

 

Jener saugte die leuchtenden Kugeln durch sein Megafon ein, ehe er eine ohrenbetäubende Schimpftirade in einer unbekannten Sprache zum Besten gab. Anya presste vor Schreck beide Hände auf die Ohren und war umso überraschter, als sie dabei beobachtete, wie sich auf Logans Feld eine gesetzte Zauber- oder Fallenkarte materialisierte.

Noch entsetzter aber war sie anschließend, als Logan ihr entgegen kam und kurzerhand ihre [Gem-Knight Fusion] aus dem Blatt riss, während sie noch damit beschäftigt war, ihre Lauscher zu verdecken.

„Hey, was soll der Mist!?“

„Die wird konfisziert“, erwiderte er gelassen, „so ist das eben, wenn ein Boxer kämpft, während der korrupte Schiedsrichter dabei ist. Eine der Zauberkarten auf deiner Hand wird auf mein Feld gesetzt.“

Prompt drehte er sich mit Anyas Karte in der Hand um, die er der Form halber noch einmal in sein D-Pad einlegte. Seine Gegnerin sah ihm hinterher, als hätte er ihr gerade Barbie für immer weggenommen.

„Du verdammter-!?“, kreischte sie außer sich. „Was soll ich denn jetzt machen, ich brauch die!“

„Denk dir was aus.“ Logan war auf seine alte Position zurückgekehrt. „Außerdem, hast du nicht andere Sorgen? So zum Beispiel den Angriff meines [Battlin' Boxer Headgeared]?“

„Häh?“

Zur Verdeutlichung zeigte er auf Anyas Gürteltier mit Düsenantrieb. „Diesen Angriff da.“

Ehe Anya aber schalten konnte, tauchte schon aus dem Nichts ein Boxhandschuh samt Besitzer auf und verpasste [Gem-Armadillo] eine heftige Linke. Der zersprang mit Tränen in den Augen und eingedrückter Wange unter jämmerlichem Quieken.

 

[Anya: 1000LP → 100LP / Logan: 250LP]

 

Anya wich den umherfliegenden Partikeln mit Seitwärtsschritt aus. Dabei knirschte sie mit den Zähnen. „Großartig …“

Nicht zuletzt deshalb, weil Logans Zeigefinger auf sie gerichtet war, der ihrer Bewegung unbarmherzig folgte. „Sieht nach 'nem Sieg für mich aus. Gutes Spiel, Kleine.“

„Sei nicht so vorlaut, noch steh ich!“

„Direkter Angriff, [Battlin' Boxer Cheat Commissioner]!“, befahl ihr schwarzhaariger Gegner jedoch ehrgeizig.

So stürmte der bestechliche Schiedsrichter auf Anya zu und schwang seinen Schlagstock hysterisch lachend in ihre Richtung.

„Mich knockst du nicht aus!“, schrie die und griff nach ihrem Friedhof. „Ich verbanne [Kuriboss] von meinem Friedhof und negiere den Kampfschaden!“

Kurz bevor Anya den schwarzen Stab mit voller Wucht in die Seite gepfeffert bekam, tauchte genau dort ein brauner Fellball auf und wurde stattdessen erwischt, während Anya die Flucht nach hinten antrat. Die Sonnenbrille des Anführers der Kuribohs flog im hohen Bogen durch die Luft, als der wie ein Baseball mit flatterndem, grauem Cape davon geschlagen wurde.

„Könnte 'nen Home Run werden“, scherzte Logan und sah dem kreischenden Knäuel hinterher.

Anya stemmte wütend die Hände in die Hüften, nachdem sie [Kuriboss'] Karte in ihre Hosentasche gesteckt hatte. „Zu blöd aber auch, da ich meinen eigenen Kampfschaden negiert habe, darf ich keine Karte durch seinen Effekt ziehen.“

„Ist deine geringste Sorge“, reagierte Logan lässig. „Bist.“

„Du bist der Falsche, um von Sorgen zu reden, Grumpy!“, rief Anya daraufhin und streckte den Arm in die Höhe. „Sieh her! Ich verbanne zwei Stufe 4-Monster von meinem Friedhof und reanimiere [Angel Wing Dragon]!“

So entledigte sie sich auch noch des [Gem-Armadillos] und [Gem-Knight Garnets], während über ihr der goldene Ring erschien, aus dem kurzerhand der weiß-goldene Drache geschossen kam und wütend aufschrie.

 

Angel Wing Dragon [ATK/2700 DEF/2000 (8)]

 

Gerade wollte Anya die oberste Karte ihres Decks greifen, da machte Logans strenges Kopfschütteln sie darauf aufmerksam, dass sie aufgrund des Effekts von [Gem-Trade] gar nicht ziehen durfte.

Für einen kurzen Moment verharrte Anya. Auf ihrer Hand war nur noch [Gem-Knight Turquoise], aber der war komplett nutzlos, solange ihre [Gem-Knight Fusion] verdeckt vor den Füßen ihres Gegners lag. Also konnte sie [Gem-Knight Pearl] nicht beschwören und stärker machen.

„Schade“, nuschelte sie, rang sich dann aber doch ein grimmiges Lächeln ab, „nur zu dumm, dass ich ihn gar nicht brauche.“

Ihr Blick lag dabei auf der verdeckten Karte zu ihren Füßen. Lead Yoke würde sie zwar nicht im Zweikampf besiegen, aber dafür einen anderen Boxer.

„Zu dumm, dass du die beiden kleinen Fische so schutzlos zurückgelassen hast“, flötete sie und spielte darauf an, dass Logan keine Karten neben ihrer [Gem-Knight Fusion] gesetzt hatte.

Doch der ließ sich nicht einschüchtern und winkte ab. „Musst wissen, [Battlin' Boxer Cheat Commissioner] kann nicht angegriffen werden, solange andere Boxer im Ring sind. Also kein Ding.“

Zuckte demonstrativ mit den Schultern. „Na und? Zu dumm nur, dass das Rotkäppchen auch noch da ist!“

Sie hob den Zeigefinger und richtete ihn unter einem gehässigen Grinsen auf [Battlin' Boxer Headgeared]. „Der da reicht völlig. Los, [Angel Wing Dragon], beende das Duell! Seraphim Judgment!“

Der majestätische Drache öffnete sein Maul und lud darin weiße Energie auf.

Logan zuckte mit den Schultern. „Reicht nicht, um mich zu besiegen.“

„Reicht wohl! Verdeckte Schnellzauberkarte, [Forbidden Chalice]!“, übertönte Anya ihn und schwang den Arm über jene Karte aus. „Sie verstärkt- Huh!?“

Vor ihren Augen verschwand der Boxer mit dem roten Kopfschutz einfach. Wie eine Illusion, die nie da gewesen war. Angel Wing stieß derweil ungehindert seinen weißen, flammenden Energiestrahl aus, um den eine goldene Lichtspirale kreiste. Der Angriff war direkt auf die Lücke zwischen den beiden Xyz-Monstern gerichtet.

Fassungslos breitete Anya die Arme aus. „Was soll der Kackmist!? Ich habe-!? Wo ist dieser Bastard hin!?“

„Verbannt auf Zeit durch [Battlin' Boxer Rib Gardnas] Effekt“, erklärte Logan, „den kann ich vom Friedhof entfernen, um ein bisschen Katz' und Maus zu spielen. Sieht so aus, als gäbe es jetzt nur noch ein legales Ziel für deinen Angriff.“

Mitten in der Luft machte [Angel Wing Dragons] Lichtstrahl eine Kurve und steuerte geradewegs auf [Battlin' Boxer Lead Yoke] zu. Anya stand der Mund offen.

 

Los, benutze jetzt endlich deine Zauberkarte, Anya Bauer!

 

Die aber hatte nur ihren gescheiterten Plan vor Augen. [Forbidden Chalice] erhöhte die Angriffskraft eines Monsters um 400, was gereicht hätte, Logans Lebenspunkte mit einem Angriff auf Rotkäppchen auszulöschen. Aber was brachten ihr die schon, wenn plötzlich der übermächtige Lead Yoke das Ziel war!?

„Das ist viel zu wenig“, knurrte sie leise, „denk dir was Besseres aus, Levrier!“

Sie hörte ihn, wie er schon fast niedergeschmettert stöhnte.

 

Anya Bauer, hängst du eigentlich an deinem Leben?

 

„W-was!?“

Und was sie dann hörte, war der wohl erste Wutausbruch Levriers in der Geschichte ihrer Bekanntschaft.

 

Denkst du nicht mit deinem eigenen Kopf!? Liest du dir nicht durch, was auf den Karten steht, die du benutzt!? Wie viele Kämpfe auf Leben und Tod hast du bis heute ausgetragen, um zu wissen, dass jede Unachtsamkeit das Ende bedeuten könnte!?

 

Bei der sich überschlagenden Stimme in ihrem Kopf zuckte selbst Anya zusammen. „Was ist auf einmal dein Problem!?“

 

Du bist das Problem, Anya Bauer. Du kämpfst wie die Versagerin, die du nicht mehr sein wolltest! Jetzt ist es zu spät. Game Over, wie du-!

 

Anya ließ noch einmal den Arm über ihre verdeckte Karte gleiten, mit einem zutiefst erschütterten Gesichtsausdruck. „Falle! I-ich meine Zauberkarte, [Forbidden Chalice]! Sie erhöht- nein, sie negiert den Effekt eines Monsters auf dem Feld, gibt ihm aber 400 Angriffspunkte dafür.“

Das Megafon in der Hand des Schiedsrichters löste sich plötzlich auf und wurde durch ein Glas gefüllt mit Rotwein ausgetauscht, nachdem Anyas Karte aufgesprungen war. Nur ein Schluck reichte, um ihn zum Würgen zu bringen.

 

Battlin' Boxer Cheat Commissioner [ATK/1600 → 2000 DEF/1300 {3}]
 

Sehr gut. Und nun beende es!

 

„Da der Effekt dieses Typen negiert wurde, kann ich ihn als Ziel des Angriffs auswählen!“

Nur wenige Zentimeter bevor der Lichtstrahl in Lead Yokes Brust einschlug, machte er abermals wie von Zauberhand eine Kurve und traf unvermittelt auf dessen Mitstreiter. Logan wich erstaunt der nachfolgenden Explosion aus.

 

[Anya: 100LP / Logan: 250LP → 0LP]

 

Anya stand der Mund offen, denn sie war nicht imstande, das Geschehene sachgerecht zu verarbeiten.

 

Das war eine schlechte Leistung für ein unnötiges Duell, Anya Bauer. Ich kann nicht glauben, dass du wieder in deine alten, ignoranten Muster verfallen bist.

 

Das unerwartete, abrupte Ende des Duells traf sie nicht weniger hart als die Worte Levriers. Plötzlich hörte er sich nicht mehr wie ihr Freund an, sondern wie dieser Immaterielle von damals, der sie herumkommandieren wollte.

„I-ich …“

„Alles in Ordnung?“, fragte Logan überrascht und deaktivierte sein D-Pad. Die Hologramme verschwanden.

Anya sah ihn an, nahm wie in Trance die [Gem-Knight Fusion] entgegen, die er ihr zurückgab. Und plötzlich fühlte sie sich unendlich hilflos. Dumm. Schwach. Alles was sie gewollt hatte, war Spaß zu haben. Einen normalen Tag mit einem normalen Menschen zu verbringen. Ausgerechnet Levrier musste ihr das vermiesen. Wieso!?

„Ich … weiß es nicht.“

Sich gegenüberstehend, legte Logan seine Hand auf Anyas Schulter. „Siehst definitiv nicht danach aus. Das Angebot mit der Hilfe steht noch.“

Unvermittelt riss sie sich von ihm los, sah ihm aufgelöst in die Augen. „Wie könntest du mir jemals helfen, huh!? Ich werde krepieren, wenn ich nicht besser werde! Und mir läuft die Zeit davon, verstehst du!? Schwach! Verdammte scheiße, ich bin … schwach.“

„Wovon zur Hölle redest du?“ Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Natürlich konnte er ihr nicht folgen.

Etwas, das Anya zu ändern gedachte. „Das willst du wissen? Fein! Dann sperr mal schön die Lauscher auf!“

 

Impulsiv zischte sie an ihm vorbei und packte seinen Arm, schleifte Logan hinter sich her. Er ließ es widerstandslos geschehen.

„Alles ist scheiße!“, fluchte sie dabei. „Dieser beschissene Traum, ich hätte nie daran denken dürfen!“

Sie steuerte das offene Garagentor an. „Und statt meine Zeit hier zu verschwenden, sollte ich vermutlich irgendwo im Nirgendwo sein und jemanden ordentlich verdreschen. Weil das nun mal so läuft, seit die ganze Scheiße angefangen hat. Fuck!“

Als sie ins Innere der Werkstatt gelangten, sprang unweigerlich der weiße Porsche in Anyas Blickfeld. Logan wurde losgelassen, ebenso ein wütender Aufschrei. Der erste Tritt galt dem Nummernschild, das solange beharkt wurde, bis es auf dem Boden lag. Danach schnappte Anya sich aus einem unweit stehenden Werkzeugkoffer einen schweren Schraubenschlüssel und begann, auf die Windschutzscheibe einzuschlagen. Zunächst erschuf sie ein schönes Spinnennetz, ehe sie nach mehrmaligem Zulangen schließlich einen Scherbenhaufen folgen ließ. Keuchend warf sie den Schraubenschlüssel beiseite, nahm Abstand und betrachtete ihr Werk.

„Wird teuer für dich“, merkte Logan trocken an.

Anya winkte ab. „Mir doch egal. Nick bezahlt das.“

„Und, geht es dir besser?“

„Nein.“

 

Sie drehte sich zu ihm um, den Kopf gesenkt haltend und setzte sich auf die Motorhaube des ramponierten Wagens. Dann kam die Stille. Sich neben sie setzend, starrte Logan geradeaus und wartete darauf, dass sie das Wort ergriff.

„… ich stecke in Schwierigkeiten“, begann sie plötzlich tonlos, „ganz tief in der Scheiße.“

„Hast wohl den falschen Leuten ans Bein gepinkelt?“

Anya schüttelte den Kopf. „Ne. Nur mein Leben verkauft. Unwissentlich, damit das ja mal gleich klar ist!“

Sie reckte das Kinn vor, in ihrem Blick stand unbändige Wut geschrieben. „Was glaubst du wohl, wie leicht es ist, jemanden auszunutzen, der glaubt, bald sterben zu müssen? Fuck …“

Dann ließ sie den Kopf wieder hängen. „Jetzt sitze ich in derselben Scheiße wie letztes Mal.“

Logan sah sie forschend von der Seite an. „Klär mich auf.“

Als Reaktion darauf entfuhr Anya ein bitteres Kichern. „Sicher? Wenn ich dir das erzähle, wirst du mich in Victim's Sanctuary einweisen wollen. Und wenn du mir glaubst, dann werde ich dich dort einweisen müssen, weil du dann der größte Idiot auf diesem Planeten wärst, noch vor Harper.“

Er zuckte mit den Schultern. „'bilde mir meine eigene Meinung. Und selbst wenn ich ein Idiot wäre, solche Leute muss es auch geben, damit freche Mädchen wie du sich abreagieren können, wenn sie Probleme haben.“

Anya sah ihn verdutzt von der Seite an. „War das ein Kompliment?“

„… nein.“

Trotzdem gelang ihm das Unmögliche. Anya lachte. Nur ganz kurz, aber er entlockte ihr ein, für ihre Verhältnisse, ziemlich authentisches Lachen. Welches sie, als sie es bemerkte, sofort unter ihren gefühlten hundert Kilo schweren Mundwinkeln begrubt. „Arschloch!“

„Erzähl's, bevor ich das Interesse verliere.“

Anyas Finger krallten sich um den Rand der Motorhaube. „Ich kann's nicht.“

Sie zuckte anschließend zusammen, als sie seine Hand auf der Schulter spürte. „Du kannst. Werd' auch nicht lachen, versprochen.“

„'kay. Wenn du's tust, ramm' ich dir 'nen Schraubenzieher in den Hals und dreh solange, bis du deine Eier schmecken kannst!“ Anya sah ihm tief in die Augen. „Glaubst du an das Übernatürliche?“

„Bin mir nicht ganz sicher. Eher nicht.“ Logan hielt ihrem Blick locker stand. „Sollte ich etwa?“

„Wenn's nach mir geht, nicht. Hab ich das bis vor knapp einem Jahr nämlich auch nicht. Aber blöderweise hat selbst eine Anya Bauer nicht immer das Sagen, schon gar nicht in solchen Angelegenheiten.“

 

Welche sie ihm im Anschluss fast zwei Stunden lang ausbreitete, mit allen Details. Einfach allem, selbst einigen Dingen, die ihre Freunde so nicht kannten. Wie sie Levrier zuerst begegnete, was sie fühlte, als sie den Pakt schloss, wie sie davon erfuhr, was ihr widerfahren würde, wenn sie nicht zu Eden würde und dem Plan des Sammlers, der aus der ganzen Sache seinen eigenen Nutzen zog. Sie gestand sogar, indirekt verantwortlich für Drazens Tod zu sein. Und für Marcs, welcher zumindest wieder lebte.

 

Als sie geendet hatte, war Logan längst aufgesprungen, hatte sich vor Anya aufgebaut und sah sie mit verschränkten Armen an. Sein tadelnder Blick sprach Bände. „Schöne Geschichte hast du dir da ausgedacht.“

Anya sah beleidigt zur Seite. Wie sie das gewusst hatte! Natürlich würde er ihr nicht glauben, egal wie sehr sie auf das Gegenteil gehofft hatte. Sich ihm zu öffnen war so befreiend gewesen, weil er ein Außenstehender war, den sie dazu noch kaum kannte. So gut es auch war um den Beistand ihrer Freunde zu wissen, so wollte sie nicht jedes Mal dieselben Versprechen und Gebete hören.

„Ist nicht ausgedacht“, brummte sie düster.

„Erzähl das jemandem, der'n Huhn nicht von 'nem Pferd unterscheiden kann.“

Täuschte sich Anya, oder klang Logan irgendwie enttäuscht. Fast so, als hätte er Erwartungen gehegt, die sie nicht erfüllt hatte. Was bildete der sich eigentlich ein!?

Wutentbrannt sprang sie ebenfalls auf, stand ihm direkt gegenüber. „Was hast du für ne Ahnung, huh? Levrier könnte mit dir den Boden wischen, wenn ich nur wollte.“
 

Ich will aber nicht.

 

Die Stimme der Vernunft konnte sich gepflegt verpissen, dachte sich Anya sauer über Levriers unproduktive Worte und schnaubte. „Du hast doch selber gesehen, wie Zach mit dieser verfickten Kali abgezischt ist!“

„Ich weiß nicht, was ich dort gesehen habe! Entweder hast du mich damals belogen oder jetzt. Soll ich mich jetzt glücklich schätzen? Was für'n Spiel ist das hier, die versteckte Kamera?“

Anya stampfte mit dem Fuß auf, um wenigstens ein bisschen Wut abzulassen, nachdem aus dem Porsche nicht mehr viel herauszuholen war. „Ach und du? Du tust so, als wärst du der größte Anfänger auf Erden, hast aber ein D-Wheel, greifst in ein Spiel ein, von dem ich nicht mal wusste, dass ich es verlieren würde und duellierst dich besser als ich es je könnte! Wer ist hier der Lügner?!“

Das kalte Aufblitzen in seinen Augen ließ sie verstummen. „Wann habe ich jemals behauptet, ein Anfänger zu sein?“

Es nahm ihr glatt den Wind aus den Segeln. Gar nicht. Davon war sie selbst ausgegangen, nachdem er um ein Duell gebeten hatte. In Ermangelung eines passenden Konters fauchte sie: „Bitteschön, ich bin weder dir noch sonstwem Rechenschach schuldig!“

 

Rechenschaft.

 

Logan schüttelte langsam den Kopf. „Is' richtig. Dasselbe gilt aber auch für mich. In den zwei Stunden, in denen du meine Zeit mit diesem Mist verschwendet hast, hätte ich etwas Sinnvolles tun können. Wie dieses Chaos zu beheben, das du angerichtet hast.“

Dabei richtete er die flache Hand auf den demolierten Porsche.

Es war ein Stich ins Herz für Anya. Den sie unkommentiert ließ, weil ihre Unerfahrenheit in Sachen Gefühlspolitik erneut verhinderte, dass ihren Gehirnwindungen eine passende Antwort entsprang.
 

Anya Bauer, lass es gut sein.

 

Levrier erschien neben ihr und sah in seiner schwebenden Haltung auf sie herab. Sein weißer Helm und das blaue Augenpaar brachten, wie immer, keinerlei Gefühle zum Ausdruck. Doch sein Tonfall drückte, selbst für Anya unmissverständlich, Mitgefühl aus.

 

Du kannst nicht erwarten, dass ein normaler Mensch, dem nie etwas Außergewöhnliches widerfahren ist, dir Glauben schenkt. Er will dich sicher nicht verletzen.
 

Die Blonde sah zerrissen zu Logan herüber, um festzustellen, dass er sich längst abgewandt hatte und die Garage verließ. Ohne es zu wollen, setzten sich ihre Füße in Bewegung. Levrier folgte ihr.
 

Im Gegenteil, ich denke, du hast ihn verletzt. Für ihn ist es eine Lüge, auch wenn du die Wahrheit kennst. Du solltest davon ablassen, ihn einweisen zu wollen. Denn wenn er einmal in diesem Sog steckt, kommt er nie wieder heraus.

 

Anya blieb direkt unter dem Garagentor stehen, sah Logan dabei zu, wie er sich auf sein draußen stehendes Motorrad schwang und sich den Helm umschnallte.

Sie wollte es ihm beweisen. Einfach nur zeigen, dass sie keine Lügnerin und er im Unrecht war, sie als solche zu bezeichnen. Es wäre genug, Angel Wing in seiner Waffenform zu beschwören.

 

Ist es nicht zuletzt diese Unbefangenheit, die du an ihm schätzt? All die Leute, die du kennst, sind bereits Mitwisser deiner Tragödie. Das verbindet. Aber manchmal ist es auch ein Fluch, du weißt es besser als jeder andere.

 

Anya hob langsam die Hand an, spreizte die Finger auseinander.

 

Beschütze ihn vor deiner Vergangenheit und Gegenwart, Anya Bauer. Zieh ihn nicht in des Sammlers Spiel hinein. Wenn er dir erst glaubt, wird er versuchen wollen, dir zu helfen. Das ist die Sorte Mensch, die er ist.

 

Auf Höhe ihrer Hüfte ließ sie ihren Arm verharren. Es war sowieso zu spät, Logan trat in die Pedale und fuhr unter lautem Motorengeheul einfach los. Ohne sich noch einmal umzudrehen oder etwas zu ihr zu sagen.

„Idiot …“, stammelte sie leise.
 

Glaub mir, ich will nur das Beste für euch beide, Anya Bauer. Deswegen werde ich mich auch nicht für meine Worte von vorhin entschuldigen.

 

„Doch nicht du“, murmelte Anya niedergeschmettert, „ich bin der Idiot …“

 

-~-~-

 

Die beiden Türhälften bewegten sich automatisch beiseite, als Nick das mehrstöckige Firmengebäude von Micron Electronics betrat, dem größten Computer-Chip-Hersteller in der ganzen Region, mit Hauptsitz in Livington.

Nein, hiermit hatte Nick nicht gerechnet. Er kannte die Firma aus der Zeitung, aus Medienberichten, aber er hätte nie gedacht, einmal hierher zu kommen.
 

Ungestüm durchquerte er das schlichte, weiße Foyer und fegte regelrecht an der Empfangsdame hinter dem gläsernen Tresen vorbei.

„Sie können nicht-!“

„Ich kann“, widersprach Nick resolut, als er einen der Fahrstühle weiter hinten anvisierte.

Die adrett in Uniform gekleidete, junge Frau stöckelte ihm unbeholfen hinterher.

„Haben Sie einen Termin?“, fragte sie, nur um dann selbst zur einzig richtigen Erkenntnis zu gelangen: „Natürlich haben Sie nicht. Sie sind Nick Harper!“

Vor dem Fahrstuhl angelangt, wirbelte er mit eisigem Blick zu ihr herum, während er noch in der Bewegung gegen die Aufwärtstaste hämmerte.

„Und wenn ich es wäre?“

„Er wartet in seinem Büro auf Sie, 8. Stock“, sagte die Empfangsdame mit fester Stimme.

Ohne zu antworten drehte Nick sich wieder um und stieg wenige Sekunden später in den Aufzug.

 

Besagte acht Stockwerke später stieg er wieder aus, sah sich kurz um. Überall gläserne Türen, in die man erst etwa auf Brustbeinhöhe hinein starren konnte, denn alles darunter war mit matter Glasdekorfolie beschichtet. Auf jeder Tür war mit schwarzen Lettern der Besitzer des Büros samt seiner Stellenbeschreibung angegeben. Anhand einer Wegbeschreibung neben dem Aufzug fand Nick heraus, dass er nach rechts gehen musste, wenn er den Obersesselpupser sehen wollte. Wobei von wollen gar keine Rede sein konnte.

Er folgte dem Gang nach rechts und fand sich bald vor einer Tür mit Aufschrift „Aiden Reid, CEO“ wieder. Ohne auch nur anzuklopfen riss er die Tür auf.

Je schneller er das hier hinter sich brachte, desto besser.

 

Nick fühlte sich schlagartig unwohl, als er das Büro betrat. Das lag aber nicht an der Inneneinrichtung, die tatsächlich sehr geschmackvoll gewählt war mit den dunklen Holztönen und Wohnzimmer tauglichen Möbeln. Es war ein sehr einladendes Büro. Nein, was Nick so schwer im Magen lag war der Mann, der ihn hierher bestellt hatte und bereits, angelehnt an seinen Schreibtisch, hinter diesem auf ihn wartete.

Der erste und vor ein paar Wochen noch einzige Mensch, der über seine Geheimnisse Bescheid wusste.

„Aiden“, brummte Nick beim Anblick des Mannes und das in einem Tonfall, der stärksten Würgereiz ausdrücken sollte. „Was verschafft mir die zweifelhafte Ehre?“

„Du und Ehre? Das wäre mir neu“, scherzte der brünette Mittdreißiger von Micron Electronics auf eine nicht weniger bissige Art und Weise und verschränkte dabei die Arme.

Nick schloss auf einen Wink Aidens hin die Tür und betrachte den Mann, der für ihn Anyas Valerie war. Er hatte sich kaum verändert seit damals, mit Ausnahme davon, dass er Chef eines millionenschweren Unternehmens geworden war. Ein Wissen, das selbst Nick bisher entgangen war.

Kurzes, braunes Haar, fein gegelt, die Andeutung eines Barts um den Mund und klare, graue Augen, die binnen kürzester Zeit die noch so cleversten Lügen entlarven konnten. Nur Satan war noch heimtückischer als dieser Mann.

„Ich habe nicht viel Zeit. Was willst du?“, raunte Nick missgelaunt.

„Wenn du schon so direkt fragst … dich.“ Ein chauvinistisches Lächeln begleitete die Worte des CEOs.

Nick lachte auf. „Bedauere, ich mag meine Männer etwas … weiblicher, du verstehst?“

„Ich mag meine kompetent. Wie soll ich anfangen? Sagen wir einfach, ich habe dich vermisst und dachte, es wird Zeit, dir die Einladung zu schicken, die ich schon seit einer gefühlten Ewigkeit loswerden möchte. Immerhin sind mir deine derzeitigen Aktivitäten in der Szene nicht entgangen“, sagte Aiden, stieß von seinem Schreibtisch ab und stellte sich hinter jenen, „nur kann ich mir keinen Reim daraus machen. Wonach suchst du? Planst du eine Reihe von Attentaten?“

 

Eine zornige Falte bildete sich auf Nicks Stirn. Aiden spielte auf die Personen an, die Nick für Anya versuchte ausfindig zu machen. Wie naiv von ihm zu glauben, dass Aiden das Hinterherspionieren aufgegeben hatte, nachdem er ihn vor Jahren dafür fertig gemacht hatte. Zwar hatte er befürchtet, nie ganz aus seinen Fängen entkommen zu sein, aber ausgerechnet heute? Ganz schlechtes Timing.

„Wenn, dann würde ich es dir ganz sicher nicht sagen.“

„Ach bitte, Nick.“ Der versöhnliche Ton rief in Nick Gefühle hervor, die er sonst nur von Anya kannte. Und nein, es waren keine guten. „Das würde doch noch zu deinen harmloseren Sünden zählen.“

„Unseren Sünden“, korrigierte Nick ihn steif.

„Unseren Sünden“, bestätigte Aiden ihm lächelnd und faltete die Hände ineinander, „andererseits, dagegen ist dein neuester Affront … traurig. Für ein Genie wie dich sogar jämmerlich.“

„Wovon sprichst du?“

Aiden drehte den Laptop auf seinem Schreibtisch mit einer Handbewegung um. Auf dem Bildschirm war ein Duel Monsters-Spielfeld abgebildet. Dort zu sehen war der letzte Zug von Nicks Duell mit Valeries Klon, oder was auch immer es war. Ihre Seite war komplett leer, es gab keine Daten ihres Decks.

„Und was sehe ich da?“

„Die Frage habe ich mir auch gestellt, Nick. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet du kleines Wunderkind jemals in die Lage gerätst, faule Tricks anzuwenden.“ Aiden tippte auf die [Change Of Heart]-Karte, die der virtuelle Nick gerade aktivierte. „Schäm' dich, mein Junge. Das habe ich dir nicht beigebracht.“

„Stimmt. Dagegen ist das noch harmlos.“

Zu seinem Erstaunen bemerkte Nick nebenbei, dass die Ateritus-Karten nun deutlich dargestellt wurden, als hätte es sie schon immer gegeben …

„Dir ist doch klar, dass das hier unser Geheimnis bleiben sollte, oder?“, fragte Aiden plötzlich nach und stützte sich mit beiden Händen auf die Tischkante. „Du weißt, unsere Szene ist sehr eigenwillig. Hat ihren Stolz.“

Nick kam nicht umher, den Kopf zu schütteln. „Wegen so einer Lappalie bestellst du mich hierher? Pft. Ich gebe nichts auf Stolz. Im Moment ist Stolz etwas, das ich mir nicht leisten kann.“

„Oh, dem stimme ich zu.“

„Was soll das heißen?“
 

Ein siegessicheres Lächeln schmückte Aidens ansehnliches Gesicht. Wie es das immer tat, wenn er glaubte, alle Karten auf der Hand zu haben. „Nun, du wärst sicher nicht sehr erfreut darüber, wenn diese Aufzeichnung ihre Runden macht. Die Konkurrenz schläft nicht und würde das sicher dazu benutzen wollen, deinen Ruf in der Szene zu torpedieren.“

„Ist das dein Ernst?“ Der zerzauste junge Mann lachte halb fasziniert, halb irritiert auf. „Ich sehe nicht, warum ein kleiner Hack mit einer verbotenen Karte-“

„Es geht nicht darum, was man da sieht. Sondern was man nicht sieht, Nick.“ Aiden stieß sich von seinem Schreibtisch ab und trat langsam an Nick heran. „Du bist in der Vergangenheit einigen Leuten böse auf die Füße getreten. Gib ihnen Angriffsfläche und sie werden nur allzu gerne deine Leichen ausgraben. Ganz zu schweigen davon, was geschieht, wenn jemand aus falschem Stolz die Öffentlichkeit von deinen Aktivitäten in Kenntnis setzt. Hiermit hätten sie den ultimativen Beweis, Schwarz auf Weiß. Einfacher geht es gar nicht. Willst du das?“

Der größere Nick legte den Hals schief, als sein Mentor sich vor ihm aufbaute. Sein zynischer Ton war allen Zweifeln erhaben. „Bedaure, habe gerade nicht ganz zugehört. Hab ich da etwas von Erpressung gehört?“

„Selbstverständlich. Anders würdest du ja nicht freiwillig mit mir reden.“

Nick schnalzte genervt mit der Zunge. „Und was muss ich tun, um die Verbreitung des Videos zu verhindern?“

„Ich sagte bereits“, murmelte Aiden und stieß Nick mit der Faust gegen die Brust, „ich will dich. Ich habe noch eine Stelle zu besetzen und du bist der ideale Mann. Kreativ, kompromisslos-“

„Abgelehnt“, wies Nick ihn eiskalt zurück und schob Aidens Faust beiseite, „eher steige ich mit dem Teufel ins Bett als mit dir.“

Aiden lachte stumm auf und zog seine Hand, die er vorher kurz betrachtete, langsam zurück. „Ich habe nichts anderes erwartet. Scheinbar kannst du dir doch noch ein bisschen Stolz leisten.“

 

Nick, der sich Aidens Nähe mit einem flinken Seitenschritt entzog, eilte auf die Tür zu. Als er schon die Klinke in der Hand hielt, drehte er sich noch einmal um. „Wenn es um dich geht hat mich die Vergangenheit eines gelehrt. Gib Aiden Reid den kleinen Finger und er benutzt ihn, um einen Regen der Zerstörung auf die Welt niedergehen zu lassen.“

Aiden schloss die Augen und nickte. „Schade. Das letzte Mal, als ich einen deiner Finger genommen habe, hätte beinahe ein Ring dran gesteckt.“

„Das Gespräch ist beendet“, flüsterte Nick unterkühlt, fügte anschließend noch hinzu: „Tu was du willst, meinetwegen fang' einen Krieg mit mir an. Aber den verlierst du.“

Und riss die Tür weit auf. Aiden blieb stumm, drehte sich zum Schreibtisch und klopfte mit dem Fingern nachdenklich darauf herum, als jener junge Mann davon eilte.

„Denk an deine Sünden“, sagte er dabei vor sich hin, laut genug, dass Nick es noch vernehmen konnte, bevor die Tür ins Schloss fiel.

 

Und so verließ Nick schnellstmöglich das Micron Electronics-Gebäude. Froh, seinem Fast-Verlobten zu entkommen. Dem einzigen Menschen neben Anya, dem es jemals gelungen war, ein Gefühl namens Liebe in Nick zu wecken. Und der Mensch, der ihn im Stich gelassen hatte, als er ihn am meisten gebraucht hatte.

 

-~-~-

 

„Abby“, flüsterte Nick einige Stunden später in den Hörer, nachdem er sich in seinem Zimmer verbarrikadiert hatte, „ich muss reden.“

„Worum geht es denn?“, hörte er sie besorgt fragen.

Der schlaksige junge Mann setzte sich an den Rand seines Bettes, zerrte nervös am Laken. „Du erinnerst dich doch sicher noch an die Zeit im Kindergarten. Anya und ich, ich habe immer versucht, sie durch mein albernes Verhalten zum Lachen zu bringen.“

„J-ja?“

„Es ist alles eine Lüge. Dieser Junge von damals … das war jemand anderes. Ich bin nicht Nick Harper.“

 

 

Turn 53 – Never Fall Forever

Nick fasst den Mut, Abby von seiner Vergangenheit zu erzählen und eröffnet ihr in diesem Zug Wahrheiten, die niemand je für möglich gehalten hätte. Am nächsten Tag findet ein Treffen zwischen ihm, Aiden und Anya statt, welcher ein besonders für Anya sehr interessantes Angebot unterbreitet. Kurze Zeit später hat diese jedoch ganz andere Sorgen, denn …



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  fubukiuchiha
2017-08-17T09:12:59+00:00 17.08.2017 11:12
Hi
Gutes Kapitel, oh je ich glaube Nick geht da etwas zu aggressiv ab die Sache ran und Matt wird das nicht so einfach hinnehmen. Schade das Logan Anya nicht glaubt, aber vermutlich hat Levrier Recht.
Jetzt kommt also noch mehr von Nicks Vergangenheit ans Licht, mal sehen wie das mit diesem Aiden weiter geht.
Freue mich schon drauf.
Lg fubukiuchiha
Antwort von:  -Aska-
20.08.2017 08:35
Hi,
vielen Dank für deine lieben Kommentare. :)
Wie gesagt, Nick handelt manchmal sehr impulsiv, genau wie Anya und man sieht ja, wie sowas ausgehen kann. Levrier hat auf jeden Fall Recht, aber für Anya ist das trotzdem einen blöde Situation. Sie muss damit lernen umzugehen.
Aiden ist eine sehr wichtige Person für Nick. ;-)

LG,
-Aska-


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