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Momente

[One-Shots und Drabbles]
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Diese Geschichte ist, denke ich, relativ wichtig, da sie den zentralen Konflikt, der irgendwie mit allen wichtigen Dingen in den Stories zu Manmade Myths verbunden ist, beinhaltet. Komplett anzeigen

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Vergessen werden

Estsanatlehi betrachtete die Uhr in ihrer Hand. Eine altmodische Taschenuhr, deren Zahnräder man sehen konnte, wenn man eine Scheibe am Rücken des kleinen Geräts löste. Ein junger Mann, der sie nicht für das erkannt hatte, was sie war, hatte sie ihr einst geschenkt. Einer jener weißhäutigen Leute aus dem Osten, beziehungsweise einer ihrer Nachfahren, nachdem sie sich hier schon lange nieder gelassen hatten.

Sie konnte nicht einmal sagen, warum sie sie behalten hatte. Doch sie fand sie faszinierend. Einer Technik der Menschen, um Zeit zu messen – und sich ihr komplett zu unterwerfen. Sie wusste, dass es lange Zeit nicht so gewesen war, doch nun? Nun nahmen die Menschen Zeit oftmals sehr genau. Sie hatten sie eingeteilt. Nicht nur in Tage oder Tageszeiten, sondern in Stunden, Minuten, Sekunden.

Mit welchem Zweck?

Doch vielleicht hatte eine solche Einteilung Sinn für sterbliche Menschen, deren Leben sich nicht erneuern konnte.

Und so ließ sie die Uhr wieder in ihre Gewänder gleiten und sah auf das Tal vor ihr hinab, in dem ein Teil ihres Volkes nun schon seit Jahren lebte, oftmals besucht von jenen hellhäutigen Östlingen.

Die Sonne stand noch hoch am Himmel. Auch ihr blieb noch Zeit, bis sie zu ihrem Haus zurückkehren musste.

Eine Bewegung zu ihrer linken ließ sie zusammenschrecken. Etwas raschelte im Gebüsch des kleinen Hains, der das Tal auf der östlichen Seite begrenzte. „Es kommt nie etwas gutes aus dem Osten“, sagte ihr Volk und vielleicht hatten sie recht.

Eine große Wildkatze schlich aus dem Gebüsch hervor. Der Körper des Tieres war sehnig und muskulös. Sein Fell schwarz wie die Nacht. Nun setzte es sich neben sie und sah ebenfalls auf das Tal hinab. Es bemühte sich nicht einmal darum, den Eindruck einer normalen Katze zu erwecken.

Sie kannte dieses Tier, das ihr ebenso bereits einige Male in der Gestalt eines Mannes mit beinahe schwarzer Haut erschienen war. „Tezcatlipoca.“

„Estsanatlehi“, erwiderte die Katze, wobei sie ihren Mund nicht einmal zu bewegen schien. Sie starrte nur mit gelben Augen in das Tal.

„Was kann ich für dich tun?“, fragte Estsanatlehi.

Die Katze wandte ihren Kopf. „Du weißt, warum ich hier bin.“ Dies war einer der alten Götter. Alt, wenngleich nicht älter als sie, mächtig und doch schwach.

„Du kennst meine Antwort bereits, Tezcatlipoca“, erwiderte sie in der alten Sprache seines Volkes. „Ich habe mein Volk. Es gibt für mich keinen Grund zu kämpfen.“

Wieder sah der Panther auf das Tal hinab. „Wie viele sind es noch?“

„Genug“, erwiderte Estsanatlehi. „Und sie vermehren sich.“

„Und dennoch verlierst du sie“, erwiderte Tezcatlipoca, der Gott von Tod und Verführung. „Du wirst sie verlieren.“

„Ich würde sie verlieren, wenn ich mich an eurem Krieg beteilige“, antwortete sie. Sie holte tief Luft und sah die Katze dann an. „Ich weiß genug über dich, Tezcatlipoca, über euch und euren Krieg. Ihr wollt meine Unterstützung nicht wegen mir oder meiner Weisheit, ihr wollt sie wegen meines Volkes. Doch ich sage euch nur wieder Nein.“ Sie wandte ihren Blick ab und wieder der Sonne zu. „Ich habe es dir wieder und wieder gesagt, Tezcatlipoca, dass ich meinem Volk treubleibe. Ich werde sie nicht in einem Krieg gegen den Wandel der Kultur selbst riskieren.“

„Aber du könntest unsterblich sein“, entgegnete der andere Gott mild.

Natürlich verstand sie den Sinn seiner Worte, doch sie verstand auch den Preis. „Oder gänzlich sterben“, antwortete sie. „Und wenn Vergessen und Tod mein Lohn sind, so habe ich ihn doch selbst gewählt. Ich schütze mein Volk. Das ist meine Aufgabe. Es ist nicht die Aufgabe meines Volkes, mich zu schützen.“

Eine Mischung aus Knurren und Fauchen erklang aus der Kehle Tezcatlipocas. „Du wirst es dir anders überlegen, Estsanatlehi. Eines Tages. Und dann wird es vielleicht zu spät für dich sein.“ Damit stand die Katze auf und machte drei fließende Schritte in Richtung des Waldes, ehe sie noch einmal Estsanatlehi den Kopf zuwendete. „Ich werde wiederkehren, Estsanatlehi.“

„Ich weiß“, antwortete sie und sah zu, wie der Gott der Nacht mit dem Schatten der Bäume verschmolz. Dann sah sie wieder auf das Tal hinab, wohl wissend, dass er sehr wohl Recht haben könnte. Wohl wissend, dass der Tag kommen konnte, vielleicht sogar kommen würde, an dem sich ihr Volk neuen Göttern zuwandte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Seki
2017-08-29T10:52:51+00:00 29.08.2017 12:52
Ich mag ihren Charakter. Besonders die Tatsache, dass sie ihren Idealen und Volk treu bleibt, obwohl es ihr Verderben sein könnte.


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