№ 120 von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 6: Moosrosenfarben -------------------------- * „Wie findest du den da?“ Sakura sah von der Speisekarte auf und folgte Inos Blick, der auf einem Mann lag. Er saß zwei Tische weiter und begutachtete ebenfalls die Speisekarte. Ein attraktiver Mann Mitte zwanzig mit schulterlangen strohblonden Haaren, die er zu einem kurzen Zopf zusammenband, und dunkle Augen, die aufsahen, um nach der Bedienung Ausschau zu halten. Desinteressiert zuckte Sakura die Schultern und widmete sich wieder der Speisekarte. „Er hat seine letzte Freundin sicher betrogen. Ich denke, ich nehme die Virgin Colada und dazu einen frittierten Wrap. Weiß du schon, was du nimmst?“ „Was ist mit dem?“, fragte Ino, als die männliche Bedienung, die ihre Bestellung aufgenommen hatte, zum nächsten Tisch ging. Sakura legte das Kinn in die Handfläche und inspizierte den Hinterkopf und den breiten Rücken des Kellners. „Der lügt und betrügt doch ebenfalls.” Ino seufzte genervt und ließ sich tiefer in den Sessel sinken, den Kopf zum Sonnenschirm hebend, der über ihren Häuptern ausgebreitet war und sie vor der strahlenden Sonne schützte. „Ich will dir nicht zu nahe treten”, sagte sie, „... doch, das will ich. Es ist mehr als ein halbes Jahr her, seit das mit Sasuke war. Meinst du nicht, du solltest anderen Männern langsam vertrauen lernen? Nicht alle Männer sind schlecht. Und nicht alle Frauen sind gut.” Sakura wurde auffordernd angesehen, so als wollte Ino, dass sie gleich aufstand und mit dem nächstbesten Mann, der ihr halbwegs sympathisch erschien, eine Konversation aufbaute. „Ich kann mir nicht helfen”, antwortete Sakura. „Ich kann Männern nicht mehr vertrauen.” Die Enttäuschung saß tief und die Angst, so etwas noch einmal zu erleben, war groß, sehr groß. Selbstverständlich hatte sie auch im letzten und vorletzten Monat Männer getroffen, aber sobald sie sie angesehen hatten, hatte sie die Augen gleich wieder von ihnen genommen in dem Glauben, dass jeder von ihnen untreu und verlogen war und es keinen Sinn hatte, sie überhaupt erst kennen zu lernen. „Natürlich kannst du dir helfen“, erwiderte Ino prompt. „Guck dir Sai an. Er wird mich nie betrügen. Es GIBT gute Männer.” Sag niemals nie, ging es Sakura durch den Kopf. Aber sie sprach ihre Gedanken nicht laut aus, weil sie ihre Freundin nicht traurig machen wollte. „Sai ist sowieso ganz anders als andere Männer”, sagte Ino. Das stimmte. Als Ino Sai kennengelernt hatte, war er eine leere Hülle gewesen, und sie hatte angefangen, langsam Farbe in sein bisher graues Leben zu bringen. Ino hatte ihm gezeigt, wie man lebte. „Gut“, murmelte Sakura, nachdem sie über Inos Freund ein Weilchen nachgedacht hatte. „Vielleicht ist Sai eine Ausnahme, und du weißt ja: Ausnahmen bestätigen die Regel. Er ist sicher einer der wenigen Männer auf diesem Planeten, die ein ehrliches Herz haben.” Sie mussten ihr Gespräch kurz unterbrechen, weil man ihnen ihre Getränke brachte. Es war der einunddreißigste Juli und ein Tag vor Sakuras Ausbildungsbeginn. Ein schöner, sonniger Tag. Sakura freute sich bereits auf ihre Arbeit und war auch ein wenig aufgeregt, besonders wegen der Schule. Die Einschulung würde am dritten August stattfinden. Gemeinsam mit anderen Schülern würde sie sich in der Aula einfinden müssen. Sie hatte sich die Schule bereits im vorletzten Monat von außen angesehen und war erstaunt über die Größe und die Prächtigkeit des Gebäudes gewesen. Ende Januar hatte Izuna sie angerufen und ihr gesagt, dass sie sie dabeihaben wollten. Eine Woche später war ihr Ausbildungsvertrag samt Ausbildungsverlaufsplan dagewesen und drei Monate später hatte sie die Information bezüglich der Einschulung erhalten. Die freie Zeit hatte Sakura genutzt, um sich theoretisch mehr mit dem Beruf auseinanderzusetzen, und sich Mathematikaufgaben ausgedruckt, um direkt beim Start zahlentechnisch fit zu sein. Und heute sollte ein schöner Abend mit Ino werden. Sie saßen in einem Café in der Altstadt. Das Café, in dem sie früher gemeinsam mit Sasuke gewesen war, mied sie auch jetzt noch wie die Pest, und sie mied auch jeden anderen Ort, an dem sie sich häufig gesehen hatten, sofern es möglich war. Gelegentlich sah Sakura Sasukes Mutter im Supermarkt oder anderswo, und sobald sie Mikoto von weitem erblickte, versteckte sie sich. Es wäre ihr höchst unangenehm, mit Mikoto zusammenzuprallen, zumal sie nicht wusste, in welchem Licht sie bei Sasukes Familie dastand. Erst vor einer Woche hatte sie sich darüber geärgert, dass sie sich nicht zu einem klärenden Gespräch hatte bewegen lassen. Jetzt hätte sie mehr Information gehabt. Aber so war das manchmal, in der Tat kam das durchaus oft so. In dem Moment hatte sie nichts von ihm gewollt, jetzt wollte sie alles wissen, ein Zurück kam aber nicht in Frage.   Sakura schlürfte an ihrem Cocktail, während Ino, der Sakuras vorherige Aussagen offenbar vollkommen einerlei waren, weiterhin nach Männern Ausschau hielt, die Sakura gefallen könnten. Sie war fest davon überzeugt, dass Sakura sich nur auf den Richtigen einlassen musste, damit man ihr all die negativen Empfindungen und Einstellungen nahm. Ino stellte sich das allerdings keinesfalls einfach vor. Sakura würde erst wieder lernen müssen zu vertrauen, weshalb ihr Zukünftiger Verständnis und Geduld mitbringen müsste. „Der Cocktail ist wirklich sehr lecker“, bemerkte Sakura und freute sich, als den beiden ihr Essen gebracht wurde. „Sakura!“, rief Ino fast schon aus. Sakura kaute gerade auf einem Pizzabrötchen und sah ihre Freundin fragend an. „Weißt zu zufällig, ob diese Fremde einen Partner hatte?“ Wenn Ino darüber nachdachte, wäre es ein klassisches Filmszenario, wenn die Betrogenen zusammenkämen. „Stell dir vor, sie hätte ihren Partner mit Sasuke betrogen, während Sasuke dich mit ihr betrogen hat“, sprach Ino schnell und aufgeregt. „Stell dir vor, du lernst diesen Mann kennen und stellst fest, dass du ihn magst und…“ Sakura hätte bereits viel früher auf Ino reagiert, wäre sie nicht mit dem Pizzabrötchen beschäftigt gewesen. Nun hatte sie hinuntergeschluckt und fragte mit zusammengezogenen Augenbrauen: „Hast du eigentlich ein Rad ab? Erstens weiß ich nichts über die Frau, mit der Sasuke mir fremdgegangen ist. Wie sollte ich auch? Zweitens wäre es unfassbar komisch, mit jemandem zusammenkommen, der…“ Sakura machte wirre Bewegungen in der Luft, weil sie nicht wusste, wie sie ihre Gedanken ausformulieren sollte. „Ich fände es nicht nur einfach amüsant im Sinne von lustig. Ich denke, das könnte die Basis für etwas Zartes und Wunderbares werden. Stell dir vor: Zwei ehrliche und treue Menschen, die betrogen worden sind, finden zueinander. Sie wissen, wie viel Schmerz und Kummer dem anderen bereitet wurde. Das ist perfekt! Sie können einander trösten und damit soll es beginnen.“ „Vielleicht im Film und in deiner Fantasie“, meinte Sakura leicht gereizt und griff nach der Gabel. „Aber sicherlich nicht in der Realität. Die Konstellation ist einfach zu komisch, verstehst du?“ Nun griff auch Ino nach der Gabel. „Zu schade.“ Sie sagte nicht, was genau sie meinte. * Sakura füllte ihre Lippen mit einem moosrosenfarbenen Lippenstift aus, tupfte mit dem Zeigefinger, den sie vorher mit einer schlichten Lippenpflege bearbeitet hatte, über die Lippen und lächelte ihrem Spiegelbild entgegen. Bis auf die Lippen war ihr Make-up sehr dezenter Natur. Als Izuna sie durch den Gebäudekomplex geführt hatte, war ihr aufgefallen, dass einige Frauen dunkelroten Lippenstift getragen hatten; sie ging davon aus, dass mehr durchaus erlaubt war, sofern das Gesamtbild nicht zu dramatisch wirkte. Als Sakura das Haus verließ, war es bereits hell draußen, und sie musste daran denken, wie dunkel es während ihrer Praktikumszeit bei Uchiha&Co. gewesen war. Sie hatte diesen Tag kaum erwarten können. Die Vorfreude auf ihre Ausbildung hatte ihr gewissermaßen beim Verarbeiten der Trennung geholfen. In der Straßenbahn schrieb Sakura stehend – es gab keinen einzigen freien Platz mehr, weswegen sie mitten im Wageninneren stehen musste – ein wenig mit Ino, und kurz bevor sie aussteigen musste, betrachtete sie ihr Äußeres im Taschenspiegel und schob fix einige lose Strähnen hinters Ohr, damit ihr Gesicht strenger wirkte. Auf dem Parkplatz entdeckte sie Madara, der gerade ausstieg. Da Sakura sich nicht traute, ihn anzusprechen, ging sie einfach weiter. An der Rezeption informierte man sie darüber, dass sich die Treppen in Reparatur befänden und sie den Aufzug nehmen müsse. Vor den Aufzügen stand schon eine rege Menschentraube, zu der Sakura sich gesellte und Ausschau nach Izuna hielt. Sie fand jedoch Madara vor sich stehen und wunderte sich, wie er so schnell hierhergekommen war, wo sie ihn doch auf dem Parkplatz hinter sich gelassen hatte. Als der linke Aufzug hielt und die Türen geräuschlos auseinanderglitten, folgte sie ihm in den Aufzug. Madara registrierte ihre Präsenz überhaupt nicht, da er sich zu den Türen drehte und den Blick geradeaus richtete, der Menge entgegen, die in den Aufzug wollte. Sakura und Madara mussten einige Schritte zurückgehen, damit die anderen Platz haben konnten. Während man bei Madara sehr vorsichtig war, drängte man Sakura immer mehr zur Seite, zu Madara. Als sie gegen ihn stieß, drehte sie sich erschrocken um und wollte sich entschuldigen – doch da rempelte sie jemand von hinten an und ihre geschminkten Lippen kollidierten mit Madaras weißem, frischem und erst gestern gebügeltem Hemd. Mit weit aufgerissenen Augen klebte sie an dem weißen Kleidungsstück, das eine harte Brust bedeckte, und als ihr bewusst wurde, dass er sie von oben herab anstarrte, als sie seinen zornigen Blick spürte, löste sie sich augenblicklich vom seinem süßlich duftenden Hemd, nicht in der Lage, eine Entschuldigung zu stottern, da sie zu geschockt war von dem Anblick, der sich ihr bot. Auf Madaras weißem Hemd prangte nun der rosafarbene Abdruck ihrer Lippen. Sakura schlug die Hände vor den Mund und sah zu ihrem Chef hoch. Sie stand kurz davor zu weinen. Wie konnte ihr nur so ein unangenehmes, peinliches Malheur an ihrem allerersten Ausbildungstag passieren? Dass die Menschen um sie herum den Abdruck noch nicht gesehen hatten, war kaum ein Trost. Madara warf den Kopf zur Decke, sich über die Lippen leckend und die Augen verdrehend, während er die Aktentasche unter seiner Achsel noch fester an seinen Körper presste. Er rang um Fassung. Oh Gott, ging es Sakura, die unbewegt wie ein Stein dastand, durch den Kopf, den Mund immer noch mit beiden Händen bedeckend. Mittlerweile waren sie im dritten Stock und ihr Herz raste auf Hochtouren, während vor ihren Augen schwarze Flecken tanzten wie kurz vor dem Verlust der Sinne. Eine Ohnmacht oder Bewusstlosigkeit käme jetzt gerade recht. Ihr waren einige peinliche Dinge passiert, aber es gab Ereignisse, die sie als absolut peinlich beschrieben hätte. Ihre Mutter hatte einen Meniskusriss erlitten, und als ihre Freundinnen gefragt hatten, wieso ihre Mutter denn Krücken bräuchte, hatte die kleine Sakura gesagt: „Mama hat einen Orgasmusriss!“ Unvergesslich war ihr Verhütungsversprecher während ihres Bewerbungsgesprächs bei Uchiha&Co. Und nun das. Das war eindeutig das Peinlichste innerhalb des absolut Peinlichen. Gerade fragte Sakura sich tatsächlich, ob er sie deswegen entlassen könnte. Nein. Nein, das konnte er eigentlich nicht. Zu einem positiven Chef-Auszubildender-Verhältnis trug das aber ganz und gar nicht bei. Bevor jemand auf den Abdruck aufmerksam werden konnte, bedeckte Madara ihn mit seiner Aktentasche. „Sie werden gleich mit mir kommen“, sagte er, und Sakura lief es eiskalt den Rücken hinunter. Natürlich. Natürlich musste sie sich irgendwie verantworten. Sie folgte Madara ins Chefbüro, den Kopf gesenkt und den Riemen ihrer schwarzen Tasche mit ihren unlackierten Nägeln bearbeitend. Auf jeden, der sich verwundert nach ihnen umsah, wirkte Sakura, als wäre sie gerade auf dem Weg zum Schafott. Hikaku war verreist, weswegen Madara das Büro ganz für sich alleine hatte. „Was sehen Sie hier?“, fragte er, als er die Aktentasche auf den Tisch legte und sich gegen diesen lehnte. Die Hände hatte er gefaltet. Sakura schluckte. „Einen Lippenstiftabdruck.“ „Richtig. Da gehört er überhaupt nicht hin, Frau Haruno.“ „Das… Das ist mir bewusst, Herr Uchiha“, antwortete sie, nervös mit ihren Fingern spielend. Sie sah auf ihre Schuhe und wusste nicht, was kommen würde. „Ich werde mich der Sache annehmen. Haben Sie hier Spülmittel in den Küchen?“ Ihre Blicke trafen sich, und Sakura senkte rasch den Kopf. „Es tut mir sehr leid“, sagte sie, ganz überwältigt von seinem finsteren Gesichtsausdruck. „Das… Das war nicht meine Absicht. Die Menschen im Aufzug haben… Ich.“ Wan hatte sie so viel auf einmal gestottert? Wie lange war das her? „Es ist schon in Ordnung“, schnitt er ihr das Wort ab. „Holen Sie Spülmittel.“ Sie nickte und verschwand eilig, während er alleine im Büro zurückblieb und den Abdruck kopfschüttelnd betrachtete. Er überraschte ihn selbst, dass er sich so gut hatte zusammenreißen können, schließlich war das Hemd, das er gerade trug, sein liebstes. Jemand klopfte und Madara sah durch den durchsichtigen Teil der Tür, dass es Izuna war. Izuna konnte den Abdruck ruhig sehen. „Ich wundere mich, dass Frau Haruno noch nicht da ist“, sagte er, als er eintrat. „Was ist denn das? Ist das Lippenstift?“ Izuna lachte. Er hatte seinen Bruder lange nicht mehr aufgezogen, das musste er noch nachholen. „Und vor Monaten hast du mir erzählt, dass du von Frauen die Nase voll hast. Hast du deine Meinung geändert?“ Obwohl Madara wusste, dass Izuna scherzte, gab er sich sehr gereizt. Er erklärte Izuna die Situation. „Herrlich“, kommentierte sein jüngerer Bruder. In diesem Augenblick ertönte ein Klopfen, und nachdem Madara die Erlaubnis zum Eintreten erteilt hatte, schlüpfte Sakura ins Zimmer wie eine panische Maus. „Ich habe Spülmittel gefunden“, verkündete sie triumphierend. Als sie Izuna bemerkte, sagte sie zu ihm gewandt: „Es tut mir sehr leid, dass ich an meinem ersten Ausbildungstag nicht pünktlich bei Ihnen war. Wirklich! Das kommt nie wieder vor.“ „Es ist schon in Ordnung, Frau Haruno“, winkte Izuna ab. „Ich werde nach unten gehen, kommen Sie, wenn Sie fertig sind.“ Er ging, und Sakura starrte Madara an. Theoretisch müsste er sich das Hemd ausziehen. Theoretisch. Madara hatte bei dem Wetter nichts drunter, weswegen das Entfernen des Lippenstifts sich als etwas umständlich gestalten würde. Sie bat Madara, ein Papiertuch unter sein Hemd zu schieben. Während sie den Abdruck mit Spülmittel bearbeitete, beobachtete er kritisch ihr Tun. Er hoffte, dass die junge Frau wusste, was sie da tat. Nicht, dass sie das Ganze noch schlimmer machte, als es schon war. Aber Sakura ging sehr bedacht und vorsichtig vor, weswegen auf dem Hemd am Ende nur ein nasser Fleck zurückblieb. „Er wird bei diesem Wetter schnell trocknen“, informierte Sakura ihn und lächelte angestrengt. Sie hatte den Blickkontakt zu Madara die ganze Zeit über erfolgreich vermieden. „Gut. Sie können gehen.“ Sakura nickte und verschwand eilig. Auf dem Weg zu dem Büro, das sie sich mit Izuna teilen würde, klopfte ihr Herz wie verrückt und sie dankte den Göttern, dass sie heil aus dieser Situation herausgekommen war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)