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Life is precious

Das Leben ist wertvoll
von

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Dunkle Vergangenheit und helle Zukunft

Mein Herz raste noch, als ich längst angehalten hatte. Ich lehnte mich an einen Baumstamm und versuchte, das Rauschen in meinen Ohren loszuwerden. Ich sah ihn vor mir. Jesse, als kleinen Jungen, wie er auf dem Boden lag. Reglos, den abgebrannten Stummel in seinen kleinen Fingern. Den kleinen verbrannten Fingern. Er hatte keine Narben, fiel mir ein. Wusste er das noch? Konnte er sich erinnern? Ich schielte hinüber zum Haus. Keine Ahnung, wie weit es war, aber ich war den ganzen Weg gerannt.
 

Marissas Worte schwirrten noch immer in meinem Kopf. Walt hatte seinem Sohn Drogen gegeben und ihn damit fast umgebracht. Jetzt wurde mir auch in vollem Maße bewusst, wieso Jesse seine Mutter so damit hatte ärgern können, dass er rauchte. Er wusste es doch? Oder glaubte er einfach nur, sein Vater hätte sie, mir nichts dir nichts, ohne jeden Grund verlassen – was zugegebenermaßen auch nicht viel besser wäre. Er hatte mir erzählt, er hatte damals Angst gehabt, wie seine Mutter zu werden, aber über seinen Vater hatte er nie ein Wort verloren. Was für eine verstörende Kindheit. Nicht nur, dass sein großer Bruder und seine kleine Schwester denselben Vater hatten, er war also mehr oder weniger das Kuckuckskind, und dann hätte ihn Walts Verantwortungslosigkeit beinahe das Leben gekostet. Zum ersten Mal verstand ich Marissa. Ich fragte mich, ob Walt freiwillig gegangen war, um seinen Sohn vor sich zu schützen, oder ob Mary ihn rausgeworfen hatte.
 

Konnte Greg sich erinnern? Er musste damals etwa zehn gewesen sein, Betty noch nicht einmal geboren. Mir schmerzte der Kopf von all diesen Gedanken. Mit mir selbst ringend, beobachtete ich das Haus.

Ich sah Gregs Auto, nicht jedoch Jesses. Konnte ich einfach dort hineinspazieren und alte Wunden aufreißen? Und was, wenn sie es nicht wussten? Ich würde mir wie eine Petze vorkommen. Ich würde vielleicht den letzten Faden an Verbindung zwischen Jesse und Walt zerstören, der noch bestand. Würde er mich dafür hassen, oder wollte er die Wahrheit wissen, egal wie schrecklich sie auch war? Ich konnte nicht einmal sagen, ob ich das wollen würde.

Ich entschied mich für den Mittelweg: Erst einmal mit Greg darüber reden. Vielleicht konnte er mir sagen, was ich tun sollte. Mit weichen Knien ging ich zur Tür und fragte mich, ob ich überhaupt das Recht hatte, mich einzumischen. Meine Hand fand von ganz allein zur Klingel und entschied somit über meinen Kopf hinweg. Es war mir egal, ob Jesse noch sauer auf mich war, oder tatsächlich alles aus war. Die Wahrheit war im Moment wichtiger. Ich hoffte nur, er war nicht zuhause. Greg öffnete die Tür und sah mich überrascht an.

„Lea, du bist zu früh.“ Stirnrunzelnd sah ich auf meine Armbanduhr.

„Nein. Ihr seid zu spät. Zwei Stunden. Wollten wir uns nicht bei Marissa treffen?“ Ich sah Gregs Adamsapfel auf und ab springen.

„Ja, tut mir Leid. Wir waren schon so gut wie unterwegs, da hat Betty Bescheid gegeben, dass Walt auch da ist...“

Ich hörte jemanden in der Küche werkeln.

„Ist Jesse da?“

Greg schüttelte den Kopf.

„Gut“, sagte ich und betrat ohne Aufforderung das Haus. Mit einem schnellen Hallo lief ich an Lydia in der Küche vorbei und ging direkt ins Wohnzimmer, wo ich von einer Ecke in die andere tigerte. Jesses großer Bruder lehnte im Türrahmen und verfolgte mich mit den Augen.

„Alles in Ordnung?“

Ich blieb kurz stehen.

„Nein. Wir müssen reden.“

Greg deutete aufs Sofa.

„Willst du dich setzen? Du wirkst etwas durch den Wind.“

Lydia, die ihre Hände an einem Tuch abwischte, gesellte sich zu uns.

„Was ist denn los?“

Ich fuhr mir durchs Haar und imitierte somit Jesses Geste, wenn er nervös war.

„Es ist was sehr persönliches.“ Ich wusste selbst nicht, ob es gut war, wenn Lydia meine Geschichte mitanhörte.

„Soll ich lieber gehen?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß nicht. Keine Ahnung. Nein.“ Schließlich setzte ich mich doch hin und kam mir dabei vor wie ein Häufchen Elend.

„Geht es um Jesse?“, fragte Greg und warf Lydia einen Blick zu, der bedeuten sollte, sie könne ruhig bleiben. Ich nickte. Ging es bei mir nicht immer um Jesse?

„Und um seinen Vater.“

Die beiden setzten sich mir gegenüber und warteten geduldig, bis ich mit der Sprache rausrückte. Ich räusperte mich. Wo sollte ich anfangen?

„Also, ich war gerade bei Marissa. Walt kam auch, wie ihr ja schon wisst. Und die beiden haben sich ganz schön gefetzt.“

Greg verdrehte die Augen.

„Ist ja keine große Überraschung.“

Ich wischte meine feuchten Handinnenflächen an meiner Hose ab. Jetzt kam der entscheidende Teil.

„Na, jedenfalls bin ich dann irgendwann mit Betty nach oben, in ihr Zimmer. Und als ich später wieder runterkam, um mich rauszuschleichen, habe ich die beiden streiten hören. Ich wollte nicht lauschen, wirklich! Aber ich konnte nicht anders.“

Greg beugte sich nach vorn und stützte seine Ellbogen auf seine Knie.

„Was haben sie gesagt?“

Ich schluckte schwer, weil mein Mund so trocken war.

„Wenn ich etwas wirklich Schlimmes mitangehört hätte, würdet ihr es wissen wollen?“

Lydia griff nach Gregs Arm. Sie kam mit ihren feinen Händen nicht um seinen stattlichen Bizeps herum.

„Was hast du gehört, Lea?“ Greg sah mich an, als ahnte er, worum es ging.

„Ich habe gehört, wie sie über die Nacht redeten, als Jesse ins Krankenhaus musste. Die Nacht, aufgrund derer Walt gegangen ist.“

Greg seufzte und ließ die Schultern sinken.

„Du weißt es“, stellte ich fest. Er fuhr sich mit seiner großen Hand übers Gesicht.

„Ja. Ich habe damals den Streit gehört und habe von der Treppe aus alles beobachtet.“

Ich schlug die Hände vor den Mund. Mitanzusehen, wie der eigene Bruder dort lag, reglos, musste schrecklich gewesen sein.

„Es tut mir so Leid“, flüsterte ich und schüttelte ungläubig den Kopf. Das konnte doch alles nicht wahr sein.

„Das ist beinahe zwanzig Jahre her, Lea. Ich komme schon damit klar.“ Auch Lydia schien die Geschichte zu kennen, denn sie stellte keine Fragen.

„Tut mir Leid, dass du das mitanhören musstest.“ Ein Gedanke schreckte ihn auf. „Hat Betty es auch mitbekommen?“ Die Vorstellung schien ihm Angst zu machen.

„Nein. Sie war oben. Sie weiß es nicht“, beruhigte ich ihn. Ich holte tief Luft, um die entscheidende Frage zu stellen.

„Weiß es Jesse? Kann er sich erinnern?“

Greg nickte und wirkte niedergeschlagen.

„Mom hat keinen Hehl daraus gemacht, was für ein schlechter Vater Walt war. Ich schätze, sie wollte wohl sichergehen, dass Jesse nicht auf die blöde Idee kam, ihn zu suchen. Er war zwar noch klein, aber schon sehr entschlossen, hatte seinen eigenen Kopf. Er sagte immer wieder, jeder verdiene eine zweite Chance, dass er beim nächsten Mal den Joint einfach nicht annehmen würde. Als wäre es seine Schuld. Daraufhin hat unsere Mutter ihm haarklein erzählt, wie sie versucht hat, ihn wieder wachzukriegen, während Walt teilnahmslos auf dem Sofa lag, wie er die ganze Nacht geschrien hatte, und zeigte ihm die Brandnarbe an seinem Daumen.“ An seinem Daumen. Ich brauchte nicht zu fragen. Ich wusste, welcher. Mein Schatz. Also hatte dieses erste Tattoo doch mehr Bedeutung, als Jesse zugeben wollte. Lydia wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

„Bestimmt wollte sie ihn nur beschützen, aber das war einfach falsch.“ Ich musste mich selbst anstrengen, um nicht in Tränen auszubrechen. Der Kloß in meinem Hals wuchs und nahm mir die Luft zum Atmen.
 

„Und dann? Wie ging es weiter? Ist Walt einfach abgehauen und hat sich nie wieder blicken lassen?“

Walt liebte seinen Sohn, das hatte ich heute gesehen. Ebenso wie Marissa ihn liebte, auch wenn sie es nur auf ihre sehr verquere Art zeigen konnte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Walt seinen Sohn einfach so aufgegeben hatte.

„An Weihnachten tauchte er wieder auf, als Weihnachtsmann verkleidet, mit einem Sack voller Geschenke für Jesse und mich.“ Eine Zeit lang war Walt auch Gregs Vater gewesen. Bestimmt war es für ihn auch nicht leicht gewesen, ohne ihn. „Aber Mom ließ ihn nicht rein. Er beteuerte, er sei seit Wochen clean und würde seine Kinder nie wieder solch einer Gefahr aussetzen. Er entschuldigte sich tausendmal, bat darum, uns wenigstens an den Wochenenden sehen zu dürfen. Aber sie ließ sich nicht erweichen und drohte ihm mit Polizei, sollte er sich je wieder blicken lassen.“

Greg wirkte müde. All das war zwar schon ewig her, aber solche Momente vergaß man nie. „Ich weiß noch, wie ich am Küchenfenster stand und alles mitbekam. Damit Jesse es nicht sah, hatte ich ihm erlaubt, schon sein erstes Geschenk zu öffnen. Dafür habe ich später übrigens ganz schön Ärger bekommen.“

Ich verschränkte die Arme vor der Brust, weil mir plötzlich kalt wurde, von innen heraus.

„Also glaubt Jesse bis heute, dass sein Vater sich einen Dreck um ihn schert.“

Greg zog die Nase hoch.

„Naja, ich habe damals nichts gesagt, weil... Ihr wisst schon. Als Kind fällt man seiner Mutter nicht in den Rücken. Aber ein paar Jahre später, als ich im rebellischen Teeniealter war und Jesse einen Brief seines Vaters zerriss, ohne ihn gelesen zu haben, erzählte ich ihm die Wahrheit. Nur glaubte er mir da nicht mehr. Es war zu spät. Mom hatte ihn schon davon überzeugt, dass Walt ein gefühlloses Monster ist.“

Ich stand auf, konnte nicht mehr ruhig sitzen.

„Manchmal würde ich sie gerne nehmen und... keine Ahnung... schütteln, bis das, was bei ihr kaputt ist, wieder einrenkt.“ Ich sah zwar Lydia schmunzeln, dennoch bereute ich, vor Greg so von seiner Mutter zu reden.

„Tut mir Leid. Das hätte ich nicht sagen sollen.“

„Entspann dich. Das ist nichts, was ich mir nicht schon selbst überlegt hätte.“

Lydia stand auf und hakte mich bei sich ein.

„Was meinst du: Ich nehme ihre linke Seite, du die rechte?“

Ich lächelte, auch wenn mir eigentlich nicht danach war. Gregs Verlobte warf einen Blick auf die Uhr.

„Bleibst du zum Essen? Jesse sollte auch bald zurück sein.“

Bei der Vorstellung von uns beiden im selben Raum zog sich bei mir alles zusammen – und nicht nur auf die angenehme Weise.

„Ähm. Nein. Ich glaube, besser nicht.“

Lydia sah mich mit Schmollmund an.

„Ach, komm schon. Ich habe etwas Leckeres gekocht.“

Greg sah seine Freundin stirnrunzelnd an.

„Ich glaube nicht, dass es dein Essen ist, worüber sich Lea Sorgen macht, Süße.“

Lydia seufzte und pustete sich ihr Pony aus der Stirn.

„Ihr solltet das endlich mal klären. Jesse ist nicht mehr sauer auf dich.“ Er sauer auf mich? Das wäre ja noch schöner! Ich war hier diejenige, die das Recht hatte, sauer zu sein.

„Ach ja? Das soll er mir selber sagen.“ Ich wollte wirklich noch sauer auf ihn sein, aber mit der Geschichte von eben im Hinterkopf gestaltete sich das überaus schwierig. Das war nicht fair.

„Dann bleib doch.“

„Nein, ich muss wirklich nach Hause.“

Ich sah die Enttäuschung in den Gesichtern der beiden.

„Aber sagt Jesse, ich würde mich über einen Anruf freuen, okay?!“

Wieso ließ ich mich eigentlich immer erweichen?
 

Ich war unglaublich nervös und knetete den Strauß Blumen in meiner Hand, als wäre er mein einziges Rettungsseil, während der Aufzug nach oben fuhr. Ich musste zwar nur ein Stockwerk weiter, aber ich fühlte mich wackelig auf den Beinen und hatte Angst, mich zu verlaufen. Eigentlich hatte ich mir die Einrichtung, in der Natalie untergebracht war, mehr wie ein Gefängnis vorgestellt. Ein blöder Gedanke. Aber dieses wunderschöne Anwesen, dreistöckig, wie ein altes Herrenhaus, edel und einladend, mit gelber Fassade und weißen Fensterläden, mitten im Grünen, hatte ich auf jeden Fall nicht erwartet.

Es war noch früh, man konnte die Vögel zwitschern hören und den Tau auf den Blumenbeeten, die das Gebäude umsäumten, glitzern sehen. Es war wahrscheinlich keine schlechte Idee, an einem Ort, an dem alle Patienten schon genug mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen hatten, die Stimmung nicht noch zusätzlich durch hässliches Gemäuer und einen trostlosen, kahlen Garten zu trüben. Vielleicht hätte ich herkommen sollen, als mich meine Depressionen übermannten. Aber niemand außer mir hatte meine Krankheit damals wirklich einsehen wollen. Eine schwierige Phase, klar, ich war eben nicht gut drauf. Pubertär und rebellisch. Wer konnte das einem Mädchen im besten Teenager-Alter schon verübeln. Aber ich hatte es gegoogelt: Woran erkennt man Depressionen? Viele Symptome kamen mir bekannt vor. Ich füllte sogar einen Fragebogen aus, der einem klarmachen sollte, ob man professionelle Hilfe benötigte. Er war eindeutig ausgefallen. Natürlich zeigte ich ihn niemandem, habe ich bis heute nicht. Die Vorstellung, dass es mit mir auch ganz anders hätte ausgehen können, jagte mir eine Gänsehaut über Nacken und Arme. Doch ich hatte nochmal die Kurve gekriegt. Ich war nicht nur über dem Berg, ich war glücklich. Und ich wusste genau, wem ich das zu verdanken hatte.

Ich atmete tief durch und sammelte mich, als ich vor der Zimmernummer einunddreißig stehen blieb, die mir die Dame am Empfang angegeben hatte. Ihr Name stand auf dem kleinen Schild neben der Tür. Hier war ich richtig. Nur noch durch eine Wand von Natalie getrennt zu sein, war ein komisches Gefühl. Nervosität mischte sich mit Vorfreude, und Vorfreude mit Angst. Was, wenn wir uns auseinandergelebt hatten, nicht mehr zueinander passten? Vielleicht stand gleich eine völlig fremde Person vor mir, die ich nicht einschätzen konnte, mit der ich keine Gemeinsamkeiten hatte, über deren Witze ich nicht lachen konnte. Auch die Vision eines abgemagerten Körpers, der nicht viel mehr war als ein Skelett, überzogen mit Haut, schoss mir durch den Kopf. Aber es ging ihr ja besser. Sie würde bald entlassen werden. Also war alles in Ordnung. Nur meine Fantasie spielte mir wieder einen gemeinen Streich.
 

Ich wünschte, Jesse wäre hier und würde meine Hand halten. Scheiß auf den Streit. Er war dumm und überflüssig. Ich hatte gelernt, was es hieß, einen wichtigen Menschen beinahe zu verlieren. Dieses Risiko wollte ich nicht nochmal eingehen.

Die Tür wurde bereits nach dem zweiten Klopfen aufgerissen, sodass ich mich fragte, ob Natalie schon direkt dort gestanden und gewartete hatte. Als Erstes sah ich ihr strahlendes Lächeln. Genau wie früher. Auch ihre leuchtenden Augen wirkten so klar und offen wie immer.

„Lea. Du bist da. Ich freue mich so.“

Im nächsten Moment fand ich mich in einer herzlichen Umarmung wieder. Die Blumen wurden zwischen uns zerquetscht. Nat war ein ganzes Stück größer als ich und ihre Arme waren genauso schlaksig und lang wie bei unserer ersten Begegnung. Ich drückte sie an mich und war froh, nicht nur Haut und Knochen zu spüren. Tatsächlich stellte ich fest, dass wir beide inzwischen beinahe dieselbe Statur hatten.

„Du siehst klasse aus.“

Sie hielt mich auf Armeslänge von sich und nickte anerkennend. Ich trug die schwarze Lederhose, weil ich gehofft hatte, sie würde mir etwas Selbstvertrauen verleihen. Und das tat sie. Ich lächelte.

„Das Kompliment kann ich nur zurückgeben!“

Sie sah gesund aus. Richtig gesund und glücklich.

„Ich bin so froh, dass du gekommen bist.“

Ihr langes blondes Haar war noch länger geworden und reichte ihr nun fast bis zum Hintern. Sie trug es offen und einzelne Strähnen flatterten bei jeder ihrer Bewegungen hin und her. Mir wurde bewusst, wie nervös sie war. Ich nahm ihre Hand, um sie zu beruhigen.

„Herrje, du bist ja genauso aufgeregt wie ich.“

All meine Befürchtungen waren umsonst gewesen. Es fühlte sich an, als wäre sie nie weg gewesen. Ihre Hand in meiner fühlte sich so vertraut an. Kein krampfiges Verhalten, kein blödes Gestotter. Nur die Aufregung. Wir lachten und hörten uns beinahe gleich an. Das hatte sich über die Jahre wohl so entwickelt.

„Ich war mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob du kommen würdest. Jetzt bin ich so erleichtert.“

Ich gab ihr die Blumen, die ich beinahe vergessen hatte.

„Die machen's wohl nicht mehr lange“, sagte ich bei dem Anblick der zerdrückten Blüten.

„Ich finde sie wunderschön!“ Natalie nahm ein Glas und hielt es unter den Wasserhahn – sie hatte ein Waschbecken in einer Ecke des Zimmers.

„Ich habe leider keine Vase, also...“

Ich winkte ab und sah mich um. Der Raum war nicht riesig, aber hübsch. Es gab einen Kleiderschrank, ein großes Bett und einen Schreibtisch, der direkt vor dem Fenster stand. Von hier aus hatte sie Aussicht auf ein kleines Waldstück.

„Hübsch hast du es hier.“ Ich sagte es nicht nur aus Nettigkeit, das Zimmer gefiel mir wirklich. Aber trotzdem fehlte irgendetwas. Ein Detail, das ich nicht benennen konnte.

„Es gibt keinen Spiegel.“ Sie hatte meinen inspizierenden Blick bemerkt.

„Als ich das erste Mal hier drin war, kam es mir auch so vor, als würde irgendetwas fehlen. Aber ich konnte nicht gleich sagen, was es war. Ich habe zwei geschlagene Stunden gebraucht, um daraufzukommen.“

Wir hatten die Fähigkeit nicht verloren, uns ineinander hineinzuversetzen.

„Wow. Das ist... Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich das finden soll.“ Ich trat ans Fenster und sah nach unten auf eine große Terrasse mit mehreren Sitzmöglichkeiten. Ich musste mir ins Gedächtnis rufen, wo ich hier war, ansonsten hätte ich glauben können, ich wäre im Urlaub.

„Es ist hilfreich.“ Nat stellte sich neben mich und sah ebenfalls hinaus. „Und absolut nervig. Wollen wir rausgehen? Das Wetter ist so schön.“

Ich nickte überschwänglich.

„Ja, gern.“
 

Außer uns war niemand draußen, was mich ziemlich wunderte.

„Die meisten sind beim Baden. In der Nähe des Waldes gibt es einen kleinen Tümpel.“ Sie rümpfte die Nase. „Mich würden da keine zehn Pferde reinkriegen. Das Wasser ist so trüb, dass man nicht mal den eigenen Körper sieht, wenn man darin schwimmt.“ Die Vorstellung ließ uns beide erschaudern.

„Na lecker.“

„Ja. Aber sonst ist es echt schön da. Ich war dort oft mit Angus.“

Beim Erwähnen seines Namens stahl sich ein breites Grinsen auf ihre Lippen.

„Er muss ja ein toller Typ sein. Erzähl mal. Wie ist er so?“

Ich würde jeden Kerl vergöttern, der Natalie über – ich will seinen Namen nicht in den Mund nehmen – IHN hinweggeholfen hatte. Also hatte Angus so oder so einen Stein bei mir im Brett.

„Er macht viel Sport. Weil er es mit der gesunden Ernährung etwas übertrieben hat, ist er hier gelandet. Er kam erst nach mir an. Eigentlich musste er eher lernen, weniger zu trainieren, als mehr zu essen.“

In meinem Kopf bildete sich aus irgendeinem Grund ein Bild von einem drahtigen Balletttänzer mit engen Strumpfhosen und blutigen Zehen.

„Was für Sport treibt er denn?“, fragte ich, um dieses Bild schnellstmöglich loszuwerden. Natalie zählte an den Fingern ab.

„Leistungsturnen. Kajakfahren. Marathonlaufen. Und Schwimmen.“

Der Balletttänzer verformte sich in einen muskulösen, etwas kleineren Typen mit breiten Schultern und schmalen Hüften.

„Hast du ein Foto?“

Sie kramte in ihrem Geldbeutel nach einem gefalteten Polaroid. Es zeigte sie beide auf einer Picknickdecke auf einer Wiese. Sie lächelten breit in die Kamera, Nat hatte ihren Kopf an seine Schulter gelehnt. Er sah vollkommen normal aus. Kurz geschorene, dunkelblonde Haare, ein nettes Lächeln und etwas kleine, braune Augen. Seine Arme waren muskulöser und auch die für Turner übliche Nacken- und Schultermuskulatur war gut ausgeprägt. Ich konnte ihn mir an diesem Ort gar nicht vorstellen. Er passte nicht hierher. Ich hatte vorhin auf dem Flur ein paar andere Gestalten gesehen, die ungesund aussahen, mit blasser, beinahe durchschimmernder Haut, hängenden Schultern und dürren Gliedern. Aber wie Natalie in ihrem Brief geschrieben hatte: Es war wohl ein Vorurteil, dass nur Mädchen, und Menschen die aussahen, als wären sie kurz vor dem Hungertod, eine Essstörung hatten.

„Er sieht sympathisch aus.“

„Ist er. Sehr charmant. Er will dich unbedingt kennenlernen.“

Ich zog die Augenbrauen hoch.

„Mich? Wieso das denn?“

Sie zuckte unschuldig die Achseln.

„Ich habe vielleicht ein oder zwei Worte über dich verloren.“

Sie biss sich auf die Zunge und grinste.

„Ja, Jesse hat auch -“ Ich verstummte mitten im Satz. Ich hätte ihn nicht erwähnen sollen. Jedoch war mir durchaus bewusst, dass Natalie irgendwann bestimmt auf das Thema zu sprechen gekommen wäre.

„Was hat Jesse auch?“, hakte meine ehemals beste Freundin nach – wahrscheinlich war sie es immer noch, teilte sich jetzt den Platz mit meiner Schwester.

„Ach, nichts.“ Ich wollte wirklich keine schlechte Laune verbreiten, deshalb wimmelte ich das Thema ab. „Dein Bruder ist ein verdammt guter Fotograf geworden. Hat er dir schon mal Bilder gezeigt?“

„Ja, von Zero zum Beispiel.“ Sie ließ mich das Thema nicht abhaken.

„Er hat mir auch gesagt, welcher Jesse ist.“ Sie pfiff leise.

„Lea, da hast du echt einen guten Fang gemacht.“

Ich unterdrückte ein Seufzen.

„Sollte man meinen“, sagte ich mehr zu mir selbst, aber Natalie ging sofort darauf ein.

„Was ist los?“

Fast hätte ich gesagt, ich wolle nicht darüber reden und es ginge sie überhaupt nichts an. Aber ich war schließlich hergekommen, um unsere Freundschaft wiederherzustellen. Und das funktionierte nur, wenn ich über meinen Schatten sprang und mich ihr anvertraute.

„Ärger im Paradies.“ Ich nahm einen Schluck von dem selbstgemachten Eistee, den wir von einer netten Dame in der Kantine bekommen hatten.

„Ich weiß ehrlich gesagt nicht genau, wo ich anfangen soll. Es lief eigentlich alles super, bis zu seinem Geburtstag. Ich habe ziemlich Scheiße gebaut. Ich war mit seiner Tochter in der Küche und habe kurz nicht aufgepasst und da hat sie sich in den Finger geschnitten.“

Wer Kelly war, musste ich glücklicherweise nicht mehr erklären. Das hatte ich schon in einem meiner Briefe getan. Doch von dem Unfall zu reden, machte mir schon wieder ein schlechtes Gewissen.

„Es war zwar nicht so schlimm, aber es hat ziemlich heftig geblutet und Jesse ist total ausgerastet. Ich meine, ist ja verständlich. Er hatte natürlich Angst um seine Tochter.“

Natalie nickte zustimmend und kratzte sich am Kopf. Irgendwie wirkte sie nervös. War dieser Vorfall doch schlimmer, als ich zunächst angenommen hatte? Schockierte sie diese Geschichte so sehr?

„Naja, jedenfalls sind sie ins Krankenhaus gefahren und ich dachte, er sei ultra sauer auf mich. Aber am selben Abend habe ich mich noch bei ihm entschuldigt und er hat gesagt, es sei okay.“ Ich trank noch einen Schluck, weil mein Mund so trocken wurde. Die Angst, dass ich alles vermasselt hatte, stieg wieder in mir auf. „Am nächsten Tag haben wir dann eine seiner Verflossenen getroffen und ich bin total ausgetickt. Wir haben uns gestritten und angeschrien, und seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.“ Den Zwischenfall mit Jesses Eltern ließ ich erst mal weg. Es war auch so schon genug.

„Ich habe alles kaputtgemacht. Ich bin so ein Idiot!“

„Nein, hast du nicht.“ Natalie schüttelte den Kopf. Sie wollte mich aufbauen und trösten, was echt nett war. Aber sie kannte Jesse nicht. Sie hatte unseren Streit nicht miterlebt.

„Doch, habe ich. Glaub mir.“
 

Natalie ließ von ihrem Glas ab und beugte sich leicht über den Tisch.

„Tut mir Leid. Ich kann den Mund einfach nicht halten. Ich hab's versprochen, aber wenn ich sehe, wie fertig du dich machst, halte ich das echt nicht aus.“

Das Fragezeichen in meinem Gesicht musste Rekordgröße haben.

„Wovon redest du?“

Natalie atmete tief durch und gab damit ihren letzten Widerstand auf.

„Es ist nicht zu spät. Ich weiß, dass nicht alles verloren ist, weil er es mir selbst gesagt hat.“

Mir war klar, was sie da gerade sagte, aber ich verstand es nicht.

„Er war hier“, erläuterte Nat. „Er war hier und hat mit mir gesprochen.“ Das Einzige, was mir dazu einfiel war: „Wann?“

„Es muss kurz nach eurem Streit gewesen sein. Am Dienstag.“

Ich schüttelte den Kopf. Mir hatte es echt die Sprache verschlagen.

„Wir haben über euren Streit geredet. Erst mal hat er sich mir vorgestellt und praktisch seine gesamte Lebensgeschichte vor mir ausgebreitet. Das mit Kelly und Eleonore. Die Probleme mit seiner Mutter. Aber hauptsächlich war er wegen dir hier. Er wollte wissen, ob ich ihm helfen würde, alles wieder hinzukriegen.“

Ich schnappte ungläubig nach Luft. Hatte Jesse das wirklich getan? Kam extra hierher, weil er wusste, dass Natalie mich wie keiner sonst kannte, zog sich - metaphorisch gesprochen - bis auf die Unterhose vor ihr aus. Aber das Beste an der ganzen Sache: Auch er wollte alles wieder ins Lot bringen. Er wollte noch immer mit mir zusammen sein. Ich spürte, wie ein Knoten in meiner Brust platzte und fühlte mich sofort leichter.

„Was hast du ihm gesagt?“

Jetzt überkam Natalie Verschwiegenheit.

„Das werde ich dir ganz bestimmt nicht verraten. Nur so viel: Du wirst ihm garantiert um den Hals fallen.“

Dieses Wechselbad der Gefühle war unerträglich. Erst war ich traurig wegen Jesse, dann erschüttert wegen seiner Eltern, dann erleichtert, weil mit Natalie alles so gut klappte, und jetzt völlig aufgeregt aufgrund der hoffentlich bald bevorstehenden Versöhnung mit Jesse.

„In Natura sieht er übrigens noch besser aus.“

Ich könnte Natalie löchern und ihr entlocken, was sie genau besprochen hatten. Aber eigentlich wollte ich mir die Vorfreude und die Überraschung gar nicht nehmen lassen.

„Ich weiß“, sagte ich deshalb nur, konnte jedoch ein breites Grinsen nicht zurückhalten. Natalie seufzte theatralisch.
 

„Eigentlich schade. Ich dachte immer, du hättest eine Schwäche für meinen Bruder. Hättest du dir Kasper geschnappt, wären wir so was wie Schwestern.“

Ich schnalzte mit der Zunge.

„Tja, vor zwei, drei Jahren hätte ich sofort Ja gesagt, hätte er mich um ein Date gebeten. Jetzt ist es leider zu spät.“

Wie froh war ich, dass es nicht so gekommen war. Sonst hätte ich Jesse niemals kennen -, oder zumindest nicht lieben gelernt. Auch wenn alles verdammt verkorkst und kompliziert war, wollte ich um nichts auf der Welt einen anderen.

Natalie und ich plauderten bis in die frühen Abendstunden und als sich der Himmel langsam orangerot färbte, verabschiedeten wir uns herzlich und versprachen, bald wieder zu schreiben, oder uns zu treffen.
 

Als ich im Auto saß und den ereignisreichen Tag Revue passieren ließ, fiel mir auf, dass wir kein einziges Wort über die vergangene Funkstille verloren hatten. Nicht, weil uns das Thema unangenehm war, sonder weil wir es bereits überwunden hatten. Wir hatten beide eine dunkle Zeit durchgemacht, aber wir hatten uns unabhängig voneinander wieder aufgerappelt. Wir hatten unsere eigenen Leben und waren dennoch miteinander verbunden. Das war ein gutes Gefühl.

Ein ebenso gutes Gefühl hatte ich, wenn ich an Jesse dachte. Noch immer konnte ich es nicht fassen, dass er zu Natalie gegangen war, um sie um Rat zu bitten. Das zeigte mir, wie wichtig ich ihm war. Und weil ich an unserem Streit genauso beteiligt gewesen war wie er, wollte ich mir etwas überlegen, um es wiedergutzumachen. Ich hatte auch schon eine Idee. Aber dazu benötigte ich Tammys Einverständnis.

In letzter Zeit sahen wir uns nicht mehr so häufig, da sie viel mit Jen um die Häuser zog, um Brandon zu vergessen. Ich hatte ihr nichts von meinen Schwierigkeiten mit Jesse erzählt, weil ich sie nicht zusätzlich belasten wollte. Sie hatte mir in der Vergangenheit so viel gegeben, da hatte sie jetzt etwas Ruhe und Frieden verdient. Zumindest wollte ich nicht mehr der Auslöser für ihre Sorgen sein. Glücklicherweise war sie heute Abend zuhause. Ich klopfte mit dem Fuß an ihre Zimmertür, weil ich in den Händen die inzwischen zur Routine gewordenen Tassen trug, aus denen heißer, süß duftender Kakaogeruch aufstieg.
 

„Komm rein.“ Tammy nahm das Getränk freudig entgegen. „Danke dir.“ Sie klappte das Buch zu, das sie gerade las. Irgendeine abstruse Geschichte über einen uralten Greis, der in der Welt herumschipperte, und einen Elefanten. Sie sah mich auffordernd an, während sie an ihrem Kakao pustete. Ich meinerseits verwendete ebenfalls ein nonverbales Kommunikationsmittel und hob meine Augenbrauen.

„Muss ich dir das echt aus deiner gepiercten Nase ziehen?“

Ich hatte mir übrigens nicht wirklich ein Loch stechen lassen. Es war nur ein abnehmbares magnetisches Piercing. Bisher hatte ich das aber noch keinem verraten und fand die Reaktionen äußerst amüsant.

„Wie war's?“

Ich lächelte breit. Wenn ich meinen aktuellen Gemütszustand beschreiben müsste, wäre die Antwort: Glücklich. Genau in diesem Moment war ich glücklich.

„Es lief prima“, sagte ich und nahm erst einmal einen großzügigen Schluck aus meiner Tasse, um meine Schwester auf die Folter zu spannen.

„Ist das alles, was ich kriege? Jetzt erzähl schon!“ Sie stupste mich am Bein und ich musste über ihre Ungeduld lachen. Dabei erinnerte sie mich ziemlich an Kelly, auch in dem trotzigen Blick, den sie mir jetzt zuwarf.

„Das Haus ist wunderschön.“ Ich wollte nicht Anstalt oder Klinik sagen., das klang so negativ. „Es hat sich angefühlt wie Urlaub. Und Natalie geht's sehr gut. Sie kann wohl bald entlassen werden. Das heißt, eigentlich dürfte sie inzwischen selbst bestimmen, wann sie nach Hause geht, aber die Ärzte raten ihr, noch ein bisschen zu warten, zur Sicherheit. Im Alltag wird es dann nochmal schwieriger, daran muss sie sich erst wieder gewöhnen. Aber sie sieht echt klasse aus, richtig gesund. Und irgendwie... ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Lebensfroh, ja, das trifft es am ehesten. Wir haben uns super verstanden. Es war fast wie früher. Ich habe mich total wohlgefühlt mit ihr.“

Tammy nahm meine Hand und drückte sie.

„Das freut mich so für dich. Für euch beide. Ich, eigentlich wir, also Mom und Dad auch, waren ehrlich gesagt ein bisschen besorgt, ob dir das wirklich guttut.“ Sie atmete tief aus, als würde ihr eine schwere Last von den Schultern fallen.

„Ich weiß. Tut mir Leid, dass ihr euch immer so viele Sorgen um mich macht. Aber mir geht es fantastisch. Wirklich.“ Ich wollte sie auf Brandon ansprechen, ob sie ihn inzwischen abgehakt hatte, aber ich wollte keine alten Wunden aufreißen.

„Wie war die Party am Wochenende?“, fragte ich stattdessen. Vielleicht erzählte sie ja etwas über einen neuen Kerl, den sie interessant fand.

„Oh. Wir sind gar nicht ausgegangen. Wir haben uns eine Schnulze reingezogen und sind um halb zwölf eingepennt.“

Ich war froh, Jen an Tammys Seite zu wissen. Da ich viel zu beschäftigt mit mir selbst war, brauchte sie ein offenes Ohr und eine starke Schulter.

„Wir sollten mal wieder zusammen weggehen. Wir drei, meine ich. Das letzte Mal ist schon viel zu lange her.“ Ich sagte das nicht nur, um sie auf andere Gedanken zu bringen, ich vermisste wirklich unsere gemeinsamen Abende.

„Bist du nicht viel zu beschäftigt damit, verliebt zu sein?“

Eine Sekunde lang überlegte ich ernsthaft, ihr die Wahrheit zu sagen, das ganze Chaos vor ihr auszubreiten, aber ich schluckte es herunter. Das hatte Zeit. Außerdem hatte ich ja vor, mich mit Jesse zu versöhnen.

„Hey, wo wir gerade davon reden. Hast du noch deine Gitarre, du weißt schon, die du von Dad zum Geburtstag gekriegt hast.“

Tammy runzelte die Stirn.

„Stimmt. Zum zwölften, glaube ich. Das hätte ich fast vergessen. Ich habe sie nie angerührt. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wo sie ist. Wahrscheinlich im Keller.“

Ich nahm ihre Hand, wohlwissend, dass ich nicht das Recht hatte, sie erneut um einen Gefallen zu bitten.

„Kann ich sie haben? Ich gebe dir auch das Geld dafür.“

So eine Gitarre war verdammt teuer, das wusste ich. Instrumente waren eine kostspielige Anschaffung. Zwar hatte ich keine Ahnung, wie ich Tammy bezahlen sollte, aber endlich hatte ich ein Geschenk, über das sich Jesse bestimmt freuen würde, und für das ich mich nicht schämen musste. Tammy winkte ab.

„Du musst mir das Geld nicht geben. Ich kann sie sowieso nicht gebrauchen. Bei Jesse ist sie bestimmt in besseren Händen.“

Erstaunt sah ich sie an.

„Woher wusstest du -“

Meine Schwester grinste nur und zuckte mit den Schultern.

„Komm schon, Lea. Das war nun wirklich nicht schwer zu erraten. Was ist aus deinem Geschenk geworden? Hat es ihm nicht gefallen?“

„Der Gutschein hat anderweitig Verwendung gefunden“, sagte ich ausweichend. Tammy schlug eine Hand vor den Mund.

„Oh mein Gott, bitte sag mir nicht, ihr habt euch so ein bescheuertes Pärchen-Tattoo stechen lassen.“

Ich schüttelte lachend den Kopf.

„Nein, nicht direkt. Needle macht auch Piercings.“ Ich tippte an meine Nase, in der der falsche Piercing steckte. „Ich habe ihm den Gutschein nicht gegeben. Irgendwie fand ich die Idee plötzlich doof.“ Ich löste den Magnetstecker, wischte ihn an meiner Hose ab und zeigte ihn meiner Schwester.

„Der ist gar nicht echt“, erkannte sie, während sie ihn fasziniert in den Händen drehte. „Mach ihn wieder rein. Er passt irgendwie zu dir.“

Ich stand auf und stellte mich vor ihren Kleiderschrank, an dessen Mittelteil ein Spiegel war, und steckte den Piercing an die Nase. Noch immer fühlte es sich komisch an, etwas in der Nasenhöhle zu haben, aber man gewöhnte sich schnell daran. Needle hatte recht. Mir stand dieser kleine Schmuckstein wirklich ausgezeichnet. Er hatte mir geholfen, ihn auszusuchen. Trotzdem würde er mich niemals zu einem echten Loch überreden können.

Ich beschloss, den Piercing zu tragen, wenn ich zu Jesse ging, um ihn ein wenig zu ärgern. Natürlich wollte ich mich wieder mit ihm versöhnen, aber sein Gesicht wollte ich um nichts auf der Welt verpassen. Ich drehte mich um und gab meiner Schwester einen Kuss auf die Wange.

„Danke für die Gitarre. Ich lasse mir was einfallen, um das wiedergutzumachen.“

Tammy winkte ab und meinte, wir wären quitt, wenn ich ihr bis zum Ende ihres Lebens jeden Abend einen Kakao ans Bett brachte.

„Das lässt sich einrichten“, ließ ich mich auf den Deal ein und umarmte sie.

„So. Und jetzt wünsch mir Glück. Ich rede mit Mom und Dad und sage ihnen, dass sie um hundert Ecken irgendwie Großeltern sind.“

Diesen Entschluss hatte ich auf der Fahrt gefasst. Wenn ich wieder mit Jesse zusammen sein wollte - um Himmels Willen, ich hoffte, wir waren momentan nicht wirklich getrennt – durfte es keine Geheimnisse mehr geben. Mir war durchaus bewusst, die beiden damit ziemlich zu schockieren und bestimmt würden sie mich bitten, mir das Ganze nochmal gut zu überlegen. Aber genau das war nunmal das Leben, das ich führen wollte. Sie waren Teil meiner Familie. Jesse und Kelly. Greg, Lydia und Betty. Helen und Pete. Und auch mit Walt und Marissa würde ich mich irgendwie arrangieren. Ich wollte das. Genau das. Mit Leib und Seele. Nichts und niemand konnte mich davon abbringen. Auch nicht meine Eltern.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Silberwoelfin
2017-10-07T04:33:34+00:00 07.10.2017 06:33
Huhu
So nach einer langen Woche bei der ich viel Geschäftlich unterwegs war und dann auch noch krank, endlich mein Kommentar.

Maaan also das Greg von der Sache mit den Drogen wusste... und Jesse auch ganz schön heftig.
Was wohl in Jesse deswegen vorgeht und wie er wohl zu ihm steht? Immerhin scheint es zumindest Grund genig gewesen zu sein um nicht auf den Geburtstag zu gehen.
Wobei Jesse dazu vermutlich eh wenig Lust hatte.
Ob Lydia schon davon gewusst hat oder ob die zum ersten mal davon gehört hat?

Und endlich gab es den lang erwarteten Besuch bei Nat.
Schön das doe zwei sich immer noch so gut verstehen und das Nat bald wieder nach Hause
darf. Das kein Spiehel im Zimmer ist wäre mir vermutlich nicht aufgefallen, ich hab auch keinen wirklich.
Aber das Jesse zu Nat gekommen ist hätte ich echt nicht erwartet, dache schon fast es gibt keine Happy End mehr.
Und das Jesse Nat auch noch so bereitwillig von seinem Leben erzählt. Ich bin echt gespannt da boch kommt, freu mich schon richtig drauf.
Wie Jesse wohl auf sein neues Geschenk reagiert? Und Leas Eltern auf ihr Geständnis das sie Großeltern sind :D
Hoffentlich geht es auch Tammy bald besser.



So und jetzt, sag mir bitte das es rine Fortsetzung von der Geschichte gibt T.T
Es sind doch noch so viele Punke offen.ä:
- wie klappt es wenn Nat heim darf
- wie verläuft das Zreffen mit Angus
- was wird aus Kasper und Betty
- wie reagieren Jesse Rlter darauf das Lea bescheid weiß
- was wird aus Zero
- gesteht Ty Ezra noch seine Gefühle
-Hochzeit von Greg und Lydia
- wann kann Jesse Kelly zu sich nehmem
Und vor allem wie geht es bei Lea und Jesse weiter

Biiiiitte schreib weiter...

Gruß Silberwölfin


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