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Life is precious

Das Leben ist wertvoll
von

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Neunzehn Tage

Tag 1
 

Die Krankenschwester fragte ihn zum wiederholten Mal, ob sie ihm irgendwie helfen konnte, und bat ihn, sich von einem Arzt ansehen zu lassen. Doch Jesse wollte keinen Arzt. Er wollte keine Hilfe. Er wollte gar nichts mehr. Er hörte Helen schluchzen und wünschte sich, sie würde damit aufhören. Auch die Stimme der Krankenschwester klang unangenehm laut in seinen Ohren, obwohl sie ganz sanft mit ihm sprach. Es war, als wäre er auf einmal für alles empfänglicher geworden. Er nahm alles viel genauer wahr, seine Sinne waren geschärft. Er fühlte die Kälte an seinem Rücken, weil er schon seit Stunden auf dem kalten Boden des Krankenhausflurs saß, gegen kalte Fliesen gelehnt; er fühlte die Gänsehaut, die seine Arme entlangkroch, die sich aufstellenden Härchen, das Dröhnen in den Ohren, sogar die Schwingungen der Schallwellen an seinem Trommelfell. So kam es ihm zumindest vor. Er spürte sein Herz schlagen und das Blut durch seine Adern rauschen. Er spürte, wie sich seine Lungen mit Sauerstoff füllten, wie sich sein Brustkorb beim Einatmen dehnte, wie sich seine Augen röteten, weil er zu wenig blinzelte.

Er fühlte so viel auf einmal, und doch war er gleichzeitig leer. Es war, als hätte man sein Herz herausgerissen, und trotzdem schlug irgendetwas in ihm weiter, ein schwarzes Loch, das seinen Körper langsam aber sicher vergiftete. Niemals würde er aus dieser Starre erwachen.

Wenn er einfach genauso blieb, würde diese unendliche Leere weitergehen, immer weiter, und er müsste nie wieder den Schmerz spüren, der ihn vor einiger Zeit so gnadenlos überspült hatte wie eine meterhohe Welle, die direkt über ihm zusammenbrach. Er hätte gerne geschrien, als das passiert war, doch sein Hals war wie zugeschnürt gewesen; er war in seinem eigenen Körper gefangen, obwohl er hatte zerbersten mögen.

Schmerz in jeder Sehne, in jeder Zelle seines Körpers und ein Zittern, das ihn ergriff und von den Beinen riss.

Dann hatte sich irgendwann diese Taubheit eingestellt. Benommen, wie er war, hatte er für mehrere Sekunden aufgehört zu existieren. Hatte nicht gedacht, nicht gefühlt. Vielleicht nicht einmal geatmet. Eine Erlösung. Aber dieser Zustand hielt leider nicht lange an.
 

Tag 2
 

Es kam Jesse nicht richtig vor, am Leben zu sein. Noch bevor er die Augen öffnete, verfluchte er sich dafür, dass er noch immer atmete. Gäbe es eine Möglichkeit, würde er sofort mit Eleonore tauschen. Sie hatte es nicht verdient, diese Ungerechtigkeit. Doch so lange er auch darüber nachdachte und versuchte, zu verstehen, es gab einfach keine plausible Antwort. Zur Hölle mit Gott und dem Schicksal. Es gab keinen größeren Plan, keinen Weg, der einem vorbestimmt war. Elly war einfach tot. Ihr Herz hatte aufgehört zu schlagen. Und sie würde nicht an einen besseren Ort kommen, in den Himmel, das Nirwana, oder was auch immer. Sie wurde nicht von ihren Sünden erlöst und wachte nicht von oben wie ein Engel über diejenigen, die sie zurückgelassen hatte. Ihr Körper war kalt und starr und würde bald anfangen zu verrotten. Ihre Haut würde grau werden und sie würde in sich zusammenfallen. Sie konnte ihn nicht mehr hören, wenn er zu ihr sprach, und Jesse konnte auch nicht ihre Anwesenheit spüren. Sie würde nicht für immer in seinem Herzen sein und darin ewig weiterleben. Sein Herz hatte sich nämlich aufgelöst, hatte sich in alle vier Winde zerstreut, wie Asche. Geblieben war nur das schwarze Loch.
 

Tag 3
 

Jesse musste dringend aufs Klo. Seine Blase war zum Bersten voll. Hätte jemand gegen seinen Unterleib gedrückt, war er sicher, dass sich sein Organ einfach entleert hätte. Einige Minuten überlegte er sogar, ob er es einfach passieren lassen sollte, dem Druck nachgeben. Was machte es schon, wenn er sich einnässte. Er war sowieso im Krankenhaus. Die waren das gewöhnt. Vielleicht würden sie ihm eine Windel anziehen. Aber nicht einmal das konnte ihn abschrecken. Er besaß keinen Stolz mehr, weil er nicht mehr existierte.

Doch seine volle Blase erinnerte ihn schmerzlich daran, dass das nicht stimmte. Er lebte noch, atmete noch, existierte noch. Er konnte nicht einfach damit aufhören, so wie Eleonore. Das schwarze Loch in seiner Brust zog sich für einen Moment zusammen und zog an seinen Nerven. Letztendlich raffte er sich doch auf und stieg aus dem Bett. Er war schwach und ihm war schwindelig, weil er seit zwei Tagen weder gegessen, noch getrunken hatte. Gleichzeitig fühlte er sich aber auch ganz leicht, als würde er schweben und die Schwerkraft hätte keinen Einfluss mehr auf ihn. Dafür, dass er sich besser fühlte, nachdem er sich erleichtert hatte, verabscheute er sich. Er verabscheute sich dafür, überhaupt etwas zu fühlen.
 

Tag 4
 

Lydia, seine Krankenschwester, betrachtete seufzend sein unberührtes Essen. Sie war ziemlich jung, nur ein paar Jahre älter als er. Von allen hier war sie am erträglichsten. Sie hielt ihm keine endlosen Vorträge, stellte ihre Forderungen nur einmal, diese dafür aber umso nachdrücklicher. Trotzdem ignorierte er sie. Er war zu müde, um Mitleid mit ihr zu haben, oder sich für sein Verhalten zu schämen.

„Du hast Besuch.“ Es war Greg, nicht wie erwartet Pete oder Helen, die in den letzten Tagen öfter nach ihm gesehen hatten.

„Jesse.“ Sein Bruder eilte zu ihm ans Bett und erschrak, als er ihn genauer betrachtete. Jesse konnte es ihm nicht verdenken. Er sah bestimmt furchtbar aus. Sicher konnte er sich jedoch nicht sein, da er sich bisher nicht die Mühe gemacht hatte, in den Spiegel zu schauen. Wahrscheinlich roch er auch nicht gerade angenehm. Die Dusche hier hatte ihn noch nicht zu Gesicht bekommen. Alles sinnlos. Unnötig.

„Es tut mir so Leid, Jesse. Ich habe gerade eben erst davon erfahren. Ich wäre sofort hier gewesen... Wie geht es dir? Und dem Baby?“

Jesse wandte die Augen von seinem Bruder ab. Er sollte es nicht erwähnen. Er wollte nichts damit zu tun haben. Er gab dem Kind keine Schuld. Eleonore war nicht seinetwegen gestorben. Ihretwegen. Es war ja ein Mädchen. Aber Jesse interessierte sich einfach nicht dafür. Er konnte kein Vater für das kleine Ding sein. Er konnte gar nichts sein, für niemanden. Er war zerstört, defekt, wie ein kaputtes Uhrwerk. Er funktionierte nicht mehr richtig. Das kleine Mädchen würde es ohne ihn besser haben.

„Jesse?“ Greg hörte sich sehr besorgt an und legte eine Hand auf seine Schulter, doch obwohl er nicht wollte, dass sich sein Bruder Sorgen machte, brachte er den Mund einfach nicht auf. Er konnte nicht reden. Wozu auch? Es würde Elly nicht zurückbringen.

„Dem Baby geht es gut“, antwortete Lydia für ihn und drückte Greg das Essenstablett in die Hand.

„Ihr Bruder steht unter Schock. Er spricht momentan nicht. Aber vielleicht bringen Sie ihn dazu, etwas zu essen. Wenn nicht, essen Sie es selber.“ Damit ließ sie die beiden allein.

„Du willst mir das doch nicht wirklich antun, oder?“, fragte Greg mit angewidertem Blick auf das Essen. Jesse lächelte nicht.
 

Tag 5
 

„Komm schon, du musst was essen. Du musst wieder zu Kräften kommen, damit du dein Baby sehen kannst. Solange sie in diesem Glaskasten steckt, können sie sie nicht zu dir bringen.“

Greg packte fettig riechende Pommes und einen Burger aus seinem Rucksack.

„Ich verstehe ja, dass bei dem Krankenhausfraß nicht gerade Appetit aufkommt, aber einem Burger wirst du ja wohl kaum widerstehen können, oder?“

Jesse sah aus dem Fenster und beobachtete einen Vogel dabei, wie er auf dem Ast eines nahe gewachsenen Baumes herumhüpfte.

„Wenn du nicht isst, dann rede wenigstens mit mir. Oder mach was kaputt. Du kannst dich auch an meiner Schulter ausweinen, ist mir egal. Aber mach irgendwas!“

Jesse hätte seinem Bruder gerne gesagt, dass er seine Energie nicht an ihn verschwenden sollte, weil er innerlich sowieso so gut wie tot war. Er war die Mühe nicht wert. Aber jedes Wort von ihm ließ Greg, Helen und Pete vielleicht neue Hoffnung schöpfen. Falsche Hoffnung.

„Ich bin zwar der Onkel, aber ich kann nicht mit Kindern umgehen. Du musst wieder auf die Beine kommen. Außerdem verzeihe ich es dir nie, wenn deine Krankenschwester mich wieder zwingt, dein Essen aufzuessen.“

Genau in diesem Moment kam Lydia herein.

„Tag, Schwester“, begrüßte Greg sie höflich. Sie nickte nur kurz und übersah großzügig die McDonaldstüte auf dem Tisch neben Jesses Bett.

„Wenn du heute nichts isst, müssen wir dir eine Sonde legen und du wirst künstlich ernährt. Ich an deiner Stelle würde mir das gut überlegen. Man weiß nie so genau, was sie da in einen reinpumpen.“ Sie schnappte sich eine Pommesstange, öffnete das Fenster und drehte sich im Hinauslaufen nochmal um.

„Vielleicht tut dein Bruder uns ja einen Gefallen und spritzt dich mit einem Gartenschlauch ab. Du bist nicht gerade Hugo Boss.“
 

Tag 6
 

„Bruder, ich hoffe du bist jetzt nicht gleich sauer auf mich. Ich habe Mom erzählt, was passiert ist. Sie hat gesagt, sie kommt dich heute besuchen.“

Jesse warf Greg einen giftigen Blick zu. Er war nicht gerade erfreut über diese Information. An Gregs wartender Haltung bemerkte er, dass dieser damit gerechnet hatte, mit seiner Offenbarung endlich zu ihm durchzudringen, ihn zum Reden zu bringen. Aber nicht einmal der Gedanke an seine Mutter konnte in ihm irgendeine Regung auslösen. Sie hatte dumme Sachen gesagt in der Vergangenheit, aber es kam ihm nun wie eine Kleinigkeit vor, verglichen mit seinem Verlust.
 

Tag 7
 

Da er gestern ein paar Bissen heruntergewürgt hatte, blieb ihm die Essenssonde erspart. Appetit verspürte er trotzdem nicht. Er musste sich zwingen, jedes einzelne Körnchen zu schlucken. Schmecken tat es dabei nach nichts. Es war, als wären seine Geschmacksnerven einfach abgestorben. Er hätte auch auf Dreck herumkauen können und hätte den Unterschied nicht bemerkt.

Seine Mutter war gestern nicht erschienen, was Greg ganz fahrig gemacht hatte. Wahrscheinlich war ihr ein wichtiges Meeting dazwischengekommen. Oder ihr Ehemann hatte sie davon abgehalten, zu ihm zu gehen. Es war Jesse einerlei. Ob er nun Gesellschaft hatte, oder nicht, war ihm ganz egal. Es machte für ihn keinen Unterschied.

Gregs Abwesenheit registrierte er zwar – sein Bruder musste wieder zurück in die Werkstatt -, fühlte aber nichts dabei. Weder Bedauern, noch Einsamkeit, noch Erleichterung, oder Enttäuschung. Jeder Tag war wie der andere und er wünschte sich nur, dass die Kette sich endlos aneinanderreihender Tage endlich abbrechen möge und er eines morgens einfach nicht mehr aufwachte.
 

Tag 8
 

Seine Mutter kam doch. Zu Jesses Erleichterung ohne Begleitung. Ihren Mann hätte er nicht ertragen, und Betty sollte ihn nicht in diesem Zustand sehen.

Er würde nie ihren schockierten Gesichtsausdruck vergessen, als sie schwungvoll die Tür öffnete und ihre Augen an ihm hängenblieben. Sie hatte ihre Mimik schnell wieder unter Kontrolle und kam zu ihm ans Bett. Sie betrachtete ihn von oben bis unten. Jesse überraschte es, dass er sich nach tröstenden Worten von ihr sehnte. Er erinnerte sich daran, wie er als kleines Kind hingefallen war und sie seine Schmerzen einfach weggepustet hatte. Er wünschte sich, sie würde noch immer diese Macht besitzen, ihn in den Arm nehmen, ihm versichern, es würde alles gut werden, und die letzten Tage ungeschehen machen.

Mach Elly wieder lebendig, hätte er beinahe gefleht, doch stattdessen schluckte er schwer, weil sich ein Kloß in seinem Hals gebildet hatte. Das größte Anzeichen von Emotionen in den vergangenen sieben Tagen.

Er musste sich zusammenreißen. Er wollte nicht wieder damit anfangen, zu empfinden. Er hatte sich in diese gefühllose Stille gerettet, die es ihm ermöglichte, zu atmen, ohne in Flammen aufzugehen.

Seine Mutter fuhr über sein Haar, das bestimmt ganz fettig war.

„Du siehst furchtbar aus“, sagte sie und packte Kleidung aus ihrer Tasche. „Hier. Zieh dich um. Dann gehen wir nach Hause und du kannst eine gescheite Dusche nehmen. Ich habe die Entlassungspapiere schon ausgefüllt.“

Jesse machte keine Anstalten, ihrer Aufforderung Folge zu leisten. Er blinzelte nur. Seine Mutter seufzte.

„Damit eins klar ist: Ich werde nicht dabei zusehen, wie du in Selbstmitleid badest. Du hast dich schon genug gehen lassen. Schau dich an. Du bist nur noch Haut und Knochen.“ Es stimmte, er hatte abgenommen, seine Haut schien sogar einen Ton grauer geworden zu sein. Seine Mutter hielt sich die Hand unter die Nase. „Und du stinkst.“ Charmant. Früher hätte er eine freche Bemerkung zu ihrem Kommentar abgegeben. Doch wie die letzten Tage auch, hüllte er sich jetzt in Schweigen. Er fand es irgendwie tröstlich, das ewige Genörgel seiner Mutter, den fachmännischen Ton, den sie so gut wie nie ablegte. Es gab ihm das Gefühl, dass sich die Welt trotz allem weiterdrehte. Sie warf die Klamotten auf seinen Schoß.

„Komm jetzt. Zieh dich an. Ich warte draußen auf dich.“ Jesse sah ihr hinterher, wie sie hinausstolzierte, die Absätze ihrer Schuhe auf dem Boden klappernd. Eine Weile saß er bewegungslos da, starrte nur an die Wand.

Irgendwann ging dann ein Ruck durch seinen Körper, ganz von allein, und er stand auf und tat, wie ihm geheißen. Als er in den Flur trat, frische Kleidung am Körper und die paar Habseligkeiten, die er hier gehabt hatte, in einem Müllbeutel verstaut, sagte seine Mutter kein Wort. Sie stand einfach auf und lief ihm voraus zum Auto. Während der Fahrt starrte er die ganze Zeit aus dem Fenster, ließ die Welt an sich vorbeiziehen, ohne wirklich etwas davon zu sehen. Es kam ihm seltsam vor, dass die Menschen auf der Straße sich ganz normal verhielten. Wussten sie denn nicht, was passiert war? Wussten sie nicht, dass Eleonore - nein. Nicht dieser Name. Nicht daran denken. Nicht fühlen. Das war leichter.

„Deine Schwester ist auf Klassenfahrt. Sie weiß noch nichts davon.“ Jesse liebte seine Schwester, war allerdings froh um diesen Umstand, denn er könnte ihren mitleidigen Blick im Moment nicht ertragen. Allein der Weg vom Auto ins Haus und die Treppen hinauf erschöpften ihn. Er ließ sich auf sein Bett sinken und wartete darauf, dass der Schwindel aufhörte.

„Ich mache eine Suppe. Nach dem Essen kannst du dich hinlegen.“ Er hatte gar nicht gemerkt, dass seine Mutter ihm gefolgt war. Er nickte nur, weil er hoffte, sie würde dann weggehen und er seine Ruhe haben. Nach wenigen Sekunden war er eingeschlafen.
 

Tag 9
 

Jesse war verwirrt, weil er sich kaum daran erinnerte, wie er in sein Zimmer gekommen war. Es war alles sauber. Seine Mutter musste aufgeräumt haben, als er vor mehreren Wochen das Haus überstürzt verlassen hatte. Seitdem war er nicht mehr hier gewesen. Ein komisches Gefühl. Es war schon so lange nicht mehr sein zuhause. Selbst in Gregs Bruchbude hatte er sich wohler gefühlt, auch sein Internatszimmer hatte er sich wohnlich eingerichtet gehabt, und bei Eleonore hatte er sich sowieso immer wie zuhause gefühlt. Das schwarze Loch in seiner Brust meldete sich wieder zu Wort. Er hatte es beinahe vergessen. Er versuchte, sich auf andere Dinge zu konzentrieren: Den Sonnenstrahl, der durch die Vorhänge brach – Marissa musste sie gestern noch zugezogen haben – und die Staubkörner, die im Licht flirrten. Jesse hörte das Plätschern von Wasser, ungewöhnlich laut, und Schritte. Seine Mutter öffnete die Tür, ohne vorher anzuklopfen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er sich deswegen aufgeregt hätte. Lappalien.

„Du bist wach. Gut. Ich habe dir ein Bad eingelassen. Danach wird gefrühstückt.“ Jesse war dankbar für ihre Autorität, dass sie ihm sagte, was er zu tun hatte. Ansonsten wäre er endlos so dagelegen und hätte gewartet – ohne zu wissen, worauf.
 

Tag 10
 

Auch wenn er es nicht zugeben wollte, hatte das Bad gestern gutgetan. Es hatte seine verspannten Muskeln etwas gelockert, seinen unangenehm werdenden Körpergeruch verschwinden lassen und für einige Zeit hatte er so empfunden, als hätte das Badewasser die Vorkommnisse der vergangenen Tage fortgewaschen. Als könnte er die Vergangenheit einfach abstreifen, wie eine zweite Haut. Aber leider war er kein Reptil. Und leider hörte sein Gehirn auch nicht auf, zu denken. So sehr er auch versuchte, seine Gedanken nicht in Eleonores Richtung wandern zu lassen, sie kamen doch immer wieder dort an, sie umkreisten ihn wie Aasgeier, die darauf warteten, zuzuschlagen.

Er konnte sich die Zeit nicht mit Lesen vertreiben, weil Bücher ihn an sie erinnerten, Fernsehen war auch keine Option, weil er dem Programm nie folgen konnte und immer wieder abschweifte. Auf einen Spaziergang hatte er keine Lust, wahrscheinlich war er sowieso noch zu schwach, um länger draußen zu sein. Stattdessen schnappte er sich seine Gitarre und zupfte ein wenig an den Saiten, bis ihm einfiel, wie Elly ihn immer angesehen hatte, wenn sie ihm dabei zusah. Sie hatte es geliebt, ihn singen zu hören, aber noch mehr hatte sie es genossen, ihm beim Gitarrespielen zuzusehen.

Es ist, als würdest du dabei in eine andere Welt entschwinden, hatte sie einmal gesagt. An einen Ort, den nur du allein kennst. Das macht mich ein bisschen eifersüchtig.

Jesse schmetterte das Instrument gegen die Wand. Er erschrak bei dem lauten Krachen, mit dem die Gitarre zerbrach.

„Nein!“ Es war das erste Wort, das seit langer Zeit über seine Lippen kam. Es war nur ein Flüstern, doch er wiederholte es immer wieder.

„Nein. Neinneinnein!“ Er kniete sich neben das zerschmetterte Holz und versuchte, die Stücke wieder zusammenzufügen. So viel Kraft hätte er sich gar nicht mehr zugetraut. Er hatte sie völlig zerstört. Ein scharfer Splitter schnitt ihm in die Haut, als er ihn berührte, doch das beachtete er gar nicht. Er versuchte, irgendwie zu retten, was noch zu retten war. Das Instrument war in der Mitte durchgebrochen, die Saiten hingen schlaff und ohne Spannung auf dem Boden.

„Nein. Nein.“ Sam öffnete schwungvoll die Tür und sah das Chaos, Jesse inmitten der Überreste, seine blutige Hand, die auf Instrument und Boden tropfte.

„Marissa. Komm her.“ Er packte Jesse an den Schultern und zog ihn von dem Missgeschick fort. „Zeig mir deine Hand.“ Jesse leistete keinen Widerstand, als Sam seine Hand ergriff und nach Splittern absuchte. Es war dieselbe, an der er einen Gips am kleinen Finger trug.

„Was machst du denn, Jesse?“ Er schüttelte den Kopf und machte ein besorgtes Gesicht, welches seine Mutter nie hinbekommen hätte. Zum ersten Mal kam Jesse der Gedanke, dass damals nicht Sam die treibende Kraft hinter seiner Mutter gewesen war. Sie ließ sich sowieso nie etwas sagen. Wie hatte er glauben können, Sam sei der Buhmann? Wahrscheinlich war es leichter, zu akzeptieren, dass nicht die eigene Mutter einen verraten hatte. Schnelle Schritte kamen die Treppe hinauf.

„Jesse!“ Marissa seufzte nur schwer, als sie das Chaos sah und schüttelte den Kopf. Sie machte sich wohl mehr Sorgen darüber, wer das hier wieder aufräumen würde, als um die Verletzung ihres Sohnes.

In diesem Moment begann Jesse wieder zu fühlen. Es kroch langsam durch seinen Körper hindurch und sammelte sich schließlich an seinem schwarzen Loch und setzte sich dort fest. Es war Enttäuschung.
 

Tag 11
 

Ein weißer Verband umhüllte seine linke Hand. Jesse hatte sich strikt geweigert, zurück ins Krankenhaus zu gehen und die Wunde behandeln zu lassen. Doch weil der Stoff immer wieder durchnässte und sich rot färbte, bestand seine Mutter schließlich doch auf einen Arzt. Sie füllte das Anmeldeformular aus, während Jesse und Sam Platz nahmen und warteten.

„Das könnte eine schöne Narbe geben.“ Im Gegensatz zu Marissa versuchte Sam nicht, ein Gespräch mit ihm zu führen. Er redete mit ihm, ja, aber erwartete niemals eine Antwort. Jesse war sehr dankbar dafür.

Seit er gestern angefangen hatte, wieder etwas zu empfinden, konnte er nicht mehr damit aufhören. Es waren Kleinigkeiten, die in Schüben kamen, aber manchmal trotzdem mehr, als er verkraften konnte. Hier, an einem öffentlichen Ort, war es noch schlimmer. Der Geräuschpegel machte ihn nervös, genauso wie die Absätze seiner Mutter. Der medizinische Geruch, der sich nicht aus seiner Nase vertreiben ließ, auch wenn er versuchte, ganz flach zu atmen, bereitete ihm Übelkeit. Und so viele Menschen auf einem Haufen konnte er schlicht nicht ertragen. Außerdem war es dasselbe Krankenhaus. Hier war es passiert.

Jesse begann, mit dem Fuß zu wippen, eine nervöse Angewohnheit, die er eigentlich schon lange abgelegt hatte. Er hätte jetzt auch gerne wieder mit Nägelkauen angefangen. Das war früher immer sehr beruhigend gewesen.

„Jesse.“ Helen. Oh nein. Sie kam auf ihn zu, gerade, als seine Mutter wieder zurückkam. Die beiden Frauen waren sich noch nie begegnet, und als sie jetzt voreinander standen, spürte man deutlich die geladene Energie, die zwischen ihnen strömte.

„Hallo. Ich bin Helen.“ Eleonores Mutter fasste sich schließlich als Erste ein Herz und reichte Marissa die Hand.

„Marissa. Mein aufrichtiges Beileid.“

Jesse stand auf, wollte nur noch weg von hier.

„Warte“, Helen fasste ihn sanft an der Schulter. „Willst du nicht deine Tochter sehen?“

Nein, das wollte er nicht. Er hatte Angst, dass sie ihr ähnlich sah, dass sie ihre Augen hatte, ihre Nase, ihr Lächeln. Er konnte sie nicht sehen, wollte sich nicht in sie verlieben, weil er kein Vater sein konnte. Momentan konnte er ja nicht mal für sich selbst sorgen.

„Was ist mit deiner Hand passiert?“ Jesse wollte Helen die Wahrheit sagen, presste aber stattdessen nur die Lippen aufeinander. Er wollte ihr nicht noch mehr Sorgen bereiten. Sie hatte schon genug Kummer. Und wenn sie erfuhr, wie schlecht es ihm noch immer ging, würde sie auch noch für ihn da sein wollen. Sie war so viel mehr eine Mutter für ihn, als die Frau, die ihn geboren hatte.

„Ein kleiner Unfall. Wahrscheinlich muss es genäht werden. Wir warten schon auf den Arzt.“

Bei diesen Worten fiel es Jesse wie Schuppen von den Augen. Seine Mutter wollte nicht, dass er das Baby sah, sein eigen Fleisch und Blut. Deshalb hatte sie ihn aus dem Krankenhaus geholt. Um ihn unter Kontrolle zu haben und ihn von seiner Tochter fernzuhalten. Ihm wurde schlecht. Er wollte nur noch weg von ihr.

„Wo ist sie?“, fragte er an Helen gewandt. Seine Stimme klang komisch in seinen Ohren. Er hatte sie so lange nicht mehr benutzt.

„Willst du nicht warten, bis der Arzt sich das angesehen hat?“ Helen deutete auf seine Hand, doch Jesse schüttelte entschieden den Kopf.

„Ich habe lange genug gewartet.“

Seine Mutter machte Anstalten, ihnen zu folgen, doch Sam hielt sie zurück.

„Wir warten hier und sagen dem Arzt Bescheid.“

Jesse dankte ihm im Stillen.

Der Weg in die Neugeborenen-Station kam ihm ewig vor. Jesse wusste nicht, was ihn erwarten würde. Er wusste nicht, was er empfinden würde, wenn er sie sah. Er hatte Angst davor, dass seine Gefühle über ihn hereinbrachen, wenn seine Augen die ihren trafen, und er hatte Angst davor, dass er vielleicht gar nichts spürte. Er wusste nicht, ob es besser war, tief Luft zu holen, oder den Atem anzuhalten.

Helens Hand legte sich auf seinen Rücken, als die Glasscheibe in Sicht kam, hinter der die kleinen Zwerge lagen. Es waren sieben oder acht Babys. Jesse war verwirrt, weil er nicht sofort erkannte, welches seines war. Er sollte es doch wissen, wenigstens spüren. Er war der Vater.

„Das ist sie.“ Helen zeigte auf einen Knirps direkt hinter der Scheibe. Sie war so winzig. Der Großteil ihres Körpers war mit einer Decke belegt, doch ihre winzigen Händchen und der Kopf schauten oben heraus. Sie schlief. Ihr Mund war offen und bewegte sich leicht im Schlaf. Sie trug ein Mützchen, deshalb konnte er nicht sehen, ob sie schon Haare hatte. Er legte eine Hand an die Scheibe und wünschte sich, er könnte sie berühren. Er wollte, dass sie ihn spürte, seine Anwesenheit wahrnahm. Sie sollte wissen, dass ihr Daddy jetzt da war. Und sie nie wieder verlassen würde.

„Ist sie gesund?“ Als er sprach, fiel ihm seine kratzige Stimme auf. Er weinte, hatte es nur noch nicht bemerkt. Helen, selbst Tränen in den Augen, nickte lächelnd.

„Ja. Putzmunter. Die ersten Tage war sie ein wenig schwach und hat Hilfe beim Atmen gebraucht. Sie war in so einem hässlichen Glaskasten. Aber jetzt geht es ihr prima.“

Jesse hasste sich dafür, dass er nicht da gewesen war, als er gebraucht wurde. Er nahm Helen fest in den Arm.

„Es tut mir so Leid. Ich hätte hier sein müssen. Ich war so dumm. Nur... Ich konnte nicht. Das wird sich ändern, ich verspreche es.“

An den Schluchzern merkte er, dass auch Helen jetzt weinte.

„Ist schon gut. Ich verstehe das. Wir haben dir nie Vorwürfe gemacht.“ Sie löste sich von ihm und sah ihm fest in die Augen.

„Hauptsache, du bist jetzt da.“

Jesse nickte und wischte sich die Tränen weg, obwohl schon neue nachkamen. Dann sah er wieder zu den Winzlingen hinter der Scheibe. Er wollte den ganzen Tag so dastehen und sie einfach nur betrachten, ihren Anblick in sich aufsaugen.

„Deine Hand.“ Der Verband war schon wieder blutdurchtränkt.

„Komm, wir lassen dich jetzt erst mal zusammenflicken. Die Kleine läuft uns nicht weg.“ Jesse wollte widersprechen, aber Helen hatte Recht. Seine Hand musste wieder in Ordnung gebracht werden, schließlich wollte er in der Lage sein, seine Tochter zu halten. Er prägte sich ihre Gesichtszüge ein, die Stupsnase, die geröteten Pausbacken, den kleinen Schmollmund und die langen Wimpern.

„Okay“, sagte er schließlich und riss sich von seiner Tochter los. In nur wenigen Sekunden hatte er einen Entschluss gefasst: Er wollte leben.
 

Tag 12
 

Der restliche gestrige Tag war wie im Nebel. Seine Hand hatte mit mehreren Stichen genäht werden müssen. Die örtliche Betäubung hatte ihn mehr mitgenommen, als sie sollte. Wahrscheinlich war der Cocktail aus Narkotika, zu wenig Schlaf, überstrapazierten Nerven und zu wenig Nahrungsaufnahme nicht gerade gut für seinen Körper gewesen. Jesse erinnerte sich, Richtung Kinderstation gedrängt zu haben, er war aber so schwach gewesen, dass Sam und Marissa ihn dazu überreden konnten, nach Hause zu gehen, um sich auszuruhen.

Er hatte das erste Mal friedlich einschlafen können, auch wenn die Schmerzmittel irgendwann nachließen und er ein heftiges Pochen in der Hand spürte. Es wunderte ihn sowieso, kaum Schmerzen verspürt zu haben, als er sich geschnitten hatte. Er war froh, dass seine Mutter auf einen Arzt bestanden hatte. Ansonsten wäre er nicht ins Krankenhaus gegangen und hätte seine Tochter nicht gesehen. Jetzt konnte er es kaum erwarten, sie wiederzusehen. Es gab tatsächlich wieder etwas, worauf er sich freuen konnte. Die Kleine war jetzt sein Lebensinhalt. Er wollte alles für sie tun, der beste Vater werden, den es auf der Welt gab. Nicht so wie seiner, der nur durch Abwesenheit glänzte. Jesse hatte noch nie eine besonders enge Bindung zu seinem Vater gehabt. Er sah ihn nur selten, alle paar Jahre, wenn er nicht gerade auf einer seiner Expeditionen war, wie es sich für einen Meeresbiologen gehörte.

„Ich möchte wieder ins Krankenhaus.“ Jesses Worte durchschnitten die Stille und ließen seine Mutter und Sam in ihren Bewegungen innehalten. Sam fasste sich schnell wieder und führte die Gabel zum Mund, während Marissa das Besteck ordentlich auf ihrem Teller ablegte. Offensichtlich hatte er ihr den Appetit verdorben.

„Ich will sie sehen“, sagte Jesse mit Nachdruck. Als müsste er sich vor seiner Mutter rechtfertigen. Seit ein paar Wochen war er achtzehn, also hatte sie ihm gar nichts mehr zu sagen. Sie legte ihre nachdenkliche Miene auf und musterte ihn ausgiebig.

„Bist du dir sicher?“, fragte sie in sachlichem Ton.

„Absolut“, erwiderte er ohne Zögern. Marissa verschränkte die Hände auf dem Tisch ineinander.

„Ich bin mir da nicht so sicher. Ich denke, du bist noch nicht bereit dazu.“

Es überraschte Jesse kein bisschen, dass sie nicht einverstanden war.

„Sie ist meine Tochter. Sie ist deine Enkelin.“ Er hoffte, letzteres könnte ihr Herz erwärmen.

„Ich will dich gar nicht von ihr fernhalten. Ich befürchte nur, dass dir das noch zu viel sein könnte. Es ist noch nicht lange her, seit -“ Jesse knallte sein Besteck auf den Tisch, damit er nicht hören konnte, was sie sagte.

„Siehst du?“, sagte seine Mutter und sah ihn triumphierend an.

„Du bist noch nicht so weit.“ Jesse stand ruckartig auf, wobei sein Stuhl über den Boden scharrte.

„Seit Tagen sagst du mir, ich soll mich zusammenreißen. Jetzt reiße ich mich zusammen, und du bist immer noch nicht zufrieden. Ich habe mich unter Kontrolle.“

Seine Mutter stand ebenfalls auf.

„Das nennst du unter Kontrolle? Du schreist mich an, nur weil du nicht hören willst, wie ich versuche, dir klarzumachen, dass Eleonore tot ist.“ Jesse starrte sie an. In ihm tobte ein unbändiger Sturm, der kurz davor war, aus ihm herauszubrechen. Gleichzeitig überkam ihn eine Ruhe, die ihm beinahe Angst machte. Es war die Gewissheit, dass seine Mutter ihn nicht kannte; ihn niemals verstehen würde, niemals wissen würde, was er brauchte. Stattdessen stand sie vor ihm und versuchte, ihn kleinzumachen. Sie wollte ihm weismachen, er sei noch nicht bereit, anstatt ihm zu helfen und ihn zu unterstützen. Und dann sagte sie ihm auch noch ins Gesicht, dass seine Freundin gestorben war, wie einen Trumpf, den sie aus ihrem Ärmel zog.

„Sieh dich doch an. Du kannst nicht damit umgehen. Die letzten Tage warst du kaum anwesend. Du hast nur apathisch vor dich hin gestarrt, hast nicht gegessen, nichts gesagt. Und jetzt willst du auf einmal Vater spielen?“ Auch sie hatte die Stimme erhoben.

„Du wirst nie wollen, dass ich ihr Vater bin, dass ich die Verantwortung für sie übernehme. Du warst von Anfang an gegen sie.“ Jesse holte tief Luft, um eine Tirade von Schimpfwörtern auf sie herabregnen zu lassen, doch seine Mutter fiel ihm ins Wort.

„Du hast Recht, ich war dagegen. Und hätte Eleonore damals auf mich gehört, wäre sie jetzt noch am Leben.“ Der Kontrast zwischen der erhobenen Stimme seiner Mutter und der Stille, die danach folgte, war erdrückend. Was? Hatte sie das gerade tatsächlich gesagt?

„Du wirst sie niemals zu Gesicht bekommen. Ich verbiete dir, jemals in ihre Nähe zu kommen, hast du verstanden!? Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben.“ Jesse sah seine Mutter ein letztes Mal an, eine Frau, die ihm völlig fremd war, die er sein ganzes Leben für jemand anderen gehalten hatte. Dann stürmte er aus dem Raum und packte – erneut – seine Sachen.

„Wo willst du hin?“, rief sie ihm hinterher und zum ersten Mal meldete sich Sam zu Wort.

„Lass es, Marissa. Du bist zu weit gegangen.“

Ja, das war sie. Jesse war froh, dass sie ihm nicht in sein Zimmer folgte. Er wusste nicht, was er sonst getan hätte. Wäre er fähig, seine eigene Mutter zu schlagen? Er hoffte, nicht. Doch erst in Extremsituationen offenbarte sich den Menschen, wozu sie wirklich in der Lage waren. Andererseits gab es trotz all der Vorkommnisse eine leise Stimme in seinem Kopf, die sich wünschte, sie würde zu ihm kommen und sich bei ihm entschuldigen. Aber seine Wut übertönte bald alles andere, er machte sich Vorwürfe, erneut auf sie hereingefallen zu sein. Wie hatte er vergessen können, wer sie war und wozu sie imstande war?

Er hatte glücklicherweise nicht mehr viele Habseligkeiten in seinem Zimmer, da er alles bei Greg untergebracht hatte. Also schnappte er sich nur einen alten verstaubten Rucksack und packte alles ein, was ihm noch lieb und teuer war, denn er schwor sich, nie mehr einen Fuß in dieses Haus zu setzen. Dieses Mal endgültig.

Er ging, ohne sich zu verabschieden. Er wollte sie nicht nochmal sehen. Ehrlich gesagt hatte er auch etwas Angst davor, sie könnte vielleicht weinen, und dieser Anblick ließe ihn schwach werden. Aber wem machte er hier etwas vor? Marissa weinte nicht. Sie hatte keine Gefühle. Menschen mit Gefühlen sagten nicht solche Dinge.

Lass mich nie so werden, Eleonore, betete er in den Himmel und setzte sich in den nächsten Bus, der in Richtung Krankenhaus fuhr.
 

Stundenlang stand er vor der Glasscheibe. Als er einer Hebamme erklärte, er sei der Vater, schenkte sie ihm ein trauriges Lächeln.

„Ihrer Tochter geht es ein bisschen schlechter. Aber kein Grund zur Sorge. Sie braucht nur wieder ein wenig Unterstützung beim Atmen. Das ist nichts ungewöhnliches nach einer schwierigen Geburt. Mein herzliches Beileid, wegen ihrer Freundin.“

Jesse blinzelte mehrmals, um keine Tränen aufkommen zu lassen.

„Ja. Danke.“ Er wusste nicht, was er sagen sollte. Was erwiderte man auf Beileidsbekundungen?

Ist ja nett gemeint, aber das bringst sie mir auch nicht wieder zurück? Sie haben sie gar nicht gekannt, also halten Sie die Klappe?

Stecken Sie sich Ihren Kondolenz-Scheiß sonstwo hin?

Die weiteren Ideen wurden nicht gerade freundlicher, deshalb hörte er auf, darüber nachzudenken.

„Wieso ist sie in einem Glaskasten?“ Es sah fürchterlich aus, genau wie die kleine Maske, die über Nase und Mund gestülpt war.

„Das schützt sie vor Infektionen. Wir wollen sie von jeglichen Keimen fernhalten.“

Sie sieht aus wie ein Tier, in einem Käfig eingesperrt, dachte Jesse.

„Nur ein paar Tage, dann hat sie es überstanden“, versprach ihm die Hebamme.

„Kann ich zu ihr?“, fragte er und hoffte, nicht mehr durch diese blöde Glasscheibe von ihr getrennt zu sein. Sie nickte.

„Natürlich. Wir können hineingehen. Aber ich darf sie nicht aus ihrem Kasten holen.“ Jesse nickte nur. „Na dann, kommen Sie.“

Er folgte ihr durch eine Tür auf die andere Seite des Raumes. Das sein Baby nicht das Einzige war, das in so einem komischen Kasten lag, tröstete ihn irgendwie. Sein Herz klopfte schneller, als sie zu ihr traten. So nah war er ihr noch nie gewesen. Heute hatte sie die Augen geöffnet. Jesse starrte sie an. Sie war ein Wunder, sein und Eleonores Wunder. Er hatte wochenlang mit ihrem Bauch geredet, ihre kleinen Tritte gespürt, aber sie jetzt zu sehen, ihr so nahe zu sein, war überwältigend. Die Hebamme öffnete eine Klappe an der Seite des Kastens.

„Nur zu.“ Jesse sah unsicher zwischen der Dame und seinem Kind hin und her. Durfte er sie tatsächlich berühren?

„Seien Sie nicht schüchtern. Es ist alles gut.“ Das kleine Mädchen, mit den blauen Augen ihrer Mutter, schien ihn beinahe auffordernd anzusehen. Sie strampelte ungeduldig mit ihren kleinen Füßchen und gab einen zarten Laut von sich. Jesse streckte ganz automatisch die Hand durch die Öffnung. Er wollte, dass sie ihn spürte, sie sollte wissen, dass sie nicht alleine war; nie wieder sein würde. Sie sah so zerbrechlich aus. Zaghaft strich er über ihren winzigen Handrücken. Ihre Haut war so weich. Ihre Finger schlossen sich um seinen Daumen. Sie kamen nicht ganz herum, aber ihr Griff war überraschend kraftvoll.

„Okay. Ich muss jetzt auf Visite. Kann ich Sie beide hier allein lassen?“ Jesse hatte die Anwesenheit der Hebamme völlig vergessen.

„Ja, klar. Danke.“

Sie klopfte ihm auf die Schulter, als wollte sie ihm gut zusprechen.

„Ich sehe später nochmal nach Ihnen.“

Jesse hatte das Gefühl, als machte sie sich mehr Sorgen um ihn, als um das Baby. Er merkte kaum, wie sie fortging. Seine Tochter hatte bereits seine gesamte Aufmerksamkeit zurückgewonnen. Ihre Augen musterten ihn genau.

„Tut mir Leid, dass ich so spät komme“, flüsterte er und strich mit seinen freien Fingern über ihre Hand, die seinen Daumen noch immer fest umklammert hielt.

Er hatte das Zeitgefühl verloren, als erneut die Tür aufging.

„Jesse.“ Helen stand vor ihm.

„Hallo“, sagte er leise, um die inzwischen Eingeschlafene nicht zu wecken.

„Schön, dass du da bist.“ Helen strich ihm über den Arm.

„Sie ist wundervoll, nicht wahr?“, sagte sie mit Blick auf ihre Enkelin.

„Ja, das ist sie.“ Jesse zog vorsichtig seine Finger aus ihrer Umklammerung und schloss die Klappe. Helen wirkte müde.

„Bist du jeden Tag hier?“, fragte er und meinte, die Antwort darauf bereits zu kennen.

„Natürlich. Pete muss arbeiten, die meiste Zeit.“ Jesse sah durch die Glaswand auf den Flur, wo sein Rucksack noch immer auf dem Boden lag.

„Helen“, begann er und wusste nicht so recht, ob er wirklich aussprechen sollte, was ihm durch den Kopf ging. „Ich habe es bei Marissa nicht mehr ausgehalten.“ Er benutzte mit Absicht ihren Namen. Sie hatte sich das Recht verwirkt, seine Mutter zu sein. „Ich bin ausgezogen. Dieses Mal endgültig.“ Helen seufzte.

„Jesse, sie ist deine Mutter.“ Er schüttelte nachdrücklich den Kopf.

„Sie hat Dinge gesagt. Dinge, an die ich nie wieder denken möchte. Sie ist – Ich halte es in ihrer Nähe einfach nicht mehr aus.“ Es schnürte ihm die Kehle zu. So von seiner eigenen Familie zu reden, war nicht leicht.

„Du kannst jederzeit zu uns kommen, wenn du möchtest“, schlug sie ihm vor. „Die Kleine wird in ein paar Tagen entlassen. Dann kann sie raus aus dem Krankenhaus.“

Der Gedanke, ganz allein mit dem Baby zu sein, die Verantwortung zu tragen, wo er noch nicht einmal einen Schulabschluss hatte, geschweige denn, ein geregeltes Einkommen, machte ihm Angst.

„Ich schaff' das nicht allein.“ Helen schüttelte den Kopf.

„Du bist nicht allein. Wir helfen dir. Komm, wir bringen erst mal deine Sachen zu uns nach Hause. Dann sehen wir weiter.“
 

Tag 13
 

Jesse war nicht sicher, ob er es hier wirklich aushalten konnte. In ihrem Zimmer, mit ihren Sachen, ihrem Geruch. Und den Erinnerungen. Erinnerungen, die ihn erneut in einen schwarzen Abgrund zu ziehen drohten. Das schwarze Loch hatte gestern Risse bekommen, einzelne Teile hatten sich beim Anblick seiner Tochter gelöst und seine Brust erleichtert. Doch so schnell wie die Risse entstanden waren, so schnell hatten sie sich wieder mit Zement gefüllt. So fühlte es sich zumindest an. Es war kein verzehrendes Feuer mehr, wie am Anfang, es war eher erkaltende Lava, die ihn langsam erstickte. Auch wenn er versuchte, sich mit Gedanken an sein Kind über Wasser zu halten, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass nur er ihr geblieben war, zog ihn seine Umgebung unter die Oberfläche. Er drehte sich im Bett herum, legte sich auf den Bauch und vergrub das Gesicht in ihrem Kissen. Auch das erinnerte ihn an sie. Es erinnerte ihn an ihre innigsten, intimsten Momente. Hier war aller Wahrscheinlichkeit nach ihr Baby entstanden. Jesse holte den Zettel aus der Schreibtischschublade hervor, auf dem noch zwei Namen übrig waren. Eleonore hatte darauf bestanden, nicht nur einen auszuwählen, weil es ja möglich war, dass der Name nicht zu dem Neugeborenen passte.

„Sobald sie da ist, werden wir sehen, ob sie eine Kelly oder eine Prudence ist.“

Jesse wusste genau, sie wollte eine Prudence haben, aber mit dem Namen konnte er eigentlich nichts anfangen. Nun hatte er die Entscheidungsfreiheit und fand, dass zu der Kleinen keiner der beiden Namen passte. Aber er würde jeden Namen akzeptieren, ganz egal wie absurd er war, wenn nur Eleonore hier wäre und ihn aussuchte.

Jesse wischte die Träne weg, die ihm über die Wange rollte. Inzwischen merkte er kaum noch, wenn er weinte. Es war beinahe normal geworden. Er fragte sich, ob er wohl austrocknen oder kollabieren konnte, wie wenn man zu wenig trank oder zu viel schwitzte. Hätte er seine Tränen alle in einem Eimer aufgefangen, wäre dieser wahrscheinlich schon übergelaufen. Meistens weinte er sich in den Schlaf, weil er im Dunkeln, allein im Bett, keine Ablenkung mehr hatte, nichts, was seine Gedanken daran hindern konnte, in die Vergangenheit zu reisen und jeden Moment mit Elly erneut zu durchleben, nur dieses Mal mit einem Stechen in der Brust, egal wie glücklich der Augenblick auch gewesen sein mochte.

Mehrmals fragte sich Jesse, ob es nicht erträglicher wäre, wieder zurück zu Greg zu gehen. Er hatte zwar einen neuen Untermieter, aber bestimmt könnte er auf der Couch schlafen. Aber Jesse vermutete, dass der Umgebungswechsel nichts ändern würde. Es gab nichts, was ihn von dem Monster befreien konnte, das sich um sein Herz geschlossen hatte. Und wann immer es wollte, drückte es zu.

Sieh nur, was du aus mir gemacht hast, sagte er im Stillen zu Eleonore und versuchte, die Wut, die in ihm aufkam, zu unterdrücken. An dem Pochen in seiner verletzten Hand merkte er, wie fest er die Fäuste ballte. Er wollte nicht sauer sein, aber er konnte nichts dagegen tun. Er war wütend auf Eleonore, weil sie ihn im Stich gelassen hatte, ihn mit allem allein gelassen hatte. Er war wütend, weil er sich nicht einmal hatte verabschieden können. Er war wütend auf die Ärzte, weil sie Eleonore hatten sterben lassen. Er war wütend auf seine Mutter, weil sie so war, wie sie war. Und er war wütend auf sich selbst, weil er nichts hatte tun können. In einem Impuls nahm er einen Stift vom Schreibtisch und strich den letzten Namen durch. Jetzt stand da nur noch Kelly.

„Das hast du davon, wenn du nicht mehr hier bist, um mich davon abzuhalten.“
 

Tag 14
 

„Jesse, was machst du denn hier draußen?“ Helen lehnte sich gegen die Haustür und registrierte mit einem Stirnrunzeln, wie Jesse an seiner Zigarette zog.

„Tut mir Leid. Ich kann nicht anders.“ Das Nikotin verschaffte ihm für eine kurze Weile Ruhe, als hätte er sich etwas mehr unter Kontrolle. Er hätte niemals mit diesem Blödsinn anfangen sollen, doch jetzt war er froh, etwas zu haben, das ihn runterholte. Es war erst fünf Uhr morgens, doch er hatte keinen Schlaf gefunden, und nachdem er sich endlos hin und her gewälzt hatte, war in ihm plötzlich das Verlangen nach einer Zigarette aufgekommen. Und daran war nur seine Mutter Schuld. Jesse wusste, dass er sich das eigentlich selbst eingebrockt hatte, aber hätte er nicht nach einer Möglichkeit gesucht, seine Mutter auf die Palme zu bringen, wäre es nie so weit gekommen. Er erinnerte sich an Eleonores Worte, als sie es herausgefunden hatte.

Wenn du deine Mutter ärgern willst, lass dir lieber noch mehr Tattoos stechen. Gute Idee. Nicht wegen Marissa. Aber das Stechen eines Tattoos hatte eine viel bessere Wirkung, als eine Zigarette.

„Du wirst nicht rauchen, wenn die Kleine hier ist, damit das klar ist. Nicht im Haus und nicht im Garten. Gar nicht. Du musst damit aufhören.“ Es waren die ersten herrischen Worte, die Helen je an ihn gerichtet hatte. Früher hatten sie immer nur Eleonore gegolten.

„Es ist ungesund. Mach dich nicht selber krank.“

An diesem Tag startete Jesses zweiter Entzugsversuch. Die Besuche bei Kelly im Krankenhaus bestärkten ihn in seinem Vorhaben. Es war das erste Mal, dass ihm seine Trauer bei irgendetwas half, denn er spürte kaum etwas von den Entzugserscheinungen.
 

Tag 15
 

Es war das erste Mal, dass Jesse außer Haus ging, ohne ins Krankenhaus zu gehen. Zum ersten Mal betrat er die tattoo hell und traf auf Needle. An diesem Tag ließ er sich das Unendlichkeitszeichen stechen. Pete schüttelte nur den Kopf, als er das Pflaster sah, Helen schwieg. Es war ihnen wohl beiden lieber, dass er sich Farbe unter die Haut stechen ließ, als giftiges Nikotin in seine Lungen zu pumpen. Eleonore hatte Recht. Es war eine Sucht. Damit er auch das unter Kontrolle bekam, nahm er sich vor, nur einmal im Jahr ins Tattoostudio zu gehen.

Im Krankenhaus teilten sie ihm mit, dass Kelly voraussichtlich in drei Tagen nach Hause durfte. Es beflügelte und verängstigte Jesse zugleich. Helen beruhigte ihn mit den Worten, sie habe schon einmal ein Kind groß gekriegt, und Jesse sei nicht alleine damit, aber sie betonte auch lächelnd, dass er ganz bestimmt nicht ums Windelwechseln herumkam. Jesse hatte zwar das Buch über Babys gelesen, aber die Praxis war meistens nochmal ganz anders als die Theorie. Er fühlte sich ganz flattrig. Aufregung und Angst krochen gleichermaßen an seinem Hals hinauf und schnürten ihm die Luft zum Atmen ab.

„Was, wenn ich ein schlechter Vater bin?“ Jesse wusste nicht, ob Helen und Pete klar war, dass Sam nicht sein richtiger Vater war und sein Erzeuger irgendwo auf dem offenen Meer herumschipperte und auch nur selten von sich hören ließ, wenn er mal an Land war. Pete klopfte ihm auf die Schulter, sodass Jesse beinahe an seinem Essen erstickte, das er gerade herunterschluckte.

„Mach dir keine Gedanken, Junge. Jeder Mann kriegt Schiss beim Anblick eines Babys. Aber wenn du sie erst mal auf dem Arm hast, ergibt alles einen Sinn.“ Helen legte eine Hand auf Jesses, sodass er aufhören musste, Essen in sich reinzuschaufeln. Er hatte so lange nichts gegessen, er hätte den ganzen Tag den Kühlschrank leerräumen können.

„Du wirst kein schlechter Vater. Du bist ein guter Kerl.“ Jesse seufzte. Er war ein siebzehnjähriger Teenager ohne festen Arbeitsplatz, mit Tattoos und einem Nikotinproblem. Optimale Voraussetzungen waren das nicht gerade. Aber er war fest entschlossen, der bestmögliche Vater für Kelly zu werden. Und er wollte Eleonore stolz machen, sollte sie ihn von oben beobachten. Er glaubte eigentlich nicht an dieses ganze Zeug, Himmel und Hölle, Gott, oder was auch immer. Aber es machte es erträglicher; sich vorzustellen, dass sie einfach nur woanders war.

„Ich habe mir übrigens überlegt, ihr einen zweiten Namen zu geben.“ Wenn er sich über solche Dinge Gedanken machte, lenkte ihn das wenigstens von Elly ab. Helen und Pete legten ihre Bestecke weg und sahen ihn abwartend an. „Ich dachte mir, weil Elly doch gerne ausgefallene Namen mag“, Jesse stockte, weil es schwierig für ihn war, ihren Namen in den Mund zu nehmen; und er brachte es einfach nicht über sich, in der Vergangenheitsform von ihr zu reden. Das war eindeutig zu viel. Er räusperte sich.

„Ich dachte an Precious.“ Er hatte sich wirklich lange Gedanken darüber gemacht, den Namen dutzende Male ausgesprochen, um sich an den Klang zu gewöhnen. Außerdem gefiel ihm die Bedeutung, der eigentlich ausschlaggebende Punkt. Für ein paar Sekunden war es vollkommen still am Tisch, der Name schien noch im Raum nachzuhallen. Dann lächelte Helen, während ihr Tränen in die Augen stiegen, die sie wegwischte, bevor sie ihre Wangen herunterkullern konnten.

„Das halte ich für eine wunderbare Idee“, stimmte sie zu. Pete nickte nur. Er nickte oft, denn er war kein Mann großer Worte, aber Jesse sah mehr einen Vater in ihm, als in Sam oder seinem Erzeuger.

„Okay.“ An diesem Tag kam sich Jesse das erste Mal wieder lebendig vor. Er sprühte nicht vor Lebensenergie und er machte keine Luftsprünge, denn er war noch weit davon entfernt, glücklich zu sein. Es war eher ein kleiner Schritt aus der Unglücklichkeit, das Gefühl, dass die Taubheit, die sich über ihn gelegt hatte, ein kleines bisschen nachließ.
 

Tag 16
 

In dieser Nacht begannen die Albträume. Er träumte von Eleonore in einem Krankenbett. Sie war in ein weißes Kleid gehüllt und ihre blonden Locken rahmten ihr schlafendes Gesicht ein. Sie sah so friedlich aus. Dann hörte Jesse, wie etwas auf den Boden tropfte. Er sah unter das Bett. Dort hatte sich bereits eine rote Pfütze gebildet, und als er wieder aufschaute, saugte sich das Laken bereits mit Blut voll. Ihr Bauch, der so flach war, wie vor der Schwangerschaft, begann, in sich zusammenzufallen und war bald ebenfalls blutgetränkt. Eleonores Augen öffneten sich, und mit schmerzverzerrtem Gesicht begann sie, zu schreien. Stumm zu schreien. Es kam kein Laut aus ihrer Kehle. Auch Jesse konnte nicht sprechen. Er wollte sie beruhigen, ihr beistehen, doch er konnte sich nicht einmal bewegen. Nicht, weil er starr vor Angst war. Es ging einfach nicht. Es kam ihm vor, als hätte ihn jemand in Zement gegossen. Und mit einem Mal, nach einem Augenzwinkern, war sie weg. Nur das blutrote Laken blieb zurück, von dem weiterhin Tropfen zu Boden fielen und mit leisem Platschen in der bereits vorhandenen Blutlache landeten.

Schweißgebadet wachte Jesse auf. Für einen Moment glaubte er, selbst in einer Lache aus Blut zu liegen, oder sich eingenässt zu haben. Doch der Geruch nach kaltem Schweiß, der klebrige Film auf seiner Haut, und wie ihm die Haare im Nacken klebten, machten ihm klar, dass beide Befürchtungen unbegründet waren. Er stieg aus dem Bett, die Klamotten an ihm klebend wie eine zweite Haut. Sein Herz pochte wie wild und sein Mund war so trocken, dass er erst einmal etwas zu trinken brauchte. Er ging in die Küche, auf wackligen Beinen, und hoffte nur, im Schlaf nicht geschrien und somit möglicherweise Helen und Pete geweckt zu haben. Doch im Haus war alles still. Er war der Einzige, der um diese Uhrzeit noch herumgeisterte. Die kühlen Fliesen in der Küche und ein kalter Luftzug ließen ihn frösteln. Nachdem er zwei Gläser Wasser in großen Zügen leerte, stellte er sich unter die Dusche und ließ das heiße, dampfende Wasser über seinen Körper rinnen. Er stand einfach nur da, minutenlang, bis das Wasser langsam kalt wurde. Er wollte nicht wieder ins Bett. Er wollte nicht einschlafen, denn er wollte nie wieder diesen Traum haben. Um sich abzulenken, wechselte er erst einmal das Bettzeug und als er nach etwas suchte, das ihn wachhalten würde, fielen seine Augen auf ein Buch. Krabat.

Die Seiten waren schon völlig zerlesen. Hier ein Kaffeefleck, da ein paar Brösel – wahrscheinlich von Zwieback, den Eleonore leidenschaftlich gerne aß – und der Umschlag des Taschenbuchs war durch das viele Umknicken schon ganz weich geworden. Jesse begann, zu lesen, tauchte ein in Krabats Welt voller Dunkelheit und Gefahren. Er hatte es nicht so düster in Erinnerung. Warum hatte Elly das Buch so gut gefallen? Gerade als der Meister herausgefunden hatte, dass Krabat ein Mädchen liebte, wurde vorsichtig die Tür geöffnet und Jesse kehrte zurück in die Wirklichkeit. Helen steckte den Kopf herein.

„Du bist ja schon wach.“ Ihr Blick fiel auf das Buch. Sie wusste genau, welches es war. Jesse fuhr sich über die müden Augen.

„Ja, ich konnte nicht schlafen.“ Er hatte nicht vor, Helen von den Albträumen zu erzählen. Sie machte sich schon genug Sorgen. Jesse fragte sich, wie sie das aushielt, wie sie das ertragen konnte, wie sie so stark bleiben konnte, wo doch gerade ihre eigene Tochter gestorben war. Er hörte sie manchmal weinen, nachts, wenn sie glaubte, dass er schon schlief. Pete murmelte hin und wieder beruhigende Worte, doch meistens blieb er stumm. Jesse konnte sich lebhaft vorstellen, wie die beiden am Tisch saßen, Helen völlig aufgelöst, und Pete, der einfach ihre Hand hielt und ausharrte, bis es vorbei war, darum bemüht, nicht selbst in Tränen auszubrechen, weil er stark für seine Frau sein wollte.

„Ist es wirklich in Ordnung, dass ich hier bin?“, fragte Jesse und legte das Buch zur Seite. Helen setzte sich zu ihm aufs Bett und fuhr ihm über Stirn und Wange, so als wollte sie seine Sorgenfalten wegstreichen.

„Jesse.“ Sie schüttelte den Kopf, suchte nach den richtigen Worten.

„Wir sind sehr froh, dass du hier bist. Du bist ein Teil dieser Familie. Du bist der Vater meiner Enkelin.“ Bei dem Gedanken, dass sie tatsächlich Oma war, zog sie kurz die Nase kraus. „Und du füllst die Leere aus, die Eleonore hinterlassen hat. Ich würde mich freuen, wenn du hierbleibst. So lange du möchtest. Du bist immer willkommen.“ Sie machte eine kurze Pause und legte ihre Hand auf seine. Jesse fiel das erste Mal auf, wie sehnig ihre Haut war. „Aber ich kann verstehen, wenn dir das zu viel ist. Hier.“ Sie ließ ihren Blick durch Ellys Zimmer schweifen.

„Nein. Ich bin lieber hier, als irgendwo anders.“ Dass er sich ab und zu vorstellte, Elly würde jeden Moment durch diese Tür kommen, sagte er Helen jedoch nicht. Er war nicht verrückt. Ihm war klar, dass Elly tot war, aber manchmal war es einfach erträglicher, sich etwas anderes vorzustellen.
 

Tag 17
 

Trägheit überkam ihn, kaum dass er aufgewacht war. Ausnahmsweise hatte er in dieser Nacht keinen Albtraum gehabt. Doch von Eleonore zu träumen, wie sie wohlauf an seiner Seite war, nur um dann aufzuwachen und festzustellen, dass er alleine war, war noch viel schlimmer. Eine Träne perlte aus seinem linken äußeren Augenwinkel und rann seine Wange entlang, direkt an seinem Ohr vorbei über seinen Hals, und tropfte auf das Kissen. Er wischte sie nicht weg. Melancholie drohte ihn erneut einzuhüllen. Jesse wusste, Elly würde nicht wollen, dass er sich so gehen ließ, aber er konnte sich nicht dazu aufraffen, aufzustehen, irgendetwas zu tun. Er lag einfach da, die Arme um ein Stoffnilpferd geschlungen, und starrte an die Decke. Er wartete darauf, dass sein Herz vor Schmerz aufhören würde zu schlagen, doch den Gefallen tat es ihm nicht. Eigentlich hatte Jesse geglaubt, diese Phase überwunden zu haben. Die Phase der allumfassenden Trauer, die ihn erst schmerzhaft erfüllte und dann aushöhlte und leer zurückließ. Da hatte er sich wohl getäuscht. Wie lange würde es noch dauern, bis er endlich einen Atemzug tun konnte, ohne an sie zu denken, bis er endlich nicht mehr bei allem, was er tat, an sie erinnert wurde. Es war wie ein Teufelskreis. Je mehr er versuchte, nicht an sie zu denken, drang sie in jede seiner Fasern ein und ließ nicht mehr von ihm ab. Es war pure Folter.

Durch Kelly, hatte Jesse gehofft, würde er sich endlich auf etwas anderes konzentrieren können. Stattdessen hielt er immer wieder die winzigen Kleidungsstücke, die sie bereits vor der Geburt gekauft hatten, in den Händen, fuhr mit den Fingern über den Stoff und war erfüllt von Wut darüber, dass Eleonore ihre Tochter niemals kennenlernen würde.

Die Spur der Träne begann langsam zu trocknen und leicht zu jucken. Jesse wischte sie fort und zog die Decke über den Kopf.
 

Tag 18
 

Jesse wurde unruhig. Kelly im Krankenhaus zu besuchen und zuhause alles für ihre Ankunft vorzubereiten, war eine Sache, aber die Gewissheit, dass sie morgen tatsächlich bei ihm sein würde – und von da an für immer – machte ihn unglaublich nervös. Vor allem aber hielt er das Warten nicht mehr aus. Sosehr er auch Angst hatte, etwas falsch zu machen – und es gab so vieles, was man falsch machen konnte – sosehr sehnte er sich auch danach, seine Tochter endlich im Arm zu halten. Er wollte ein guter Vater sein, der bestmögliche. Er wollte Elly nicht enttäuschen. Kelly war ein Teil von ihr, oder nicht? Das hieß, sie würde auf eine Art immer bei ihm sein. Er stellte das Mobile über dem kleinen Bettchen an und lauschte der Melodie. Jesse stellte sich vor, wie Eleonore darin geschlafen hatte, als sie noch klein gewesen war. Hätte er sie doch nur früher kennengelernt. Hätte er doch eher erkannt, wie viel sie ihm bedeutete. Und hätte er bloß seine Mutter durchschaut. Den Gedanken schob er schnell beiseite, weil er Marissa aus seinem Leben verbannt hatte.

Jesse fragte sich, ob Elly ausgesehen hatte wie Kelly. Er fragte sich, ob seine Tochter ihr Temperament besaß und ihre Lebensfreude. Hoffentlich hatte sie möglichst viele Eigenschaften von ihr, nicht von ihm. Jesse summte die Melodie des Mobile mit, bis er unten die Haustür hörte.

„Ich bin zuhause“, rief Helen in das bis auf Jesse leere Haus hinein. Für einen aberwitzigen Moment hatte er erwartet, Eleonores Stimme zu hören.
 

Tag 19
 

Endlich war es soweit. Kelly Precious wurde aus dem Krankenhaus entlassen und zog um in ein neues Heim. Ihr Bettchen, Eleonores alte Wiege, stand in ihrem Zimmer. Jesse weigerte sich strikt, es als seines zu bezeichnen. Es war Eleonores.

„Wie du meinst, Junge“, hatte Pete nur gemeint. Er nannte ihn ständig Junge. Das gefiel Jesse; als wäre er sein Sohn – oder zumindest ein Teil der Familie. Und mit Kelly kam endlich wieder Leben in das Haus. Sie hatte ein kräftiges Organ, was sie sehr bald unter Beweis stellte.

„Ganz die Mama“, sagte Helen mit einem Lächeln auf den Lippen.

„Da hat wohl jemand Hunger.“

Jesse beobachtete, wie Helen das Fläschchen vorbereitete. Er versuchte, sich jeden Handgriff einzuprägen. Die Menge des Pulvers, die Temperatur beim Warmmachen, das Testen auf der Haut. Er folgte ihr wie ein Schatten zum Sofa, auf dem Pete mit Kelly saß und diese an Helen übergab. Fasziniert betrachtete Jesse seine Tochter, während sie trank. Ihre großen blauen Augen waren weit aufgerissen und starrten Helen neugierig an.

„Vielleicht will dein Papa ja übernehmen“, sagte Helen gleichzeitig an ihn und seine Tochter gerichtet. Jesse erstarrte. Er sehnte sich danach, sein Baby zu halten, doch er konnte nicht.

„Ich...“ Er suchte nach den richtigen Worten, wandte sich abrupt ab und verließ das Wohnzimmer. Er schimpfte sich einen elenden Feigling, einen Idioten, doch er konnte nichts gegen das Zittern tun, das ihn ergriff.

„Jesse.“ Pete trat zu ihm in die Küche. „Du darfst der Kleinen nicht die Schuld für das geben, was passiert ist. Das ist nicht richtig. Und Eleonore würde das bestimmt nicht wollen.“ Jesse schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Das ist es nicht. Ich... Ich kann einfach nicht. Ich habe von ihr geträumt. Ich habe geträumt, dass ich sie fallen lasse, verstehst du. Sie ist mir einfach aus den Händen gerutscht.“ Jesse starrte auf seine Hände und sah die Szene vor seinem inneren Auge. Er hatte sie gehalten, sie hatte ihn angelächelt, doch dann hatten sich seine Arme wie von selbst bewegt und Kelly war gefallen, endlos lang, und als sie auf dem Boden aufschlug, brach ihr Genick mit einem fürchterlichen Knacken.

„Was, wenn ich sie fallen lasse?“ Pete legte seine großen Hände auf Jesses Schultern.

„Sie ist dein Baby. Du wirst sie nicht fallen lassen, vertrau mir. Du wirst sie eher nie wieder loslassen. Glaub das einem alten Herren, der das selbst schon mal erlebt hat. Du wirst sie nicht loslassen. In keinen Armen wird sie so sicher sein, wie in deinen.“ Petes Augen waren unendlich traurig. Er redete von sich und Eleonore, seiner Tochter. Seiner toten Tochter. Jesse wollte Pete sagen, wie Leid es ihm tat, stattdessen nickte er nur.

„Okay.“ Gemeinsam gingen sie zurück ins Wohnzimmer. Kelly hatte die Flasche inzwischen fast leer getrunken. Helen sah lächelnd auf. Jesse war sich ziemlich sicher, dass sie das Gespräch mitangehört hatte, doch sie ließ sich nichts anmerken.

„Sie ist genauso gierig wie du“, sagte sie und winkte ihn zu sich. Er setzte sich neben die beiden, strich Kelly über den Kopf und spürte die kurzen blonden Härchen.

„Kann ich sie halten?“, fragte er, nachdem sie die Flasche völlig geleert hatte. Helen grinste.

„Liebend gern. Du weißt, was als Nächstes kommt, oder?“ Sie übergab ihm Kelly vorsichtig. Seine Arme schlossen sich beschützend um das kleine Ding. Sie war so leicht. Er konnte sie atmen spüren. Er fühlte ihre weiche Haut und ihre Wärme. Jesse vergaß, zu atmen. Er war so fasziniert von diesem kleinen Wunder, das er in Händen hielt. Er würde sie nicht loslassen, Pete hatte Recht. Niemals.

Gerade, als Helen das Tuch, das sie über die Schulter gelegt hatte, an ihn weitergeben wollte, passierte es.

„Das ging schnell“, sagte Pete schmunzelnd und betrachtete die kleine Spur, die Jesses Pullover hinunterlief.

„Im Bäuerchenmachen ist sie wohl ein Naturtalent.“

Jesse lächelte. Es war ihm scheißegal.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Silberwoelfin
2017-08-28T07:31:15+00:00 28.08.2017 09:31
Huhu,
Gestern hatte ich schon fast befürchtet das es kein Kapitel gibt :D
Hab mich schon richtig dran gewöhnt das es sonntags ein Kapitel gibt.
Und wow mit dem Thema hatte ich irgendwie gar nicht gerechtet... ich weiß nicht warum so im Nachhinein betrachtet irgendwie logisch weil das davor ja damit geendet hat, aber trotzdem war ich irgendwie überrascht.

Der Verlust eines geliebten Menschen muss für angehörige Unglaublich schwer zu verkraften sein, vor allem wenn der Verlust so plötzlich ist und die verstorbene Person noch so jung war.
Du hast es unglaublich gut geschafft die Phasen der Trauer aufzufassen und rüber zubringen... der Schock über den Verlust, das nicht begreifen wollen, die Leere, die Verzweiflung, die Wut

Jesse wirkte bisher nicht unbedingt sehr emotional oder gefühlsbetont, aber in diesem Kapitel hat man gemerkt wie viel doch in ihm vor sich geht, wie tief seine Liebe zu Elly war oder vielleicht auch noch ist.
Bestimmt hat er auch nach den 4Jahren immer noch sehr daran zu Knabbern, vielleicht nicht mehr so sehr das er Elly gegenüber ein schlechtes Gewissen hat (immerhin hat er ja in Kap. 12 angedeutet das er sich schon immer wieder, zumindest körperlich, auf andere Mädchen eingelassen hat) aber genug um doch regelmäßig an sie zu denken.
Wie weiter er wohl wirklich bereit ist sich auf Lea einzulassen wird wohl erst die Zeit zeigen.
Helen hatte ja schon gesagt das Lea und Elly sich zumindest Charakterlich doch ähneln... welche parallelen Jesse zwischen den Zwei sieht, kann man wohl nur vermuten.
Helen und Pete kommen in dem Kapitel sehr liebevoll und fürsorglich vor, die Beide haben sowohl Jesse als auch Kelly ohne den geringsten Gram bei sich aufgenommen und ihnen geholfen.
Da Stellt sich dann nur die Frage warum Pete beim ersten zusammen Treffen mit Lea so unfreundlich war bzw. Lea mit Kelly so überrumpelt hatte. Es kam so rüber als würde sich Helen&Pete mit Jesse nicht so gut verstehen und als gäbe es ggfs. Meinungsverschiedenheiten bzgl. Kelly
Und Pete deswegen nicht damit einverstanden wäre das Jesse jetzt sozusagen Elly ersetzt…. Aber nach dem Kapitel kann ich mir nicht vorstellen als würden sie Jesse das nachziehen.

Was noch nicht so ganz klar hervor ging ist ob die Erzählung nur für den Leser ist oder ob es auch Lea erzählt wurde. Wird sich bestimmt im nächsten Kapitel klären… falls sie es erzählt bekommen hat, hoffe ich das sie sich davon nicht noch mehr unter Druck gesetzt fühlt.

So jetzt geht das ungeduldige warten bis zum Erscheinen des nächsten Kapitels von neuem los.
Gruß und schöne Woche


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