Life is precious von JesLea (Das Leben ist wertvoll) ================================================================================ Kapitel 20: Mütter und Einhörner -------------------------------- Es war eine Sache, zuhause bei Jesse mit Kelly zu spielen, aber eine völlig andere, in der Öffentlichkeit mit den beiden unterwegs zu sein. Jetzt verstand ich Eleonore, die die Blicke der Passanten nicht ertragen hatte. Mir war bewusst, dass mich alle für Kellys Mutter hielten. Ich wäre eine verdammt junge Mutter. Andererseits: War Eleonore nicht etwa in meinem Alter gewesen, als sie das Kind gekriegt hatte? Es machte mir nichts aus, dass man falsche Schlüsse darüber zog, aber überhaupt angestarrt zu werden, fand ich nicht sehr prickelnd. Ich spürte, wie Jesse mich anfangs beobachtete, um zu sehen, wie ich reagierte. Dabei waren mir meine Depressionen endlich mal hilfreich. Ich hatte damals gelernt, alles um mich herum auszuschließen, einfach nicht mehr zu sehen, was ich nicht sehen wollte. Und so tat ich das jetzt auch. Ich konzentrierte mich ausschließlich auf Kelly und Jesse und überließ den Rest der Welt sich selbst. Wir gingen in eine Shoppingmall, weil ich Kelly versprochen hatte, ihr ein neues Kuscheltier zu kaufen. Nicht, um mich einzuschleimen. Das war gar nicht nötig. Wir verstanden uns prima – vor allem, wenn wir uns gegen Jesse verbündeten. Ich wollte einfach, dass sie etwas besaß, das sie mit mir in Verbindung bringen konnte. Außerdem hatte sie Henry, ihren Lieblingskuschelhasen, verloren. Sie lief zwischen uns, unsere Hände haltend. Je mehr Zeit ich mit ihr verbrachte, desto weniger fühlte ich mich wie eine depressive Jugendliche, auf die man aufpassen musste. Sie tat mir gut, machte mich selbstständiger und selbstbewusster. Wenn zum Beispiel eine Spinne plötzlich auf dem Tisch auftauchte, wäre früher mein erster Instinkt gewesen, schreiend aufzuspringen und jemanden zu suchen, der das achtbeinige Ding wegmachte. Jetzt aber war Kelly es, die schrie. Und da Jesse unter der Dusche stand, war ich diejenige, die nach dem Besen griff, die Spinne darauf klettern ließ, so schnell es ging in den Garten rannte, um sie auf der Wiese abzustreifen, und die Balkontür wieder fest hinter mir verschloss. Wäre Jesse da gewesen, hätte ich ihn das natürlich machen lassen. Aber in solchen Kleinigkeiten über mich hinauszuwachsen, verschaffte mir eine ungeahnte Genugtuung. Wir steuerten direkt auf den Spielzeugladen zu, in dem sich etliche Kinder und Eltern tummelten. Während Kelly begeistert durch die Regale streifte, ließ Jesse sie keinen Moment aus den Augen. Kaufhäuser waren ein beliebter Ort, um Kinder verschwinden zu lassen. Ich konnte es ihm nicht verübeln, und löste selbst meinen Blick kaum von ihr. Mit ihrer effektiven Schnute brachte sie Jesse dazu, ihr neue Malstifte zu kaufen. „Das ist mir tausendmal lieber, als wenn sie mich um ein eigenes Handy bittet“, sagte er. In der Stofftierabteilung fiel ihr die Entscheidung nicht so leicht. Den Wunsch nach einem Riesenteddy musste ich ihr leider abschlagen, weil mein Budget dafür nicht reichte. Allerdings wäre es amüsant gewesen, zuzusehen, wie Kelly mit dem Teddy, der doppelt so groß war wie sie, durchs Haus rannte. Ins Stechen gingen stattdessen das blaue Kuschelmonster von Monster AG und ein rosa-flauschiges Einhorn. Kelly war ganz Mädchen und entschied sich letztendlich für das Pferd. Sie bedankte sich brav bei mir, nachdem ich es bezahlt und ihr in die Hand gedrückt hatte. „Bekommt es auch einen Namen?“, wollte ich wissen. „Ja. Aber ich weiß noch nicht!“ Auf dem Weg zum Parkplatz hüllte sie sich in Schweigen. Anscheinend hatte ich ihr mit der Namensgebung eine Mammutaufgabe aufgehalst. „Ich habe mich übrigens für ein Fernstudium angemeldet“, sagte Jesse aus heiterem Himmel. Ich blieb vor Überraschung stehen und hielt damit unsere kleine Karawane an. „Was? Das ist ja fantastisch. Und das erwähnst du einfach so in einem Nebensatz?“ Ich freute mich für ihn. Endlich wusste er, was er mit seinem Leben anfangen wollte. „Was ist das denn für ein Studium?“ Er sah mich einige Sekunden einfach nur an, als wäre er sich nicht sicher, ob er es mir wirklich verraten sollte. Wir erreichten das Auto. Ich stupste ihn an der Schulter. „Komm schon. Ich will es wissen. Mach es nicht so spannend.“ Er nahm Kelly, hob sie auf den Kindersitz und schnallte sie an. Sie probierte währenddessen verschiedene Namen an ihrem Einhorn aus, doch keiner schien ihr so richtig zu gefallen. Er schloss die Tür und winkte ihr von außen, dann steckte er die Hände in die Hosentaschen und wandte sich mir zu. „Psychologie.“ Ich sah ihn nur entgeistert an. „Ist das dein Ernst?“ Er biss sich auf die Unterlippe und legte den Kopf schief. „Ich will nicht, dass du das in den falschen Hals kriegst, oder so. Meine Entscheidung hat nichts mit dir zu tun.“ Dass er das explizit erwähnte, traf mich mehr, als ich zugeben wollte. Es gab mir das Gefühl, ein Psycho zu sein. „Mich hat das nur schon immer sehr interessiert. Und man kann danach so vieles tun. Ich könnte eine Praxis aufmachen, oder ins Marketing gehen. Marktforschung, oder mit Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen arbeiten. Es gib so viele Möglichkeiten.“ Er klang wirklich begeistert. Ich wollte ihm das nicht kaputtmachen. „Du weißt aber schon, wie schwierig so ein Studium ist, oder?“ Jesse nickte. „Ich weiß. Deshalb muss ich mich voll reinhängen. Aber ich will das.“ Ich hatte ihn noch nie so erlebt, so voller Feuer und Flamme. Ich legte meine Hände auf seine Unterarme. „Und du schaffst das. Ich glaube an dich. Außerdem bist du ja hochbegabt, also sollte das ja kein Problem für dich sein.“ Er verdrehte die Augen. „Jesse!“ Eine weibliche Stimme ließ uns herumfahren. Eine dunkelblonde Frau mit Nadelstreifenkostüm und Hochsteckfrisur kam auf uns zu, ihre Einkäufe in der Hand. Als ich Jesses Gesichtsausdruck bemerkte, wusste ich sofort, wer sie war. „Mom“, sagte er trocken. Ich trat einen Schritt von ihm zurück und meine Handinnenflächen begannen zu schwitzen. Niemals würde ich ihren abschätzigen Blick vergessen, den sie erst nach mehreren Sekunden von mir nahm. „Mom, das ist Lea“, stellte Jesse mich vor. „Freut mich“, sagte ich und streckte ihr höflich die Hand entgegen, nachdem ich sie unauffällig an meiner Hose abgewischt hatte, doch sie ergriff sie nicht. Ich möchte an dieser Stelle erwähnen, dass sie nur in einer Hand Einkäufe trug. Es wäre also ein Leichtes für sie gewesen, die Tüte in die andere Hand zu wechseln und mir diese Peinlichkeit zu ersparen. Bisher hatte ich angenommen, sie sei nur eine Mutter, die sich um ihren Sohn sorgte und deshalb ein paar irrationale Entscheidungen getroffen hatte. Doch offensichtlich hatte ich mich getäuscht. In diesem Moment beschloss ich, sie nicht zu mögen. „Ich habe dich lange nicht gesehen“, sagte sie beinahe vorwurfsvoll zu Jesse, nachdem sie mich mit einem schlichten Hallo abgefertigt hatte. Dann entdeckte sie Kelly im Auto. Sie winkte ihr, doch ihre Enkelin bekam es nicht mit. „Ihr solltet uns öfter besuchen kommen.“ Mir war klar, dass sie nicht mich damit meinte. Ich biss mir in die Innenseite meiner Wange und Jesse verschränkte die Arme vor der Brust. „Du weißt genau, wie ich dazu stehe.“ Sie schob den Träger ihrer Tasche zurück an seinen Platz, nachdem er ihr von der Schulter gerutscht war. „Jesse. Sie ist meine Enkelin. Ich habe ein Recht darauf, sie zu sehen.“ Sie bemühte sich merklich, nicht verärgert zu klingen. „Dieses Recht hast du dir vor langer Zeit verwirkt.“ Jesse schob mich vor sich her. „Steig ein. Wir fahren.“ Seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Trotz der Vorkommnisse in der Vergangenheit, und trotz der Tatsache, dass ich seine Mutter nicht leiden konnte, wollte ich, dass sie sich vertrugen. Doch ich würde mich hüten, ihm jetzt zu widersprechen. Ich wollte ihm nicht in den Rücken fallen. Es war bestimmt auch so schon schwer genug für Jesse, seiner Mutter die kalte Schulter zu zeigen. „Jesse, warte“, rief seine Mutter, doch er erhörte sie nicht und fuhr vom Parkplatz. Ich beobachtete, wie fest er das Lenkrad griff. Seine Knöchel traten weiß hervor. Er hatte noch nicht mit der Sache abgeschlossen. Ich war wütend auf seine Mutter, weil sie uns den Tag versaut hatte. Jesses Kiefer mahlte. Ich wollte seine Hand nehmen, damit er sich entspannte, aber ich war mir nicht sicher, ob das so eine gute Idee war. „Hast du dich schon für einen Namen entschieden?“, fragte ich stattdessen Kelly, damit sie die Anspannung nicht mitbekam. „Clara. Oder Bibi. Bin mir nicht sicher. Was meinst du?“ Ich tat so, als würde ich angestrengt überlegen. „Hm. Es ist dein Einhorn. Du solltest das entscheiden. Aber du kannst ihm auch einfach zwei Namen geben.“ Ich fragte mich, ob Kelly überhaupt wusste, dass sie einen Doppelnamen hatte. Jesse nannte sie niemals Precious. Und auch Helen und Pete nicht. „Nein. Clara“, sagte sie entschieden und hielt ihr rosa Plüschtier in die Höhe. „Hallo, Clara“, sagte ich und warf Jesse beiläufig einen Blick zu. Er schien sich etwas entspannt zu haben, hielt die Augen aber streng auf die Straße gerichtet. Helen und Pete begrüßten uns überschwänglich. Sie hatten mich schnell in ihr Herz geschlossen, als ihnen klar wurde, dass ich wegen Kelly nicht schreiend davonrennen würde. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Helen und besah sich Jesse genau. Dieser fuhr sich müde über die Augen und lehnte sich gegen den Türrahmen. „Wir haben Marissa getroffen.“ Er sagte Marissa, nicht Mom. Pete lenkte Kelly ab, indem er mit ihr ins Haus ging und ihr vorschlug, einen Platz für ihr neues Kuscheltier in ihrem Zimmer zu suchen. „Schätzchen, lass uns reingehen und darüber reden.“ Helen war so viel mehr eine Mutter für ihn, als Marissa. Ich war froh, dass er sie hatte. Sie fuhr ihm unablässig über den Rücken, während er noch zögerte. „Ich komme gleich nach“, sagte er zu ihr und sie nickte. „Na komm, Lea.“ Sie nahm mich an der Hand und ließ die Tür einfach offen stehen. Ich sah gerade noch, wie er in seine Jackeninnentasche griff, bevor Helen mich ins Wohnzimmer zog. Ich schluckte schwer. Mir wurde jetzt erst bewusst, dass ich dieses Haus zum ersten Mal betrat. Ihr Haus. Eleonores zuhause. Ich fühlte mich nicht wohl. Es kam mir vor, als sollte ich nicht hier sein, als wäre es illegal, ihr Territorium zu betreten. Es war eine bizarre Situation. Ich war unter demselben Dach wie ihre Eltern, ihre Tochter und Jesse, mit dem ich jetzt zusammen war; was nicht so wäre, wenn sie noch leben würde. „Er muss sich nur einen Moment abreagieren. Dann wird es schon wieder“, sprach Helen mir gut zu, die meinen besorgten Gesichtsausdruck falsch deutete. Ich setzte mich aufs Sofa und sie holte uns etwas zu trinken. Da sah ich die Bilder. Sie waren hübsch aufgereiht in weißen Rahmen, hingen in einer geraden Linie von der Decke bis zum Boden. Familienfotos. Hauptsächlich von Elly. Immer wieder ihr Gesicht, ihr strahlendes Lächeln. Aber das Foto, das meine Aufmerksamkeit erregte, zeigte Eleonore zusammen mit Jesse. Sie standen irgendwo im Freien und hatten offensichtlich nicht mitbekommen, dass sie fotografiert wurden. Eleonore hatte ihr Kinn auf Jesses Schulter gestützt und musterten ihn genau. Jesses Augen ruhten in der Ferne. Die Sonne schien in einem solch fabelhaften Winkel durch die Bäume, dass die Szene in ein warmes Licht gehüllt wurde und wie ein Traum wirkte. Beide lächelten selig in sich hinein. Sie wirkten wie eine Einheit. Zwei Kunstwerke, die gerade zu einem verschmolzen. „Ihr hättet euch gemocht“, holte mich Helens Stimme aus meinen Gedanken. Sie stellte eine Tasse Kaffee vor mir ab, für die ich mich herzlich bedankte. Ich brachte es nicht über mich, ihr zu sagen, dass ich keinen Kaffee mochte. Als ich den ersten heißen Schluck nahm, fragte ich mich, ob auch Eleonore aus dieser Tasse getrunken hatte; ob sie auf demselben Polster auf dem Sofa gesessen hatte. „Ihr seid euch sehr ähnlich.“ Helen klang nicht wie eine noch immer trauernde Mutter, die den Tod ihrer Tochter nicht verkraftet hatte, sondern eher wie eine fürsorgliche Frau, die meine Selbstzweifel vertreiben wollte, weil ich gerade das Foto meines Freundes, Arm in Arm mit seiner Exfreundin, entdeckt hatte. „Vielleicht nicht auf den ersten Blick. Aber eure Herzen, die schlagen im selben Takt.“ Und vor allem schlugen sie beide für Jesse. „Ich hätte sie gerne kennengelernt“, sagte ich leise, die Tasse immer noch fest umklammert. Ich sah mir auch die anderen Bilder an. Kelly als Baby, im Arm ihrer stolzen Großmutter. Helen und Pete gemeinsam mit Eleonore. Sie wirkten so glücklich. Helen zog die Nase kraus. „Glaub mir, gegen Ende der Schwangerschaft war sie unausstehlich. Sie war schon immer stur und eigenwillig. Das kombiniert mit Wehleidigkeit und Schwangerschaftsbeschwerden...“ Sie hob abwehrend die Hände. Ich hörte Poltern und Gelächter von oben. Pete spielte mit Kelly. Ich warf einen Blick in Richtung Flur. Jesse war noch nicht ins Haus gekommen. „Sie war der Teufel höchstpersönlich. Launisch, und nie zufriedenzustellen. Ich habe es bewundert, wie ruhig Jesse bleiben konnte, wenn sie ihm stundenlang die Ohren volljammerte und ihn herumkommandierte.“ Sie nahm selbst einen Schluck von ihrem Kaffee. „Versteh mich nicht falsch, ich habe meine Tochter geliebt, tue es immer noch, jeden einzelnen Tag, aber manchmal hätte ich sie gerne gepackt und an die Wand geschmissen.“ Sie lachte. „In den letzten Tagen vor der Geburt habe ich es nicht länger als eine halbe Stunde mit ihr im selben Raum ausgehalten.“ Die Haustür fiel leise ins Schloss und Jesse kam zu uns. Helen streckte die Hand nach ihm aus und er setzte sich neben sie. „Du hast es so viel besser mit ihr ausgehalten. Wie du das gemacht hast, ist mir noch immer ein Rätsel. Und du hast nie dein Lächeln verloren. Wie sie es dir gestohlen hat, werde ich nie vergessen.“ Ich sah zwischen den beiden hin und her. Sie wirkten tatsächlich wie Mutter und Sohn. Und ich war mir sicher, dass sie auch so empfanden. „Neunzehn Tage lang.“ Jesse verdrehte die Augen, wie ein Junge, der nicht wollte, dass eine peinliche Geschichte über ihn erzählt wurde. „Helen.“ Doch sie schüttelte den Kopf. „Neunzehn Tage lang hat er nicht ein einziges Mal gelächelt, kaum ein Wort gesprochen, so gut wie nichts gegessen, ist kaum aus dem Haus gegangen.“ Ich runzelte die Stirn. „Was war am neunzehnten Tag?“ Das hörte sich an wie eine Geschichte aus der Bibel. Am ersten Tag erschuf Gott Himmel und Erde, und so weiter. „Da hatte ich Kelly das erste Mal auf dem Arm“, erklärte Jesse. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)