Life is precious von JesLea (Das Leben ist wertvoll) ================================================================================ Kapitel 18: Waffenstillstand ---------------------------- Am nächsten Tag packte ich den Brief in meine Tasche, um ihn nach der Schule direkt zum Tierheim mitzunehmen und dort zu lesen. Tiere hatten den Vorteil, gut zuzuhören, aber nie zu wiedersprechen oder einem ins Wort zu fallen. In Mathe bemerkte ich, dass ich noch immer die Formeln nicht gelernt hatte, die Jesse mir aufgeschrieben hatte. Ich bekam furchtbare Kopfschmerzen, weil ich über so viele Dinge nachdachte. Jesse. Eleonore. Kelly. Natalie. Im Unterricht passte ich nicht auf. Und zu meinem Pech schrieben wir in Französisch einen unangekündigten Test. Ich konnte mich nicht konzentrieren und beantwortete nur etwa die Hälfte der Fragen, und auch diese wahrscheinlich fehlerhaft. Das ließ meine Stimmung endgültig in den Keller sinken. Ich war froh, als ich nach Schulschluss endlich an die frische Luft kam. Da ich hoffte, dass meine Kopfschmerzen dadurch verschwinden würden, beschloss ich, zum Tierheim zu laufen. Zu meiner Überraschung sah ich Kasper mit Martha reden. Bux, der ihn wie immer begleitete, kündigte mein Eintreffen an. Ich hob die Hand zur Begrüßung und gab Bux die Liebkosung, die er vehement forderte. „Lust auf einen Spaziergang?“, fragte Kasper mit seinem schiefen Lächeln. „Ich hole nur schnell Pearl.“ Wir machten eine große Runde und setzten uns danach ins Gras auf dem Hundetrainingsplatz, um die beiden frei laufen lassen zu können. Bisher hatten wir hauptsächlich über seine Ausbildung als Fotograf gesprochen, die er vor kurzem begonnen hatte. Wenn ich ihm dabei zuhörte, wie er davon schwärmte, und sah, wie seine Augen dabei leuchteten, wünschte ich mir, ich könnte mich auch für etwas so begeistern, für etwas, das ich zu meinem Beruf machen könnte. Die Arbeit mit den Tieren machte mir zwar großen Spaß, und ich konnte das den ganzen Tag machen, aber von dem Gehalt eines Tierpflegers im Tierheim konnte man leider nicht leben. Ich würde mir nie eine eigene Wohnung leisten können. Aber ich hatte wirklich nicht vor, ewig bei meinen Eltern zu leben, ganz egal, wie gerne ich meine Arbeit verrichtete. Ich beneidete Jesse darum, dass er sich von seinem Elternhaus abgenabelt hatte, auch wenn ich weiterhin Kontakt zu meinen haben wollte. „Du siehst müde aus“, sagte Kasper und betrachtete mich besorgt. Wenn du wüsstest, dachte ich und biss mir auf die Lippe. „Ich habe nur schlecht geschlafen“, sagte ich wahrheitsgemäß. „Alles in Ordnung.“ Er glaubte mir meine Lüge, denn ich merkte deutlich, wie er sich entspannte. Er blinzelte der Sonne entgegen und stützte sich auf seine Hände. „Wann haben Zero ihren nächsten Auftritt?“, fragte der Bruder meiner besten Freundin und mir wurde bewusst, dass ihn keiner über den Auftritt am Samstag informiert hatte, was mir sofort ein schlechtes Gewissen bereitete. Ich hatte ehrlich gesagt keine Ahnung. „Tammy hat einen Plan für die nächsten Monate zuhause. Ich sage dir dann Bescheid.“ Ich kramte in meiner Tasche nach Stift und Zettel, um mir das aufzuschreiben, weil ich in letzter Zeit dauernd Gefahr lief, etwas zu vergessen. Dabei stieß ich auf den Brief. „Was ist?“, fragte Kasper, als er mich zögern sah. Ich zog den Brief heraus. „Du hast ihn gelesen“, schlussfolgerte er, da der Umschlag aufgerissen war. Ich schüttelte den Kopf und starrte zum hundertsten Mal auf das Papier. „Nein. Ich habe ihn aufgemacht, aber nicht gelesen.“ Kasper seufzte. „Meine Schwester ist nicht zu einem Monster mutiert. Das weißt du, oder?“ Es schockierte mich, dass er das sagte. „Ich weiß“, erwiderte ich sofort. „Keine Ahnung, wieso ich das so lange vor mir herschiebe.“ Kasper nahm mir den Brief aus der Hand. Beinahe hätte ich ihn dafür angeschrien. „Soll ich ihn zuerst lesen? Wenn was Blödes drinsteht, können wir ihn ja verbrennen.“ Ich schmunzelte. „Ich kann ihn dir auch vorlesen“, schlug er vor. Das hielt ich für eine gute Idee, denn so konnte ich mich nicht mehr davor drücken. Zustimmend nickte ich. „Okay.“ Kasper sah mich aufmunternd an, während ich mich nervös in einen Schneidersitz hockte und an meinen Nägeln kaute. Das hatte ich seit Jahren nicht mehr getan. „Liebe Lea“, begann Kasper, nachdem er sich geräuspert hatte. „Ich bin's. Natalie. Du weißt schon, dieses blonde Mädchen, das mal deine beste Freundin war.“ Mir fiel sofort die Vergangenheitsform auf, was mir einen Stich versetzte. Außerdem waren ihre Haare nur blond gefärbt. Kasper schien zu merken, wie ich die Luft anhielt und ergriff meine Hand. Ich war froh, etwas zum festhalten zu haben. „Zunächst möchte ich mich für all deine Briefe bedanken. Da ich dir nie zurückgeschrieben habe, ist es nicht verwunderlich, dass du irgendwann damit aufgehört hast. Aber ich kann dir versichern, ich habe mich über jeden einzelnen der vierunddreißig Briefe gefreut. Und es ist schön, zu wissen, dass es dir gut geht.“ In keinem meiner Briefe hatte ich erwähnt, wie schlecht es mir eigentlich ging. Ich hatte mich immer nur darauf konzentriert, ihr zu versichern, dass ich sie nicht aufgeben würde. Ich hatte Schultratsch erzählt, um ihr etwas Alltag zurückzugeben. Aber wie es mir ging, hatte ich nie erwähnt. Oder ich hatte gelogen. „Ich möchte mich dafür entschuldigen, was für eine schlechte Freundin ich war. Nicht nur, seit ich weg bin, sonder auch davor schon. Du hast mich immer vor Sven gewarnt, doch ich wollte nicht auf dich hören. Ich habe dich vernachlässigt und dadurch unsere wunderbare Freundschaft gefährdet. Ich hoffe, wenn ich entlassen werde, die Gelegenheit zu haben, wiedergutzumachen, was ich getan und wie ich mich verhalten habe. Und ich hoffe, diese Chance von dir zu bekommen. Wenn du das nicht möchtest, kann ich das natürlich verstehen. Ich wünsche mir nur mein Leben zurück. Und du warst – bist – ein wichtiger Teil darin.“ Kasper sah mich prüfend an. Mir ging es gut. Ich hatte Tränen in den Augen, aber mir ging es gut. Fantastisch. „Da steht noch mehr“, sagte Kasper und ich nickte. „Lies weiter.“ Meine Stimme war ein ersticktes Zittern, doch ausnahmsweise weinte ich Freudentränen. „Komm mal her.“ Natalies Bruder legte den Brief zur Seite und nahm mich in den Arm, während ich vor mich hin schluchzte. Ich hielt nichts zurück. Es tat so gut, loszulassen, die Zweifel endlich begraben zu können. „Ich bin so erleichtert.“ Kasper klopfte meine Schulter. „Siehst du. Kein Monster.“ Ich lachte und wischte mir die Tränen ab. „Störe ich bei irgendwas?“ Bei dem Klang seiner Stimme löste ich mich sofort von Kasper. „Jesse.“ Er stand, mit den Ellbogen auf den Zaun gestützt, am Rand des Trainingsplatzes. Und er wirkte nicht gerade erfreut. Ich stand auf, um Abstand zwischen mich und Kasper zu bringen, was lächerlich war, weil wir nichts Falsches getan hatten. Für Jesse hatte das wahrscheinlich einen anderen Eindruck gemacht. Ich strich mir eine Strähne hinters Ohr und war unschlüssig, ob ich zu ihm gehen sollte. Er nahm mir die Entscheidung ab, indem er das Tor öffnete und zu uns hereinkam. Bux begrüßte ihn stürmisch, doch er ignorierte es und steckte seine Hände in die Jackentasche. „Was machst du denn hier?“, fragte ich so heiter wie möglich. Jesse betrachtete Kasper von oben bis unten und beschloss dann, ihn zu ignorieren, als dieser ihn begrüßte. Kasper war im ersten Moment etwas verwirrt, doch er kombinierte anscheinend ziemlich schnell und rief nach Bux, um ihn an die Leine zu nehmen. Ich hatte ihm noch nicht von Jesse und mir erzählt. „Ich lasse euch beide mal allein“, sagte er und warf mir einen vielsagenden Blick zu, worüber ich nur die Augen verdrehte. „Danke, Kasper. Für alles.“ Ich wollte eigentlich nicht, dass er ging. Doch ihn zu bitten, zu bleiben, schien mir keine schlaue Idee zu sein, so wie Jesse ihn beäugte. Es erinnerte mich an unsere erste Begegnung. Da hatte er mich auch so skeptisch angesehen. „Hier. Ich glaube, das schaffst du jetzt alleine.“ Er drückte mir Natalies Brief in die Hand. Für einen Moment wog der Umschlag genauso schwer wie damals, doch als ich mich an die Worte erinnerte, wurde es gleich besser. „Danke“, flüsterte ich erneut und er zwinkerte mir zu. Ich war mir nicht sicher, ob er das extra machte, damit Jesse es sah. Doch es war mir eigentlich egal. Jesse sollte sich nicht so anstellen. Kasper war mein Freund. Und das würde sich nicht ändern, nur weil er eifersüchtig war. „Wir sehen uns.“ Ob er das zu mir sagte oder Jesse, oder uns beiden, konnte ich nicht heraushören, aber im Gegensatz zu Jesse erwiderte ich seinen Gruß. Erst als Kasper ins Auto gestiegen war, drehte ich mich zu Jesse um, dessen Hände noch immer in seiner Jacke steckten. „Hi“, sagte ich, als mir auffiel, dass ich ihn bisher gar nicht richtig begrüßt hatte. „Hi.“ Er schien sich etwas zu entspannen, sah aber immer noch skeptisch zu, wie Kasper davonfuhr. Wenn ich nicht selbst dabei gewesen wäre, wäre ich nie darauf gekommen, dass Jesse gestern sein großes Geheimnis gelüftete hatte. „Woher wusstest du, wo ich bin?“ Ich war nervös, weil ich Angst hatte, Jesse könnte da ernsthaft was in den falschen Hals gekriegt haben. Kasper und ich hatten uns zwar nur umarmt, aber ich war ja bekanntlich eher nicht so der anhängliche Typ. „Du warst nicht zuhause, also... Es gibt nicht so viele Plätze, an denen man nach dir suchen muss.“ War das ein absichtlicher Seitenhieb? „Wow“, war alles, was ich darauf entgegnete. Ich ging in die Hocke, was Pearl sofort dazu veranlasste, zu mir zu laufen. Ihr Schwanz wedelte freudig, während ich ihr die Leine anlegte. „Ich bringe Pearl in ihre Box.“ Und dann, weil ich es doch nicht aushalten konnte, sauer auf ihn zu sein, und ich ihn so nah bei mir haben wollte wie möglich: „Kommst du?“ Ich schlug einen versöhnlichen Ton an. Jesse sagte zwar nichts, zögerte aber keine Sekunde, mir nachzusetzen. Ich nahm das als Friedensangebot, oder wenigstens als Waffenstillstand. Ich wollte ihm sagen, dass ich mich freute, ihn zu sehen, doch er kam mir zuvor. „Kasper ist also nicht nur unser Fotograf, was?“ Von wegen Waffenstillstand. Ich seufzte und schloss die Tür hinter uns, als wir den Hundetrakt verließen. „Lea. Oh. Hallo, Jesse. Schön, dich wiederzusehen.“ Ich konnte Martha ihre Überraschung ansehen. Normalerweise war ich immer allein, und heute kamen mich gleich zwei Männer besuchen. Ich wollte nicht, dass sie möglicherweise ausplauderte, dass Kasper öfter vorbeikam, deshalb verabschiedete ich mich schnell, mit der Entschuldigung, wir seien gerade auf dem Sprung. Nicht, dass ich vor Jesse meine gelegentlichen Treffen mit Kasper geheimhalten wollte, aber ich wollte es ihm selbst sagen, in aller Ruhe. Wir stiegen in Jesses Wagen und ausnahmsweise drehte er die Musik leise. „Wo fahren wir hin?“, fragte ich und bemerkte, wie angespannt sein Kiefer war, als ich ihm einen Blick zuwarf. Es wunderte mich, keine Mahlgeräusche zu hören. Ich seufzte. „Kasper ist Natalies Bruder“, erinnerte ich ihn und beobachtete seine Reaktion. Offensichtlich hatte er das vergessen. Er biss sich auf die Lippe. Am liebsten hätte ich mich zu ihm hinübergelehnt und ihn geküsst. „Und gerade eben, als du dazugestoßen bist, hat er mir einen Brief von ihr vorgelesen. Es ist der Erste, den sie mir geschrieben hat.“ Ich wollte unbedingt wissen, was noch darin stand. Es juckte mich in den Fingern, den Umschlag hervorzuholen und die Zeilen zu überfliegen. „Ich habe das wochenlang vor mir hergeschoben. Ich brauchte einfach jemanden, der das mit mir gemeinsam macht.“ Jesse seufzte. „Das verstehe ich ja. Aber wieso bist du nicht zu mir gekommen?“ Er war nicht sauer, nur neugierig. „Du kennst sie nicht.“ Ich sagte es, ohne nachzudenken, doch es entsprach der Wahrheit. Jesse hatte keinerlei Bezug zu Natalie. „Außerdem wollte ich nicht noch mehr Chaos... Ich meine, wir haben schon genug Dinge zu verarbeiten. Da wollte ich nicht auch noch damit kommen.“ Jesse presste die Lippen aufeinander. „Das heißt jetzt hoffentlich nicht, dass du bei jedem Problem zu ihm rennst, statt zu mir.“ Verdammt. Er war noch immer eifersüchtig. Ich dachte, nach gestern würden wir uns nicht mit solchen Banalitäten aufhalten. Doch da hatte ich mich wohl getäuscht. Wir waren ein Paar mit ganz normalen Problemen – und noch ein paar mehr. Aber eigentlich war ich auch froh über seine Reaktion, weil es mir zeigte, wie wichtig ich ihm war. „Nein. Du bist immer noch meine Nummer eins, wenn es darum geht, mir beim Heulen zuzusehen“, versuchte ich einen Scherz. „Du hast geweint?“, fragte Jesse jetzt besorgt. Ich zuckte mit den Schultern. „Ausnahmsweise waren es Freudentränen“, erklärte ich ihm. „Also ist es ein guter Brief?“ Ich nickte, und nach einiger Überlegung fügte ich hinzu: „Willst du den Rest mit mir lesen?“ Jesse verzog das Gesicht. Ich wusste genau, was er dachte. „Ich frage dich nicht, damit du dich besser fühlst. Vielleicht bekommst du durch den Brief ein Gefühl dafür, wer Natalie ist.“ Jesse nahm meine Hand, ohne von der Straße wegzusehen. „Ich würde deine Freundin gerne kennenlernen.“ Er setze mehrmals zu einem neuen Satz an, schloss aber jedes Mal wieder den Mund. „Was?“ Er atmete tief durch. „Ich bin ziemlich erleichtert... Ich dachte schon, nach gestern... Dass dir das alles zu viel ist und...“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich dachte, vielleicht hast du es dir anders überlegt.“ Ich umschloss seine Hand, die meine festhielt, mit der anderen. Ich war nicht die Einzige, die unsicher sein konnte, das durfte ich nicht vergessen. „Jesse.“ Ich wollte ihm sagen, dass ich ihn liebte. Ich wollte es wirklich. Aber nicht im Auto. „Es hat sich nichts geändert. Ich will mit dir zusammen sein. Mit allem, was dazugehört.“ Jesse nickte. Er hatte sich wieder gefangen. „Gut, dann weiß ich, was wir jetzt machen.“ Ich runzelte die Stirn. „Zeit, deine Eltern kennenzulernen.“ Ich machte große Augen. Ich war mir nicht sicher, ob ich dazu schon bereit war; jemals bereit sein würde. „Du solltest vielleicht nicht erwähnen, dass du rauchst“, fiel mir als erstes dazu ein. Man konnte es nicht mehr riechen. Keine Spur von Nikotin oder Rauch. „Ich bin so gut wie clean“, sagte Jesse stolz. „Manchmal abends noch eine, aber das war's. Ich habe auch immer nur eine dabei. Für Notfälle.“ Er griff in seine Jackeninnentasche und zeigte mir die Zigarette. „Ich bin stolz auf dich“, sagte ich und fuhr ihm durchs Haar. Es passierte von ganz allein. Ich spürte, wie er seinen Kopf leicht in meine Richtung lehnte, die Berührung genießend. Ich wollte nicht zu meinen Eltern fahren, sondern mit ihm allein sein. Aber je schneller wir dieses Kennenlerngespräch hinter uns brachten, desto besser. „Sonst noch was, das ich besser verschweigen sollte?“, fragte er und ich lachte. „Deine Tattoos sollten kein Problem sein. Solange du mich nicht dazu überredest, mir auch eins stechen zu lassen.“ Ich erinnerte mich an unseren Besuch im Tattoostudio. „Aber vielleicht lasse ich mir ja doch die Nase piercen.“ Jesse warf mir einen warnenden Blick zu. „Wehe. Ich lasse nicht zu, dass jemand Hand an dein süßes Gesicht legt.“ Ich wurde etwas rot, doch glücklicherweise musste Jesse sich auf die Straße konzentrieren. „Bei dir alles gut verheilt?“, fragte ich Jesse und sah auf seine Schulterblätter. „Ja. Bei Needle hatte ich noch nie Probleme. Er ist sehr professionell.“ Wir kamen bei mir zuhause an. Ich wollte noch nicht aussteigen und fragte deshalb weiter. „Wie bist du eigentlich auf die Idee für den Spruch gekommen? Ich meine, die Message ist klar: Life is precious. Aber wie kommt man da drauf?“ Jesse schnallte sich ab und wandte sich mir zu. „Kellys zweiter Vorname ist Precious.“ Oh. Das war ja nicht nur ein schöner Spruch, sondern auch noch ganz schön bedeutungsschwanger. „Das gefällt mir“, sagte ich und beugte mich vor, um ihn zu küssen. Anfangs erwiderte er den Kuss, doch dann lehnte er sich etwas zurück. „Und du versuchst, Zeit zu schinden. Lass und endlich da reingehen.“ Wie war es möglich, dass er mich nach so kurzer Zeit schon so leicht durchschaute? Ich seufzte und folgte ihm zum Haus meiner Eltern. Es fühlte sich an, wie der Gang zur Schlachtbank. Zur Sicherheit drehte ich den Schlüssel um, damit keine peinlichen Situationen entstanden. „Das hätten wir geschafft.“ Ich lehnte mich gegen die Tür meines Zimmers und schloss kurz die Augen. „War doch gar nicht so schlimm“, meinte Jesse und setzte sich wie selbstverständlich auf mein Bett. Ich mochte das. Ich zuckte die Achseln und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich weiß nicht. Es war irgendwie komisch.“ Jesse ließ seinen Blick über mein Bücherregal schweifen. „Bist du dir auch vorgekommen, wie bei einem Bewerbungsgespräch?“, fragte ich und setzte mich neben ihn. „Ich finde deine Eltern, ehrlich gesagt, ziemlich nett.“ Ich wollte widersprechen, doch dann fiel mir wieder ein, wie schwierig sein Verhältnis zu seiner Mutter war. „Außerdem ist es doch verständlich, dass sie mich ausfragen. Sie wollen eben wissen, mit was für einem Typen ihre Tochter abhängt.“ Ich hob meine Augenbrauen. Ich wünschte, ich könnte es mit nur einer, aber egal wie lange ich vor dem Spiegel übte, es klappte einfach nicht. Da hatte man so viele Gesichtsmuskeln, und zu nichts waren sie nutze. „Abhängt?“, wiederholte ich seine Worte. Jesse verdrehte die Augen. „Gut, dann lass uns abhängen.“ Ich lehnte mich an ihn und legte meinen Kopf auf seine Schulter. Wir hatten genau die richtige Größe füreinander. „Jesse“, schlug ich nach einer kurzen Stille einen ernsteren Ton an. „Hm?“ Ich spürte, wie er mich von oben ansah. „Wieso hast du... Ich meine, es ist deine Sache – ich meine, deine Entscheidung -, aber wieso hast du Kelly nicht erwähnt?“ Meine Eltern hatten ihn natürlich nicht danach gefragt, ob er eventuell Vater eines Kleinkinds war und eine tote Exfreundin hatte, aber es hatte Gelegenheiten gegeben, das Thema anzuschneiden. Ich war ihm nicht böse deswegen, eher erleichtert, aber ich wollte trotzdem gerne seine Beweggründe erfahren. „Ich dachte, das wäre nicht unbedingt das passende Thema für eine erste Begegnung.“ Er legte einen Arm um mich. „Ist das okay für dich?“ Ich nickte. „Natürlich. Es ist deine Entscheidung.“ Ich hoffte, bis zu dem Tag, an dem sie es erfuhr, meine Mutter endlich davon überzeugen zu können, dass es mir besser ging. Sonst würde sie Jesse all die Dinge erzählen, die ich getan hatte. Er wusste zwar inzwischen von meinen Depressionen, aber im Detail konnte das doch nochmal eine ganz andere Wirkung auf ihn haben. Und wenn meine Mutter ihm dann nahelegte, ich wäre kein guter Umgang für Kelly – und Kinder im Allgemeinen –, würde Jesse sich das mit uns vielleicht doch nochmal überlegen. Woher ich wusste, dass meine Mutter das tun würde? Ganz einfach: Sie hatte es schon mal getan. Als meine Cousine uns samt Ehemann und Baby besuchen gekommen war. Wie das nunmal so war mit Neugeborenen, wurde Phil – Ein schrecklicher Name für ein Kind, wie ich fand. Nur Erwachsene sollten Phil heißen. Man konnte nicht mal einen Kosenamen daraus machen. Phily. Philchen. Funktioniert nicht. – der Reihe nach in der Familie herumgegeben, und jeder verfiel in einen Wahn der Babysprache und des Grimasseschneidens. Nur ich nicht. Ich hatte keine Lust, mich mit Phil zu unterhalten. Er würde ja doch nicht antworten. Und als ich dann an die Reihe kam, ihn auf den Arm zu nehmen, wurde er mir trotz Protest einfach in die Hand gedrückt. Also stand ich da, stocksteif, das Baby im Arm, ohne mich zu bewegen oder Anstalten zu machen, ihn mit seltsamen Lauten zum Lächeln zu bringen. Phil schien meine abgeneigte Aura zu empfangen, denn er begann sofort, zu weinen. Und als ich auch dagegen nichts unternahm, wurde mir das Baby wieder entrissen und alle versuchten, ihn zu beruhigen. Mir war es egal. Mir war es egal, ob ich Phil zum Weinen gebracht hatte, mir war sogar egal, ob er wieder damit aufhörte oder nicht. Mir war egal, was die anderen von mir dachten, nur weil ich kein angebrachtes Interesse an dem Baby zeigte. Ich steckte in einer meiner tiefsten Depressionen, was bedeutete, dass mir so ziemlich alles egal war. Auch, dass meine Mutter meiner Cousine flüsternd erzählte, wie ich auf dem Spielplatz eine Woche zuvor mit einem Stein nach einem Kind geworfen und getroffen hatte. Sie hatte mich in die Küche geschickt, um Getränke zu holen, damit ich nicht mitbekam, wenn sie es erzählte. Doch auch wenn ich kaum etwas sagte und auf keine Fragen antwortete, die mir gestellt wurden, bedeutete das nicht, dass mein Gehör beeinträchtigt war. Das schien meine Mutter häufig zu vergessen. Aber auch das war mir egal. Was mir im Nachhinein jedoch nicht egal war, war die Tatsache, dass meine Mutter fest davon überzeugt war, ich hätte das Kind mit Absicht beworfen. Das kleine Mädchen hatte übrigens eine große Schramme auf der Stirn davongetragen, die mit vier Stichen genäht werden musste. Ich glaubte auch, mich an eine Gehirnerschütterung zu erinnern. Ich hatte zwar tatsächlich vorsätzlich mit Steinen geworfen, aber nicht auf Kinder, sonder ins Gebüsch. Das half mir, Aggressionen abzubauen – oder Langeweile zu bekämpften, je nachdem. Dumm nur, dass sich in einem der Büsche ein Mädchen versteckt hatte. Und noch dümmer, dass sie felsenfest behauptete, ich hätte sie mit Absicht getroffen. Was sollte ich sagen. Ihr Wort stand gegen meines. Und sie war ein süßes, verheultes Mädchen mit einem blutigen Kopf, und ich ein depressiver, gefühlloser Teenager. Kurz gesagt: Alle glaubten ihr, nicht mir. Einschließlich meiner Mutter. Ich wäre verletzt gewesen, hätte ich zu der Zeit etwas empfunden. Jedenfalls wurde mir Phil nicht erneut aufgedrängt, als ich aus der Küche zurückkam. Ich beschwerte mich nicht darüber. Um meine Gedanken aus diesen Erinnerungen zu reißen, holte ich den Brief aus meiner Tasche und drückte ihn Jesse in die Hand. „Liest du ihn mir vor?“ Liebe Lea, Ich bin's. Natalie. Du weißt schon, dieses blonde Mädchen, das mal deine beste Freundin war. Zunächst möchte ich mich für all deine Briefe bedanken. Da ich dir nie zurückgeschrieben habe, ist es nicht verwunderlich, dass du irgendwann damit aufgehört hast. Aber ich kann dir versichern, ich habe mich über jeden einzelnen der vierunddreißig Briefe gefreut. Und es ist schön, zu wissen, dass es dir gut geht. Ich möchte mich dafür entschuldigen, was für eine schlechte Freundin ich war. Nicht nur, seit ich weg bin, sondern auch davor schon. Du hast mich immer vor Sven gewarnt, doch ich wollte nicht auf dich hören. Ich habe dich vernachlässigt und dadurch unsere wunderbare Freundschaft gefährdet. Ich hoffe, wenn ich entlassen werde, die Gelegenheit zu haben, wiedergutzumachen, was ich getan und wie ich mich verhalten habe. Und ich hoffe, diese Chance von dir zu bekommen. Wenn du das nicht möchtest, kann ich das natürlich verstehen. Ich wünsche mir nur mein Leben zurück. Und du warst – bist – ein wichtiger Teil darin. Bis ich hier rauskomme, dauert es wohl noch ein paar Wochen, aber bis dahin würde ich mich sehr über einen Brief von dir freuen. Möglicherweise hast du ja schon lange mit mir abgeschlossen... Ich möchte dir nur mitteilen, dass es mir besser geht. Ich weiß inzwischen, dass ich nicht so weitermachen kann. Ich habe meine Krankheit akzeptiert und arbeite daran. Auch wenn mir das nicht immer leicht fällt. Das Pflegepersonal ist sehr nett. Ich glaube, ich habe mich ein wenig in Angus verknallt. Er ist auch hier in Behandlung. Mir war nie klar, dass auch Jungs magersüchtig werden. Klischee lässt grüßen. Er ist total witzig. Ich glaube, ich habe es hauptsächlich ihm zu verdanken, dass es mit mir wieder aufwärts geht. Wie sieht es bei dir aus? Gibt es jemanden? Kasper hat erzählt, du hängst jetzt öfter mit einer Band ab? Wie cool ist das denn! Ich möchte alles wissen, was bei dir passiert ist, seit ich weg bin. Wirklich alles! Bitte schreib mir. Deine Natalie Jesse sah mich aufmerksam an, nachdem er geendet hatte. Ich lächelte nur. „Bist du glücklich?“, fragte er und legte mir den Brief in die Hand. „Ja“, sagte ich und küsste ihn. Wir lagen beide auf dem Bett und ich kuschelte mich an ihn. „Sie hört sich nett an.“ Er fuhr mit seiner Hand unablässig meinen Rücken hinauf und hinab. Wäre ich dazu fähig, würde ich jetzt schnurren. „Das ist sie“, stimmte ich zu. „Stellst du mich ihr später mal vor?“ Mir gefiel, dass er von uns in der Zukunft sprach. „Besser. Ich schreibe ihr von dir.“ Jesse grinste. „Liebe Natalie. Mir geht es fantastisch. Ich habe mir nämlich den besten Typen der Stadt gekrallt. Er ist gutaussehend, wahnsinnig witzig, charmant, sexy, intelligent und ein unglaublich guter Küsser.“ Ich boxte Jesse in die Seite. „Das hättest du wohl gerne!“ Er sah mich unschuldig an. „Was? War etwa irgendwas davon gelogen?“ Er fasste sich gespielt verletzt an die Brust. „Doch nicht letzteres, oder? Das müssen wir ändern. Lass mich üben.“ Er beugte sich zu mir herüber und versiegelte meine Lippen mit seinen. Ich spürte, wie er lächelte. Er musste definitiv nicht üben. Aber ich ließ ihn trotzdem. Hosted by Animexx e.V. 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