Life is precious von JesLea (Das Leben ist wertvoll) ================================================================================ Kapitel 15: Eiseskälte ---------------------- Was? Blut rauschte in meinen Ohren. Ich war mir der Blicke, die auf mir ruhten, durchaus bewusst. Doch ausnahmsweise war mir das völlig egal. „Deine...“ Ich konnte nicht sprechen. Wie sollte ich auch? Es kam mir vor, als hätte Jesse gerade eine Bombe platzen lassen. „Kelly, das ist Lea.“ Kelly sah mich aufmerksam an, blieb aber stumm. Ich wollte etwas Nettes sagen, ihr erklären, dass ich sie nur anstarrte, als wäre sie ein Alien, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich auf diese Eröffnung reagieren sollte. Seine Tochter. Tochter! Mir drängte sich zwangsläufig der Gedanke auf, wenn das sein Kind war, wo war dann die Mutter dazu? Mir drehte sich der Magen um. Hatte Jesse es etwa nicht für nötig gehalten, mir zu sagen, was ich unbedingt hätte wissen müssen? Er studierte mein Gesicht, wollte meine Reaktion einschätzen, aber mir waren alle Gesichtszüge entglitten. „Hallo, Kelly“, sagte ich wie ein Roboter. Die Kleine konnte schließlich nichts dafür, dass ihr Vater ein Arschloch war. Ohne ein weiteres Wort, und ohne Jesse in die Augen zu sehen, drehte ich mich um und eilte aus dem Haus. Niemand folgte mir und ich war froh darüber. Nein. Ich wünschte, mir würde jemand folgen. Und mir die ganze Situation erklären. Oder mir sagen, dass ich das alles nur falsch verstanden hatte, dass alles in Ordnung war. Meine Tasche! Meine Tasche war noch da drin. Ich hielt einen Augenblick inne, beschloss dann jedoch, nicht um alles in der Welt zurückzugehen. Mein Handy war in der Tasche, mein Geldbeutel und meine Schlüssel. Aber gerade schien mir das nicht wichtig genug, um kehrtzumachen. Absolut gar nichts konnte mich zum Umkehren bewegen. Im Laufschritt ging ich die Straße hinunter, ohne darauf zu achten, wo ich hinlief. Ich wusste sowieso nicht, wie ich von hier nach Hause kommen sollte. Die grobe Richtung, ja, aber wie lange würde ich laufen müssen für eine Strecke, bei der man mit dem Auto eine Viertelstunde benötigte? Zwei Stunden? Wenn ich mich nicht verlief... Als mich eine Passantin schockiert ansah und fragte, ob alles in Ordnung war, nickte ich nur und ging einfach weiter. Konnte man mir jetzt schon ansehen, was für eine Idiotin ich war? Da wurde mir erst bewusst, dass ich weinte. Die Tränen flossen in Strömen meine Wangen herunter. Ich konnte gar nicht genau sagen, wieso. War ich traurig? Oder sauer auf Jesse, sauer auf mich? Wahrscheinlich eine Mischung aus allem zusammen. Wind kam auf und mir fiel auf, auch meine Jacke im Haus gelassen zu haben. Ich schlang meine Arme um meinen Körper und fröstelte. Zumindest hatte ich mich umgezogen, sonst würde ich jetzt in Jesses Klamotten durch die Straßen irren, sein Geruch an mir klebend. Mein Magen zog sich zusammen. Ich wollte nicht an ihn denken. Aber die Augen des kleinen Mädchens, die seinen so ähnlich waren, verfolgten mich. Kelly. Ich hatte den Namen schon mal gehört. Ich durchforstete meine Erinnerungen nach einem Hinweis auf sie. Hatte er sie mal erwähnt? Da fiel mir unser Besuch im Fastfoodrestaurant wieder ein, nach dem ersten Gig, den Jesse mit Zero gespielt hatte. Der Abend, an dem er mich gezwungen hatte, ihn um Hilfe zu bitten. Wieso hatte er das damals getan? Es schien, als wäre er inzwischen eine andere Person. Aber wenn ich ehrlich mit mir war, kannte ich ihn genauso wenig wie vorher. Ein Besuch beim Tätowierer und eine Billardrunde machten uns nicht zu Seelenverwandten. Auch wenn ich mir das vielleicht wünschte. Lächerlich. Das war die einzige Beschreibung, die mir einfiel, wenn ich an meine Gefühle für Jesse dachte. Wieso hatte ich mich überhaupt in ihn verliebt? Auch wenn ich versuchte, mich in meine Wut hineinzusteigern, musste ich nur daran denken, wie Jesse ausgesehen hatte, das kleine Mädchen auf seinem Schoß, als würde sich die Welt nur um sie beide drehen, und schon verpuffte der Ärger. Damals hatte er erwähnt, dass er sie vermisste, weil sie gerade im Urlaub war. Warum war er nicht mitgegangen? Er war schließlich der Vater, niemand sonst. Und wer war Kellys Mutter? „Lea.“ Bettys Stimme drang kaum zu mir vor. Sie musste mehrmals rufen, bis ich tatsächlich realisierte, dass sie hier war. Ich drehte den Kopf. Sie fuhr in Jesses Wagen neben mir her, das Fenster heruntergekurbelt. „Lea, bitte bleib stehen. Lass uns reden.“ Diese Worte hätte ich mir von Jesse gewünscht. Ich hatte trotz allem irgendwie gehofft, er käme mir hinterher und würde mir alles erklären, mir versichern, das alles nur ein Missverständnis war. „Lea, bitte warte.“ Ich hielt so abrupt an, dass Betty mit dem Auto ein paar Meter vor mir stehen blieb. Sie stieg aus und eilte um den Wagen herum. „Bist du okay?“ Sie sah aus, als wollte sie mich umarmen und würde sich nicht trauen. Wieso war sie überhaupt hier? Sie war Jesses Schwester. Sollte sie da nicht zu ihm halten, statt zu mir? Naja, es war ja nicht so, dass wir uns gestritten hatten; ich war einfach weggelaufen. Eigentlich war das ziemlich kindisch, aber es könnte mich im Moment nicht weniger interessieren. „Wer ist ihre Mutter?“ Es schoss einfach aus mir heraus. Ich konnte mich nicht zurückhalten. Dabei war das eine völlig sinnlose Frage. Ich kannte keine Mädchen – oder Frauen – aus Jesses Bekanntenkreis. Zumindest keine, die in Frage kämen. Mir fiel die Blondine aus dem Garten ein. Die Haarfarbe würde schon mal stimmen. Mir wurde schlecht. Jesse war dunkelblond, beinahe brünett, von ihm konnte Kelly die blonden Haare nicht haben. Betty biss sich auf die Lippe, sah zu Boden und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Ich dachte, du wolltest reden?“ Mir tat sofort Leid, dass ich so ruppig zu ihr war, schließlich konnte sie nichts für ihren Bruder, aber ich hatte gerade nicht die Energie, mich zu entschuldigen. Betty rang mit sich, ob sie es mir sagen sollte. Los, wollte ich sie drängen, spuck's schon aus. In meinem Kopf brauten sich bereits die wildesten Fantasien zusammen. Möglicherweise war diese Blondine tatsächlich Kellys Mutter, und sie und Jesse steckten in einer On-Off-Beziehung. Oder Jesse führte ein Doppelleben und seine Freundin wusste genauso wenig von mir, wie ich von ihr. Oder er stand auf ältere Frauen und er hatte das Kind mit Helen gezeugt. Das würde erklären, warum sie hier war, zur gleichen Zeit, als Kelly auftauchte. Aber wer war dann Pete? „Sie ist tot.“ Oh. Mir entglitten alle Gesichtszüge. Ich schlug die Hand vor den Mund. „Tut mir Leid.“ All meine Wut und all die dummen Gedanken verpufften innerhalb von Sekunden. Zurück blieb nur Schuldgefühl und die Gewissheit, mich total zum Deppen gemacht zu haben. Ich wollte sofort zurück zu Jesse und mich bei ihm entschuldigen. Doch wie konnte ich ihm je wieder unter die Augen treten? Ich schämte mich in Grund und Boden. „Es tut mir so Leid“, hauchte ich erneut und Betty schloss mich in ihre Arme. Ich spürte heiße Tränen aufkommen und blinzelte sie weg. „Du bist eiskalt.“ Betty rieb mir über die Arme und nickte Richtung Auto. „Komm, fahren wir zurück.“ Ich zögerte. „Ich weiß nicht... Ich komme mir so dumm vor.“ Betty schüttelte den Kopf, während sie mich zum Wagen bugsierte. „Du konntest das doch nicht ahnen. Außerdem hätte er es dir auch schonender beibringen können.“ Jesses Schwester lachte. „Manchmal ist Jesse echt ein Idiot. Ich glaube, er wollte nur sehen, wie du reagierst.“ Ich begrüßte die Wärme im Auto. „Also war das ein Test?“, fragte ich und klemmte meine Hände zwischen meine Beine, damit sie etwas aufwärmten. Betty wiegte den Kopf. „Vielleicht. So was in der Art.“ Ich seufzte. „Dann habe ich wohl nicht bestanden“, murmelte ich und lehnte den Kopf gegen die Fensterscheibe, noch immer beschämt von meiner Reaktion. Betty stupste mich. „Hey. Du sitzt hier im Auto und fährst mit mir zurück. Mehr kann er nicht von dir verlangen. Er hat wohl eher erwartet, dass du bei Kellys Anblick die Flucht ergreifst und nie wiederkommst.“ Ich sah sie stirnrunzelnd an. „Ich habe ja auch die Flucht ergriffen.“ Wir schwiegen einige Sekunden. „Aber ich bin nicht vor Kelly weggerannt. Ich dachte nur, wenn er ein Kind hat, hat er auch eine Freundin.“ Meine Stimme wurde mit jedem Wort leiser. „Was ist mit ihr passiert?“, fragte ich und hatte gleichzeitig Angst vor der Antwort. Ich hatte Kellys Mutter nie getroffen, und würde es auch nie, aber die Vorstellung, dass die Kleine ohne ihre leibliche Mutter aufwachsen musste, machte mich sehr traurig. „Sie ist bei der Geburt gestorben.“ Also hatte Kelly ihre Mutter niemals kennengelernt. Ich wischte mir verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Manchmal hasste ich es, so emotional zu sein. „Das tut mir Leid“, sagte ich zum wiederholten Mal. Aber ich konnte es nicht oft genug sagen. Ich befürchtete nur, Jesse gegenüber kein Wort herauszukriegen. Schneller, als mir lieb war, standen wir vor Gregs Haus. Ich wollte da nicht wieder rein. Seltsamerweise kamen mir als erstes Pete und Helen in den Sinn. „Sind Pete und Helen...“, ich konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, doch ich glaubte, die Antwort bereits zu wissen. „Ihre Eltern? Ja.“ Sie mussten mich hassen. Angespannt starrte ich das Haus an. Konnte ich da wirklich wieder reingehen? „Wenn du willst, kann ich dir auch deine Sachen holen und dich nach Hause fahren“, bot Betty an. Doch ich merkte ihr an, dass sie hoffte, ich würde mitkommen. Ich wollte ihr Angebot annehmen, nach Hause fahren und mich unter meiner Bettdecke verkriechen. Aber das heutige Maß für falsche Entscheidungen war bereits voll. So schwer es mir auch fiel, ich konnte nicht einfach wieder wegrennen. Also schüttelte ich entschieden den Kopf. „Nein. Ich komme mit rein.“ Dafür erntete ich von Betty ein dankbares Lächeln. Bevor ich ihr folgte und aus dem Auto stieg, atmete ich tief durch. Ich überlegte, was ich zu Jesse sagen sollte, wie ich ihm erklären konnte, dass es mir Leid tat und ich mich wie eine Idiotin verhalten hatte. Sobald wir die Tür öffneten, kam uns Lydia schon entgegen. Als sie mich sah, seufzte sie erleichtert. Ich wurde jedoch immer nervöser. Jesse nach meiner Flucht wieder unter die Augen zu treten, war definitiv das Schwerste, was ich seit langem getan hatte. Ich versuchte, ruhig zu bleiben, was mir nicht so leicht fiel, weil ich am ganzen Körper zitterte. „Sie sind gegangen“, sagte Lydia. Mir war sofort klar, wen sie damit meinte. Ich schluckte schwer. Auch wenn ich erleichtert war, mich nicht auch noch vor Pete und Helen verantworten zu müssen, wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich sie vergrault hatte. Hatten sie Kelly mitgenommen? Ich hoffte nicht. Ansonsten hätte ich Jesse die Zeit mit seiner Tochter geraubt. Seiner Tochter... Der Gedanke war noch immer befremdlich. Im Wohnzimmer saßen Greg und Jesse auf dem Sofa. Kelly zwischen ihnen. „Seht mal, wer da ist“, sagte Lydia und machte es mir somit unmöglich, den Rückwärtsgang einzuschalten. Jesse sah mich schweigend an. Ich konnte nicht sagen, ob er erfreut über meine Rückkehr war. Vielleicht hatte Betty mich ja aufgegabelt, obwohl er mich gar nicht hier haben wollte. Das Herz sank mir in die Hose. „Komm, kleines Monster. Zeit für eine Runde Schaukeln.“ Greg hob seine Nichte in seine kräftigen Arme und für einen Moment befürchtete ich, sie könnte zwischen seinen Muskeln zerquetscht werden, doch er war ganz sanft zu ihr. Ohne ein weiteres Wort folgten Lydia und Betty ihm und ließen mich und Jesse allein zurück. Gregs Verlobte tätschelte mir im Vorbeigehen die Schulter und Betty fixierte ihren Bruder eine Sekunde zu lang, um es unauffällig wirken zu lassen. Wenn ich mich nicht täuschte, flüsterte sie ihm etwas zu. „Sei nett.“ Dann waren wir allein. Ich schluckte. Er sah seiner Familie nach und mied es, in meine Richtung zu gucken. „Es tut mir Leid.“ Ich war mir nicht sicher, ob er mich überhaupt hörte, denn er reagierte nicht auf meine Entschuldigung. Ich wollte ihm erklären, was in mich gefahren war, wieso ich weggelaufen war, aber es kam kein Ton heraus. Es ging einfach nicht. „Was hat sie dir erzählt?“ Seine Stimme war neutral, völlig emotionslos. Es machte mir Angst. Ich räusperte mich. „Genug.“ Endlich sah er mich an. Sein Blick war abschätzend, so als würde er mich zum erste Mal sehen. Exakt so hatte er mich an dem Tag angesehen, als wir auf dem See Eislaufen waren. Mein Herz hämmerte laut gegen meine Brust. Wahrscheinlich konnte auch er es hören. „Ich hätte nicht gedacht, dass du wieder zurückkommst.“ Ich auch nicht, rutschte es mir beinahe heraus, doch ich biss mir rechtzeitig auf die Zunge. „Jesse. Es tut mir Leid. Ich hätte nicht einfach weglaufen sollen. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Das war völlig bescheuert.“ Er erhob sich und nahm die Teller, die auf dem Wohnzimmertisch standen, in die Hand. „Ja, das war es. Aber ich mache dir keine Vorwürfe.“ Mir fiel ein Stein vom Herzen. Er war mir nicht böse. Er lief an mir vorbei in die Küche und ich folgte ihm. „Du willst bestimmt deine Sachen holen“, sagte er, während er die Teller in die Spülmaschine stellte. „Was?“ Ich sah ihn verständnislos an. „Deine Sachen. Du hast sie vergessen.“ Glaubte er wirklich, das war der einzige Grund, warum ich hier war? So schnell, wie sich der Knoten in meiner Brust gelöst hatte, so schnell bildete er sich auch wieder. Mir wurde kalt. Eiskalt. „Meine Sachen? Ich bin nicht hier wegen meiner bescheuerten Sachen.“ Ich war wütend, hauptsächlich auf mich selbst. Jesse sah mich überrascht an. So einen harschen Ton kannte er von mir nicht. „Ich wollte mich bei dir entschuldigen.“ Und sehen, ob zwischen uns noch alles okay ist, fügte ich in Gedanken hinzu. Offensichtlich war es das nicht. Ich zitterte. „Das hast du ja jetzt.“ Er wollte an mir vorbeilaufen, doch dieses Mal hielt ich ihn auf. „Jesse.“ Meine Hand schloss sich um sein Handgelenk. Er war so warm. „Du bist eiskalt.“ Es war das erste Mal, dass seine Mimik wieder eine Regung zeigte. Ich wollte weinen. „Bitte. Es tut mir Leid.“ Ich würde es noch tausendmal sagen, wenn es irgendetwas half. Und jedes Mal wäre es die Wahrheit. „Ich war dumm. Ich habe nicht nachgedacht. Lass uns bitte darüber reden.“ Völlig unerwartet nahm er mein Gesicht in seine Hände. „Du zitterst ja.“ Tat ich das? Keine Ahnung, gut möglich. Weil ich gerade eine scheiß Angst hatte, ihn zu verlieren. Das hier fühlte sich gerade sehr nach Schlussmachen an. Ich wollte ihn nicht sehen lassen, wie sehr ich an ihm hing, aber meine Tränen ließen sich nicht länger zurückhalten. Sie rannen heiß meine Wangen herunter. Ich schloss die Augen, um sie aufzuhalten. „Shhh.“ Jesses Daumen wischten über die feuchten Spuren, die meine Tränen hinterließen. Mir war klar, dass ich gerade kurz vor einem Zusammenbruch stand. Ich musste all meine Kraft zusammennehmen, um nicht den Halt unter den Füßen zu verlieren. „Lea. Beruhige dich. Du musst atmen.“ Atmen? Hatte ich etwa aufgehört, zu atmen? Tatsächlich. Ich machte die Augen auf und sah in Jesses besorgtes Gesicht. Ich öffnete den Mund und holte tief Luft. Es funktionierte. Der Mann, der mein Herz gestohlen hatte, fixierte mich genau und legte schließlich einen Arm um mich und führte mich in den Flur. Schmiss er mich jetzt raus? „Verdammt, Lea. Du bist eiskalt.“ Ich biss mir auf die Lippe. „Ich habe meine Jacke hiergelassen.“ Jesse fluchte. „Du brauchst ein heißes Bad.“ Ich sah ihn verwundert an. „Na komm schon.“ Er führte mich die Treppe hinauf und ich stellte erschrocken fest, dass ich seinen Halt brauchte. Alleine wäre ich wahrscheinlich umgekippt. Ich verstand noch nicht genau, was vor sich ging. Vor zwei Sekunden hatte ich noch geglaubt, er würde Schluss machen, mich vor die Tür setzen, und jetzt waren wir hier, im Bad. Ich setzte mich auf die Toilette, während Jesse heißes, dampfendes Wasser einließ. „Wenn du das nächste Mal abhaust, zieh dir wenigstens was an.“ Sein Ton milderte seine Worte. „Ich habe nicht vor, nochmal wegzulaufen“, erwiderte ich wahrheitsgemäß. „Falls du mich überhaupt wiedersehen willst.“ Ich starrte auf meine Finger. Sie taten weh, weil sie in der vom Wasserdampf gewärmten Luft langsam auftauten. Jesse setzte sich auf den Wannenrand. Für einige Sekunden starrten wir beide auf das einlaufende Wasser. Das Plätschern war das einzige Geräusch im Raum. „Willst du das denn? Mich wiedersehen?“ Ich hatte das Gefühl, als hätte ich irgendwas verpasst. Ich war doch diejenige, die sich wie ein Idiot aufgeführt hatte. „Wieso sollte ich dich nicht wiedersehen wollen?“, fragte ich geradeheraus. Jesse starrte mich an. Sprachlos. „Ich habe ein Kind. Eine vierjährige Tochter“, sagte er schließlich. „Ich weiß.“ Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen und er erhob sich. „Ich hatte vergessen, dass du anders bist.“ Anders? Was sollte das denn bedeuten? War das was Gutes oder was Schlechtes? Es traf mich unvorbereitet, als er mich auf den Scheitel küsste. Hieß das, er hatte mir verziehen? „Ich hole Lydia, damit sie dir hilft. Kipp mir währenddessen nicht um, okay?“ Wobei sollte sie mir helfen? Beim Baden? „Schon gut. Ich schaffe das allein.“ Es wäre mir unangenehm, wenn Lydia mir half. Nicht, weil sie mich dann nackt sah – na gut, deshalb vielleicht auch -, sondern weil ich nicht den Eindruck machen wollte, als würde ich Hilfe benötigen. Jesse kniete sich vor mich und nahm meine kalten Hände in seine. „Du konntest gerade kaum alleine stehen. Ich will nicht, dass du ohnmächtig wirst und in unserer Badewanne ertrinkst.“ Ich biss mir auf die Lippe. Da hatte er nicht ganz Unrecht. „Wenn du willst, kann ich auch hierbleiben.“ Er machte nur einen Scherz, das verriet das Schmunzeln auf seinen Lippen. Dennoch war ich mir todsicher, dass er es tun würde, wenn ich ihn ließe. „Ich könnte die Tür nicht absperren. Und wenn ich Hilfe brauche, sage ich Bescheid.“ Jesse schüttelte entschieden den Kopf und holte aus dem Schrank zwei Flaschen heraus, die er mir vor die Nase hielt. „Lieber Honig oder Lavendel?“ Ich zuckte die Schultern. Jesse nahm die gelbe Flasche mit Honiggeruch und ließ das Badeöl in die Wanne tropfen. Das Wasser stand inzwischen ziemlich hoch. Jesse drehte den Hahn ab und ging zur Tür. „Ich hole Lydia. Nicht absperren!“ Er zeigte mit einem Finger auf mich und ich nickte ergeben. Sobald er weg war, entledigte ich mich schnellstmöglich meiner Kleidung. Mir war etwas schwindelig, doch entgegen jeder Vernunft stieg ich in die Wanne. Es fühlte sich an, als würde das heiße Wasser meine Haut verbrennen. Ich schnappte mir das Badeöl und ließ noch mehr davon in die Wanne ein, damit es mehr schäumte. Mein Körper war nun beinahe vollkommen von Schaum bedeckt. Gerade noch rechtzeitig, denn schon klopfte es an der Tür. „Ist offen“, sagte ich und betete, dass Jesse wirklich Lydia geholt hatte und nicht selbst hereinkam. Zu meiner Erleichterung erblickte ich Gregs Verlobte, die hinter sich die Tür abschloss. „Hey Süße. Was machst du denn für Sachen?“ Das Kribbeln auf meiner Haut verriet mir, dass meine Haut langsam auftaute. Wie lange war ich da draußen herumgestreunt? Ich schenkte Lydia ein entschuldigendes Lächeln. „Tut mir Leid für die Umstände. Ich habe Jesse gesagt, ich kriege das auch allein hin.“ Ich musste schließlich nichts anderes machen, als hier zu sitzen und zu atmen. Obwohl mir das Atmen nicht ganz so leicht fiel. „Ich habe dir ein paar Sachen von mir mitgebracht. Die kannst du anziehen.“ Sie legte einen Jogginganzug und einen dicken Pullover auf die Heizung, damit sie warm wurden. „Danke.“ Ich starrte auf die Bläschen auf der Wasseroberfläche. „Ist alles in Ordnung mit dir, Lea?“ Ich sah nicht auf, nickte aber. „Ja. Hier ist es schön warm.“ Lydia schüttelte den Kopf. „Ich habe nicht das heiße Bad gemeint.“ Schon klar, aber über die andere Sache wollte ich nicht nachdenken. Es bildete sich schon wieder ein Kloß in meinem Hals. Jesse war gerade sehr nett zu mir gewesen, aber vielleicht nur, weil er sich Sorgen machte. Wenn es mir wieder besser ging, änderte er seine Meinung möglicherweise. Ich zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht“, sagte ich leise. „Ich glaube, Jesse ist noch sauer.“ Lydia lächelte. „Der kleine Teufel hat gerade diese Riesenbombe platzen lassen, und deine einzige Befürchtung ist, dass er sauer auf dich sein könnte?“ Ja. „Kleiner Teufel?“ Ich schmunzelte wegen des Spitznamens. Ich glaubte nicht, dass Jesse den gern hörte. Wir begannen beide zu lachen. Es tat meinem Körper unglaublich gut. Gemeinsam mit dem warmen Wasser löste es einen Teil meiner Verspannungen. Ich fühlte mich freier. Ich stellte mir vor, wie Jesse unten im Garten mit seiner Tochter spielte. „Wie lange geht das schon mit euch beiden?“ Lydias Frage riss mich aus meinen Gedanken. Ich wurde etwas rot. „Nicht lange“, sagte ich und wurde mir bewusst, wie wenig Zeit wir tatsächlich miteinander verbracht hatten. Ich wollte nicht, dass das schon vorbei war. „Du magst ihn wirklich sehr, oder?“ Konnte sie etwa Gedanken lesen? Ich nickte. Wenn sie nur wüsste, wie sehr. „Das ist schön. Aber Lea...“ Ich sah Lydia nun an, weil ihr Ton plötzlich so ernst wurde. „Versteh mich nicht falsch. Ich liebe Jesse, und ich kann dich gut leiden. Aber wenn dir das mit Kelly zu viel ist, sag es lieber gleich.“ Ich sah sie perplex an. Wo kam das auf einmal her? „Ich weiß nicht, ob dir bewusst ist, wie viel Arbeit so ein Kind macht. Und Jesse hat vor, die Kleine zu sich zu nehmen, sobald er finanziell abgesichert ist. Momentan lebt sie zwar noch bei Eleonores Eltern, aber Jesse versucht, sie so oft wie möglich zu sehen.“ Ich hielt den Atem an. „Eleonore.“ Das war also ihr Name. Lydia senkte den Blick. „Ja.“ Ich wusste ja nicht mal, ob Jesse das mit mir wirklich ernst war. Und ehrlich gesagt hatte ich auch noch nicht weit in die Zukunft geplant. „Wieso erzählst du mir das alles?“ Lydia seufzte schwer. „Ich möchte nur nicht, dass du ihm das Herz brichst.“ Wow. Ich dachte, es wäre genau andersherum. „Oder Kelly. Es wäre nicht fair, wenn sie sich an dich gewöhnt und du dann wieder aus ihrem Leben verschwindest. Ich will nur, dass du dir genau überlegst, ob du das hinkriegst, bevor du dich entscheidest.“ Nun wurde mir doch noch schwindelig. Lydia schlug die Hände vor den Kopf. „Tut mir Leid. Ich wollte dich nicht verunsichern. Ich musste das nur loswerden. Hoffentlich hältst du mich jetzt nicht für durchgeknallt.“ Wie könnte ich ihr böse sein? Sie versuchte nur, Jesse und Kelly zu beschützen. „Nein. Ich bin froh, dass du so offen zu mir warst.“ Erleichtert atmete sie aus und ließ die Schultern sinken. „Bitte erwähne es Jesse gegenüber nicht.“ Gerne gab ich ihr das Versprechen. Lydia half mir aus der Wanne und während ich mich anzog, ließ sie das Wasser ablaufen. Der Pullover war sehr warm und flauschig. Sie föhnte mein Haar, was sehr entspannend war. „Du solltest dich am besten etwas ausruhen. Möchtest du dich ein wenig hinlegen?“ Ich war ziemlich erschöpft. Und ich musste erst mal meine Gedanken ordnen. „Ja, ich glaube, das ist eine gute Idee.“ Lydia zögerte kurz. „Wir haben ein Gästezimmer. Aber wenn du lieber bei Jesse schlafen möchtest... Ich bin mir sicher, er hat nichts dagegen.“ Darauf würde ich nicht wetten. Natürlich würde ich lieber in Jesses Bett liegen, seinen Geruch in meiner Nase, aber angesichts der jüngsten Entwicklungen war ich mir nicht sicher, ob das für ihn in Ordnung war. „Ich nehme das Gästezimmer.“ Wie sich herausstellte, war es direkt neben dem Bad. Es war ein kleiner Raum und anhand einiger Spielzeuge und plüschiger Kissen vermutete ich, dass Kelly ab und zu hier übernachtete. Lydia bemerkte meinen Blick und biss sich auf die Lippe. „Tut mir Leid. Daran habe ich gar nicht gedacht.“ Ich winkte ab. „Schon gut. Alles okay.“ Ich setzte mich aufs Bett und nahm ein Stoffnilpferd in die Hand. „Brauchst du noch irgendwas? Hast du Hunger?“ Obwohl ich heute noch nichts gegessen hatte, wurde mir bei dem Gedanken an Essen schlecht. „Nein, danke. Ich brauche nichts.“ Lydia sah mich unschlüssig an, dann nickte sie. „Okay. Wir sind gleich unten, wenn irgendwas ist. Versuch, ein wenig zu schlafen“, sagte sie und schloss langsam die Tür hinter sich. Als ich allein war, sah ich mich um. Überall gab es kleine Hinweise auf Kelly. Ein selbstgemaltes Bild, das wahrscheinlich eine Blume darstellen sollte, aber sicher war ich mir nicht, die Spielsachen und Stofftiere. Wenn ich in den Schrank sehen würde, lägen darin wahrscheinlich Anziehsachen für die Kleine. Ich warf einen Blick aus dem Fenster, um nachzusehen, ob Greg noch immer mit seiner Nichte auf der Schaukel spielte, aber das Fenster lag auf der anderen Seite, Richtung Straße. Ich seufzte und legte mich hin, zog mir die Decke mit dem bunten Wolkenaufdruck bis zum Kinn, weil mir noch immer etwas kalt war, und presste das Nilpferd an mich. Ich wurde vom Geruch von frischen Eiern und Kaffee geweckt. Als ich die Augen öffnete, saß Jesse vor mir auf dem Boden und fächerte mir den Duft des gefüllten Tellers zu. Ich schmunzelte. „Ich habe das Frühstück nicht vergessen“, sagte er. Ich hoffte, dass das nicht immer noch dieselben Rühreier und Tomaten waren, die ich heute morgen in der Küche gesichtet hatte. Doch da leichter Dampf von den Eiern aufstieg, war ich zuversichtlich. „Wie spät ist es?“, fragte ich und richtete mich auf. Jesse setzte sich neben mich und drückte mir den Teller samt Gabel in die Hand. „Kurz nach zwei.“ Er streckte sich nach dem Kaffee auf dem Nachttisch. „Ich wusste nicht, ob mit Milch oder Zucker, deshalb ist er schwarz.“ Ich lächelte ihn an. „Eigentlich mag ich gar keinen Kaffee.“ Er sah mich skeptisch an, sparte sich jedoch einen Kommentar und trank stattdessen die dampfende Brühe selbst. Träumte ich etwa? Jesse saß hier bei mir, brachte mir Frühstück und redete mit mir, als wäre gar nichts passiert. „Bist du noch sauer?“, fragte ich und stopfte mir eine volle Gabel des leckeren Rühreis in den Mund. Jesse nahm ein Kissen, das er sich hinter den Rücken legte, und lehnte sich an die Wand. „Nein.“ Er verschränkte seine lang ausgestreckten Füße. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Obwohl das nicht hieß, dass alles wieder gut war. Lydias Worte schwirrten noch immer durch meinen Kopf. „Ich hätte dich damit nicht so überfallen sollen.“ Er rieb mit dem Daumen über sein Anker-Tattoo. „Ich dachte nur, es wäre sinnlos, dich anzulügen. Ich wusste nicht, dass sie vorbeikommen würden. Das war nicht geplant.“ Ich hörte für einen Moment auf, zu kauen. „Hättest du es mir denn erzählt?“ Jesse wiegte den Kopf. „Schon. Nur nicht jetzt. Nicht so früh.“ Schon klar. Er wollte erst mal sehen, ob das mit uns was werden könnte. Ich kaute ausgiebig, bevor ich erneut sprach. „Erzählst du mir jetzt davon?“ Jesse nahm noch einen Schluck Kaffee. „Soweit ich mitgekriegt habe, haben dir Betty und Lydia eh schon alles gesagt.“ Er wirkte nicht gerade glücklich darüber. Mir war auch klar, dass er nicht gern darüber sprach, aber ich musste es aus seinem Mund hören. „Ich würde es aber gerne von dir hören.“ Er seufzte und sah mir einige Sekunden beim Essen zu. „Was willst du denn wissen?“, fragte er schließlich. „Alles. Alles, was du mir erzählen möchtest.“ Und dann begann er, zu erzählen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)