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Life is precious

Das Leben ist wertvoll
von

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Weiche Knie

Der nächste Morgen war die Hölle. Ich schwankte ständig zwischen dem Gefühl, verarscht worden zu sein, und dem kleinen Hoffnungsschimmer, dass es für mich und Jesse eine Chance gab. Es war nur ein Kuss gewesen, keine Liebeserklärung oder irgendwelche Versprechungen. Aber sagte ein Kuss nicht mehr als tausend Worte? Eine romantische Vorstellung, ich weiß. Doch wieso hätte er das sonst getan? Gegen meinen Kuss hatte er sich kaum wehren können, ich hatte ihn mehr oder weniger überfallen.

Ich schlug die Hände vor den Kopf. Ich durfte nicht so viel darüber nachdenken, sonst wurde ich noch verrückt. Um mich selbst zu schützen, war es wohl besser, nicht zu viel in diesen Abend hineinzuinterpretieren, auch wenn mir das beinahe unmöglich war. Wenn ich mir jedoch zu viele Hoffnungen machte, würde es nachher umso schmerzhafter sein. Beim Frühstück war ich kaum ansprechbar. Ich konnte nur an Jesses Lippen denken. Ich wollte mehr davon.

„Was sind deine Pläne für heute, Lea?“, fragte meine Mutter überflüssigerweise. Es war Sonntag. Natürlich ging ich ins Tierheim. Ich fragte mich, ob man mir ansehen konnte, was gestern passiert war. Falls da tatsächlich mehr daraus werden sollte, hatte ich jetzt schon keine Lust, meiner Schwester davon zu erzählen. Sie würde nur skeptisch sein und Jesse wahrscheinlich vorwerfen, mich nur auszunutzen. Meiner Mom würden die Augen rausfallen, wenn sie seine Tattoos sah, und dass er rauchte, machte das Ganze auch nicht besser… Oh mein Gott, jetzt dachte ich schon darüber nach, ihn meinen Eltern vorzustellen. Das ging eindeutig zu weit.
 

„Tierheim“, antwortete ich zwischen zwei Bissen Cornflakes. Tammy kam die Treppe heruntergepoltert und sah prüfend in den Spiegel, der neben der Tür hing.

„Ich bin weg. Ich gehe mit Brandon in den Zoo.“ Die armen Tiere, dachte ich mir nur, und verkniff mir einen Kommentar dazu. Meine Schwester wusste ohnehin, was ich von Käfighaltung hielt. Meine Mutter wünschte ihr einen schönen Tag und ich hörte, wie Brandon Tammy an der Tür begrüßte.

„Ähm… Lea… Komm doch mal.“ Ich verdrehte die Augen. Nein, ich wollte nicht mit den beiden in den Zoo gehen. Turteltauben konnte ich in meiner Nähe momentan nicht gebrauchen. Trotzdem stand ich auf, weil ich nicht unhöflich sein wollte. Ich begrüßte Brandon, der hinter sich zeigte.

„Du hast Besuch.“ Ich runzelte die Stirn und erstarrte, als ich Jesse an Brandons Auto lehnen sah. Das Erste, was mir durch den Kopf schoss, war, dass ich mein peinliches Free-Willy-Shirt trug. Es war schon ganz ausgeblichen, doch ich hatte es nie über mich gebracht, es wegzuschmeißen.

Als Jesse mich sah, kam er ebenfalls zur Tür. Mein Herz raste, aber mein Kopf war leer. Was sollte ich zu ihm sagen? Es war keine zwölf Stunden her, dass wir uns geküsst hatten und das war das Einzige, woran ich denken konnte.
 

„Morgen“, sagte Jesse grinsend und ich merkte genau, wie seine Augen mein T-Shirt scannten. Ich wollte im Erdboden versinken.

„Morgen“, erwiderte ich in eindeutig zu hoher Tonlage. Brandon nahm Tammy bei der Hand und zog sie mit sich zum Auto. Meine Schwester war ausnahmsweise mal sprachlos.

„Bis dann, Leute“, sagte Brandon, was Jesse mit einem Winken quittierte, und stieg ins Auto. Erst als sie wegfuhren, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf den überraschenden Besuch. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und hoffte, das würde den Großteil des Orcas und den dazugehörigen Schriftzug verdecken.

„Hi“, sagte ich im selben Moment, in dem mir einfiel, dass ich ihn bereits begrüßt hatte. Jesse lächelte und erwiderte mein Hi. Ich sollte ihn vielleicht hereinbeten, aber die Vorstellung von der Reaktion meiner Mutter hielt mich davon ab. Ich warf einen schnellen Blick in den Flur, um sicherzugehen, dass sie nicht in der Nähe war, trat aus dem Haus und lehnte die Tür an.

Bei dem Gedanken, dass wir uns gestern nur ein paar Meter weiter geküsst hatten, begann mein Herz schneller zu schlagen. Also, noch schneller, als es durch Jesses Anwesenheit sowieso schon schlug.

„Hast du Lust, meine Hand zu halten?“ Das war eine ziemlich seltsame Frage. Er wollte wissen, ob ich Händchenhalten wollte? Natürlich, jederzeit. Aber wollte er hier einfach nur stehen und…

„Ich lasse mir das Tattoo stechen.“

Ah, eine Metapher. Die Hand halten in Form von ihn begleiten.

„Heute ist Sonntag“, war das Erste, was mir dazu einfiel.

„Es hat so seine Vorteile, wenn man Stammkunde bei Needle ist.“ Ich trat von einem Fuß auf den anderen. Mir war noch immer bewusst, dass ich in meinen Schlafsachen vor Jesse stand.

„Ich muss heute eigentlich ins Tierheim“, sagte ich unentschlossen. Ich wollte wirklich gerne Zeit mit Jesse verbringen.

„Musst du da gleich hin? Das Stechen dauert nicht lange.“ Ich sah an mir herunter.

„Ich muss mich noch umziehen.“

Jesse grinste breit. Ja, er hatte Free Willy eindeutig gesehen.

„Okay.“ Ohne groß darüber nachzudenken, packte ich sein Handgelenk und zog ihn ins Haus. Mein Vater konnte jeden Moment von seinem allmorgendlichen Spaziergang zurückkehren und außerdem wollte ich Jesse nicht draußen warten lassen.

„Komm“, flüsterte ich, warf einen Blick Richtung Küche, wo ich meine Mutter Geschirr in die Spülmaschine räumen hörte, und führte Jesse die Treppe hinauf und schloss die Tür hinter uns.

„Versteckst du mich vor deinen Eltern?“, fragte Jesse amüsiert.

„Was? Nein, ich… Vielleicht ein bisschen“, gab ich mit entschuldigendem Lächeln zurück und er schien glücklicherweise nicht sauer zu sein. Erst jetzt kam mir in den Sinn, dass ich Jesse vielleicht nicht in die privaten Gefilde meines Zimmers hätte bringen sollen, doch jetzt war es zu spät. Zumindest war es momentan relativ aufgeräumt. Wenn ich an sein Auto dachte, durfte er sich sowieso nicht beschweren.

Schockiert bemerkte ich, dass auf meinem Stuhl noch mein BH lag und in einer schnellen Bewegung schnappte ich ihn mir und stopfte ihn unter mein Kopfkissen. Hoffentlich hatte Jesse das nicht gesehen. Als ich mich zu ihm umdrehte, sah er sich ausgiebig um. Und jetzt?

„Okay. Ich ziehe mich schnell um. Mach’s dir bequem.“ Ich kramte in meinem Kleiderschrank nach frischen Klamotten, während Jesse sich auf mein Bett setzte und meine CD-Sammlung auf dem Regal daneben durchstöberte. Oh Gott, er saß auf meinem Bett. Wie war es nur soweit gekommen? Doch der Anblick gefiel mir.

„Bin gleich wieder da“, sagte ich und flitzte ins Bad. In Rekordgeschwindigkeit duschte ich, putzte mir die Zähne und trug Wimperntusche auf. Ich entschied mich, mein Haar wieder offen zu tragen, nahm aber einen Haargummi mit, für alle Fälle.

Als ich die Türklinke meines Zimmers berührte, hielt ich für einen Moment inne und atmete tief durch. Ich hatte mir das nicht eingebildet, oder? Jesse war wirklich in meinem Zimmer und wartete auf mich. Mein Herz klopfte nun laut, aber stetig. Immer mit der Ruhe. Er war auch nur ein Mensch. Ich musste mich einfach ganz normal verhalten. Wir gingen nur in den Tattooladen, wo Jesse sich freiwillig Schmerzen zufügen ließ. Mehr war es nicht. Kein Grund, nervös zu sein. Als ich ins Zimmer zurückkam, sah er auf und ich verfing mich für einen Moment in seinen grünen Augen.
 

„Gut, von mir aus können wir los.“ Ich schnappte meine Tasche und hoffte inständig, dass meine Mutter mit irgendwas beschäftigt war, sodass sie Jesse nicht bemerkte. Ich schob ihn vor mir her, damit er auch ja nicht auf die Idee kam, herumzutrödeln. Ich öffnete die Haustür und aus dem Augenwinkel sah ich, wie meine Mutter in den Flur kam. Möglicherweise hatte sie gerade noch einen Blick auf meinen Besucher erhaschen können, doch bevor sie Fragen stellen konnte, rief ich ihr ein „Ich bin dann auch weg, bis später“, zu und eilte hinter Jesse aus dem Haus. Ich hoffte, dass sie nicht aus dem Fenster sah und mich mit ihm erwischte. Es war ja nicht so, als würden wir was Verbotenes machen. Eigentlich machte ich ja überhaupt nichts. Ich würde nur zusehen, wie Jesse sich ein Tattoo stechen ließ. Trotzdem wollte ich mir den Stress nicht antun, meiner Mutter zu erklären, woher ich Jesse kannte. Und Tammys Kommentare, dass er kein guter Umgang für mich war, konnten mir ebenfalls gestohlen bleiben. Auf dem Gehsteig wurde mir plötzlich bewusst, dass wir kein Auto hatten.

„Ich habe dahinten geparkt. Hier war nichts frei.“ Konnte er Gedanken lesen? Jetzt, wo Jesse auf seine Schrottkarre zeigte, sah ich sie auch. Gut. Ich hatte keine Lust auf öffentliche Verkehrsmittel. Ich hasste Busfahren. Wir stiegen ein und mir wurde wieder bewusst, dass ich neben einem Jungen – oder mehr einem Mann – saß, den ich gestern völlig überstürzt geküsst hatte. Eigentlich wollte ich ihn darauf ansprechen. Natürlich hatte ich aber nicht den Mumm dazu. Was sollte ich auch sagen?

„Du, der Kuss gestern, war das nur so aus einer Laune heraus oder hatte das irgendwas zu bedeuten? Ich für meinen Teil bin dir vollkommen verfallen, falls es dich interessiert.“

Nein. Ganz sicher nicht. Ich beschloss, diesen Kuss genauso zu handhaben wie den mit Rob: Einfach ignorieren. Wenn er darüber reden wollte, würde er schon von selbst davon anfangen. Oh mein Gott. Vielleicht war ich ja eine grauenvolle Küsserin. So was konnte man ja selbst schlecht beurteilen.

„Lea.“ Jesse musste mich mal wieder aus meinen Gedanken holen, bevor ich ansprechbar war.

„Was?“, fragte ich ertappt. Glücklicherweise konnte er keine Gedanken lesen. Jesse stellte das Lied lauter.

„Was hältst du davon?“ Ihm war so gar nicht anzumerken, was gestern passiert war. Ich fragte mich langsam, ob ich das nur geträumt hatte.

„Für die Playlist?“, fragte ich und lauschte dem Lied, das ich nicht kannte. Jesse nickte und mir kam es vor, als ruhte sein Blick länger auf mir, als gewöhnlich. Aber wie sollte ich rausfinden, ob ich mir das nur einbildete, dass nicht nur mein Wunschdenken diese Illusion erweckte, oder für mich die Zeit einfach stillstand, wenn er mich ansah?

„Gefällt mir“, sagte ich und hob die Daumen hoch. Das war zwar nicht meine Art von Musik, aber ich konnte mir vorstellen, dass es gut ankam, wenn Zero es auf der Bühne performte.

„Warst du eigentlich schon mal in einer Band?“, fragte ich neugierig. Jesse verneinte.

„Dann bist du einer von denen, die einfach mit so einer Stimme geboren werden und das gar nicht zu schätzen wissen“, sinnierte ich.

„Ich singe unter der Dusche, falls dich das beruhigt.“ Allein die Vorstellung verursachte mir Gänsehaut. Seine Stimme natürlich auch, aber vorrangig die Vision von Jesse in der Dusche, wenn die Wassertropfen seine Haut hinunterperlten. Shit, das musste wirklich aufhören.

„Wo bist du mit deinen Gedanken?“, fragte Jesse und langsam kam ich mir echt unhöflich vor, weil ich ihm nie zuhörte. Hatte ich etwa verlernt, normale Konversation zu treiben? Gestern hatte das doch auch ganz gut funktioniert.

„Ich stelle mir nur gerade vor, wie gut dir ein Hello-Kitty-Tattoo stehen würde“, log ich, um die Stimmung aufzulockern. Er grinste.

„Ich dachte, wir hatten uns auf Winnie Puuh geeinigt?“ Ich lachte laut. Jesse kratzte sich am Haaransatz, dort, wo seine Beanie saß. Ihm standen diese Mützen wirklich verdammt gut. Ich erinnerte mich an das erste Mal, als ich ihn gesehen hatte. Er hatte dieselbe Mütze getragen. Damals hatte er so unnahbar gewirkt. Wie ich mich doch geirrt hatte.

„Wann ist dein kürzester Schultag?“, fragte er und wandte seine Aufmerksamkeit kurz von der Straße ab, um mich anzusehen.

„Donnerstags, wieso?“ Das große Gebäude von gestern kam in Sichtweite. Bei Tageslicht war der Komplex noch hässlicher als in der Nacht.

„Hast du da Zeit für Nachhilfe?“ Oh, das hatte ich fast vergessen. Jesse sollte eigentlich nicht mitbekommen, wie niedrig mein IQ wirklich war.

„Oh. Ähm… na gut.“ Die Aussicht, ihn in ein paar Tagen wiederzusehen, war ausschlaggebend. „Aber ich will das nicht für umsonst.“ Jesse grinste.

„Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass du als Gegenleistung zu den Gigs kommst. Aber wenn du möchtest, finden wir bestimmt eine andere Möglichkeit, wie du bezahlen kannst.“ War das nun zweideutig? Ja, das war es eindeutig.

„Jedenfalls nicht auf Knien“, murmelte ich etwas verstimmt.

„Ich hatte eher an Geld gedacht.“ Hatte er nicht. Hatte er? Na toll, jetzt stand ich wie ein Perversling da…

„Schön, dass dich das so amüsiert“, sagte ich und wurde rot.

Wir stiegen aus und ich fröstelte sofort. Es wehte ein eiskalter Wind, der meine Haare durcheinanderbrachte. Wir benutzten den Hintereingang. Needle brauchte nur zwei Sekunden, bevor er uns die Tür öffnete und uns in sein Reich führte. Jesse kramte den zusammengefalteten Zettel von gestern aus seiner Jackentasche und zeigte auf einen Entwurf, der meinem Favoriten ziemlich ähnlich war. Nur waren die Buchstaben etwas schmaler und kantiger.

„Den hier“, bestimmte er und Needle nickte, während er sich auf einen Stuhl vor einer Liege setzte und das Tätowiergerät untersuchte. Wenn ich es genauer betrachtete, wurde mir ein wenig schlecht. Der Gedanke, dass diese kleine Nadel mehrmals pro Sekunde in meine Haut stach, verursachte mir eine unangenehme Gänsehaut. Glücklicherweise war ich nur Zuschauer.
 

„Wo möchtest du’s hinhaben?“, fragte Needle und zog sich Handschuhe an.

„Ich dachte, vielleicht am Nacken.“ Jesse fasste sich an den Hals. Sein Haar war so lang, dass es das Tattoo verdecken würde. Needle schien auch nicht gerade begeistert zu sein. Ich war schockiert, wie wenige Gedanken Jesse sich darüber gemacht hatte. Immerhin würde er diese Entscheidung ein Leben lang am Körper tragen.

„Wie wär’s zwischen den Schulterblättern. Relativ weit oben. Ungefähr hier.“ Needle berührte die Stelle, die er meinte.

„Probieren wir’s aus.“ Ich ahnte, es würde kommen, aber als Jesse jetzt wirklich Jacke, Pullover und T-Shirt ablegte, hatte ich keine Ahnung, wo ich hinsehen sollte. Ich meine, ich wusste genau, wo ich hinsehen wollte, aber ich hatte Angst, dass mir die Augäpfel rausfielen, wenn ich zu sehr starrte. Und übrigens hatte er nicht nur an den Armen Tattoos.

Warum hatte Jesse mich eigentlich mitgenommen? Wollte er mir nur zeigen, wie gut er gebaut war? Sobald er sich bewegte, konnte man genau erkennen, wie seine Muskeln unter der Haut arbeiteten. Ich schluckte und schnappte mir ein Buch, das vollgepackt war mit Entwürfen. Needle malte erstmal den Schriftzug auf Jesses Rücken und zeigte ihm diesen. Er ließ sich lange Zeit mit seiner Entscheidung, sah von allen Seiten auf seinen Rücken. Also doch nicht so impulsiv, wie ich befürchtet hatte. Gut. Er warf mir einen fragenden Blick zu, und ich nickte zustimmend.

„Okay. Machen wir’s.“ Jesse legte sich auf die Liege und seltsamerweise wurde ich nervös, wenn ich ihn so sah. Es war, als wollte ich nicht, dass er verletzt wird. Needle stellte das Tätowiergerät an und ein stetiges Surren ertönte. Ich erwartete schon einen Aufschrei, als die Nadel Jesses Haut zum ersten Mal berührte, doch er blieb ganz still und reglos. Er schien beinahe entspannt zu sein.

„Tut das nicht weh?“, fragte ich und biss mir auf die Lippe. Ich glaubte nicht, dass ich jemals so mutig sein würde, auf dieser Liege Platz zu nehmen.

„Nicht wirklich. Angenehm ist anders, aber genau so soll es ja sein.“ Jesses Stimme wirkte beinahe schläfrig.

„Manche Leute machen es hauptsächlich wegen dem Schmerz“, erzählte Needle seelenruhig, während er weitertätowierte. „Kommst du auch auf den Geschmack?“ Ich schüttelte heftig den Kopf. Es reichte mir schon zu sehen, wie sich Jesses Haut unter der Nadel rötete und winzige Tropfen Blut austraten, die Needle sofort abwischte. Needle grinste.

„Dachte ich mir. Du bist eher der Piercingtyp.“ Ich war nicht sicher, ob er scherzte. Aber um das Gespräch aufrechtzuerhalten und mich von dem stetigen Surren der Nadel abzulenken, fragte ich den Tätowierer, was für einen Piercing er mir machen würde.

„Ich würde furchtbar gern ein Loch in deine kleine Stupsnase stechen“, sagte er und grinste dabei, blieb aber auf Jesses Tattoo fokussiert.

„Und ein Bauchnabelpiercing“, fügte er hinzu und ich versuchte mir vorzustellen, wie ich dann aussehen würde.

„Nein, das ist glaube ich nichts für mich.“ Needle grinste.

„Wir könnten dir natürlich auch ein Piercing verpassen, das man nicht sofort sehen kann.“ Jesse versteifte sich etwas auf der Liege.

„Aber du würdest bestimmt viel Spaß damit haben“, redete der Tätowierer weiter. Jesse räusperte sich.

„Needle, konzentrier dich besser mal.“ Ich brauchte einen Moment, bis ich kapierte, was er meinte.

„Oh“, sagte ich nur und Needle kicherte wie ein kleines Kind. Gut, dass die beiden mit etwas anderem beschäftigt waren, so sahen sie mich nicht erröten. Needle erzählte anschließend ein paar Anekdoten von schrägen Kunden und außergewöhnlichen Motivwünschen. Nach einer halben Stunde war Jesse fertig und Needle klebte vorsorglich ein großes Pflaster über die Wunde. Noch war die Haut ziemlich gerötet, aber das Tattoo sah echt schön aus. Während Jesse sich wieder anzog – was ich einerseits sehr begrüßte, weil ich dann nicht mehr so abgelenkt war, aber andererseits hätte ich auch den ganzen Tag nichts anderes machen können, als ihn anzusehen – zog Needle sich die Handschuhe aus und kam zu mir herüber, um mir einen Arm um die Schulter zu legen.

„Und ich kann dich wirklich nicht für ein winziges Loch begeistern?“ Er tippte kurz an meinen rechten Nasenflügel.

„Genau da. Es braucht nur einen kurzen Stich, mehr nicht.“

Jesse trat zu uns und sah Needle kopfschüttelnd an, während er seinen Geldbeutel herausholte.

„Keine Chance, Freundchen. Du lässt dieses Gesicht schön in Frieden.“ Needle besah Jesse mit einem vielsagenden Blick und ich tat so, als hätte ich es nicht gesehen. Ich löste mich aus der Umarmung des Tätowierers und zog mir meine Jacke über, die ich auf einem Barhocker abgelegt hatte.

Jesse legte ein paar Geldscheine auf den Tresen.

„Immer wieder schön, mit Ihnen Geschäfte zu machen“, bedankte sich Needle. „Das nächste Mal, wenn ihr kommt, bist du an der Reihe.“

Er zeigte auf mich und ich lachte nur, bevor wir uns verabschiedeten. Gleichzeitig bildete sich aber ein Kloß in meinem Hals. Würde es überhaupt ein nächstes Mal geben? Ich sollte das wirklich mit Jesse klären. Im Auto war ich schon fast so weit, ihn auf den Kuss anzusprechen, da fragte er mich nach dem Weg zum Tierheim. Enttäuschung machte sich in mir breit. Wir hatten gerade mal eine Stunde miteinander verbracht, da wollte er mich schon wieder loswerden. Warum war er dann überhaupt zu mir gekommen? Ich beschrieb ihm den Weg und verfiel dann in Schweigen.

„Wie oft gehst du eigentlich hin?“ So ziemlich jeden Tag?!

„Donnerstags und sonntags, normalerweise.“

Jesse sollte nicht denken, ich hätte nichts Besseres zu tun, oder keine Freunde. Aber leider entsprach das nunmal der Wahrheit. Ich fragte mich, ob es klug war, mehr Zeit mit Jesse zu verbringen, sodass er zwangsläufig mehr über mich erfuhr – viel gab es ja nicht zu wissen, aber das bisschen war mehr, als mir lieb war. Im Gegensatz dazu wollte ich alles erfahren, was es über Jesse zu wissen gab. Wie war seine Kindheit? Hatte er noch mehr Geschwister außer Greg und Betty? Wie kam er zu den ganzen Tattoos? Einfach alles. Aber heute würde es wohl nicht mehr so weit kommen, denn wir bogen bereits in die Einfahrt zum Tierheim ein. Am liebsten wollte ich Jesse fragen, was das denn nun zwischen uns war, ob es überhaupt irgendwas war. Darüber im Unklaren zu sein und alle Möglichkeiten tausendmal durchzugehen, machte mich wahnsinnig. Ich wollte gerade zu einem peinlichen Monolog ansetzen, an dessen Ende ich plante, fluchtartig das Auto zu verlassen und die Tür hinter mir zuzuschlagen; doch Jesse gab mir keine Gelegenheit dazu, denn er stieg vor mir aus. Perplex blieb ich noch einen Moment sitzen und folgte ihm dann. Es schien, als sei er mir immer einen Schritt voraus.

„Darf ich da überhaupt mit rein?“, fragte Jesse, die Hände in der Jackentasche wärmend. Was? Er wollte mit? Wieder einmal tat er nicht das, was ich von ihm erwartete, und ließ mein Herz höher schlagen. Da hatte ich mir wohl umsonst Sorgen gemacht. Dennoch nahm ich mir fest vor, das Thema heute noch anzusprechen. Ich musste nur noch ein wenig Mut sammeln.
 

„Klar. Wenn du mit anpackst“, sagte ich und grinste.

„Kein Problem.“ Ich betätigte den versteckten Hebel am Gatter und öffnete das Tor. Auf dem Weg zu Marthas Büro wurde mir erst bewusst, dass ich noch nie jemanden mitgebracht hatte. Kasper zählte nicht. Er holte mich nur zum Feierabend hin und wieder ab und machte vorher noch einen kleinen Spaziergang mit Bux, Pearl und mir. Ich klopfte an die Bürotür und öffnete, als Martha antwortete.

„Morgen, Lea.“ Es war zwar nicht mehr Morgen, aber das war Marthas gewöhnliche Begrüßung, egal um welche Tageszeit.

„Morgen.“ Ich sah sofort ihren überraschten Blick, als sie Jesse erspähte. „Das ist Jesse. Er wollte ein bisschen helfen. Ist das okay?“ Ich sah an ihren strahlenden Augen, wie sie sich freute.

„Sicher. Hallo, Jesse. Schön, dass du Lea ein wenig unter die Arme greifst.“ Er musste irgendeine Geste machen, die Martha zum Lächeln brachte, doch da er hinter mir stand, verpasste ich sie.

„Gut. Lasst euch nicht aufhalten“, entließ sie uns. Ich führte Jesse in den Aufenthaltsraum, wo wir unsere Jacken ablegten, und band mein Haar zu einem wirren Zopf zusammen. Ich konnte die langen Strähnen nicht gebrauchen, wenn ich arbeitete.

„Machen wir zuerst die Katzen“, instruierte ich und ging in die Geräte- und Vorratskammer.

„Hier.“ Ich drückte Jesse ein paar Müllsäcke und eine Schaufel für die Katzenklos in die Hand. Ich grinste bei dem Gedanken, wie er sich durch das Katzenstreu schaufelte.

„Hast du Erfahrung mit Katzen?“, fragte ich Jesse, während wir zum Gehege liefen.

„Ich weiß, wie man nach Scheiße gräbt, falls du das meinst“, sagte er mit einem charmanten Lächeln auf den Lippen. Letztendlich machte ich die meiste Arbeit, während Jesse damit beschäftigt war, die Stubentiger zu streicheln. Nicht, dass ich ihm böse war. Er schien auch nicht arbeitsfaul, aber den Blicken und dem Gemaunze der gut zwanzig Katzen konnte er wohl nicht widerstehen. Ich verlor mich für einen Moment in dem Anblick, wie er in der Hocke saß und seine Hände durch die verschiedenen Felle gleiten ließ. Er wirkte so sanft in diesem Moment. Und natürlich stellte ich mir vor, wie er mich so berührte, wie er seinen Daumen über meine Wange gleiten ließ…

Er erwischte mich dabei, wie ich ihn anstarrte, doch ausnahmsweise sah ich einmal nicht peinlich berührt weg, sondern schenkte ihm ein mildes Lächeln, das er zu meiner Freude erwiderte.

„Hast du Haustiere?“ wollte ich später wissen, als wir den Katzenkot entsorgten, und fragte mich gleichzeitig, ob er noch bei seinen Eltern wohnte - was ich mir kaum vorstellen konnte. Er schüttelte den Kopf.

„Ich hatte mal zwei Ratten.“ Er runzelte die Stirn, als er versuchte, sich zu erinnern. „Crabbe und Goyle.“

Ich hob die Augenbrauen.

„Harry Potter? Wirklich?“ Crabbe und Goyle waren die Sidekicks von Fiesling Draco Malfoy. Ich stellte mir eine jüngere Version von Jesse vor, der die Bücher von J.K. Rowling verschlang, während ihm zwei Ratten auf den Schultern saßen.

„Meine Schwester hat sie so getauft“, sagte er mit einem Achselzucken und ich fragte mich amüsiert, ob er mich anlog, weil es ihm peinlich war.

„Als meine Mutter das rausgefunden hat, ist sie ganz schön ausgeflippt.“ Ich sah ihn erstaunt an.

„Deine Mutter hat nichts von den Ratten gewusst?“, fragte ich.

„Nein. Sie hatten keinen Käfig. Ich habe sie immer frei im Zimmer laufen lassen. Das Futter habe ich irgendwo versteckt und sie waren darauf trainiert, eine kleine Kiste als Klo zu benutzen, die ich unterm Bett stehen hatte. Das hat fast ein halbes Jahr lang funktioniert.“

Ich lachte erheitert. Wenn ich mir vorstellte, meine ahnungslose Mutter würde plötzlich zwei Ratten in meinem Zimmer entdecken, wäre die Hölle los. Jesse sah mich lange an und mein Lachen verstummte.

„Was ist aus ihnen geworden?“ Wir beluden einen Rollwagen mit Futternäpfen für die Hunde und befüllten sie.

„Greg hat sie zu sich genommen. Er hatte schon eine eigene Wohnung.“ Ich öffnete die Tür zum Hundetrakt. Wir wurden sofort mit lautem Gebell empfangen.

„Wie alt warst du da?“ Jesse überlegte kurz und reichte mir den ersten Napf, den ich zu Murphy, einem alten belgischen Schäferhund, in den Zwinger stellte.

„Zwölf oder dreizehn.“ Je weiter wir uns in dem Gang vorarbeiteten, desto stiller wurde es, weil alle Hunde mit essen beschäftigt waren.

„Wie viele sind das?“, fragte Jesse und ließ seinen Blick über die lange Reihe der Zwinger schweifen.

„Momentan haben wir zweiundvierzig Hunde hier.“ Jesse pfiff leise.

„Kein Wunder, dass du so oft hier bist.“ Mein Herz flatterte. Ich war froh, dass er Tiere mochte.

„Und das ist Pearl“, sagte ich, als wir zum letzten Zwinger kamen. Wie immer blieb mein Mädchen stumm, wedelte aber umso freudiger mit dem Schwanz und strich mir beinahe wie eine Katze um die Füße, als ich in den Zwinger trat.

„Was kommt als nächstes?“, fragte Jesse, da wir jetzt alle Näpfe verteilt hatten.

„Normalerweise würde ich jetzt mit den Hunden trainieren.“ Jesse nickte.

„Na dann machen wir das doch.“ Wir gingen auf den Übungsplatz und setzten uns auf die alte Picknickdecke, die ich immer mitnahm. Pearl legte ich die Schleppleine an.

„Ich übe gerade das Abrufen auf Kommando mit ihr. Das Problem ist, dass sie sowieso total auf mich fixiert ist. Deshalb kann ich nicht beurteilen, ob sie versteht, was ich von ihr will, oder einfach so zu mir kommt.“ Ich zuckte mit den Schultern.

„Soll ich es mal versuchen?“, bot Jesse sich an und erneut war ich froh, dass er ein Tierliebhaber war.

„Ja, bitte.“ Pearl schnupperte am Boden und war total beschäftigt, als Jesse sie das erste Mal ansprach. Doch beim zweiten Versuch hob sie den Kopf, schien sich aber nicht sicher zu sein, ob sie zu dem Fremden gehen sollte oder nicht. Jesse klopfte auf seine Oberschenkel, so als würde er sie auf seinen Schoß einladen. Oh verdammt, das weckte schon wieder meine Fantasie. Wieso wollte ich plötzlich Platz mit einem Hund tauschen? Mich müsste Jesse zumindest nicht lange bitten, so viel stand fest. Schließlich beschloss Pearl, dass sie Jesse trauen konnte und kam schwanzwedelnd auf ihn zu. Er lobte sie überschwänglich und ich lächelte erfreut. Pearl mochte eigentlich keine Fremden. Möglicherweise war es auch nur meine Anwesenheit, die sie sicherer machte, aber Jesse war eindeutig geübt im Umgang mit Hunden. Ich fragte ihn, woher das kam.

„Greg hatte einen Mastiff“, erklärte er.

„Hast du eigentlich noch andere Geschwister?“, fragte ich und stützte mich auf meinen Händen ab. Jesse kreuzte seine Beine in einen Schneidersitz. Mann, seine Jeans war echt eng. Ich wunderte mich, dass die Hose nicht riss. Wahrscheinlich eine Jeggings. Bei dem Gedanken von Jesse in Strumpfhosen musste ich mir ein Grinsen verkneifen. Und vor allem musste ich dringend woanders hingucken. Jesse verneinte.

„Nur Greg und Betty.“ Ich würde am liebsten im Erdboden versinken bei dem Gedanken daran, wie ich seine Schwester kennengelernt hatte. Ich war eifersüchtig auf sie gewesen, weil ich dachte, sie hätte was mit Jesse am Laufen.

„Und du?“ Ich schüttelte den Kopf.

„Nur Tammy. Aber damit bin ich vollends ausgelastet, glaub mir.“ Jesse grinste.

„Ja, sie ist etwas… anstrengend?“, schlug er vor. Ich stimmte zu.

„Aber nichts im Vergleich zu Jen“, sagte ich. Jesse verdrehte die Augen. Es war das erste Mal, dass ich das sah. Noch ein Punkt auf der Unwiderstehlichkeitsliste. Sie wurde allmählich zu lang.

„Hat Tammy eigentlich irgendwas gegen mich?“, fragte der Junge, in den ich mich verliebt hatte, plötzlich ernst geworden. Ich überlegte lange, was ich antworten sollte.

„Sie hat glaube ich die Befürchtung, du würdest nur mit mir spielen“, antwortete ich schließlich wahrheitsgemäß und rupfte stumpfes Gras von der halb gefrorenen Wiese. Jesse schwieg einen Moment und ich befürchtete schon, dass er meiner Schwester Recht gab. Er lehnte sich näher zu mir herüber und senkte den Kopf, um Blickkontakt mit mir herzustellen.

„Ich weiß ja nicht, ob du gestern Abend dabei warst… aber soweit ich das mitgekriegt habe, hatten wir ein ganz seriöses Date.“

Mein Herz raste. Date. Er hatte Date gesagt. Es war also wirklich ein Date gewesen. Dann war das heute… Moment. Aber das war noch keine Garantie dafür, dass er nicht nur herumalberte. Ich konnte ihm nicht lange in die Augen sehen und tat so, als wäre ich damit beschäftigt, Pearl zu beobachten.

„Du hast selbst gesagt, ich soll dich nicht zu ernst nehmen“, sagte ich leise. Jesse kratzte sich am Ohr und zog die Nase kraus.

„Ja, aber das war doch nicht darauf bezogen. Ich dachte eher an mein loses Mundwerk.“ Es war mir so peinlich, dass wir darüber redeten, und auch wenn ich froh war, ihn all das sagen zu hören, konnte ich ihm nicht so einfach glauben.

„Außerdem dachte ich, du wärst diejenige, die das alles nicht ernst nimmt.“ Mein Kopf fuhr zu ihm herum.

„Was? Wie kommst du darauf?“ War das etwa was Ernstes zwischen uns? Wir hatten uns doch nur ein Mal geküsst. Naja, eineinhalb Mal. Jesse zuckte die Achseln. Jetzt war er derjenige, der Grashalme zupfte.

„Ich weiß nicht. Du bist schon den ganzen Tag so still. So, als würdest du bereuen, was gestern passiert ist.“ Ich glaubte kaum, was ich da hörte. Er hatte ganz ähnliche Gedanken wie ich.

„Dabei dachte ich, nach dem Kuss…“ Seine Mundwinkel bogen sich nach oben und süße kleine Grübchen kamen zum Vorschein. Okay. Es hatte ihm gefallen. Ich klopfte mir in Gedanken selbst auf die Schulter.

„Ich bin immer still“, verteidigte ich mich und versuchte mein Herz zu ignorieren, das aus meiner Brust zu springen schien. „Und ich bereue es nicht.“ Seine Grübchen wurden tiefer.

„Gut“, sagte er schlicht und ich würde ihm am liebsten erneut um den Hals fallen.

Die restliche Zeit legten wir unsere Aufmerksamkeit hauptsächlich auf Pearl und das Training, doch Jesse schien sich in dieser Stille viel wohler zu fühlen als ich. Seltsam. Normalerweise war ich diejenige, die ihre Ruhe brauchte, und jetzt würde ich am liebsten tausend Fragen stellen. Wie würde es weitergehen? Wann sahen wir uns wieder? War das heute auch ein Date? Würden wir noch weitere Dates haben? Und womit zum Teufel hatte ich das verdient? Womit hatte ich ihn verdient?
 

„Hey“, sagte Jesse im Auto, als ich meinen Gedanken zwischen Euphorie und Zweifeln nachhing.

„Hm?“ Ich war müde. Wahrscheinlich, weil ich gestern Nacht kaum hatte schlafen können. Weil ich Jesse in meiner Vorstellung noch circa fünfhundert Mal geküsst hatte. Und die Heizung im Auto trug auch ihren Teil dazu bei, dass mir fast die Augen zufielen.

„Möchtest du Schlittschuhlaufen gehen? Nächstes Wochenende? Ich glaube, ich muss da noch was gutmachen.“ Ich grinste, so breit, wie ich es schon ewig nicht mehr getan hatte. Es tat beinahe weh.

„Okay“, sagte ich nur und war in diesem Moment einfach nur glücklich. Noch ein Date. Noch ein Date mit Jesse. Ich fragte mich, was er dazu sagen würde, wenn ich ihm gestand, dass ich bereits Hals über Kopf in ihn verknallt war. Doch ich wollte ihn ja nicht verjagen. Ich musste meine Gefühle einfach ein wenig im Zaum halten.

Jesse parkte am Straßenrand und ich bemerkte erstaunt, dass wir schon bei mir waren. Am liebsten würde ich gar nicht aussteigen. Ich wollte hier einfach nur sitzen, mit Jesse reden und Musik hören, bis mir die Augen zufielen. Eine Vision, wie wir beide aneinander gekuschelt in meinem Bett einschliefen, kreuzte meine Gedanken. Es tat beinahe körperlich weh, wie sehr ich seine Nähe wollte. War das noch normal, oder war ich völlig verrückt geworden?

Jesse zog sein Handy heraus und ich war etwas irritiert, dass er mir nicht einmal gute Nacht sagte, bevor ich ausstieg. Doch als ich mich abschnallte und die Tür öffnete, hielt er mich zurück.

„Deine Handynummer.“ Oh. Ich gab sie ihm an und er tippte sie mit flinken Fingern in sein Handy ein. Ich erinnerte mich, wie er gestern beim Essen seine Hand auf meine gelegt hatte. Wieso konnte ich mich kaum noch an das Gefühl erinnern? Es war gerade mal vierundzwanzig Stunden her. Und ich wollte mehr davon. Er rief mich an und mein simpler voreingestellter Klingelton ertönte.

„So, jetzt hast du meine.“ Ich biss mir auf die Lippe, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Ich sollte aussteigen.

„Also dann… Gute Nacht.“ Bevor ich mich wieder selbst überraschen konnte und Jesse erneut um den Hals fiel, stieg ich aus. Und mein Puls stieg, als ich eine zweite Autotür hörte. Déjà-vu.

„Hey.“ Jesse lehnte sich gegen sein Auto und sah mich grinsend an. Es war einer seiner früheren Grinser, ein fieser.

„Um die Nachhilfestunde am Donnerstag kommst du aber nicht herum, nur damit das klar ist.“ Wieso sollte ich sie nicht wollen? Ja, ich hasste Lernen. Und ja, ich hasste Mathe. Aber solange ich Jesse sehen konnte, war mir alles egal. Das ließ ich mir jedoch nicht anmerken. Ich legte den Kopf schief und rümpfte die Nase.

„Du kannst mich nicht zu einem höheren IQ zwingen.“

Er lachte über meine Wortwahl.

„Nein. Aber ich kann dich dazu bringen, deine Nase in ein Buch zu stecken.“ Ich hob meine Augenbrauen.

„Und wie willst du das anstellen?“ Er kam auf mich zu und ich musste aufpassen, dass mir mein Herz nicht aus der Brust sprang. Direkt vor mir blieb er stehen.

„Keine Ahnung. Mir fällt schon was ein“, sagte er leise. Ich liebte seine Stimme. Ich wollte eine schlagfertige Antwort geben, aber mir fiel keine ein. Mein Hirn war wie leergefegt. Es gab nur ihn. Nur seine Augen und seine Lippen. Ich betete, dass er mich küssen würde. Noch einmal würde ich nicht die Initiative ergreifen. Die Zeit schien stillzustehen, während ich mich in seinen Augen verlor, doch er rührte sich keinen Millimeter.
 

„Gute Nacht“, hauchte ich schließlich und eiste mich von seinem Anblick los.

„Gute Nacht.“ Er überwand den Abstand zwischen uns und versiegelte meine Lippen mit seinen. Endlich. Ich musste aufpassen, dass meine Knie nicht sofort unter mir nachgaben. Nur um sicherzugehen, hielt ich mich an seinem Kragen fest. Seine Lippen waren so weich, so sanft. Der Kuss war so intensiv, dass ich ihn in jeder Faser meines Körpers spürte. Ich stellte mich auf Zehenspitzen, um ihm noch näher zu sein, und er schlang seine Arme um mich. Es war göttlich. Er roch nicht nach Rauch, und er schmeckte auch nicht danach. Hatte er heute gar nicht geraucht? Ich konnte mich schlecht erinnern, ich konnte mich nicht konzentrieren. Vor allem jetzt nicht, wo er seine Zunge über meine Lippen gleiten ließ. Ohne eine Sekunde darüber nachdenken zu müssen, öffnete ich meine Lippen und schmolz dahin, als unsere Zungen sich trafen und der Kuss fordernder wurde. Gleich würde ich in Ohnmacht fallen, ganz bestimmt. Er war dafür gemacht, zum Küssen geboren. Ich fuhr erschrocken zurück, als in der Nähe eine Tür zugeschlagen wurde. Ich sah zu unserem Haus, doch es war alles still. Es musste von weiter weg gekommen sein. Ich vergrub mein Gesicht an seiner Brust und schämte mich für meine Schreckhaftigkeit. Dass ein kleiner Teil von mir Angst hatte, mit ihm erwischt zu werden, schob ich in eine Schublade ganz tief in meinem Kopf. Jesse lachte leise und umarmte mich. Sein Kinn ruhte für einen Augenblick auf meinem Haar und ich fragte mich, wie wir wohl in diesem Moment zusammen aussahen.

„Ist das deine Art, mich für Mathe zu begeistern?“, fragte ich und sah zu ihm auf. Er lächelte. Ich wollte ihn schon wieder küssen.

„Funktioniert’s denn?“ Ich biss mir auf die Lippe und nickte, wohlwissend, dass ich errötete. Doch glücklicherweise war es schon ziemlich dunkel. Er hob eine Hand und fuhr mit seinem Daumen über meine Wange.

„Du bist ganz kalt.“ Ich schüttelte den Kopf.

„Mir ist aber nicht kalt.“ Jesse grinste.

„Vielleicht solltest du besser reingehen.“ Es versetzte mir einen kleinen Stich, dass er mich fortschickte, aber er hatte Recht. Jetzt, wo er es sagte, merkte ich, wie die Kälte meine Füße hinaufstieg und meine Hände spürte ich kaum noch. Wie lange standen wir hier schon? Es fühlte sich nur an wie Sekunden. Auf jeden Fall nicht lang genug. Dennoch gab ich nach.

„Du hast Recht. Ich sollte gehen.“ Ich löste meine Finger von seiner Jacke.

„Gute Nacht“, sagte ich erneut. Er fuhr mit seinem Daumen noch einmal über meine Wange, ganz langsam, dann trat er einen Schritt zurück.

„Schlaf gut.“ Ich starrte ihn an, ich wusste es, und noch schlimmer war, er wusste es, aber das war mir in diesem Moment egal. Ich wollte diesen Anblick in mich aufsaugen und versiegeln. Davon zehren, bis ich ihn das nächste Mal sah. Ich zählte im Stillen bis zehn, dann machte ich auf dem Absatz kehrt und drehte mich nicht um, bis ich die Tür hinter mir geschlossen hatte. Ich wusste, ich hätte es sonst nicht bis ins Haus geschafft.



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