Life is precious von JesLea (Das Leben ist wertvoll) ================================================================================ Kapitel 2: Menschenkenntnis und Gesangstalente ---------------------------------------------- Am nächsten Morgen war ich folglich ziemlich schlecht gelaunt, und als meine Mom wissen wollte, was los war, verkündete ich gereizt, es ginge mir blendend und ignorierte den Blick, den Tammy mir zuwarf. Erst im Schulbus hielt sie es nicht mehr aus – eine erstaunlich lange Zeit für meine Schwester – und fragte mich, ob wirklich alles okay sei. „Ich habe einfach schlecht geschlafen, das ist alles“, erwiderte ich wahrheitsgemäß. „Aber gestern war’s doch lustig, oder? Die Jungs sind in Ordnung.“ Sie klang etwas nervös. Wollte sie mich etwa verkuppeln? Ich erlaubte mir einen kleinen Scherz. „Ja, ganz nett.“ Ich zuckte mit den Schultern und tat so, als würde ich über etwas nachdenken. „Vor allem dieser Ty war total cool. Er sieht echt gut aus. Ich hätte nie gedacht, dass ich auf Surferboys stehe…“ Ich blickte aus dem Fenster, damit Tammy nicht sah, wie ich mir das Grinsen verkneifen musste. „Du, Lea, du solltest vielleicht was wissen über Ty, bevor du dich da in was reinsteigerst.“ Doch ich hatte bereits das Interesse an meinem Spiel verloren. „Mach dir nicht in die Hose. Ich hab schon mitgekriegt, dass Ty nicht auf Mädchen steht. Und du musst nicht extra nett zu mir sein - von mir aus gehen wir auf diese Party.“ Freitag und Samstag bearbeiteten Tammy und ihre beste Freundin mich abwechselnd, um auch ganz sicher zu gehen, dass ich zur Party erschien. Ty würde sie bestimmt trotzdem hineinlassen, auch wenn sie mich nicht mitbrachten. Ich ging davon aus, dass es den Jungs eigentlich herzlich egal war, ob ich aufkreuzte, aber die beiden ließen nicht locker. Ihr Drang, mich unter Leute zu bringen, wurde langsam krankhaft. Vielleicht sollten sich die beiden lieber um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Als ich das laut äußerte, rollte Jen mit den Augen und ließ sich neben mir aufs Bett fallen. „Hab dich nicht so, Lea. Die Jungs waren doch echt ganz okay, das musst du zugeben.“ Die Frage, ob Jesse auch da sein würde, verkniff ich mir hartnäckig, da ich nicht wollte, dass die Mädels dachten, der Crash auf dem Eis hätte mir doch etwas ausgemacht. Womöglich erzählten sie Jesse noch davon und zwangen ihn, sich bei mir zu entschuldigen. Ich sah schon sein süffisantes Grinsen, weil es ihn erfreute, dass ich meine Schwester vorschickte, um ihn zur Rede zu stellen. Nein danke, darauf konnte ich gut verzichten. Er sollte nur nicht glauben, ich hätte auch nur einen weiteren Gedanken an ihn verschwendet. „Von mir aus“, gab ich schließlich auf und wurde dafür mit Umarmungen und Küssen überhäuft. „Nein, so kannst du unmöglich gehen!“ Jen hatte die Arme vor der Brust verschränkt und schüttelte entschieden den Kopf. Ich sah an mir herunter, fand aber nichts auszusetzen an meiner Jeans und dem grauen T-Shirt. „Rauf mit dir, sofort!“ Sie scheuchte mich die Treppe hinauf, Tammy im Schlepptau. Als ich in mein Zimmer abbiegen wollte, nahm sie meine Hand und führte mich stattdessen eine Tür weiter, in Tammys. „A-ah. Hier rein.“ Sie öffnete den Kleiderschrank, der etwa doppelt so groß war wie meiner. „Wir könnten was mit deinen Haaren anstellen“, schlug meine Schwester vor. Das hatte sie vorhin schon mal erfolglos versucht, doch jetzt waren sie in der Überzahl und ich überstimmt. „Such mal das kleine Schwarze, das du letztes Jahr am Sommerfest getragen hast“, forderte Jen Tammy auf. Sie hatte es eigentlich wegschmeißen wollen, weil sie nicht mehr reinpasste, hatte aber immer wieder betont, dass ich es ja irgendwann mal brauchen könnte. Hätte sie es doch bloß in die Altkleidersammlung gegeben. Während Tammy ihren Kleiderschrank auf den Kopf stellte, zückte Jen Wimperntusche und Kajal und vergriff sich an meinen Augen. Dann öffnete sie meinen Zopf, sodass mir die langen dunkelbraunen Strähnen über die Schultern fielen. „Da ist es“, rief Tammy triumphierend und bewahrte mich somit vor einer völlig übertriebenen Frisur. Rasch erhob ich mich und schnappte mir den schwarzen Fetzen. Im Bad starrte ich ein paar Sekunden lang in den Spiegel und zerrte an dem V-Ausschnitt, der mir definitiv zu viel Haut zeigte. Außerdem füllte ich es an den entscheidenden Stellen nicht ganz aus. Aber da ich die Hoffnung, mich in diesen Klamotten heute noch wohlzufühlen, schnell aufgegeben hatte, präsentierte ich mich schließlich den Mädels, die erfreut in die Hände klatschten, und wurde von einem Autohupen erlöst. Das war Ned, Jens Bruder. Er hatte noch schnell Bier an der Tankstelle geholt, als Mitbringsel sozusagen. „Los geht’s.“ Jen sprang die Treppen hinunter, Tammy meldete uns bei Dad ab und ich rannte noch schnell in mein Zimmer, um einen Haargummi über mein Handgelenk zu streifen und einen Schal zu holen, den ich in meine Tasche steckte. Sobald ich mich von Jen und Tammy abgeseilt hatte, könnte ich wieder ein wenig mehr wie ich selbst aussehen. „Seid anständig“, rief Dad uns noch nach. Ich war froh, dass er nicht vom Sofa aufstand und mein Outfit somit unbemerkt blieb. „Hey, Mädels, bereit für die Party?“, begrüßte uns Ned, als wir in sein Auto stiegen. „Lea, verschärftes Outfit.“ Er zwinkerte mir aufmunternd zu. Jen und Tammy waren eindeutig besser gestylt als ich, aber Ned fiel meine Veränderung auf, weil ich normalerweise nie so außer Haus ging. Ich versagte kläglich bei dem Versuch, mir ein Lächeln abzuringen. Rund um Tys Haus standen schon etliche Autos, die Musik hallte bis auf die Straße. Die Party war also schon in vollem Gang. Die Jungs waren nett und unkompliziert, versuchten nicht verkrampft, mich in ein Gespräch zu verwickeln, schlossen mich aber auch nicht aus. Da tat ich mir mit Tammys Freundinnen schon schwerer. Sie sahen mich immer an, als wäre ich ein verletztes Reh und redeten mit mir, als wäre ich ein Kleinkind. Bei den Mädels bemühte ich mich nicht, höflich zu bleiben oder Interesse vorzuheucheln. Meistens, wenn es mir zu blöd wurde, ließ ich sie mitten im Satz ohne ein Wort der Entschuldigung stehen und suchte schnellstmöglich das Weite. Kein Wunder, dass sie mich für einen Freak hielten. Mir sollte es nur recht sein, dann hatte ich wenigstens meine Ruhe. Nachdem ich mich von meiner Schwester loseisen konnte, verdrückte ich mich nach oben, um ein wenig Ruhe zu haben und sah mich ein wenig um. Ich klopfte anstandshalber an jede Tür, bevor ich sie öffnete, doch ich war wohl die Einzige, die es in den oberen Stock gezogen hatte. Das einzige Zimmer, hinter dem ich nicht sofort wieder die Tür schloss, musste Tys Reich sein. Es sah sehr teeniemäßig aus, vollgepflastert mit Bildern von Autos, Footballmannschaften, Bands und Filmpostern. Es hatte allerdings auch Stil, weil alles in schwarz-weiß gedruckt war. Ich sah kurz über die Schulter und lauschte, ob sich jemand nach hier oben verirrt hatte. Ich wollte nicht wie ein Stalker wirken. Doch es war nur die Musik und Gelächter von unten zu hören. Ich mochte die Musik, die Ty aufgelegt hatte, und durchstöberte deshalb sein CD-Regal. Es hatte jedoch nicht viel zu bieten. Wahrscheinlich hatte er seine ganze Sammlung auf dem Computer. Ich betrachtete die Fotos. Die Jungs waren darauf zu sehen, Ty und seine Familie, immer wieder eine Katze, meistens zusammen mit Ty abgelichtet. Brandon und drei andere Kerle, die ich nicht kannte, mit Instrumenten bewaffnet. Die Bands, die er verewigt hatte, kannte ich nicht. Bald verlor ich das Interesse und wurde von einem Knall erschreckt. Mein Herz machte einen kurzen Satz. Machte da jemand nur Blödsinn oder war in der Nähe ein Feuerwerk? Ich öffnete die Balkontür, eigentlich eher ein kleiner Verschlag, auf dem gerade so zwei Stühle Platz hatten, und sah nach oben. Gerade erhellte ein Feuerwerkskörper den Himmel. Da alberte nur irgendwer im Garten herum. Ich suchte das Gelände nach dem Übeltäter ab, doch es gab keine Zugabe. Stattdessen erregte etwas anderes meine Aufmerksamkeit. An einem kleinen verfallenen Gartenhüttchen stritten zwei Personen. Anscheinend ein Pärchen. Das Mädchen gestikulierte wild mit den Armen und schrie ihren Freund an. Den schien das jedoch nicht sonderlich zu jucken. Er warf hin und wieder einen Blick Richtung Haus, so, als überlegte er, sie einfach stehenzulassen und zur Party zurückzukehren. Sie schubste ihn, um seine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen, da packte er ihre Arme und drängte sie gegen die Hütte. Ich befürchtete schon, der kleine Holzschuppen würde gleich einstürzen, doch noch viel mehr Angst hatte ich davor, dass er sie schlagen würde. Mit meiner Menschenkenntnis war es jedoch nicht so weit her, denn er tat das genaue Gegenteil und presste seine Lippen auf ihre. Das hatte ich nicht erwartet. Sie anscheinend auch nicht, denn sie machte sich empört von ihm los und verpasste ihm eine Ohrfeige. Geschieht ihm ganz recht, dachte ich, ohne die eigentliche Vorgeschichte der beiden zu kennen. Er gab sich jedoch nicht geschlagen und küsste sie erneut. Dieses Mal wehrte sie sich nicht. Sie hatte es sich wohl schnell anders überlegt und vergaß ihren Ärger augenblicklich, denn schon schlang sie ihre Arme um ihn. Die Szene war nicht mehr ganz so jugendfrei, als er seine Hand unter ihr Top gleiten ließ, doch ich konnte meinen Blick einfach nicht abwenden. Ich fragte mich, ob sie nicht froren, bei den eisigen Temperaturen draußen. Doch wahrscheinlich waren sie zu betrunken und zu beschäftigt, um es zu merken. Im nächsten Moment erschraken wir alle drei, denn erneut blitzte eine Rakete, begleitet von einem lauten Krachen, in den Himmel. Jetzt konnte ich ihre Gesichter erkennen – und erstarrte. Es war Jesse. Und er sah direkt zu mir herauf. Sofort verließ ich den Balkon und rannte aus Tys Zimmer. Hatte Jesse mich erkannt? Egal, ich hatte irgendwie das Gefühl, dass er sich gerade auf dem Weg zurück ins Haus befand, um herauszufinden, wer sie da beobachtet hatte. Ich wollte ihm auf keinen Fall über den Weg laufen, deshalb drängte ich mich durch die Leute und rannte auf die Straße, ohne stehenzubleiben oder mich umzudrehen. Erst ein paar Häuser weiter erlaubte ich es mir, zu Atem zu kommen. Plötzlich kam ich mir dumm vor. Wahrscheinlich stand Jesse noch immer mit diesem Mädchen draußen im Garten und tat lieber nicht jugendfreie Dinge, anstatt mir hinterherzulaufen. Zur Party zurückkehren wollte ich allerdings nicht mehr. Ich rief meine Schwester an, um ihr zu sagen, dass ich mich nicht wohlfühlte und ein Taxi nach Hause genommen hatte. Bevor sie groß nachhaken konnte, was los war, legte ich auf. Brandon lud uns ein paar Wochen später zu einer Bandprobe ein, weil sie einen neuen Sänger suchten. „Je größer die Jury, umso besser.“ Ich hatte zwar keine Ahnung von so etwas, aber den Gedanken, möglicherweise dabei zu sein, wenn die neuen Beatles sich formierten, fand ich ziemlich cool. Leider waren die Kandidaten nicht sehr beeindruckend. Anscheinend gab es in unserer Gegend akuten Bandmangel, denn mehr als zwanzig Anwärter – sowohl männliche als auch weibliche – lungerten vor der Garage herum. Tammy hatte an diesem Nachmittag leider einen wichtigen Test, deshalb ging ich mit Jen hin. Wir machten es uns auf alten Autoreifen gemütlich und begannen das Casting. Tatsächlich musste sich jeder kurz vorstellen. Name, Alter, Banderfahrung, Lieblingsinterpret und so weiter. Zwei oder drei waren ganz gut und Brandon ließ sich die Nummer der Jungs geben. Übrigens auch von einem Mädchen, aber nur, weil sie so hübsch war. Wir hatten Sandwiches gemacht, die wir großzügig an die Band und ihre Anwärter verteilten. Die Songs, die sie spielten, kannte ich sogar teilweise. Sie coverten Coldplay, Imagine Dragons, Bastille, aber auch einige, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Ich trank bereits mein zweites Wasser, als ein bekanntes Motorengeräusch ertönte. An Jens Reaktion sah ich, dass ich Recht hatte. Das musste Greg sein. Dass seine Boxen nicht die getönten Scheiben seines Autos sprengten, war mir ein Rätsel. Jen rollte genervt mit den Augen. Ich konnte mir nicht erklären, wieso sie so eine Abneigung gegen ihn empfand. Leider hatte er auch seinen Bruder mitgebracht. Ich versank tiefer in meinem Autoreifen, nahm einen Schluck aus meiner Flasche und tat so, als wäre ich unglaublich damit beschäftigt, den Salat aus meinem Sandwich zu puhlen. Dabei mochte ich Salat eigentlich. „Ich habe gehört, ihr braucht Verstärkung!“ Greg hob zwei Sixpacks in die Höhe und ich fragte mich, ob er wohl immer welche dabei hatte. „Hast du etwa vor, dich zu bewerben?“, scherzte Ty, worauf Greg in brummiges Lachen verfiel. „Nicht mal im Traum. Nein, ich dachte, vier Ohren mehr könnten nicht schaden.“ Brandon verzog das Gesicht. „Leider haben wir heute mehr engagierte Jurymitglieder als Talente gesehen, aber ihr seid trotzdem herzlich willkommen. Und jetzt her mit dem Bier.“ Die Band legte eine kurze Pause ein und gönnte sich ein Kühles. Ich nahm anstandsweise auch eines entgegen, stellte es jedoch neben mir ab und nippte weiter an meinem Wasser. Ich entspannte mich ein wenig, da Jesse mich nicht beachtete. Bestimmt erkannte er mich nicht. Auf der Party war ich zu aufgetakelt gewesen, außerdem war es schon drei Wochen her. Und die Sache auf dem Eis hatte er wahrscheinlich schon längst vergessen. Ich leider nicht, denn ich wurde immer noch wütend. Doch da ich ihn gestalkt hatte, beschloss ich, dass ich nicht mehr das Recht besaß, sauer auf ihn zu sein und befand uns als quitt. Die nächsten Kandidaten waren leider auch nicht vielversprechender, als die meisten anderen. „Uns gehen langsam die Möglichkeiten aus“, meinte Ezra frustriert. Ja, der Ezra, den Alex im Bus erwähnt hatte. Ich sah unauffällig zwischen ihm und Ty hin und her. Wusste der Drummer, dass Ty auf ihn stand? Ich versuchte zu erkennen, ob er an Männern interessiert sein könnte, doch es war mir unmöglich, festzustellen, ob Ty eine Chance hatte. Ich mochte ihn sehr gern, deshalb wünschte ich es ihm, aber Ty schien nicht der Typ zu sein, der in die ganze Welt hinausposaunte, dass er nur am eigenen Geschlecht interessiert war. Wenn das überhaupt stimmte. Vielleicht war er ja auch bi. Mir wurde plötzlich klar, wie wenig ich eigentlich über alle hier in der Garage wusste. Das stimmte mich melancholisch, doch glücklicherweise wurde die Pause in diesem Moment beendet, das Tor wurde wieder geöffnet und der nächste Kandidat hereingebeten. Ich hörte schon gar nicht mehr richtig zu, wenn sie sich vorstellten. „Und warum willst du in unsere Band?“, stellte Brandon seine Standardfrage. „Ist doch klar. Ich will Chicks aufreißen!“, erwiderte er mit breitem Grinsen. „Nächster!“, rief Jen verächtlich. „Lasst ihn erst mal singen.“ Er stellte sich breitbeinig hinters Mikro und zwinkerte Jen und mir zu. Jen lachte, nicht weil er ihr gefiel, sondern weil er sich so lächerlich aufführte. Zu viel Selbstsicherheit war dann eben doch nicht mehr sexy. „Also zeig mal, was du kannst“, forderte Ezra und fragte ihn, welchen Song er singen wollte. Er machte seltsame Atemgeräusche zwischen den Lyrics und vollführte Bewegungen, die er sich bei irgendwelchen Boybands abgeschaut haben musste. Sie waren eher ab- als anturnend. Nach dem ersten Refrain streikte plötzlich das Mikro. „Hey, was ist los?“, fragte der Typ, dessen Namen ich mir nicht gemerkt hatte. „Raus hier“, erklang von hinten Jesses Stimme. Ich hatte schon fast vergessen, wie er sich anhörte. Wieso achtete ich überhaupt darauf? Er hielt den Stecker des Kabels in der Hand und schwang ihn lässig in der Luft. „Du gehörst nicht zur Band, oder? Also hast du gar nichts zu sagen.“ Giftig starrte der Möchtegern-Sänger Jesse an, der sich davon jedoch nicht beeindrucken ließ. „Du wurdest angehört und für nicht gut befunden“, mischte Jen sich ein. Jesse steckte sich den kleinen Finger ins Ohr, so als hätte er Wasser hineinbekommen. „Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Der Augenkrebs wegen deinen peinlichen Ballettsprüngen, oder die Mittelohrentzündung, die ich mir wegen dir eingefangen habe.“ Jesse war ein Idiot, aber solange er das zu einer Person war, die ich nicht mochte, hatte ich nichts dagegen. Eingeschnappt verschränkte der Bewerber die Arme vor der Brust - noch so eine unmännliche Geste - und nickte Richtung Mikro. „Dann mach’s doch besser“, sagte er herausfordernd. Ich hätte eigentlich erwartet, dass Jesse sich auf solche Spielchen nicht einließ, und er schien lange zu überlegen, ob er sich die Blöße geben sollte, doch dann lächelte er sein schiefes Lächeln und steckte den Stecker wieder an seinen Platz. „Na dann zeig mal, was du drauf hast“, neckte Greg seinen Bruder, der ihm darauf den Mittelfinger zeigte, an dem ein großer schwarzer Ring steckte. Jetzt, wo er direkt vor mir stand, hielt ich es für ungefährlich, ihn genauer zu mustern. Seine langen lockigen Haare, die ihm fast bis auf die Schultern fielen, steckten wieder unter einer Strickmütze und er trug einen grauen Pullover, der schon ziemlich abgetragen wirkte. Seine Jeans waren im Vergleich dazu ziemlich eng. Ich versuchte, nicht darauf zu starren und konzentrierte mich lieber auf die Armbänder, die er trug. Er schien absolut nicht auf sein Erscheinungsbild zu achten, mischte Stile, die nicht zusammenpassten, und trotzdem gefiel es mir irgendwie. Wahrscheinlich gerade deshalb. Seit das mit Natalie passiert war, hatte ich eine Abneigung gegen perfekt gestylte Leute entwickelt. Natalie war meine beste Freundin. Zumindest glaubte ich das. Seit Monaten hatte ich keinen Kontakt mehr zu ihr. Das lag nicht an mir. Aber sie beantwortete meine Briefe einfach nicht. Vielleicht durfte sie auch keine Post bekommen, dort, wo sie war. Ich möchte es nicht Therapieanstalt oder Klinik nennen, aber ein anderes Wort fällt mir nicht ein. Alles fing damit an, dass sie einen Typen kennenlernte, in den sie sich Hals über Kopf verliebte. Sein Name war Sven. Er war einige Jahre älter als Natalie, trotzdem schien er an ihr interessiert zu sein. Ich verstand nie, was sie an ihm so toll fand. Doch wahrscheinlich reichte es ihr, von ihm beachtet zu werden. Wir spielten eigentlich nicht in seiner Liga und allein die Tatsache, dass er Natalie in sein Leben ließ, machte all seine Fehler für sie unsichtbar. Mit der Zeit distanzierte meine beste Freundin sich immer mehr von mir und hing nur noch mit Sven ab. Es war kein Platz mehr für mich. Dabei hatten wir so gut wie jeden Tag miteinander verbracht - doch etwas hatte sich verändert. Ich kann sie noch genau vor mir sehen, wie sie vor dem Spiegel stand, ihr Makeup betrachtete, das sie neuerdings trug, und an ihrem Kleid zupfte. Sie achtete jetzt mehr auf ihr Äußeres. Während ich noch Probleme damit hatte, meine Weiblichkeit zur Schau zu stellen, pushte Natalie, wo es nur ging. Und sie trug massenhaft Schmuck. „Kiss with a fist“, verlangte Jesse von der Band und riss mich mit seiner Stimme aus meinen Gedanken. Ich musste mich zwingen, nicht weiterhin auf seine Armbänder zu starren, die mich so sehr an den Schmuck erinnerten, den Natalie so gerne getragen hatte. Ich räusperte mich, um meine fünf Sinne zusammenzukriegen und die Tränen aus meinen Augen zu vertreiben. Diese Tagträumereien waren keine Seltenheit. Immer wieder schweifte ich ab und verlor mich in Erinnerungen. Manchmal war das so extrem, dass ich nicht mehr ansprechbar war. Ich wollte nicht, dass mir das hier passierte, deshalb verbannte ich Natalie für den Moment aus meinem Kopf. Die Jungs nickten. Sie kannten den Song. Es war eine rockige Nummer. Und als Jesse schrill ins Mikro schrie, lachten wir alle amüsiert, da wir dachten, dass er Mr. Idiotenkandidat nur veräppeln wollte, doch kurz darauf begann die erste Strophe und schnell verstummten alle. Gleich vom ersten Ton an war klar, dass Jesse das Beste war, was wir heute gehört hatten. Seine Stimme war klar und voll, wurde aber auch kratzig, wenn er es wollte. Das Rauchen trug wohl seinen Teil dazu bei. Im Refrain packte er das Mikro und bewegte sich auf seinen Herausforderer zu und drängte ihn aus der Garage. Weil er wohl gerne seinen Ring zur Schau stellte, zeigte er dem eingeschnappten, aber auch beeindruckten Kandidaten seinen Lieblingsfinger und verneigte sich spöttisch vor ihm. „So reißt man Chicks auf“, beendete er seine Vorstellung und schnappte sich ein Bier. Boyband-Ballerina war innerhalb weniger Sekunden verschwunden, begleitet von unserem Gelächter. Erst nach zwei Schlucken – in denen ich seinen Kehlkopf bewunderte – fiel Jesse auf, dass ihn alle anstarrten. „Eingestellt“, rief Ty begeistert, doch Jesse verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf, als wäre es völlig abwegig, was Ty da von sich gab. „Du musst bei uns anfangen“, forderte auch Brandon begeistert. „Du bist ein verdammtes Genie!“ Doch Jesse packte seine Jacke, warf sie sich über die Schulter und schüttelte erneut den Kopf. „Vergesst es.“ In diesem Moment überlegte ich zum ersten Mal, ob ich ihm ein Gedicht á la Zehn Dinge, die ich an dir hasse widmen sollte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)