Actio est reactio von Ur (von Nerdherzen und den physikalischen Gesetzen ihrer Eroberung) ================================================================================ Kapitel 18: Erkenntnisse ------------------------ Dinge, mit denen ich nach diesem Wochenende hätte rechnen sollen: 1. Dass Freundschaft nicht wie nach einem magischen Fingerschnippen passiert, nur weil man angekündigt hat, dass man gerne mit jemandem befreundet sein möchte. 2. Dass meine Jungs mich niemals ruhen lassen würden, weil ich mit Feli in einem abgeschlossenen Gästezimmer verschwunden bin und dass keiner von ihnen – mit Ausnahme von Cem – mir glaubt, dass Feli und ich nur geknutscht habe und sonst nichts. 3. Dass ich nach meinem Abend mit Tamino festgestellt habe, dass kuscheln eine großartige Sache ist, die ich aber natürlich nicht mit jedem dahergelaufenen Menschen teilen kann und will und deswegen plötzlich auf dem Trockenen schwimme – was irgendwie ironisch ist, da ich damit ja nur angefangen habe, um Taminos Batterie aufzuladen. Alles in allem war es ein großartiges Wochenende mit Folgen, die so anstrengend sind, dass ich eigentlich gerne eine Woche Urlaub von der Schule nehmen würde – was prinzipiell immer der Fall ist, aber so emotional erschöpft war ich noch nie in meinem Leben. Mit Ausnahme vielleicht von der Zeit, nachdem mein Vater beschlossen hat, dass er das größte Arschloch unter der Sonne ist und uns Drei hat sitzen lassen. Obwohl ich meine Abizulassung jetzt in der Tasche habe, ist Schule wahnsinnig anstrengend, weil ich mir jeden Tag mindestens fünfmal anhören muss, dass ich bei Feli »gelandet« bin. Feli selbst geht angenehm locker mit der ganzen Sache um, zwinkert mir hier und da mal zu und unterhält sich wie gewohnt mit mir – eigentlich so, als wäre es keine große Sache gewesen. Ich bin sehr dankbar dafür und wünschte mir, dass die Jungs aus meiner Mannschaft sich eine Scheibe davon abschneiden würden. Cem hat lediglich gefragt: »Und, was war?« Und ich hab gesagt: »Haben ein bisschen rumgemacht.« Woraufhin er mir auf seine übliche Art und Weise auf den Rücken haut und breit grinst, ehe er wieder an seiner Kippe zieht und seinen momentanen Ohrwurm summt. Keine Frage nach »schmutzigen Details« und danach, wie groß Felis Brüste ohne BH sind oder gar danach, in welcher Stellung wir es denn getrieben hätten. Ugh. Am Mittwoch bin ich so angepisst davon, dass ich Lennard fast eins zwischen die Augen verpasse und ich gehe nach der Schule nach Hause, schließe mein Zimmer ab und google nach Pornos – das trägt insofern Früchte, als dass mir nach zwei Minuten schlecht ist, ich meine Internetgeschichte lösche und hinterher mit hochrotem Kopf und Gänsehaut an den Armen ins Bett krieche, weil ich diesen unnötigen Abstecher so ekelhaft fand. Dieses Unterfangen setzt meiner neuen Erkenntnis über das Nicht-Normal-Sein einen offiziellen Stempel auf, weil ich weiß, dass keinem meiner Kumpels jemals schlecht geworden ist, weil sie einen Porno gesehen haben. Und ich habe ja noch nicht mal einen gesehen. Die Vorschauen und einzelne Bilder haben mir schon gereicht. Ich ignoriere Maris Klopfen und tue so, als würde ich schlafen, während ich anfange mir darüber Gedanken zu machen, ob ich vielleicht auf Männer stehe. Aber nach einer halben Stunde, in der ich an die Decke starre und versuche mir vorzustellen, Sex mit einem Mann zu haben. Oder vielleicht einem einen zu blasen. Das Ergebnis davon ist, dass ich glühende Ohren und noch mehr Gänsehaut bekomme und zu dem Schluss gelange, dass ich sehr wahrscheinlich nicht auf Männer stehe. Die Frage ist nur, worauf ich dann stehe, wenn Brüste und Blowjobs von Kerlen mich gleichermaßen kalt lassen – oder noch schlimmer: mir den Magen umdrehen. Ich vergrabe meinen Kopf unterm Kissen und denke darüber nach, mit wem ich darüber sprechen könnte. Googlen will ich das definitiv nicht. Wer weiß, was für Scheußlichkeiten dabei rauskommen, wenn man eingibt »Ich will mit niemandem Sex haben, was bedeutet das?«. Ich werde es jedenfalls nicht herausfinden. Mit Cem kann ich nicht darüber reden, weil ich weiß, dass er Sex super findet und mich wahrscheinlich angucken würde, als sei ich ein Alien mit Tentakeln als Gliedmaßen. Mit Mari kann ich nicht darüber reden – ich liebe sie zwar sehr, aber ehrlich gesagt will ich das Thema Sex mit meiner Schwester niemals auch nur ansatzweise besprechen. Auch wenn sie insgesamt sicherlich eine gute Ansprechpartnerin wäre. Meine anderen Kumpels fallen selbstredend raus. Ich kann auch Feli nicht sagen, dass ich Küssen zwar eigentlich ganz nett fand, aber dass sich nichts in meiner Hose getan hat – was ja vermutlich normal gewesen wäre – und dass ich keinen Bock auf Sex mit ihr habe. Oder mit sonst irgendwem. Mein erstes und einziges Mal Sex mit Katharina war nach etwa drei Minuten vorbei und alle Beteiligten waren peinlich berührt und ich hab kurz danach Schluss gemacht, was mir sehr leid getan hat – aber mittlerweile ist mir ziemlich klar, dass die Vorstellung, noch mal mit ihr schlafen zu müssen, dazu geführt hat, dass ich geflüchtet bin. Ich krieche unter meinem Kopfkissen hervor und greife nach meinem Handy. Tamino hat gesagt, dass wir Freunde sein können. Also heißt das, dass ich theoretisch über solche Sachen mit ihm reden kann. Mari meinte, dass das die Art von Freundschaft ist, die Tamino will und braucht. Ich schlucke und rufe den Chatverlauf mit ihm auf, ehe ich anfange, eine Nachricht zu tippen. »Kann ich dich was fragen?« Die Antwort kommt sofort. »Klar.« Wie immer ohne Emoji. Ich kaue auf meiner Unterlippe herum und denke darüber nach, wie ich mein Problem am besten formuliere, ohne dass Tamino hinten über vom Bett kippt. »Es hat mit Sex zu tun, ist das ok?«, schreibe ich und zögere, bevor ich abschicke. Aber wahrscheinlich platze ich, wenn ich nicht darüber rede, also… Juls, Augen zu und durch! Ich schicke die Nachricht ab. »Na klar!« Na klar. Einfach so. Als wäre er voll geübt darin, über Sex zu reden. Vielleicht ist er das ja. Vielleicht hat er überhaupt keinen Klemmer damit, über Sex zu reden. Krass. Ich schwelge kurz darin, wie falsch ich Tamino monatelang eingeschätzt habe und tippe dann meine nächste Nachricht. »Wie komisch ist es, wenn man mit fast neunzehn keinen Sex haben will?« Mein Herz springt mir fast gegen den Kehlkopf und ich sollte aufpassen, dass ich meine Unterlippe nicht durchbeiße, so sehr malträtiere ich sie. »Nicht komisch. Weil du auf jmd/feste Beziehung warten willst, oder weil du Sex insgesamt nicht gut findest?« Meine Augen lesen die Worte »nicht komisch« ungefähr dreißig Mal und ich höre selber, wie schwer meine Atmung geht. »So insgesamt«, schreibe ich. Wow, Juls. Könntest du noch kürzer angebunden sein und damit deutlich machen, wie prüde du bist? »Vielleicht bist du asexuell?« »???« »Dh du fühlst dich zu niemandem/nur ganz selten sexuell zu Menschen hingezogen. Kann auch heißen, dass du Sex entweder als eklig oder schlichtweg langweilig empfindest.« »Woher weißt du das? Ist das ein Ding? Warum hab ich davon noch nie gehört?« »Lotta ist asexuell. Ja, das ist ein Ding, aber die wenigsten Leute kennen das. Wird auch nicht viel drüber geredet. Ist wahrscheinlich vor allem für Jungs auch eher nichts, über das man reden will.« Ich denke an meine Mannschaftskameraden und an ihre Kommentare und ihr Gejohle und denke mir im Stillen, dass niemand, der asexuell ist, mit denen darüber reden wollen würde. Irghs. Wenn Lotta asexuell ist und es ihr genauso geht, dann heißt das, dass sie mit Tamino keinen Sex hat. Ich sollte definitiv nicht über Taminos Sexleben nachdenken. Ich krabbele ruhelos aus dem Bett und werfe mich vor meinen Computer. Während ich darüber nachdenke, was ich Tamino sagen könnte, bestelle ich das Buch über Aristoteles und Dante, das ich bei Tamino im Regal gesehen habe und fange an, vor lauter Ruhelosigkeit meinen Schreibtisch aufzuräumen. Mein Handy vibriert. »Schau mal, der deutsche Wiki-Artikel ist ziemlich gut: https://de.wikipedia.org/wiki/Asexualit%C3%A4t« Ich öffne den Link und fange an zu lesen. Wahrscheinlich ist es nicht nötig, den Artikel sechsmal zu lesen, aber ich tue es trotzdem und es ist ein bisschen wie eine Erleuchtung. »Oh mein Gott. Danke dafür«, schreibe ich mit einer ganzen Schlange aus Emojis. »Gern geschehen :)« Ich habe seit Samstagmorgen nicht mehr mit Tamino gesprochen, außer ihm morgens in der Schule »Hallo« zu sagen. Abgesehen davon, dass ich gerade wahnsinnig erleichtert darüber bin, dass es einen Wikipedia-Artikel über mich gibt, fühle ich mich schlecht damit, dass ich es noch nicht gebacken bekommen habe, Tamino und mein sonstiges Sozialleben irgendwie auf einen Nenner zu bringen. Vielleicht kann ich ihn fragen, ob Freitag nach der Schule Zeit hat. Jetzt muss ich mich allerdings erst mal weiter durchs Internet klicken und mehr über diese Sache mit der Asexualität lesen. * Am Freitag kriege ich volle Breitseite mitgeteilt, was für ein grandios miserabler Freund ich nach Tamino-Standards bin. Ich bin schon den ganzen Tag besonders scharf aufs Wochenende, weil die Woche so kacke war und ich habe natürlich gesehen, dass Tamino anscheinend wieder kaum oder gar nicht geschlafen hat, aber ich denke mir, dass ich ja nicht jedes Mal danach fragen kann. Man will ja auch nicht aufdringlich sein. Ich lächele ihn ab und an quer durchs Klassenzimmer an und er lächelt kaum merklich zurück. Ich frage mich, ob er sich immer noch fühlt wie ein Geheimnis, weil ich zu dumm bin, mich in den Pausen angemessen aufzuteilen oder um einfach mal in einer kleinen Pause zu ihm hinzugehen, mich auf seinen Tisch zu pflanzen und über irgendwas Belangloses zu reden. Als wir nach dem letzten Klingeln nach draußen strömen, geht Tamino einige Schritte vor mir und ich überlege die ganze Zeit, ob und wie ich ihn fragen kann, ob er heute vielleicht Zeit hat, aber ich komme nicht dazu. Als wir durch die Eingangstür in die strahlende Sonne treten und die Schülermassen sich nach links und rechts aufteilen, um zu Fahrrädern oder Autos zu gelangen, bleibt Tamino wie angewurzelt stehen und ich laufe beinahe in ihn hinein. Trotz des lauten Geschnatters der vielen Leute höre ich ihn scharf einatmen und denke einen Moment lang, ihm würde irgendwas wehtun, bis ich seinem Blick folge und auf der Rasenfläche vor der Schule drei Menschen stehen sehe, die ich bisher nur in Fotos und über Skype gesehen habe. Noah, Anni und Lotta stehen auf dem Rasen vor unserer Schule. Anni hat einen Kuchen in der Hand, auf dem eine einzelne Kerze steckt und Noah hat eine Gitarrentasche über der Schulter. Sobald sie Tamino sehen, breitet sich auf ihren Gesichtern ein Strahlen aus und sie winken in seine Richtung und Tamino ist so schnell von meiner Seite verschwunden, dass ich kaum gucken kann. Er ist in der Tat ausgesprochen schnell und interessiert sich offenbar kein bisschen dafür, dass viele Leute ihn erstaunt und verwirrt ansehen, weil er einen kurzen Sprint quer über den Rasen hinlegt, als hinge sein Leben davon ab. Noah breitet kurz vor dem Zusammenstoß breit grinsend die Arme aus und Tamino landet darin, als hätte er das schon hundert Mal getan. Lotta und Anni docken sofort von hinten an Tamino an, der jetzt um Noahs Hals hängt. Anni hat Schwierigkeiten mit dem Kuchen, will es sich aber offensichtlich nicht nehmen lassen, auch so viel Körperkontakt zu Tamino aufzubauen, wie möglich. Sie hält den Kuchen von sich weg und drückt sich halb an Noah, halb an Tamino. Tamino hat sein Gesicht an Noahs Hals vergraben und ich muss kaum näher herangehen, um zu sehen, dass er offensichtlich weint. Vielleicht sollte ich gehen? Aber… Lotta hat mich entdeckt und winkt mir. Sie wedelt mit der Hand und bedeutet mir, herüber zu kommen und ich setze mich zögernd in Bewegung. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, höre ich Noah in Taminos Haar sagen. Oh. OH. FUCK. Lotta strahlt mir entgegen, als ich direkt neben der Traube zum Stehen komme. »Hey Julius!«, sagt sie freundlich. Weil sie noch nicht weiß, dass ich keinen blassen Schimmer hatte, dass Tamino heute Geburtstag hat. »Hey«, sage ich. Anni verdreht sich den Hals, um mich anzusehen. »Aha! Der berühmte Julius!«, sagt sie. Ich grinse schief, fahre mir durchs Haar und ziehe die Schultern hoch. »Wir haben schon viel von dir gehört«, sagt Noah, um dessen Hals Tamino immer noch baumelt. »Gleichfalls«, gebe ich zurück. Noah setzt Tamino vorsichtig auf dem Boden ab. Er ist wirklich riesig. Tamino löst sich ungefähr zwei Zentimeter von Noah, um als nächstes Lotta zu drücken. Anni schnaubt unzufrieden und die beiden Mädchen bilden ein Sandwich um Tamino. Seine Augen waren vorher schon rot und jetzt sehen sie aus, als hätte er eine ganze Woche nicht geschlafen. Man sieht nasse Flecken auf Noahs Shirt. »Was macht ihr denn hier?«, fragt Tamino mit brüchiger Stimme. Er dreht sich um, damit er auch Anni von vorne umarmen kann. »Wir schwänzen und sind heute Morgen gegen acht losgefahren«, erklärt Lotta. »Aber dein Hausarrest…«, sagt Tamino mit großen Augen. Sie zuckt mit den Schultern. »Sie können mir ja noch mehr Wochen aufbrummen und gucken, was passiert«, sagt sie. Tamino drückt ihr einen Kuss auf die Wange. Ah. Da sind sie, zuckrig klebrig, genau wie Linda und Mari. »Du siehst aus, als bräuchtest du dringend ein Nickerchen«, meint Noah und mustert Tamino aus der Nähe. Tamino fährt sich durch die Haare und nickt. »Hast du schon was vor, oder möchtest du uns Gesellschaft leisten?«, fragt Lotta mich lächelnd. Ich schlucke und sehe Tamino fragend an. Er strahlt und erinnert mich an den Tamino auf dem Foto. »Ich will euch nicht stören«, sage ich unsicher. Tamino schüttelt den Kopf. »Du störst nicht. Wir bestellen Essen und es gibt Kuchen und… also… nur wenn du möchtest«, murmelt er und sieht verlegen drein. Ich fasse es nicht, dass ich nicht wusste, dass er Geburtstag hat. Und er nimmt es mir nicht mal übel und lädt mich auch noch zu sich ein. »Ok«, sage ich unter den aufmerksamen Blicken von Taminos drei besten Freunden und sie grinsen mich zufrieden an, ehe wir uns in einer kleinen Traube zusammen auf den Weg machen. Anni redet am meisten, während wir durch die Straßen gehen. Sie trägt immer noch den Kuchen mit Schokoladenguss und erzählt von einer Ausstellung ihrer Mutter in einem Museum. Es gibt auch jede Menge Neuigkeiten über Leute, die früher mal Taminos Klassenkameraden gewesen sein müssen. Jemand namens Kalle hat die Nase gebrochen bekommen, weil er einem Mädchen namens Elisa an den Hintern gegrabscht hat. Ich frage mich, ob Feli Lennard auch die Nase brechen würde, wenn sie wüsste, wie er über ihre Brüste redet. Noah hat ein neues Projekt angefangen, das irgendwas mit Tolkien und einer riesigen Leinwand zu tun hat. Lotta hat zum ersten Mal in ihrem Leben eine eins in Mathe geschrieben – und ich bin nicht überrascht, dass Tamino ihr dafür über Skype Nachhilfe gegeben hat. Ich frage mich, wie er es nicht nur schafft, seine eigenen Schulsachen zu stemmen und in allem exzellent zu sein, sondern auch noch für mich und seine drei besten Freunde Schularbeiten zu erledigen. Der Junge ist das achte Weltwunder. »Oh, Julius! Herzlichen Glückwunsch zur Abizulassung!«, sagt Lotta zu mir, als wir in Taminos Straße einbiegen. »Ja, Alter. Gute Arbeit«, sagt Noah und zeigt mir einen Daumen hoch. Ich grinse verlegen. »Danke. Wär nix geworden ohne mein persönliches Genie«, sage ich und wedele in Taminos Richtung. Anni grinst sehr breit, während Noah nickt, als wüsste er ganz genau, was für Wunder Tamino vollbringen kann. »Wenn Tamino mir nicht ab der Achten Nachhilfe in Französisch gegeben hätte, wär ich überall durchgerasselt«, erklärt Noah und ich fühle mich ein bisschen weniger dumm. »Das heißt, ihr seid nicht alle solche Genies wie Tamino?«, will ich wissen. Anni lacht laut und ausgelassen bei dem Gedanken daran, dass sie ein Genie sein könnte. »Hey, lach nicht! Ihr seid alle großartig in verschiedenen Dingen!«, protestiert Tamino und haut Anni spielerisch gegen den Arm. Sie streckt ihm die Zunge raus. »Ich sag ja nicht, dass wir unterbelichtete Besenstile sind, aber du weißt schon. Dein Gehirn hat die Größe eines Blauwals und wir sind mehr so… mit normalgroßen Gehirnen ausgestattet«, meint Anni. Lotta nickt. »Noah kann malen und du schreibst großartige Gedichte und Lotta–« Lotta streckt die Hände aus, hält Taminos Gesicht fest und drückt seine Wangen dabei ein wenig zusammen. »Wir lieben dich sehr«, sagt sie ernst, um Taminos flammende Verteidigungsrede auf den Intellekt seiner Freunde aufzuhalten. Taminos Gesicht wird von einem zärtlichen Lächeln erhellt und da seine Wangen immer noch zusammengedrückt sind, sieht er gleichermaßen niedlich und albern aus. Fast erwarte ich, dass Lotta und Tamino sich gleich küssen, aber Lotta entlässt sein Gesicht aus ihrem Griff und wir erreichen im nächsten Moment Taminos Haustür. »Du bist ja seit neustem auch für Schlaf freigeschaltet, nicht?«, sagt Anni bestens gelaunt. Ich blinzele verwirrt, während Tamino die Wohnungstür aufschließt und uns alle in den Flur lässt. Lotta kichert und Tamino gibt ein hüstelndes Geräusch von sich. Noah schüttelt liebevoll den Kopf. »Wegen Taminos Nickerchen, meine ich«, sagt Anni. »Wir stecken ihn jetzt erst mal ins Bett«, fügt Noah hinzu. »Ihr seid doch nicht hergekommen, damit ich jetzt schlafen gehe«, protestiert Tamino schwach und muss prompt ein Gähnen hinter seiner Hand verbergen. »Du unterschätzt uns«, sagt Anni bestens gelaunt, kickt ihre Schuhe quer durch den Flur, als wäre sie schon hundert Mal hier gewesen und trägt den Kuchen in die Küche. »Wir bleiben bis Sonntagabend!« Tamino sieht aus, als müsste er sich zusammenreißen, um nicht schon wieder zu weinen. Noah und Lotta schieben ihn in die Küche und ich versuche nicht krampfhaft darüber nachzudenken, dass ich kein Geschenk für Tamino habe und mich deswegen miserable fühle. Ich folge den anderen in die Küche und beobachte, wie Anni mit einem riesigen Messer ihren Kuchen zerteilt. Er ist mit bunten Smarties dekoriert. Noah zündet die einzelne Kerze an und verfrachtet Tamino auf einen Stuhl, damit er die Kerze direkt wieder auspusten kann. Obwohl Tamino den ganzen Tag lang wahnsinnig müde aussah und dunkle Ringe unter den Augen hat, leuchtet er jetzt richtig von innen heraus. Er betrachtet den Kuchen und dann seine drei Freunde, als wäre er noch nie in seinem Leben glücklicher gewesen. Mein Magen macht eine merkwürdige Schlängelbewegung. Und dann finden Taminos Augen mich und er lächelt mich von unten herauf ganz offen an, als wäre es überhaupt nicht schlimm, dass ich nichts von seinem Geburtstag wusste. Und dann pustet er seine Kerze aus. Wir essen Kuchen und ich schreibe Mari eine Notfall-Nachricht darüber, dass Tamino Geburtstag hat. »Ich hoffe, du hast keine Angst mit uns alleine zu sein?«, fragt Lotta schmunzelnd, als wir nach dem Kuchen von der Küche in Taminos Zimmer umziehen. Die ehrliche Antwort ist ja, aber es wäre bekloppt, das zuzugeben. Also schüttele ich den Kopf und bemühe mich so lässig wie möglich auszusehen. Tamino wirft sich aufs Bett und wird sofort von drei Leuten begraben. Ich höre ihn erstickt lachen, während ich nur noch den unteren Teil seiner Beine sehen kann. Kein Wunder, dass seine Batterie leer war. Ich erinnere mich daran, wie Tamino mich ins Bett gesteckt und zugedeckt hat. Genau das wird jetzt auch mit ihm gemacht und Noah, Anni und Lotta gruppieren sich um ihn herum, als würden sie ein schützendes Nest um ihn bilden wollen. Dann klopft Noah neben sich aufs Bett. »Es sieht sehr eng aus«, sage ich amüsiert. Anni schnaubt. »Unsinn. Mein Bett ist nur neunzig Zentimeter breit und da passen wir auch alle drauf«, sagt sie und wedelt mit der Hand in meine Richtung. Ich klettere folgsam aufs Bett, setze mich neben Noah und sortiere meine Beine über Taminos Unterschenkel. »Schlaf gut«, sage ich Richtung Kopfende und winke Tamino, der leise gluckst. Ich denke mir, dass man so doch unmöglich zur Ruhe kommen kann, aber es dauert keine zwei Minuten, da ist Tamino eingeschlafen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)