Actio est reactio von Ur (von Nerdherzen und den physikalischen Gesetzen ihrer Eroberung) ================================================================================ Kapitel 5: Weniger schlimm als gedacht -------------------------------------- Dinge, mit denen ich nicht gerechnet habe, als ich mich auf diese blöde Nachhilfe-Sache eingelassen habe: 1. Dass Julius Anwesenheit etwas weniger scheußlich ist, als ich ursprünglich dachte. 2. Dass ich innerhalb von einer Woche Sprachnachrichten von insgesamt dreieinhalb Stunden aufnehme, um Julius Felix Krull zu erklären und ihm wichtige Passagen aus dem Buch vorzulesen, weil mir klar geworden ist, dass er das Buch nie rechtzeitig fertig lesen wird. 3. Dass ich mich so gut mit Marina verstehe, dass sie nach meinem dritten Aufenthalt in ihrer Wohnung ihre Handynummer gibt und mir sagt, dass ich ihr unbedingt Fotos von meiner Comic- und DVD-Sammlung schicken soll. Dieses dritte Treffen findet einen Tag vor unserer Deutschklausur am Montag statt. Julius hat mir gerade erzählt, dass sich die Fußballmannschaft im Wettkampf der Schulen auf den ersten Platz des Bundeslandes zubewegt. Es fühlt sich ein bisschen wie aus einem früheren Leben an, dass ich mal eine große Begeisterung für Fußball hatte. Julius weiß davon natürlich nichts, weil ich diese Begeisterung aufgegeben habe, bevor ich mit meinem Vater in dieses blöde Drecksloch gezogen bin. Ich frage mich, was er dazu sagen würde, wenn er wüsste, dass ich selber gespielt habe. Wahrscheinlich wäre er vor allem empört darüber, dass ich noch eine Sache mehr kann, von der er nichts wusste. »Boah, Mari, ich schreibe morgen Deutsch, kannst du nicht mit irgendwem anders über Kirks und Spocks Ehe reden?«, mault Julius, weil Marina seit einer halben Stunde bei ihm im Zimmer hockt und uns von der Nachhilfe ablenkt, weil sie mit mir über Star Trek sprechen möchte. Zugegeben, das macht mir sehr viel mehr Freude, als mit Julius über homoerotische Untertöne und deren Zusammenhang mit Thomas Manns eigener Biographie in Felix Krull zu sprechen, aber wahrscheinlich hat er ausnahmsweise einmal Recht. »Na schön«, sagt Marina und erhebt sich von Julius‘ Bett. »Schreib mir, ok?« Ich nicke ergeben und ziemlich rot im Gesicht. Julius mustert mich mit zusammengezogenen Augenbrauen. Mein Magen zieht sich automatisch zusammen. »Erinnerst du dich noch, wie ich gesagt hab, dass sie vergeben ist?«, sagt er. Ich verenge die Augen zu Schlitzen. »Weißt du, Jungs und Mädchen können miteinander reden, ohne dass sie gleich irgendwas voneinander wollen«, grummele ich und verschränke die Arme vor der Brust. Wenn ich nicht so ein Schisser wäre, würde ich einfach sagen: »Ich bin schwul, du Trottel.« Aber mit Fußballern und Outings habe ich keine guten Erfahren gemacht und ich habe keine Lust, mein letztes Schuljahr ohne Freunde und mit einem wütenden Mob in meiner näheren Umgebung zu verbringen. Julius hebt die Hände abwehrend und zieht dann wieder seine Ausgabe von Felix Krull zu sich heran. »Ich wollte es nur gesagt haben«, murmelt er. Wir verbringen ganze drei Stunden damit, noch mal alles über Felix Krull durchzugehen, was wir in den letzten Monaten gemacht haben. Ich wünschte, Julius würde mich nicht so konzentriert anschauen, während ich rede. Ich werde schnell nervös, wenn Leute mich so lange ansehen. Wenn er merkt, wie unangenehm mir das ist und wie ich die ganze Zeit an meinen Fingern herumpule, bis mein Mittelfinger anfängt zu bluten, dann lässt er es sich jedenfalls nicht anmerken. Ich schiebe mir den Finger zwischen die Lippen, um das Blut abzulecken und seufze. Blöde, blöde Angewohnheit. Julius beobachtet mich immer noch. »Was?«, frage ich misstrauisch. »Nichts«, sagt er. Ich glaube ihm kein Wort. Es ist sechs Uhr abends und ich hab letzte Nacht schon wieder kaum geschlafen. Ich glaube, meine Augen sind tatsächlich ein wenig blutunterlaufen und ich gähne hinter vorgehaltener Hand. Es wird Zeit, dass Sommerferien sind und ich mich aus diesem Loch aufmachen und meine Freunde besuchen kann. Für sechs glorreiche Wochen werde ich weder diese elende Schule noch meinen Vater sehen und es wird wunderbar sein. Mir zieht sich jetzt schon alles zusammen, wenn ich daran denke, dass ich dann nach sechs Wochen wieder zurück muss. Noch ein Jahr nach den Sommerferien, denke ich mir und reibe mir die Augen. Noch ein Jahr, dann kann ich wieder zurückgehen. »Hast du wieder nicht geschlafen?«, will Julius wissen. Ich blinzele ihn einen Moment lang desorientiert an. Dann zucke ich mit den Schultern. »Ist nichts Besonderes. Ich schlafe selten gut«, gebe ich zurück und gähne gleich noch mal. Julius scheint das sehr verwunderlich zu finden, denn er schaut mich an, als hätte ich ihm gerade gesagt, dass ich eine seltene Krankheit habe. »Wie kriegst du es dann trotzdem gebacken, so gute Noten zu haben?«, will er wissen. Ich ziehe die Schultern hoch. Es ist so eine Sache. Ja, ich bin fleißig, aber ich weiß auch, dass es mich generell weniger Anstrengung kostet, neue Dinge zu lernen. Selbst wenn ich nicht so fleißig wäre, würde ich sehr wahrscheinlich immer noch einen Durchschnitt haben, der dem von Julius weit voraus ist. »Ist ja nicht so, als hätte ich ein ablenkendes Sozialleben, das mich vom Schreibtisch weglockt«, murmele ich leise und stopfe meine malträtierte Hand in die Hosentasche, damit ich nicht noch einen zweiten Finger blutig kaue. »Aber du warst doch schon so gut, bevor du hierhergekommen bist, oder?« Ich sehe ihn nicht an, als ich nicke. »Wahrscheinlich bist du einfach super schlau«, stöhnt Julius, als wäre meine Intelligenz eine persönliche Bürde für ihn. Wenn ich nicht so schlau wäre, dann hätte er jedenfalls keinen Universal-Nachhilfelehrer, also sollte er sich besser nicht darüber beklagen. Aber er klagt auch nicht, sondern schaut mich einfach weiterhin gespannt an. Ich wünschte, er würde das lassen. Um mich von seinen Blicken abzulenken, gehe ich im Kopf noch mal durch, was wir heute alles wiederholt haben und ob ich irgendwas vergessen habe. Wir schreiben die Klausur morgen und es ist die erste Feuerprobe für meine Nachhilfe. Soweit ich weiß, muss Julius sieben Punkte schreiben, um seine Deutschnote in Sicherheit zu bringen. Ich fange an, meine Sachen einzupacken, weil ich die Stille nicht mehr ertragen kann und eigentlich gerne nach Hause und in mein Bett möchte. »Wir bestellen heute Pizza zum Abendbrot, du kannst mitessen, wenn du willst«, sagt Julius völlig aus dem Blauen heraus und ich blinzele verwirrt. Er hat den Kopf schief gelegt und ich frage mich, wieso er mich immer anschaut, als würde er gerade ein Kreuzworträtsel lösen. »Oh… ähm… danke, aber… ich hab keinen Hunger«, sage ich matt. Das ist gelogen. Und ich liebe Pizza. Aber ich kann auf keinen Fall mit Julius und seiner Familie an einem Tisch sitzen und Pizza essen, egal wie nett Marina ist. Sofort stellt sich die übliche Nervosität ein und ich schlucke. Julius guckt, als wüsste er, dass ich eigentlich doch Hunger habe. Aber Gott sei Dank sagt er nichts und steht auf, als ich mich mit meinem Rucksack erhebe und jetzt beide Hände in die Hosentaschen schiebe, weil ich nicht weiß, was ich sonst damit machen soll. »Meine Mutter hat das Geld wieder im Umschlag auf die Schuhkommode gelegt«, sagt Julius schließlich und ich nicke kurz. »Bis morgen«, sage ich und lasse ihn in seinem Zimmer zurück, nehme den Umschlag und stecke ihn in meinen Rucksack, während ich in meine Schuhe schlüpfe. Als ich die Wohnungstür hinter mir zuziehe, bin ich erleichtert und sehr müde. Die Ferien können gar nicht schnell genug kommen. * Eine der letzten Amtshandlungen meiner Hausärztin, bevor mein Vater mich wie ein Gepäckstück eingesammelt und mit hierher geschleppt hat, war eine dauerhafte Befreiung vom Sportunterricht. Es hat nichts damit zu tun, dass ich körperlich keinen Sport machen kann, sondern mit meiner Angststörung, die nach den unerfreulichen Ereignissen in meiner alten Mannschaft um das gefühlt Dreifache angewachsen ist. Deswegen bleibt mir am Montag die siebte und die achte Stunde erspart. Ein kleiner Teil von mir denkt allerdings immer noch, dass ich ja vielleicht irgendwann mal wieder Sport machen möchte und dass es dann sehr traurig wäre, wenn ich meine komplette Kondition an den Nagel gehängt habe. Deswegen gehe ich mehrmals die Woche joggen. Mit Musik im Ohr ist es tatsächlich ganz entspannend, auch wenn ich es nicht mag, wie Leute einen anschauen, wenn man an ihnen vorbeirennt. Meistens gehe ich deswegen im Park laufen und am liebsten, wenn es schon dunkel ist, auch wenn das heute nicht möglich ist, da ich später noch andere Dinge vorhabe. Ich hab Julius nicht gefragt, wie seine Deutschklausur gelaufen ist, weil er in den Pausen wieder von einer Traube Kumpanen umgeben war. Zu viele Menschen auf einem Haufen. Er hat auf jeden Fall eifrig vor sich hin geschrieben, was ja kein allzu schlechtes Zeichen ist. Wegen meines anhaltenden Schlafproblems hatte ich tatsächlich einige Schwierigkeiten mich zu konzentrieren, aber ich glaube, es ist nichtsdestotrotz gut gelaufen. Am Freitag schreiben wir Bio und in der kommenden Woche Französisch. Ich habe das Gefühl, dass Julius vor Französisch am meisten Bammel hat – was ich gut verstehen kann. In einer Sprache innerhalb von weniger Wochen besser zu werden, wenn einem wichtige Grundlagen fehlen, ist wirklich schwer. Vor allem, da er noch jede Menge andere Dinge zu tun hat. Ich habe seine tägliche Vokabeldosis auf eine Stunde erhöht. Ich glaube, er hasst mich ziemlich dafür. Als ich von meinem Jogging-Ausflug zurück komme, bin ich klitschnass, weil es angefangen hat zu regnen. Die heiße Dusche wärmt mich etwas auf und ich verziehe mich danach mit einer Tiefkühllasagne in mein Zimmer. Ich weiß nicht, was mein Vater so treibt, aber er scheint nicht zu Hause zu sein. Umso besser für mich, dann hab ich meine uneingeschränkte Ruhe. Als ich Skype starte, macht mein Herz einen zufriedenen Hüpfer, weil Noah, Anni und Lotta alle bereits online sind. Es dauert keine drei Sekunden, da werde ich prompt angerufen. Das sind die einzigen Anrufe, die mich nicht stören. Ich nehme den Anruf entgegen und es dauert ein bisschen, bis die Webcam sich das Bild geladen hat, aber da sitzen sie. Meine besten Freunde, allesamt auf einem Haufen in Noahs Zimmer, das ich an den vollgepflasterten Wänden erkenne. Noah grinst mir breit entgegen. Er ist auch schwarz, aber viel dunkler als ich und im Gegensatz zu mir ist er auch kein Streichholz, sondern sehr stämmig und sogar noch ein bisschen größer als ich. Wenn man ihn anschaut, denkt man vermutlich, dass er Rugby spielt, aber in Wahrheit spielt er eigentlich nur Gitarre und zeichnet Herr der Ringe Fanart. Anni lümmelt halb auf Noahs Schoß, damit sie noch mit ins Bild passt und Lotta hat sich irgendwie mit ins Bild gequetscht, auch wenn ich nicht sehen, worauf sie sitzt – sie sitzt jedenfalls nicht auf Noah. Lotta ist weiß, pummelig und hat feuerrotes Haar und riesige Bambiaugen. Sie winkt mit einer ihrer winzigen Hände enthusiastisch in die Kamera und ich sehe durch das leicht verpixelte Bild, dass sie Kaugummi kaut – alles ist wie immer. Anni ist so klein, dass sie ohne Probleme auf Noahs rechtem Oberschenkel sitzen kann. Wahrscheinlich spürt er sie überhaupt nicht. Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir doppelt so groß sind wie sie. Abgesehen davon, dass sie so klein ist, hat sie allerdings eine ziemlich große Klappe. Ihre Mütter sind beide Kinder von chinesischen Migranten und sie stammt aus der ersten Ehe ihrer Ma. Es sieht recht gemütlich aus, wie sie da auf Noahs Bein hockt. »Oh mein Gott, deine Augenringe hängen dir ja bis zu den Knien!«, sagt sie entsetzt und beugt sich nach vorne. Jetzt ist ihr Gesicht so nah an der Kamera, dass ich die anderen beiden nicht mehr sehen kann. Ich muss lachen. »Es war schon mal schlimmer«, versichere ich ihr und sie setzt sich wieder hin wie vorher. »Ich hab mit meinen Müttern gesprochen«, erklärt Anni. »Sie sind bereit, dich zu adoptieren, damit du wieder hierher zurück kommen kannst.« »Ohne Scheiß, mein Vater würde dich hier auch so wohnen lassen, ohne Adoption, Alter«, sagt Noah. Ich möchte eigentlich gerne ein bisschen weinen, will aber die Zeit, die ich habe, nicht damit vergeuden. Ich hätte absolut nichts dagegen, mich von Annis Müttern adoptieren zu lassen oder bei Noah und seinem Vater zu wohnen. »Meine Eltern möchte ich dir gerne ersparen«, meint Lotta. Ich verziehe das Gesicht und sie lacht. »Besser ist das«, gebe ich zurück. Lottas Eltern sind wahnsinnig streng, spießig und anstrengend und ich glaube, sie fiebert jetzt schon dem Moment entgegen, an dem sie endlich ausziehen kann. Ihr Bruder hat letztes Jahr die Beine in die Hand genommen und ist bis nach Stuttgart geflohen, damit sie nicht auf die Idee kommen, allzu oft vorbeizuschauen. »Wie läuft die Nachhilfe mit Mr. Stipendium?«, will Anni wissen und ich seufze. »Weiß ich ehrlich gesagt nicht so genau«, gebe ich zurück und fange an zu erzählen, wie die letzten Nachhilfestunden mit Julius gelaufen sind, dass wir heute Deutsch geschrieben haben und dass er sich jetzt schon halb in die Hose macht, weil er vor der Französischklausur Schiss hat. »Ich hätte auch Schiss vor jeder Französischklausur, wenn du mir nicht seit der Achten Nachhilfe gegeben hättest«, erklärt Noah schmunzelnd. Ich fühle mich warm und zufrieden. Noch besser wäre es natürlich, wenn die Drei direkt hier wären und wir einfach zu viert auf meinem Bett liegen und einen undefinierbaren Kuschelhaufen bilden und über die neusten Neuigkeiten bezüglich der kommenden Star Trek Serie Discovery reden könnten. Mein Handy vibriert und ich werfe einen Blick darauf. Eine neue Nachricht von Julius. Ich öffne sie. »Ich glaube, Deutsch war ok!!!! Hoffe, du kannst heute schlafen« Ich blinzele, dann halte ich die Nachricht ganz nah an meine Webcam, damit die Drei sie lesen können. »Das ist nett«, sagt Lotta und klingt erstaunt. »Awwww«, meint Anni. Noah gluckst. »Ja, ich gebe zu, dass er weniger schrecklich ist, als ich dachte«, sage ich, lege das Handy beiseite und rutsche mit meinem Stuhl näher an den Schreibtisch. Ich hab noch keine Hausaufgaben gemacht, aber ehrlich gesagt kann ich mir das wohl mal erlauben. Meine Freunde gehen vor. »Hast du ein Foto? Erzähl noch ein bisschen mehr über ihn!«, sagt Anni und zappelt auf Noahs Schoß herum. Ich sehe, dass er einen Arm um ihre Hüfte schlingt, damit sie nicht herunterfällt. Eigentlich würde ich ja lieber über schönere Dinge reden, aber dafür haben wir ja später noch Zeit. Wir telefonieren fünfeinhalb Stunden und als ich das Licht ausmache und ins Bett krieche, fühle ich mich so zufrieden, wie schon lange nicht mehr. Ich greife nach meinem Handy und werfe einen Blick auf die Uhr. Kurz nach Mitternacht. Aber ich habe morgen erst zur dritten Stunde. Ich öffne meine WhatsApp-Unterhaltung mit Julius. »Freut mich, dass es ok war. Ich versuch‘s jetzt mal mit dem Schlafen« Ich starre die Nachricht an. Dann lösche ich sie wieder und tippe sie noch mal von vorne. Will er das überhaupt wissen? Ich seufze und drücke mein Gesicht ins Kissen, dann tippe ich auf das Senden-Symbol und schicke die Nachricht ab. Es vibriert beinahe sofort, noch bevor ich es für die Nacht auf lautlos stellen kann. »Gute Nacht!!!!« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)