Life is precious von JesLea (Das Leben ist wertvoll) ================================================================================ Kapitel 17: Die erste Zeile eines Briefes ----------------------------------------- Ich atmete tief aus, als Jesse seine Geschichte beendete. Ich hatte Tränen in den Augen und wischte sie mir aus den Augenwinkeln. Er räusperte sich und sah mich abwartend an. Ich hatte jedoch keine Ahnung, was ich sagen sollte. Ich war so ergriffen von seiner Vergangenheit, und fühlte mich auf einmal wie ein Fremdkörper neben ihm, als könnte ich niemals Teil seines Lebens werden. Wie konnte ich je mit Eleonore mithalten? Sie war seine große Liebe gewesen. Mit ihr und Kelly hatte er sein Leben verbringen wollen. Und dieses Leben hatte er nicht freiwillig aufgegeben. Es war ihm einfach genommen worden. „Es tut mir so Leid“, flüsterte ich schließlich. Es war das Einzige, was mir in diesem Moment sinnvoll erschien. Ich hatte nicht erwartet, dass er mir wirklich alles erzählen würde, alles, ohne irgendetwas auszulassen. Jetzt wünschte ich mir, ich hätte ihn nicht gefragt. Nein, das stimmte nicht. Ich war dankbar, wie offen er mir gegenüber war. „Danke, dass du mir das alles erzählt hast“, sagte ich und wurde mir plötzlich wieder Lydias Ratschlag bewusst, mir erst klarzuwerden, ob ich all das ertragen konnte, bevor ich mich auf Jesse einließ. Aber seine Geschichte hatte nichts an meinen Gefühlen geändert, oder dem Wunsch, mit ihm zusammenzusein. Allerdings hatte es mich noch unsicherer bezüglich Jesses Gefühlen für mich werden lassen. Würde er mich mit Eleonore vergleichen? Gegen Tote kam man niemals an. Und so, wie er Kellys Mutter beschrieben hatte, war sie das totale Gegenteil von mir. Sie war voller Lebensfreude, gesprächig, temperamentvoll, gab ihm Kontra. Und was war ich dagegen? Eine graue Maus, wie ein Schatten, uninteressant. Wieso gab er sich überhaupt mit mir ab? Ich wollte ihn fragen, aber nachdem er mir diese traurige Geschichte erzählt hatte, erschien es mir nicht richtig. „Sag mir, was du denkst“, forderte Jesse mich auf und sah mich unverwandt an. „Ich würde gerne wissen, wie sie aussieht.“ Ausgesehen hat, wäre der richtige Ausdruck, aber ich brachte es nicht über mich, in der Vergangenheitsform von Eleonore zu sprechen. Das war nur einer von Millionen Gedanken, der mir im Kopf schwirrte. Jesse zeigte auf einen Bilderrahmen, der auf dem Bettkasten stand. Es wunderte mich, dass er mir bisher nicht aufgefallen war. Ein junges Mädchen lächelte mich von dort aus an, zeigte ihre weißen Zähne und ihre wallenden blonden Locken, die ihr über die Schulter fielen, weil sie sich leicht nach vorn beugte. Mir drehte sich der Magen um. Sie war so wunderschön. Ich machte mir nicht vorrangig Gedanken darüber, ob ich damit klarkommen würde, dass Jesse vor allem anderen Kellys Vater war, sondern dass seine Gefühle für mich niemals so stark sein konnten wie für Eleonore. Er sollte sie ja nicht aus seinem Gedächtnis streichen, aber ich würde wahrscheinlich für den Rest meines Lebens das Gefühl haben, mit ihr verglichen zu werden. Schon jetzt fing ich damit an, als ich ihr Bild betrachtete. Sie war einfach so hübsch. Was wollte er da mit mir? Hatte er mich extra ausgesucht, weil ich so völlig anders war als Eleonore, äußerlich und innerlich? Wir hatten nichts gemein. Wollte er einfach nicht an sie erinnert werden? War ich ein schematisch ausgesuchtes Opfer? Ich hasste mich für meine Gedanken und die dabei aufkommenden Tränen, die ich zurückzuhalten versuchte. Wieso ich, wollte ich Jesse fragen. Was magst du wirklich an mir? Oder bin ich nur ein Zeitvertreib? Es war unfair, so etwas zu denken. Ich sollte ihm mitteilen, wie ich mich fühlte, damit er meine Zweifel zerstreuen konnte. Doch ich entschied mich aus zwei Gründen dagegen. 1: Ich wollte nicht wie ein kleines verunsichertes Mädchen wirken – das ich ja eigentlich war. Und 2: Ich hatte Angst, dass er meine Zweifel nicht zerstreuen konnte. „Ist das alles?“, fragte Jesse und riss mich damit aus meinen Gedanken. Worüber hatten wir gerade nochmal gesprochen? Er sah mich stirnrunzelnd an. „Ich denke, dass dein Rührei das Beste ist, das ich je gegessen habe“, log ich. Mir kam eine völlig andere Idee. Wenn Jesse so ehrlich zu mir war, sollte ich das auch sein. „Und ich glaube, ich muss dir was erzählen. Alles andere wäre unfair.“ Also erzählte ich ihm von Natalie und wie mein Leben aus der Bahn geraten war, weil ich ohne sie völlig hilflos war, weil ich keine anderen Freunde hatte. Ich erzählte ihm, dass ich wochenlang das Haus nicht verlassen hatte, nicht einmal, um in die Schule zu gehen. Ich erzählte ihm von meinen Depressionen, von meiner Antriebslosigkeit, von meinem ausbleibenden Hunger. Von der Sorge meiner Eltern und meiner Schwester, von den Sitzungen beim Psychiater, die mir nie wirklich weitergeholfen hatten, von den Versuchen meiner Familie, mich wieder ins Leben zurückzuholen. Ich erzählte ihm von meinen verzweifelten Briefen, die ich Natalie geschrieben hatte, die sie jedoch nie beantwortet hatte, dass mein gesamtes Selbstvertrauen mit ihr verschwunden war. Und davon, wie ich mich nie vollkommen von ihrer Abwesenheit und meiner damit einhergehenden Einsamkeit erholt hatte, bis... Bis ich ihn getroffen hatte. „Ich weiß nicht, wieso ausgerechnet du. Am Anfang konnte ich dich nicht mal leiden“, gestand ich ihm. „Aber du hast mich aus meinem Loch geholt. Ich kann mich wieder auf etwas freuen, wenn ich aufstehe, und warte nicht nur geduldig darauf, dass ein weiterer Tag an mir vorbeizieht. Und dafür bin ich dir unendlich dankbar.“ Ich starrte auf meine Hände, denn ich wollte nicht sehen, wie sich der Ausdruck in seinen Augen verändert hatte, weil er jetzt die Wahrheit kannte. „So, jetzt weißt du es. Ich hätte es dir vielleicht früher sagen sollen, aber ich wusste nicht, wie...“, sagte ich, weil ich die Stille nicht ertrug. Er wusste wohl nicht, was er sagen sollte. Tja, das konnte ich ihm nicht verdenken. Ich machte mich darauf gefasst, dass er mich nun zurückwies. Mir war klar, dass er ein labiles Mädchen nicht im Umfeld seiner Tochter gebrauchen konnte. Er hatte schon genug Probleme. Für eine kurze Zeit hatte ich wirklich geglaubt, mit uns beiden könnte es klappen. Aber wem machte ich hier was vor? Es war einfach zu schön, um wahr zu sein. Ich sollte mich glücklich schätzen, überhaupt seine Aufmerksamkeit erregt zu haben. Mein Kopf fand sich erstaunlich schnell damit ab, bald wieder allein zu sein. Mein Herz bereitete mir dagegen mehr Probleme. Aber damit kannte ich mich ja aus. Wenn Jesse es nur endlich hinter sich brächte. Ich wäre ihm nicht böse; ich konnte es verstehen. „Sag irgendwas“, bat ich ihn, während meine Fingernägel sich in meine Handinnenflächen pressten. Doch er sagte nichts. Seine Hände umfassten mein Gesicht, und bevor ich kapierte, was er tat, lagen seine Lippen auf meinen. Ich hatte mit so ziemlich allem gerechnet, aber nicht damit. Es war kein sanfter Kuss. Er war bestimmt und fest, sicher, wie ein Versprechen. Als er sich von mir löste, war er etwas außer Atem. „Glaubst du etwa, damit kannst du mich in die Flucht schlagen?“ Er sah mich beinahe tadelnd an. Mein Herz schlug wie das eines kleinen Vogels. Ein Kolibri, würde ich vermuten. „So schnell wirst du mich nicht los.“ Dieses Mal war ich diejenige, die ihn küsste. Die Zeit verlor an Bedeutung, der Raum begann sich aufzulösen, es gab nur noch mich und Jesse. Seine Hände auf meinem Rücken, meine Hände in seinem Haar. Unsere Herzen, die ich beide schlagen spürte, und das Rauschen in meinen Adern, die Erleichterung, die mich durchströmte. Das Gefühl, lebendig zu sein. „Ich würde sie gerne richtig kennenlernen“, murmelte ich, als Jesse meinen Hals mit Küssen bedeckte. Er hielt inne und sah mich an, beinahe unsicher. Aber ich wollte ihm zeigen, dass ich es ernst meinte. Mit ihm, und mit Kelly. „Okay“, sagte er schließlich. Meine Schwester rief Jesse an – ich hatte ja mein Handy ausgeschaltet – und er gab sie nach kurzem Wortwechsel an mich weiter. Ich bat sie, mich abzuholen. Dafür erntete ich von Jesse einen fragenden Blick. „Sie wird sich besser fühlen, wenn sie mit eigenen Augen sieht, dass du dich über Nacht nicht in ein Monster verwandelt hast“, versuchte ich einen Witz. „Außerdem will ich dir nicht deine kostbare Zeit mit deiner Tochter stehlen“, fügte ich hinzu. „Zeit mit dir ist auch kostbar“, entgegnete Jesse, was mich dahinschmelzen ließ. Ich legte meinen Kopf an seine Schulter und atmete tief durch. Ich wollte diesen Moment fest in mich einschließen. Sein Geruch in meiner Nase, das Gefühl, mich an seiner Schulter anzulehnen und unsere ineinander verschränkten Hände. Beinahe hätte ich ihm gesagt, dass ich ihn liebte. Aber ich tat es nicht. Noch immer – und trotz seines Versprechens, ihn nicht so schnell wieder loszuwerden – saß in mir noch immer die Angst fest, dass schon morgen alles vorbei sein könnte. Wahrscheinlich litt ich unter Verlustängsten. Ich beschloss, wieder in meine eigenen Klamotten zu schlüpfen, bevor Tammy kam. „Nimm wenigsten einen Schal von mir“, bat Jesse und schlang ihn mir zeitgleich um den Hals. „Du hast dir bestimmt eine Erkältung eingeholt“, sagte er und küsste meine gerötete Nase. Im Auto gelang es Tammy erstaunlich lange, zu Schweigen. Ich bemerkte natürlich die Blicke, die sie mir zuwarf. Aber ich würde ganz bestimmt nicht von alleine anfangen, zu reden. Eigentlich wollte ich ihr gar nichts erzählen. Die wesentlichen Dinge würde ich garantiert nicht erwähnen. Wenn sie jedoch nach Banalitäten fragte, wie zum Beispiel, ob Jesse und ich im selben Bett geschlafen hatten, würde ich ihr wohl oder übel das Nötigste erzählen müssen. Es kam mir bereits wie eine Ewigkeit vor, seit ich in Jesses Armen eingeschlafen war. So viel war inzwischen passiert. Ich fragte mich, ob Tammy es nicht vielleicht schon wusste. Immerhin wussten die Jungs ja, wer Kelly war. Hatte Brandon ihr gegenüber etwas erwähnt? Doch ich konnte ihr ansehen, dass meine Befürchtung unbegründet war. Ich hätte es längst bemerkt, wenn sie Bescheid wüsste. „Also...“, begann meine Schwester schließlich, als sie vor unserem Haus parkte. „Sollte ich irgendwas wissen?“ Sie sah mich durchdringend an, als könnte ich sie dann nicht mehr belügen. Doch ich zuckte nur mit den Schultern und sah sie unschuldig an. „Nein, es ist nichts passiert“, log ich. Wobei – auf das bezogen, was Tammy meinte, war es nicht mal eine Lüge. „Und ihr seid jetzt so richtig zusammen?“ Ich schnallte mich ab und stieg aus. „Ich weiß, dass dir das nicht gefällt. Aber es ist mein Leben“, sagte ich, während Tammy an meine Seite eilte. „Na dann viel Spaß, wenn du es Mom und Dad erzählst.“ Jetzt klang sie beinahe schadenfroh. Wahrscheinlich hatte ich es nicht anders verdient. Ich streckte ihr als Antwort nur die Zunge raus. Unsere Eltern warteten schon am Küchentisch auf uns. „Hi“, sagte ich so unverfänglich wie möglich und holte mir etwas zu Trinken aus dem Kühlschrank, weil ich etwas zu tun haben wollte und bereits jetzt ihre bohrenden Blicke in meinem Rücken spürte. „Hallo, Tochter.“ Ich hasste es, wenn meine Mutter mich so nannte. Es hieß, ich hatte etwas falsch gemacht und würde gleich eine Standpauke dafür ernten. Tammy trat klugerweise den Rücktritt in ihr Zimmer an. „Setz dich zu uns“, bat mein Vater und ich kam mir vor wie in einem Kreuzverhör, als ich mich den beiden gegenüber an den massiven Holztisch setzte. Ich zog Jesses Schal aus und knetete ihn in meinen Händen. „Also“, begann meine Mutter. Sie und Tammy waren sich so ähnlich. „Wann hattest du vor, uns zu erzählen, dass du einen Freund hast?“, wollte sie wissen und tauschte mit meinem Vater einen kurzen Blick. Also hatte meine Schwester doch schon etwas verraten. Ich versuchte, nicht die Augen zu verdrehen. Für eine Sekunde tauchte eine Vision vor mir auf, in der Jesse und ich in vielen Jahren dieselbe Diskussion mit Kelly führten. Verwirrt schüttelte ich den Kopf. „Ich wollte es euch erst erzählen, wenn ich mir sicher bin“, erklärte ich lahm. Ich reifte zu einer immer besseren Lügnerin heran. Als ob ich mir meiner Gefühle für Jesse nicht sicher wäre! „Und das ist jetzt der Fall. Also: Überraschung! Ich habe einen Freund.“ Ich konnte an der Reaktion meiner Eltern nicht erkennen, wie sie das fanden. „Geht das auch ein bisschen genauer?“, hakte mein Vater nach. „Er heißt Jesse, ist einundzwanzig und er ist in Brandons Band.“ Ich hoffte, dass sie Letzteres beruhigte. Sie mochten Brandon. „Einundzwanzig?“ Natürlich war das das Einzige, was bei meiner Mutter hängenblieb. So groß war der Altersunterschied eigentlich gar nicht. Das wirkte nur so. „Und wann dürfen wir ihn mal kennenlernen?“ Das war weniger eine Frage als eine Aufforderung. Ich seufzte. „Bald.“ Ich konnte mir meine Eltern und Jesse nicht an einem Tisch vorstellen. Die Tattoos würden sie wahrscheinlich nicht weiter stören – solange seine Leidenschaft nicht auf mich übersprang – aber das Rauchen würde zum Problem werden. Mein Großvater war an Lungenkrebs gestorben, weshalb dieses Thema in unserer Familie absolut tabu war. Aber Jesse war ja bereits dabei, aufzuhören. Seit wir uns kennengelernt hatten, war es schon viel besser geworden. Und Kelly mussten wir ja nicht sofort erwähnen. Nicht, dass ich sie verheimlichen wollte oder es mir unangenehm wäre, aber ich war mir ziemlich sicher, dass meine Mutter mir verbieten würde, Jesse weiterhin zu sehen. Nicht wegen mir, sondern um Kellys Willen. In ihren Augen war ich noch immer hochgradig labil. Nach dem Verhör ging ich sofort in mein Zimmer und legte mich aufs Bett. Ich hatte zwar extrem viel geschlafen, aber die Ereignisse heute hatten mich geschafft. Mein Blick fiel auf meinen Schreibtisch, an dem ich in den letzten Tagen für das Logo von Zero gearbeitet hatte. Es waren letztendlich zwei Entwürfe geworden, weil ich mich nicht für einen hatte entscheiden können. Als meine Augen über das Chaos schweiften, registrierten sie noch etwas völlig anderes. Natalies Brief. Ich hatte wochenlang versucht, ihn zu ignorieren, aber jetzt bekam ich ein schlechtes Gewissen. Wieso hatte ich das so lange vor mir hergeschoben? Weil ich nicht verletzt werden wollte, war die schlichte Antwort. Ich wollte keine abweisenden Worte von ihr hören. Aber jetzt fühlte ich mich stark genug, die Zeilen zu lesen, egal, was darin stand. Ich schnappte mir das Couvert und riss es auf. Es war nur ein einzelnes Blatt. Ich hatte ihr früher halbe Romane geschrieben, als ich sie darum gebeten hatte, sich nicht von mir abzuwenden und ihr zu versichern, dass wir immer Freundinnen bleiben würden, egal was kam; dass wir das zusammen durchstehen würden. Aber ganz gleich, wie dick die Briefumschläge auch waren, sie hatte nie darauf geantwortet. Einmal hatte ich sogar befürchtet, die Ärzte würden ihr nicht erlauben, Post zu erhalten, aber Kasper hatte diese kleine Hoffnung leider zunichtegemachte, indem er mir versicherte, dass all meine Briefe in einer Schublade in Natalies Zimmer lagen. Ob gelesen oder nicht, hatte er leider nicht in Erfahrung bringen können. Zumindest hatte sie sie nicht weggeschmissen. Liebe Lea, stand in der ersten Zeile, danach ein langer Abstand. Schon das war zu viel für mich. Ich stopfte das Blatt mit zittrigen Fingern zurück in den Umschlag und hätte mich am liebsten selbst angeschrien, nicht so ein Schisser zu sein. Doch solange ich nur diese eine Zeile gelesen hatte, konnte ich so tun, als würde sie die ersten beiden Worte genauso meinen. Liebe Lea. Ich konnte mir einreden, dass ich ihr wirklich noch lieb und teuer war, dass uns noch mehr miteinander verband als unsere Vergangenheit, dass auch meine Abwesenheit ein Loch in ihr Herz gerissen hatte, das durch nichts wieder gefüllt werden konnte. Ich legte den Umschlag zurück auf den Schreibtisch und starrte ihn misstrauisch an. Und wenn sie auf eine Antwort wartete? Bevor ich weiter mit mir hadern konnte, unterbrach mich das Klingeln meinens Handys. Es war Jesse. „Hi“, sagte ich und rollte mich auf den Rücken, um die Decke anzustarren. „Hey. Bist du gut nach Hause gekommen?“, wollte er wissen. Ich beschloss, einfach mit der Tür ins Haus zu fallen. „Ja. Mehr oder weniger. Meine Eltern wollen dich kennenlernen.“ „Das klingt so, als müsste ich Angst haben.“ „Ich hoffe, du bist kugelsicher“, scherzte ich. „Solange sie nicht aus Silber sind“, erwiderte Jesse. „Soso, ein Werwolf also. Ich glaube, ich habe bei Vollmond schon was vor.“ Ich hörte Jesses klares Lachen durch den Lautsprecher. „Ich dachte eigentlich an einen Vampir“, erklärte er. Ich zuckte die Schultern und wurde mir zu spät bewusst, dass er das ja nicht sehen konnte. „Macht nichts. Dann gehe ich eben nur noch bei Tageslicht aus dem Haus“, wand ich ein. „Dafür ist es zu spät, schon vergessen? Ich habe dich heute morgen gebissen.“ Sofort schnellten meine Finger zu der Stelle. Das war echt erst heute gewesen? Natürlich hatte ich keine Bissmale an meinem Hals, aber über die Vorstellung musste ich trotzdem schmunzeln. „Ich glaube nicht, dass mir ein Leben in ewiger Dunkelheit gut gefällt“, gab ich zu bedenken. „Keine Sorge. Wir sind moderne Vampire. Wir können auch bei Tageslicht raus. Wir sind Glitzer-Eddies.“ Ich runzelte die Stirn. „Was sind Glitzer- Eddies?“ Jesse seufzte am anderen Ende der Leitung. „Na du weißt schon, dieses Twilight-Zeug. Da gibt es diesen Typen, Edward. Und der glitzert, wenn er im Sonnenlicht steht. Daher Glitzer- Eddie.“ Ich lachte. „Warte. Woher weißt du, worum es in Twilight geht? Bitte sag mir nicht, dass du diesen Film gesehen hast.“ Ich hörte im Hintergrund ein lautes Quietschen. Kelly. „Nein. Elly hat die Bücher gelesen.“ Oh. Ich blieb stumm, weil ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte. „Aber ich bin sehr froh, dass du nicht mit diesem Zeug infiziert bist“, ergriff Jesse wieder das Wort, weil er wohl merkte, wie verlegen ich war. Daran musste ich arbeiten. Ich konnte nicht jedes Mal beim Erwähnen von Eleonores Namen in Stillschweigen verfallen. Sie war ein Teil seines Lebens. Und würde es immer bleiben. „Was liest du denn so?“, wollte Jesse wissen. Ich sah auf mein volles Regal, das so überquoll, dass bereits einige Bücher ihren Platz auf dem Fußboden gefunden hatten. „Ach, alles mögliche. Das, was alle anderen auch lesen.“ Jesse schwieg am anderen Ende der Leitung. „Und was wäre das?“, hakte er nach, als ich nicht weitersprach. „Ähm... Das Schicksal ist ein mieser Verräter, the perks of being a wallflower, sowas.“ Es waren Jugendbücher. Aber verdammt gute. „Die Bücherdiebin, Wunder... Soll ich jedes einzelne Buch durchgehen?“ „Wie lange würde das dauern?“, fragte Jesse. „Eine Weile“, gestand ich und fasste gleichzeitig den Entschluss, mein Regal bald mal wieder aufzuräumen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)