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Life is precious

Das Leben ist wertvoll
von

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Eleonore

Er lernte sie mit sechzehn kennen. Sie war das hübscheste Mädchen, das er je gesehen hatte. Wenn sie lächelte, dann ging die Sonne auf. Als sie das erste Mal miteinander sprachen, funkte es sofort. Sie trafen sich regelmäßig, unterhielten sich über Musik, zogen durch Clubs, für die sie eigentlich noch zu jung waren, und telefonierten stundenlang. Es war nicht die große Liebe, aber Jesse fühlte sich wohl mit ihr und wollte sie in seinem Leben nicht mehr missen. Es war eher, als wäre sie seine beste Freundin, mit gewissen Sonderleistungen. Ein paar Monate nachdem sie sich das erste Mal getroffen hatten, begann Eleonores Prüfungsphase für die Mittlere Reife. Sie hatte kaum noch Zeit, wirkte gestresst, wenn sie sich sahen, und schien Jesses Gegenwart kaum noch wertzuschätzen. Anfangs gab er sich Mühe, sie zum Lächeln zu bringen, sie so oft wie möglich zu sehen, doch da sie weiterhin abweisend blieb, gab er es irgendwann auf. Er würde einfach die Prüfungen abwarten, bis sie sich wieder eingekriegt hatte.

Und dann eröffnete seine Mutter ihm aus heiterem Himmel, dass er in ein Internat gehen sollte, ans andere Ende des Landes. Jesse hatte keinen Schimmer, wo das auf einmal herkam. Bestimmt hatte Sam, Bettys Vater, ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt. Ja, er war vielleicht kein einfacher Teenager, streifte tagelang durch die Stadt, ohne sich zuhause zu melden und schwänzte die Schule, aber das war noch lange kein Grund, ihn fortzuschicken. Die beiden ließen sich jedoch nicht erweichen, als er versuchte, sie umzustimmen. Es konnte nicht an seinen Noten liegen. Er war ein ausgezeichneter Schüler. Lernen war ihm noch nie besonders schwergefallen. Seine Mutter schob es auf die Arbeit, sie hätten keine Zeit mehr, sich um in zu kümmern. Als ob ihn das stören würde. Er war alt genug, um auf sich selbst aufzupassen. Außerdem, was war mit Betty?

Jesse vermutete, dass Sam ihn loswerden wollte. Dieser hielt ihm Vorträge, wie gut sich der Abschluss an einem solch angesehenen Internat in seinem Lebenslauf machen würde. Dies interessierte Jesse jedoch einen feuchten Dreck. Bisher hatte er gedacht, dass er und der Mann an der Seite seiner Mutter keine Probleme miteinander hatten, dass sie mehr oder weniger koexistierten. Das hatte für ihn prima funktioniert. Aber das sah Sam wohl anders. Als Jesse Eleonore davon erzählte, meinte sie nur, das wäre doch eine tolle Chance für ihn, die er ergreifen sollte. Es war das letzte Mal, dass er sich bei ihr meldete.
 

Wenige Tage später befand er sich bereits im Internat. Er war noch nicht volljährig, musste sich also dem Willen seiner Mutter beugen. Aus Trotz begann er zu Rauchen und ließ sich sein erstes Tattoo stechen. Seine Noten verschlechterten sich drastisch, nur um seiner Mutter und Sam zu zeigen, was er davon hielt, verbannt worden zu sein. Erst viel später, als bereits fünf Monate vergangen waren, besuchte er sie am Wochenende, weil seine Mutter sich eine starke Erkältung zugezogen hatte. Bisher hatte Jesse jegliche Besuche vermieden. Als er nach Hause kam, war sie überglücklich, ihn zu sehen. Weil Sam zu beschäftigt mit arbeiten war, erklärte sich Jesse bereit, einkaufen zu gehen.

Und da sah er sie. Eleonore. Schwanger. So was von schwanger. Er musste kein großer Rechenkünstler sein, um zu erkennen, dass es sein Baby war. Er stand nur da, starrte sie an und ließ die vollen Einkaufstüten fallen. Von dem Geräusch aufmerksam geworden, entdeckte sie ihn. Ihre Augen wurden weit und einen Moment sah es so aus, als würde sie am liebsten weglaufen, doch sie fing sich wieder und kam auf in zu.

„Hallo, Jesse“, sagte sie und bückte sich, um seine Einkäufe zurück in die Tasche zu stopfen. Ihr Bauch war so riesig. Jesse sah sie lange nur an, bis er sich ebenfalls hinkniete und ihr half.

„Wieso hast du es mir nicht gesagt?“, flüsterte er, während sich seine Gedanken wild im Kreis drehten. Eleonore lächelte ihr wunderbares Lächeln, und es war, als wäre er nie fort gewesen. Sie strich ihm über die Wange, was ihn völlig aus der Fassung brachte, und schlug vor, einen Kaffee trinken zu gehen.

„Am schlimmsten sind diese Blicke“, sagte sie zerknirscht und sah dem jungen Kellner nach, der ihren Bauch unentwegt angestarrt hatte. Sie wirkte älter, erwachsener. Jesse umklammerte seine Kaffeetasse und versuchte, den Typen mit Blicken zu töten.

„Hast du etwa ein Tattoo?“ Eleonore ergriff seine Hand und strich ihm über den Daumen. Er genoss ihre Berührung. Sie war ihm so vertraut.

„Nicht nur das eine.“ Ihre Augen wurden groß. Dann grinste sie.

„Sollte ich noch irgendwas wissen?“, fragte sie amüsiert. Jesse zog die Nase kraus.

„Ich rauche.“ Das schien sie nicht besonders zu erfreuen. „Ich werde aufhören“, versicherte er ihr.

„Das brauchst du nicht... Ich meine, wenn dann tu es für dich, nicht für mich“, erwiderte sie.

„Doch, genau deshalb. Ich will dich und das Baby nicht mit giftigen Stoffen schädigen.“ Eleonore zog ihre Hand zurück.

„Jesse, du...“ Er konnte sehen, wie sie sich auf die Innenseite ihrer Wange biss. „Es hat sich nichts geändert. Du bist noch im Internat und ich will auch, dass das so bleibt.“ Jesse sah sie ungläubig an.

„Wieso sagst du das? Habe ich irgendwas getan, womit ich dich verletzt habe? Hab ich irgendwas falsch gemacht?“ Abgesehen von der Tatsache, unfreiwillig ein Kind in die Welt gesetzt zu haben.

„Es... es ist doch meins, oder?“ Bei dem Gedanken, dass sie fremdgegangen sein könnte, als sie noch zusammen gewesen waren, sah er rot.

„Ja“, sagte sie, ohne zu zögern. „Natürlich bist du der Vater.“

Vater. Dieses Wort schien völlig fremd, wenn er es mit sich selbst in Verbindung brachte. Er würde Vater werden.

„Ich werde die Verantwortung tragen. Ich gehe arbeiten. Ich kann für euch sorgen.“ Eleonore schüttelte den Kopf.

„Das möchte ich nicht. Ich will, dass du deinen Abschluss machst und einen Bomben-Abschluss hinlegst.“ Jesse verzog das Gesicht.

„Das kann ich mir eh abschminken, wie es gerade aussieht.“ Eleonore runzelte die Stirn.

„Wieso?“ Jesse fühlte sich unwohl und kratzte sich am Ohr, eine nervöse Geste, die er nicht ablegen konnte.

„Ich habe mich wohl ein wenig schleifen lassen“, sagte er lahm. Eleonore hob eine Augenbraue.

„Schleifen lassen? Du? Was redest du da?“ Jesse zuckte die Schultern. Wem machte er hier eigentlich was vor? Eleonore kannte ihn viel zu gut, um ihr etwas vorgaukeln zu können.

„Na schön. Vielleicht habe ich meine Noten absichtlich schlecht werden lassen, um meine Mutter zu ärgern.“ Eleonore brach in Gelächter aus. Er liebte diesen Klang. Ihm wurde klar, wie sehr er sie vermisst hatte. Er wollte sie jeden Tag so zum Lachen bringen. Doch sie hörte abrupt auf. „Das ist nicht witzig. Du verbaust dir damit deine Zukunft. Das ist total dämlich. Wenn du deine Mutter ärgern willst, lass dir noch mehr Tattoos stechen.“

Er liebte sie. Das wurde ihm in diesem Moment klar. Es war keine explosive, verzehrende Liebe, eher der Wunsch danach, sein restliches Leben mit ihr zu verbringen.

„Noch mehr?“, fragte er, um das Gespräch vom Thema Schule abzulenken. Er registrierte ganz genau, wie sie seinen Körper scannte, auf der Suche nach weiteren Tattoos. Doch da Winter war und er einen langen Pullover trug, konnte sie sie nicht sehen.
 

„Wie viele hast du denn?“ Jesse ging sie kurz durch.

„Sieben.“ Eleonore verschluckte sich fast an ihrer heißen Schokolade.

„Sieben? In fünf Monaten?“ Sie schien fasziniert und schockiert zugleich. Und dass sie keine Sekunde überlegen musste, wie lange er schon fort war, entging ihm ebenfalls nicht. „Das Zeug macht süchtig, das ist dir schon klar.“ Jesse zuckte die Achseln.

„Apropos Monate... Wie weit bist du eigentlich?“ Es war seltsam, darüber zu reden. Aber sie hatte ihm schließlich keine Gelegenheit gegeben, sich daran zu gewöhnen.

„Im siebten.“ Wie automatisch legte sie eine Hand auf ihren runden Bauch.

„Also hast du es schon gewusst, bevor ich gegangen bin“, stellte er fest.

„Wieso hast du es mir nicht gesagt?“ Eleonore rutschte auf ihrem Stuhl hin und her.

„Ich konnte nicht. Zuerst war ich so wütend auf dich. Und auf mich. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich es behalten will.“ Sie machte eine lange Pause und starrte aus dem Fenster. Dann lächelte sie.

„Aber dann bin ich zu meiner Frauenärztin gegangen, zum Ultraschall. Und da habe ich dieses kleine Ding auf dem Bildschirm gesehen. Sie war so winzig.“ Jesse horchte auf.

„Sie?“ Eleonore nickte.

„Ja. Es ist ein Mädchen.“ Jesses Herz hämmerte heftig in seiner Brust. Es wurde alles auf einmal so real.

„Ist sie gesund?“ Er hatte so viele Fragen, wollte so vieles wissen. Und am besten alles sofort. Eleonore nahm wieder seine Hand, weil sie wahrscheinlich merkte, wie nervös er war.

„Es geht ihr gut. Sie strotzt vor Lebensfreude.“ Erleichterung durchflutete ihn.

„Und dir? Geht es dir auch gut?“ Sie nickte.

„Das Schlimmste habe ich hinter mir. Ich sag's dir, die Kotzerei in den ersten Wochen war echt grauenvoll.“ Sie verdrehte die Augen bei der Erinnerung.

„Ich wünschte nur, du hättest es mir gesagt. Ich habe alles verpasst.“

„Glaub mir, sei froh, dass du die Morgenübelkeit nicht mitgekriegt hast, das war ziemlich unschön“, scherzte sie, verstummte jedoch, als sie bemerkte, wie ernst es ihm war.

„Du weißt, ich wäre geblieben, hättest du es mir erzählt. Ich wäre nicht gegangen.“ Eleonore fuhr das Tattoo an seinem Daumen nach.

„Ist es das, was ich denke, das es ist?“ Sie beugte sich über den Tisch, was mit einem dicken Bauch wohl nicht so einfach war, und nahm seinen Daumen ins Visier.

„Lenk nicht ab.“ Er wusste genau, was sie da tat. Sie war verdammt gut darin, auch früher schon, aber dieses Thema war zu wichtig, um sich ablenken zu lassen.
 

„Mein Schatz?“, las sie die schnörkelige Schrift vor, die sich wie ein Ring um seinen Daumen schlang.

„Du bist verrückt.“ Sie schüttelte den Kopf. Jesse zuckte die Schultern.

„Es war mein erstes.“ Sie sah ihn an, als wäre er ein kleiner ungezogener Schuljunge.

„Und dein neuestes?“, wollte sie wissen.

„Es heißt: Eleonore sollte aufhören, vom Thema abzulenken.“ Sie ließ ihn abrupt los und verschränkte die Arme vor der Brust. Die im übrigen auch größer geworden war, wie ihm soeben auffiel. Er schluckte und trank noch etwas Kaffee.

„Ich kenne seit sieben Monaten kein anderes Thema. Schwangerschaft hier, Baby da. Tut mir Leid, wenn ich mal fünf Minuten nicht darüber nachdenken will.“ Sie war eingeschnappt, doch nun war es an Jesse, zu grinsen.

„Meinst du nicht, dass ich dafür der falsche Gesprächspartner bin? Immerhin bin ich der... Verursacher... dieses Themas.“ Sie hatten beide schon immer einen eigenen Humor gehabt. Und so schaffte er es auch jetzt, sie aus der Reserve zu locken. Eleonore versuchte zwar, das Grinsen zu unterdrücken, indem sie sich auf die Lippe biss, doch es gelang ihr nicht ganz.

„Du bist so ein Arsch“, sagte sie, ohne es ernst zu meinen.

„Und du bist wunderschön.“ Es rutschte ihm einfach so heraus. Sie starrte ihn an.

„Ich bin nicht schön. Ich bin schwanger.“ Sie schlürfte an ihrer Schokolade. Jesse legte den Kopf schief.

„Ich denke, du bist beides.“ Sie sah ihn über den Rand der Tasse an, beinahe schüchtern. Er wartete auf eine Reaktion von ihr. Er wusste, er musste nur lange genug still sein, dann würde sie zu reden beginnen. Vor allem, wenn er sie so unverwandt ansah. Das konnte sie nicht ertragen. Eleonore stellte die Tasse auf dem Tisch ab und klammerte ihre Hände darum.

„Jesse. Jetzt mal ernsthaft. Ich bin ein Walross. Und sobald das Baby erst mal da ist, ist Schluss mit Ausschlafen und Freizeit. Dann gibt es nur noch Windelwechseln und Füttern. Bye bye, Leben. Das kannst du doch nicht wirklich wollen!“ Jesse musterte sie befremdet.

„Versuchst du gerade, mich abzuschrecken?“ Sie widersprach nicht, was einem Eingeständnis gleichkam.

„Wieso? Willst du das alles alleine hinkriegen? Ich bin der Vater. Ich gehöre auch dazu, oder etwa nicht? Willst du mich vollkommen ausschließen?“ In Eleonores Augen sammelten sich Tränen.

„Du solltest gar nicht hier sein. Ich wollte nicht, dass du es erfährst. Deine Mutter hat mir versprochen, sie würde sich bei mir melden, falls du-“ Jesse unterbrach sie.

„Meine Mutter? Was hat meine Mutter damit zu tun?“ Eleonore starrte ihn an, als habe sie zu viel verraten. Da dämmerte es ihm.

„Sie weiß es“, hauchte er. „Sie hat es die ganze Zeit gewusst.“ Ihm wurde schlecht. Eleonore schwieg und beobachtete ihn, als würde sie sich Sorgen machen, er könnte gleich ausrasten. Jesse konnte das nicht vollkommen ausschließen.

„Sie wusste es und hat mir nichts gesagt.“ Er wollte jetzt wirklich gerne eine Zigarette rauchen. Oder irgendwas zertrümmern. Doch sein Kopf hielt noch mehr Befürchtungen parat.

„Warte. Hat sie dich dazu gebracht, mir nichts zu sagen? Wollte sie nicht, dass ich das Internat schmeiße?“ Eleonore hielt noch immer ihre Tasse umschlossen, so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.

„Bitte, Eleonore, du musst mir die Wahrheit sagen.“ Er legte seine Hände um ihre.

„Ich kann nicht. Ich...“ Sie brach mitten im Satz ab, weil ihre Stimme stark zitterte. „Sie wusste es schon, bevor du gegangen bist. Die Schwangerschaft war der Grund, warum sie dich weggeschickt hat.“

Es traf ihn wie einen Schlag ins Gesicht.

„Was?“ Es lief ihm kalt den Rücken herunter.

„Gleich nachdem ich den Schwangerschaftstest gemacht habe, wollte ich zu dir, weil ich so durcheinander war. Du warst nicht da. Deine Mutter hat mir aufgemacht, und weil ich vollkommen verheult vor eurer Haustür stand, hat sie mich reingebeten. Irgendwie hat sie es aus mir rausgequetscht. Sie hat es wahrscheinlich schon geahnt. Erst mal war sie sprachlos. Dann begann sie von diesem Internat zu erzählen, auf dem du einen Platz ergattert hättest. Mir wurde erst viel später klar, dass du dich dort gar nicht selbst beworben hattest und deine Mutter erst nach unserem Gespräch irgendwas mit dem Direktor dort vereinbart hatte, damit die Schule dich aufnimmt. Aber da war es schon zu spät. Du warst schon weg.“ Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. Jesse wollte sie trösten, doch er war zu schockiert von der Geschichte, die sie ihm da gerade erzählte.

„Du hättest zu mir kommen sollen. Du hättest mit mir reden müssen. Glaubst du, ich wäre einfach gegangen, ohne dir etwas zu sagen?“ Am Zittern ihrer Hände und den leisen Schluchzern erkannte er, dass sie weinte. Er stand auf und setzte sich auf den Stuhl neben sie. Behutsam strich er ihr über den Rücken.

„Ich weiß. Es tut mir Leid. Aber je länger ich wartete, umso unentschlossener wurde ich. Ich habe den Hörer schon hundertmal in der Hand gehabt, aber ich habe es nicht geschafft, deine Nummer zu wählen.“ Jesse lehnte den Kopf an ihre Schulter und fuhr weiter mit der Hand über ihren Rücken.

„Du Dummerchen“, flüsterte er. Sie lehnte sich an ihn und er schloss seine Arme um sie. Sie wieder so nah bei sich zu haben, fühlte sich absolut richtig an.
 

Jesse verspürte den Drang, seine Mutter zur Rede zu stellen, sie anzuschreien, und ihr zu sagen, was er von ihrem Verhalten hielt. Er würde viele Schimpfwörter benutzen und sie verfluchen. Doch das würde er auf später verschieben müssen. Im Augenblick war es wichtiger, sich um Eleonore zu kümmern. Sie brauchte ihn, auch wenn sie es nicht zugab. Noch immer konnte er nicht glauben, dass seine Mutter sie dazu gebracht hatte, Stillschweigen zu bewahren. Eleonore vergrub ihr Gesicht an seiner Brust, genauso, wie sie es früher getan hatte. Sein Herz schlug schneller. Er strich über ihr Haar und konnte hören, wie die Schluchzer langsam versiegten.

„Soll ich dich nach Hause bringen?“ Sie nickte stumm. Eleonore erzählte ihm im Auto, dass ihre Eltern eine riesen Wut auf ihn hatten, obwohl das völlig paradox war, weil er ja nie etwas von dem Baby erfahren hatte. Sie hatten sie immer wieder dazu gedrängt, ihn anzurufen.

„Ich wünschte, du hättest auf sie gehört.“ Jesse umfasste das Lenkrad fester.

„Ich wollte nicht der Grund sein, für den du deine Zukunft auf's Spiel setzt.“ Jesse seufzte.

„Findest du nicht, dass ich das selbst entscheiden sollte?“ Eleonore schob trotzig die Unterlippe vor. Er würde sie am liebsten küssen, auch wenn er irgendwie sauer auf sie war.

„Irgendwann hättest du es mir vorgeworfen. Vielleicht nicht am Anfang, aber irgendwann hättest du mich dafür verantwortlich gemacht, dass dein Leben zerstört ist.“

Jesses Kiefer mahlte kräftig. Er musste sich Mühe geben, sie nicht anzuschreien.

„Das denkst du von mir, ja?“ Er hielt den Blick starr auf die Straße gerichtet. „Ich bin nicht mein Vater.“ Eleonore umfasste sanft seinen Arm.

„Es tut mir Leid. Jesse, bitte sei nicht sauer.“ Sie hob die Hand und strich ihm eine Strähne hinters Ohr. Er schloss kurz die Augen und seufzte ob der bekannten Geste. Er hätte das die ganze Zeit haben können. Er hätte sie die ganze Zeit haben können. Wie hatte er es die vielen Monate nur ohne sie ausgehalten? Wie hatte er damals nicht erkennen können, dass er sie liebte? Er musste blind und taub gewesen sein.
 

„Ich hätte dich nicht so schnell aufgeben dürfen. Ich hätte mir mehr Mühe geben sollen.“ Er konnte sich nicht erklären, wie er die Anzeichen übersehen hatte können. Wahrscheinlich hatte sie sich genau deshalb so von ihm zurückgezogen. Damit er keinen Verdacht schöpfte. Und er hatte angenommen, dass sie einfach genug von ihm gehabt hatte.

„Wenn das alles nicht passiert wäre“, begann er und wusste nicht genau, wie er seine Gedanken in Worte fassen sollte. „Denkst du, wir wären dann noch zusammen?“ Er hielt den Atem an, weil er Angst vor der Antwort hatte. Was, wenn sie sich weiterentwickelt hatte, über ihn hinausgewachsen war? Gab es vielleicht schon jemand anderen in ihrem Leben? Einen Typen, der seinen Platz eingenommen hatte? Wollte sie deshalb nicht, dass er blieb? Weil sie schon Ersatz für ihn gefunden hatte? Jesse drehte sich der Magen um.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Eleonore leise und sah aus dem Fenster.

„Gibt es einen anderen?“ Er hatte nicht fragen wollen, aber diese Ungewissheit trieb ihn in den Wahnsinn.

„Was? Wie kommst du denn darauf?“ Sie wirkte etwas gereizt.

„Keine Ahnung. Ich wollte nur sicher sein.“ Sie schüttelte den Kopf.

„Es gibt keinen anderen.“ Sie schnaubte. „Was glaubst du denn! Selbst wenn ich wollte, würde sich kein Schwein für mich interessieren, weil ich eine fette, emotionale, schwangere Kuh bin.“ Jesse sah sie verwundert an. Eleonore hatte früher nie Probleme mit ihrem Selbstbewusstsein gehabt.

„Elly, das stimmt nicht. Du bist genauso hübsch wie immer.“ Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

„Sag noch ein Mal, dass ich hübsch bin, und ich schlage dich. Ich meine es ernst. Lass es einfach.“ Er würde dem gerne etwas entgegensetzen, doch er kannte Eleonore gut genug, um zu wissen, dass sie ihre Drohung vollkommen ernst meinte. Dabei log er sie nicht mal an. Ihre Haut war noch genauso makellos wie damals, und bis auf den Bauch hatte sie kaum zugenommen. Ihre Wangen waren vielleicht etwas voller, aber das stand ihr gut. Ihr Körper schien von innen zu glühen. Und dass ihre Brüste größer geworden waren, konnte er auch nur als Vorteil sehen. Ihr das zu sagen, würde wahrscheinlich jedoch nicht viel bringen.

„Was ist mit dir. Hast du... jemanden?“, fragte sie nach einer längeren Pause. Je näher sie Eleonores Elternhaus kamen, desto nervöser wurde Jesse. Mit dem Wissen, dass Helen und Pete ihn momentan am liebsten strangulieren würden, war er nicht gerade scharf darauf, sie zu treffen.

„Nein.“ Jesse dachte an den One-Night-Stand, der etwa einen Monat zurücklag. Er beschloss, ehrlich mit Eleonore zu sein.

„Niemand bestimmten.“ Als er ihren Blick auffing, korrigierte er seine Aussage. „Es war nur ein Mal. Und ich habe keinen Kontakt mehr zu ihr“, erklärte er. Sie kaute auf ihrer Lippe, ohne sich dazu zu äußern. Was hätte er machen sollen? Er war auch nur ein Kerl und hatte Bedürfnisse. Außerdem hatte er damals geglaubt, mit Eleonore wäre Schluss.

„Gut“, sagte sie ganz leise. Jesse glaubte nicht, dass es überhaupt für seine Ohren bestimmt war. Sie hatte es eher zu sich selbst gesagt. Er ergriff ihre Hand und ließ sie nicht mehr los, bis sie bei Eleonores Haus angekommen waren.

Das Gespräch mit ihren Eltern verbrachte er hauptsächlich schweigend. Eleonore redete die meiste Zeit, und wann immer er das Wort ergriff, übernahm sie sofort wieder für ihn. Es kam ihm so vor, als wollte sie nicht, dass er etwas Falsches sagte. Doch nach einer Weile erinnerte er sich, wie viel Eleonore immer redete, wenn sie nervös war. Sie konnte gar nicht mehr damit aufhören. Dass sie ständig an ihrem Ring spielte, bestätigte seinen Verdacht. Ihre Eltern wirkten nicht gerade glücklich, rissen ihm aber zumindest nicht den Kopf ab. Sie kannten die Fakten zwar schon, hörten ihrer Tochter jedoch geduldig zu.
 

„Und wie ist jetzt dein Plan?“, fragte Pete direkt an Jesse gewandt, sodass seine Tochter nicht für ihn antworten konnte. Jesse räusperte sich und setzte sich ganz unbewusst etwas gerader hin.

„Ich werde vom Internat abgehen. Ich werde mir einen Job suchen und für Elly und das Baby sorgen.“ Eleonore neben ihm auf der Couch rückte etwas von ihm ab.

„Das will ich nicht. Du sollst deinen Abschluss machen.“ Sie sah ihn wütend an, aber Jesse blieb ganz ruhig.

„Das kann ich später noch nachholen. Oder ein Fernstudium machen. Ich könnte auch zur Abendschule gehen.“ Er hatte sich auf der Fahrt hierher schon Gedanken darüber gemacht, weil er mit dieser Reaktion gerechnet hatte. Eleonore konnte dem nichts entgegensetzen, deshalb schob sie wieder in ihrer typisch trotzigen Geste die Unterlippe vor.

„Außerdem will ich nicht alles verpassen. Bis ich mit der Schule fertig bin, bin ich achtzehn. Ich werde nicht die ersten Monate im Leben meiner Tochter in einem beschissenen Internat verbringen, hunderte Kilometer entfernt.“ Er hatte sie das erste Mal seine Tochter genannt. Irgendwas passierte dabei mit seinem Herzen. Es wurde unglaublich schwer und flatterte zugleich.

„Schön, dass du die Verantwortung übernimmst“, sagte Eleonores Vater. Er war kein Mann großer Worte, aber ein anständiger Kerl. Eleonore schnaubte wütend und verkroch sich in ihr Zimmer. Jesse unterhielt sich noch einige Minuten mit ihren Eltern, versicherte ihnen, auf sie aufzupassen und für das Kind zu sorgen. Er würde keinen Rückzieher machen. Dann ging er Eleonore nach. Sie antwortete nicht, als er klopfte. Trotzdem betrat er ihr Zimmer. Es sah noch genauso aus wie früher. Sie lag auf ihrem großen Bett voller Kissen und las in einem Buch. Früher hatte sie immer auf dem Bauch gelegen, die Beine in die Luft gestreckt, völlig versunken in ihre Welt. Das ging jetzt nicht mehr. Sie musste auf dem Rücken liegen.

„Hey.“ Jesse lehnte sich an den Türrahmen und betrachtete sie einen Augenblick lang nur. Sein Blick blieb an ihrem Bauch hängen, auf den sie das Buch gestützt hatte.

„Du bist nicht willkommen“, sagte sie und hob eine Augenbraue, ohne von dem Buch aufzusehen.

„Glaub mir, auch wenn du das sagst, bin ich momentan tausendmal lieber bei dir, als bei meiner Mutter.“ Eleonore ließ das Buch sinken und sah ihn an. All ihre Wut war verflogen. Es war zwar hinterhältig, aber Jesse hatte diese Reaktion vorausgesehen. Ihr schlechtes Gewissen war größer als jeder Ärger. Er nickte ihr zu und entfernte sich von der Tür.
 

„Was liest du?“ Sie hob das Buch in die Höhe, sodass er das Cover sehen konnte. Krabat.

„Schon wieder?“ Er konnte nicht verstehen, was sie an dem Schmöker so toll fand. War es nicht sogar ein Kinderbuch? Er ließ sich neben sie auf die Matratze sinken und starrte an die Decke.

„Gedenke, dass ich dein Meister bin“, rezitierte er. Er hatte das Ding gelesen, nachdem er erfahren hatte, dass es Ellys Lieblingsbuch war. Einmal und nie wieder. Sie schlug ihm mit dem Buch auf den Kopf.

„Blödmann.“ Jesse seufzte.

„Es kommt mir vor, als wäre ich nie weg gewesen.“ Eleonore kicherte.

„Wenn es dir hilft, wenn ich dich beschimpfe: Ich kann das den ganzen Tag durchhalten“, schlug sie vor und Jesse drehte ihr lächelnd den Kopf zu. Ihm fiel auf, wie nahe sie sich waren. Er müsste sich nur zu ihr herüberbeugen, dann könnte er sie küssen.

„Wie selbstlos von dir“, gab er zurück. Es war unvorstellbar, dass er Eleonore nur vor wenigen Stunden getroffen hatte. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Sie ergriff seine Hand, um das Ankertattoo genauer zu betrachten, das sie jetzt sehen konnte, weil er die Ärmel seines Pullovers hochgekrempelt hatte.

„Wie hast du dir das eigentlich genau vorgestellt, Jesse?“ Er runzelte die Stirn und beobachtete sie dabei, wie sie sein Tattoo nachfuhr. Die Berührung jagte ihm einen Schauer über den Rücken. „Das mit uns. Dem Baby.“ Sie mied absichtlich seinen Blick und inspizierte weiterhin die Tinte unter seiner Haut.

„Ich weiß nicht. Ich hatte gehofft... Wenn du mich noch willst... Ich meine, ich würde mich so oder so um euch kümmern, aber ich würde gerne wieder mit dir zusammen sein... Falls du dir das noch vorstellen kannst.“ Eleonore schwieg und schien angestrengt über seine Worte nachzudenken.

„Ich glaube, das ist keine gute Idee. Ich meine, ich habe diese Familien immer verachtete, in denen die Eltern nur des Kindes wegen zusammen bleiben.“ Autsch. Damit hatte sie deutlich gemacht, dass sie ihn nicht zurückhaben wollte. Jesse wollte seinen Arm zurückziehen, konnte ihrer Berührung jedoch nicht widerstehen.

„Aber ich möchte natürlich auch, dass du Kontakt zu deiner Tochter hast.“ Immerhin wehrte sie sich jetzt nicht mehr gegen die Vorstellung, dass er seine Tochter dem Internat vorzog. „Ich glaube, du wirst ein toller Vater“, flüsterte sie. Es kostete Jesse all seine Willenskraft, sich nicht über sie zu beugen und seine Lippen auf ihre zu pressen. Doch das konnte er wohl für immer vergessen. Er nahm sich jedoch die Freiheit, ihr über die Wange zu streichen. Mit weniger konnte er sich gerade nicht zufriedengeben. Eleonore drehte jedoch den Kopf weg und kaute auf ihrer Lippe.

„Entschuldige“, sagte Jesse und nahm die Hand zurück. Er räusperte sich.
 

„Hast du dir schon einen Namen ausgesucht?“, wechselte er das Thema. Eleonore nahm das Buch wieder zur Hand und holte ihr Lesezeichen heraus, das sich als Liste voller Mädchennamen entpuppte.

„Ich kann mich nicht entscheiden.“ Sie sah Jesse zu, wie er die Namen überflog. „Was hältst du davon?“ Jesse presste die Lippen aufeinander.

„Maxime. Prisca. Roseanne. Arielle. Ernsthaft?“ Er hatte nur die Namen vorgelesen, die er absolut unmöglich fand. Der Rest war annehmbar, aber keiner davon sprach ihn wirklich an. Eleonore zuckte die Achseln.

„Keine Ahnung. Ich will dem Baby nur nicht so einen langweiligen Namen geben, den es tausendmal auf der Welt gibt.“ Jesse tippte auf den Zettel.

„Hier. Das ist doch nicht schlecht. Cara. Oder Ariana. Kelly. Pia gefällt mir auch.“ Eleonore setzte sich auf und schnappte sich einen Stift vom Schreibtisch.

„Okay. Lass uns die Hälfte wegstreichen. Wenn du das nächste Mal kommst, machen wir das wieder. Und irgendwann bleibt nur noch einer übrig.“ Jesses Ohren wurden hellhörig. Das nächste Mal.

„Heißt das, du bist einverstanden? Du hast nichts dagegen, wenn ich hierbleibe?“ Sie reichte ihm den Stift und er begann, einige Namen durchzustreichen.

„Ich kann dich doch sowieso nicht davon abbringen, oder?“ Jesse grinste.

„Nein. Aber ich würde mich freuen, wenn du wenigstens so tun würdest, als würde es dir was bedeuten.“ Er sagte es zwar in einem heiteren Ton, aber er meinte es völlig ernst.

„Natürlich tut es das. Es fällt mir nur schwer, dir das zu zeigen, wenn ich im Hinterkopf habe, dass du damit deine Zukunft zerstörst.“ Jesse schüttelte den Kopf.

„Hey, wenn ich mich recht erinnere, haben wir beide diese Situation zusammen verursacht, also stecke ich da genau so mit drin wie du.“ Eleonore sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Du nennst unseren Sex eine Situation verursachen? Wow.“ Jesse biss sich auf die Zunge, doch Elly begann zu lachen, was ihn sehr erleichterte. Sie legte jedes Wort von ihm auf die Goldwaage. Er wusste nicht, wann er etwas Falsches sagte oder nicht.

„Du hast Recht. Die richtige Beschreibung wäre wohl eher sexy, ungezügelt, befriedigend, feucht...“ Eleonore hielt ihm den Mund zu, um ihn von weiteren Ausführungen abzuhalten.

„Okay, okay. Ich hab's kapiert. Hörst du jetzt bitte auf?“ Jesse ließ den Kopf in die Kissen sinken und nickte. Erst dann ließ sie ihn los. Wenn es nach ihm ginge, würde er sie jetzt daran erinnern, wie es war, wenn sie zusammen waren. Ihr Bauch würde es etwas kompliziert machen...

„Es wird schon dunkel.“ Eleonore sah aus dem Fenster und Jesse verstand ihre verkleidete Aufforderung sofort. Er richtete sich auf.

„Zeit, nach Hause zu gehen.“ Dass er dieses Nest von Verrätern immer noch sein Zuhause nannte, kam ihm beinahe falsch vor. Eleonore machte Anstalten, ebenfalls aufzustehen, doch er hielt sie zurück.

„Lass gut sein. Bleib liegen. Ich kenne ja den Weg.“ Er stand einen Moment unschlüssig vor dem Bett. Er wollte sie umarmen und am besten nie wieder loslassen. Aber sie hatte ihren Standpunkt klargemacht. Damit musste er zurechtkommen.

„Kann ich dich anrufen?“, fragte er und war erleichtert, als sie ohne Zögern nickte. Er vermisste ihre langen Telefonate. Meistens redete sowieso Eleonore, aber er konnte einfach nicht genug kriegen von ihrer Stimme und dem Wissen, dass sie ihre Gedanken mit ihm teilte.

„Natürlich. Jederzeit.“ Als er das Zimmer schon verlassen hatte, rief sie nochmal nach ihm. Er kehrte sofort zurück.

„Sei nicht zu streng mit deiner Mutter“, bat sie ihn. Doch er erwiderte nichts, weil er nichts versprechen wollte, was er nicht halten konnte.
 

Kaum hatte Jesse die Tür aufgeschlossen, kam ihm Sam schon entgegen.

„Wo zur Hölle bist du gewesen? Deine Mutter hat sich Sorgen um dich gemacht.“ Jesse hätte ihm in diesem Moment am liebsten seine Faust ins Gesicht gerammt, doch glücklicherweise hielten ihn die Einkäufe in seinen Händen davon ab. Er presste die Lippen fest aufeinander, um nicht in Flüche auszubrechen, und drückte sich wortlos an Sam vorbei. Jesse steuerte in die Küche, Sam folgte ihm auf dem Fuße.

„Wozu hast du ein Handy, wenn wir dich nicht erreichen können? Machst du das mit Absicht?“ Von dem Lärm angelockt, kamen Jesses Mutter und Betty in die Küche.

„Was ist los?“, fragte seine kleine Schwester und quietschte erfreut, als sie ihren Bruder erblickte. Sie fiel ihm überschwänglich in die Arme.

„Jesse!“ Er erwiderte die Umarmung. Sie war die einzige Person in diesem Haus, bei der er sich freute, sie zu sehen.

„Wo warst du so lange?“, fragte seine Mutter, ihren Bademantel um ihren Körper geschlungen. Auch wenn sie krank war, konnte sich Jesse nicht zurückhalten.

„Ich habe Elly getroffen“, sagte er und knallte die Einkäufe auf den Tresen. Seine Mutter und Sam wechselten einen schnellen Blick. Die beiden sprachlos zu erleben, war selten.

„Wie geht es ihr?“, fragte Betty unschuldig. Sie hatte keine Ahnung und Jesse war froh darüber. Er hätte es nicht ertragen, wenn seine Schwester ebenfalls eingeweiht gewesen wäre.

„Gut. Bis auf die Tatsache, dass sie schwanger ist.“ Jesse sah bei den Worten seine Mutter an. Betty kippte die Kinnlade herunter.

„Was?“ Jesse merkte, wie seine Schwester angestrengt nachdachte.

„Ich verstehe das nicht. Ihr wart so süß zusammen. Wie kann sie da so schnell einen anderen finden? Und dann wird sie auch noch schwanger!“ Ihre Naivität ließ ihn schmunzeln.

„Nein, Schwesterherz. Du wirst Tante“, klärte er sie auf. Sie öffnete dreimal den Mund, nur um ihn dann wieder zu schließen. Sie sah ein wenig aus wie ein Fisch.

„Aber... du... oh mein Gott!“ Die gerade elfjährige Betty hüpfte auf und ab und schlug die Hände vor den Mund.

„Betty“, schnitt die Stimme ihrer Mutter durch den Raum. „Gehst du bitte in dein Zimmer?“ Ihre Tochter sah sie enttäuscht an.

„Wieso? Das ist alles so aufregend!“ Doch sie ließ sich nicht erweichen.

„Jetzt sofort.“ Betty schlurfte mit hängenden Schultern davon. Jesse wartete, bis er die Tür klicken hörte. Er wollte nicht, dass sie den Streit mitbekam, der folgen würde.

„Wieso schickst du sie nicht gleich auf ein Internat?“, schlug er trocken vor.

„Jesse, lass uns in Ruhe darüber reden“, beschwor ihn seine Mutter.

„Ihr hattet ein beschissenes halbes Jahr Zeit, mit mir zu reden. Was habt ihr euch nur dabei gedacht?“ In einem plötzlichen Impuls packte er die Eierschachtel, die er heute Mittag gekauft hatte, und warf sie gegen die Wand. Flüssiges Eigelb und Eiweiß rannen die weiße Tapete herunter.

„Ihr habt mich die ganze Zeit belogen. Ihr habt mir ins Gesicht gelogen.“ Seine Mutter starrte auf den Fleck an der Wand und das Eigelb, das eine lange Spur hinterließ. Es verschaffte ihm nicht die Befriedigung, die er sich erhofft hatte.

„Wir wollten nur dein Bestes“, hauchte sie und strich ihre blondierten Haare hinter ihre Ohren.

„Und was ist mit Elly? Was ist mit ihr, Mutter? Hast du auch an sie gedacht, als du uns wissentlich auseinandergerissen hast?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Sie hatte die Wahl. Sie hätte diesen Weg nicht gehen müssen.“ Ihre Worte trafen ihn wie einen Schlag ins Gesicht und er taumelte tatsächlich einen Schritt zurück. Hatte sie das gerade wirklich gesagt? Abtreibung, das war ihre Lösung?

„Du bist widerlich!“

„Du bist noch so jung, Jesse. Du weißt doch gar nicht, was es bedeutet, ein Kind großzuziehen“, mischte Sam sich ein. Jesse warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

„Rede nicht mit mir, als wärst du mein Vater.“

Seine Mutter holte tief Luft.

„Jesse“, ermahnte sie ihn. „Wir konnten doch nicht zulassen, dass dieser... Umstand dein Leben zerstört.“

Jesse zeigte warnend mit dem Finger auf sie.

„Pass bloß auf. Es ist meine Tochter, von der du da sprichst. Du wirst sie nicht als Umstand bezeichnen!“

Sam schüttelte den Kopf.

„Du bist noch nicht reif genug, diese Verantwortung zu übernehmen. Sieh dich doch an. Mit deinen Tattoos und der Raucherei.“

Jesse schnaubte verächtlich.

„Und weil du so reif bist, bist du einfach abgehauen, als Mom mit Greg schwanger war, ja? Sehr männlich, Sam, wirklich. Gerade ihr beiden solltet mir keine Vorträge halten.“ Sam machte einen Schritt auf Jesse zu. Er war sicher, wenn er noch mehr sagte, würde er ihn schlagen, doch seine Mutter hielt ihn zurück.

„Wir wollen nur nicht, dass du denselben Fehler machst wie wir“, sagte sie. Jesse starrte sie einige Sekunden nur an. Es kam ihm vor, als würde er seine Mutter zum ersten Mal wirklich sehen, als hätte er ihr wahres Ich bisher nicht gekannt.

„Hast du Greg gerade als Fehler bezeichnet? Willst du das damit sagen? Wenn du die Zeit zurückdrehen könntest, hättest du ihn abgetrieben?“ Seine Mutter schüttelte den Kopf.

„Nein. Ich liebe deinen Bruder. Genau wie ich dich liebe, und Betty.“ Jesse glaubte ihr kein Wort.

„Ach, und weil du mich liebst, hast du mich weggeschickt, ja?“ Seine Mutter begann zu weinen, doch es interessierte ihn nicht.

„Ich wollte dich nur beschützen!“ Jesse schüttelte den Kopf und ging ruhelos auf und ab.

„Nein. Du wolltest nur dich selbst schützen. Deinen Ruf wahren. Was werden die Nachbarn denken, wenn dein dummer Junge ein Mädchen schwängert!? Das müssen wir natürlich verhindern! Hast du Eleonore aufgefordert, das Kind wegmachen zu lassen, als sie zu dir gekommen ist?“ Schon der Gedanke drehte ihm den Magen um. Und er befürchtete, die Antwort bereits zu kennen.

„Ich habe sie nur darum gebeten, sich genau zu überlegen, was sie tut und sich im Klaren zu sein, was das für euch bedeutet, dass euer ganzes Leben davon abhängt, eure Zukunft.“ Jesse wollte noch einmal etwas schmeißen, fuhr sich stattdessen jedoch durch die Haare.

„Oh mein Gott. Du machst mich krank. Ihr beide seid... der allerletzte Abschaum.“ Jesse rannte in sein Zimmer, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Er hörte seine Mutter nach ihm rufen, und Sam ihr zureden, sie solle ihn erst mal in Ruhe lassen. Möglichst laut knallte er die Tür zu, warf seinen Koffer aufs Bett und stopfte seine Sachen hinein, so schnell er konnte. Hätte er bloß vorhin nicht ausgepackt. Er wollte nur noch weg. Er hielt es keine Minute länger hier aus. Unerwartet wurde die Tür aufgerissen.
 

„Was ist denn los?“, fragte Betty besorgt. Natürlich hatte sie etwas mitbekommen. Sie hatten so laut geschrien, sie musste etwas aufgeschnappt haben.

„Ich muss hier weg.“ Betty trat ins Zimmer.

„Aber du bist doch gerade erst angekommen!“ Jesse atmete tief durch, konnte sich aber nicht beruhigen.

„Was ist denn passiert? Ist was mit Elly und dem Baby?“ Jesse schloss den Koffer und schleifte ihn hinter sich her.

„Frag Mom“, antwortete er und polterte die Treppen hinunter, gefolgt von seiner Schwester.

„Jesse, können wir jetzt in Ruhe über alles reden?“, fragte seine Mutter, die mit Sam auf dem Sofa saß, sich jedoch sofort erhob, als sie den Koffer in seiner Hand sah. „Wohin gehst du?“

Jesse blieb nicht stehen und öffnete die Haustür.

„Weg hier. Ich halte es hier nicht länger aus.“ Seine Mutter sah ihn entsetzt an.

„Aber.. Wo willst du hin?“

Jesse zuckte die Achseln und trat auf die Straße.

„Ganz egal. Einfach nur weg. Ich bin hier fertig.“ Und dann ging er.
 

„Jesse. Das ist aber eine Überraschung!“ Greg schloss seinen Bruder in die Arme und bemerkte dabei den Koffer.

„Bist du vom Internat getürmt?“, fragte er belustigt, wurde jedoch wieder ernst, als er den Gesichtsausdruck seines kleinen Bruders bemerkte.

„Bist du? Ohne Scheiß?“ Jesse schüttelte den Kopf.

„Nein. Zumindest war es nicht so geplant.“ Der Effekt war derselbe.

„Komm erst mal rein.“ Greg schnappte sich Jesses Koffer und schob ihn ins Haus.

„Weiß Mom, dass du hier bist?“, wollte er wissen.

„Ich komme gerade von ihr“, erwiderte Jesse.

„Scheiße“, fluchte Greg, als Jesse Jacke und Pullover auszog und die Tattoos zum Vorschein kamen. War es wirklich so warm in der Wohnung seines Bruders, oder hatte allein die hitzige Diskussion mit Sam und seiner Mutter sein Blut zum Kochen gebracht?

„Kein Wunder, dass sie dich wieder weggeschickt hat.“ Sein Bruder lachte amüsiert und geleitete Jesse ins Wohnzimmer. „Bierchen?“ Jesse schüttelte den Kopf. Er würde sich zwar gerne betrinken, aber er musste andere Wege finden, mit der Situation zurechtzukommen. Sie setzten sich aufs Sofa und Greg öffnete seine Bierdose.

„Also, hast du Heimaturlaub, oder was?“ Jesse wäre am liebsten einfach mit der Wahrheit herausgeplatzt, doch er wollte alles in Ruhe erklären. Allein schon, um das ganze Ausmaß selbst zu verstehen.

„Ich wollte Mom besuchen, weil es ihr nicht so gut geht“, begann er, und hörte gar nicht mehr auf. Es musste alles raus. Es kam ihm vor, als erzählte er seine halbe Lebensgeschichte. Greg war ein erstaunlich guter Zuhörer. Den Teil, in dem seine Mutter gemeint hatte, es wäre ein Fehler gewesen, Greg zu kriegen, ließ er jedoch aus.

„Und jetzt bin ich hier“, schloss Jesse. Er schaltete sein Handy aus, weil bereits zum dritten Mal seine Mutter anrief. Schnell überlegte er es sich jedoch wieder anders und machte es wieder an. Was, wenn Eleonore sich meldete?

„Also wirst du jetzt Vater“, sagte Greg und stellte sein Bier ab. Jesse nickte. Es war das erste Mal, dass er Angst bekam, wenn er darüber nachdachte.

„Was, wenn ich das nicht hinkriege? Wenn ich ein beschissener Vater bin?“ Greg schüttelte den Kopf.

„Ihr kriegt das schon hin, ihr beiden. Du bist ja nicht allein damit. Vielleicht solltest du dich aber zur Sicherheit darüber informieren, wie man Windeln wechselt, ohne angepinkelt zu werden“, scherzte Greg, aber Jesse konnte darüber nicht lachen. Er hatte noch nie ein Baby im Arm gehalten, geschweige denn gewickelt. Als Betty geboren wurde, war er noch so klein gewesen, dass er damit nichts zu tun gehabt hatte. Er hatte keine Ahnung. Von nichts. Morgen würde er sich als Erstes einen Ratgeber kaufen. Er würde das gesamte Ding lesen, egal wie viele Seiten es hatte.

„Elly geht doch bestimmt zur Schwangerschaftsgymnastik. Frag sie doch, ob du mitkommen kannst. Da kannst du bestimmt was lernen“, schlug Greg vor. Der Gedanke von lauter Pärchen, die auf riesigen Gymnastikbällen herumturnten und Atemübungen machten, gefiel ihm nicht besonders, aber Greg hatte Recht. Jede Möglichkeit, sich auf das Baby vorzubereiten, würde er ergreifen.
 

„Und was ist nach der Geburt?“ Jesse verstand nicht, worauf sein Bruder hinauswollte. „Zieht ihr dann zusammen? Oder bleibt Elly bei ihren Eltern? Oder ziehst du zu ihnen?“

Jesse sank tiefer in das Sofa, lehnte den Kopf in die Kissen und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich habe keine Ahnung. Wir haben noch nicht darüber geredet.“ Greg runzelte die Stirn.

„Aber ihr seid wieder zusammen, oder nicht?“ Jesse seufzte frustriert. Er packte ein Kissen und legte es sich auf den Bauch.

„Nein. Für Elly ist die Sache gelaufen.“ Greg sah seinen Bruder prüfend an.

„Und was ist mit dir? Was willst du?“ Jesse zupfte einzelne Federn aus dem Kissen. Sein Bruder überging das großzügig. Der Klingelton von Gregs Handy unterbrach sie.

„Mom.“ Er verdrehte die Augen, ging jedoch hin. Jesse gestikulierte ihm, er solle ihr nicht sagen, dass er hier war, doch Greg drehte sich absichtlich um und ignorierte ihn.

„Mom, beruhige dich. Hör auf so zu schreien, ich kann dich sehr gut hören. Ja, er ist hier.“

Jesse knurrte und ließ sich zurück in die Kissen sinken.

„Ich glaube nicht, dass er gerade mit dir reden will. – Das halte ich für keine gute Idee. – Lass ihm einfach etwas Zeit. – Was erwartest du denn von ihm? Ihr habt ihn angelogen. Er hatte ein Recht, es zu erfahren. - Nein, ich denke nicht. - Ja, ich sag's ihm. Mach's gut.“ Greg legte genervt auf, wirkte jedoch etwas besorgt.

„Verräter“, grummelte Jesse.

„Sie ist vollkommen aufgelöst.“

Jesse interessierte das einen feuchten Dreck.

„Ich soll dir sagen, es tut ihnen Leid und sie wollen mit dir reden.“ Jesse schnaubte.

„Darauf kann sie lange warten.“

Greg wollte ihm ins Wort fallen, doch er sprach schnell weiter.

„Kann ich bei dir pennen? Ich bin müde.“ Greg seufzte und beschloss, seinen Bruder für heute in Frieden zu lassen.

„Klar kannst du hierbleiben. Mason ist vor ein paar Wochen ausgezogen. Du kannst in sein Zimmer.“

Jesse erhob sich und schleppte den Koffer hinter sich her.

„Danke. Ich haue mich gleich auf's Ohr.“

Doch der Schlaf wollte sich nicht einstellen.
 

Möchtest du vorbeikommen? Ich war gerade beim Ultraschall und habe neue Bilder, stand in Eleonores SMS, zwei Tage später. Wieso schrieb sie ihm auf dem Handy? Sie war noch nie der Typ für Textnachrichten gewesen. Früher hatte sie wegen jeder Kleinigkeit angerufen. Und sei es nur, um ihm zu sagen, dass sie sich langweilte. Oder ihn vermisste. Er hatte gestern hundertmal kurz davorgestanden, sie anzurufen. Doch er wollte ihr den Freiraum geben, den sie brauchte.

Um sich zu beschäftigen war er in die nächste Buchhandlung gefahren und hatte sich einen Ratgeber über Schwangerschaften gekauft. Eigentlich zwei. Einen normalen, der als Bestseller ausgeschrieben war, und einen speziell für Männer. Die etwas ältere Dame an der Kasse hatte ihn mit einem seltsamen Blick beäugt.

Nun kam er auch in den Geschmack der verurteilenden Gesellschaft. Wenn Eleonore das seit sieben Monaten aushalten musste, war es kein Wunder, dass sie leichter reizbar war als früher. Jesse hatte ein dickeres Fell, ihm war schon immer ziemlich egal gewesen, was die Leute von ihm hielten. Aber er musste ja auch nicht ständig mit dieser Kugel vor sich herumlaufen. Während er sich durch die Ratgeber wälzte, in denen einige beunruhigende Fakten standen und verstörende Bilder zu sehen waren, fragte er sich, wie es sich wohl anfühlte, ein Lebewesen in sich zu tragen.
 

Klar. Ich mach mich gleich auf den Weg, schrieb er zurück und schalt sich in Gedanken, weil er so aufgeregt war. Es hatte sich nichts geändert. Eleonore würde ihn nicht zurücknehmen. Sie wollte ihn nur auf dem Laufenden halte, was das Baby anging.

Wenige Minuten später stand er vor ihrer Haustür und war nervöser, als er es sich eingestehen wollte.

„Hey.“ Eleonore zog ihn ins Haus, bevor er sie überhaupt begrüßen konnte.

„Mach schnell, meine Eltern sind nicht da.“ Für eine Sekunde glaubte er wirklich, sie würde gleich über ihn herfallen. Die Hormone der meisten Frauen spielten in der Schwangerschaft völlig verrückt, das hatte er zumindest gelesen. Sollte er vernünftig sein und ihr sagen, dass das keine gute Idee war? Niemals! Doch als sie ihn in die Küche zog und das Eisfach öffnete, war ihm bereits klar, dass es hier nicht um Sex ging.

„Ich sterbe vor Hunger. Naja, eigentlich sind es nur Gelüste.“ Dass Jesse auch Gelüste hatte – jedoch einer völlig anderen Art – behielt er lieber für sich. „Ich könnte jeden Tag so einen Kübel essen“, sagte sie und öffnete die Ein-Liter-Straciatella-Eisschachtel. Sie holte zwei Löffel heraus, gab einen davon Jesse, lehnte sich über den Tresen und begann, zu essen. Nach dem ersten Bissen seufzte sie zufrieden. Jesse beobachtete sie nur und lächelte. Er hatte sie so vermisst.

„Weißt du, was am schlimmsten ist?“, fragte sie, wartete seine Antwort jedoch gar nicht ab. „Ich habe ständig Hunger auf irgendwelche ekligen Sachen. Letzte Woche habe ich Schnecken gegessen. Schnecken! Ich hasse Schnecken. Schleimiges Zeug im Allgemeinen. Ich meine, das ist doch absolut widerlich... Was?“ Sie sah ihn skeptisch an, weil er sich das Grinsen kaum verkneifen konnte. „Was ist so komisch?“, fragte sie mit in die Hüften gestemmte Hände. Jesse befürchtete schon, sie würde wieder sauer werden, deshalb versuchte er, sie zu beschwichtigen.

„Das ist doch was Gutes. Sieh es als Sinneserweiterung, oder so.“ Er stocherte in dem Eis herum.

„Es ist keine Sinneserweiterung, wenn ich Kriechtiere in mich hineinstopfte.“ Jesse zuckte die Schultern.

„Dann eben eine Magenerweiterung.“ Eleonore schien einen Moment ernsthaft zu überlegen, ob sie mit Eis nach ihm werfen sollte.

„Witzig“, sagte sie trocken. „Meine Eltern meinen, es könne nicht gesund sein, was ich alles esse. Manchmal kommt es mir so vor, als würde ich den ganzen Tag nichts anderes machen.“ Jesse aß einen Löffel Eis.

„Ich dachte, das wäre einer der Vorteile daran, schwanger zu sein. So viel zu essen, wie man will.“ Eleonore schüttelte den Kopf.

„Glaub mir. Es gibt keine Vorteile. Nur Nachteile.“

„Doch. Es gibt eine Sache, für die ich dich immer beneiden werde.“ Eleonore legte die Stirn in Falten.

„Als Mutter baust du eine Bindung zu dem Kind auf, die ich nie haben werde. Ich denke, das liegt daran, dass ihr für diese lange Zeit so eng miteinander verbunden seid.“

Eleonore starrte ihn nur an.

„Zumindest habe ich das gelesen“, murmelte er, weil seine Worte ihm plötzlich peinlich waren.

„Du hast ein Buch darüber gelesen? Wann?“ Sie schien völlig überrascht.

„Gestern“, war die offensichtliche Antwort.

„Das ist unfair“, sagte Elly und verräumte schnell das Eis, als sie draußen das Auto ihrer Eltern in der Einfahrt hörte.

„Was ist unfair?“, fragte Jesse und ließ sich mit in ihr Zimmer ziehen.

„Du hast erst vor zwei Tagen erfahren, dass ich schwanger bin und hast anscheinend schon deinen Frieden damit gemacht. Weißt du, wie lange ich gebraucht habe, um damit klarzukommen? Monate!“ Jesse setzte sich wie selbstverständlich aufs Bett, während Eleonore im Zimmer herumtigerte.

„Das ist doch etwas völlig anderes.“

„Genau. Weil ich die Mutter bin. Eigentlich solltest du vollkommen ausrasten und Dinge durch die Gegend werfen.“ Jesse lehnte sich etwas zurück und stützte sich auf seine Hände.

„Habe ich. Als ich bei Mom war.“ Er war nicht stolz darauf, wie er sich verhalten hatte, aber er hatte kein schlechtes Gewissen.

„Du hast was?“ Es war zwar ihr eigener Vorschlag gewesen, dennoch schien sie ziemlich verblüfft. Sie setzte sich neben ihn auf die Matratze, ließ sich langsam zurücksinken und starrte an die Decke.

„Jetzt geht’s mir schon besser. Ich hatte schon Angst, ich sei die Einzige, die das erst mal auf die Reihe kriegen muss.“

Jesse kratzte sich am Ohr.

„Je länger ich in diesem Buch gelesen habe, umso unsicherer wurde ich. Ich meine, es gibt so viel zu beachten.“ Eleonore seufzte.

„Ja. Wem sagst du das... Wie ist es bei deiner Mutter gelaufen?“ Jesse verzog das Gesicht.

„Beschissen.“ Ihm fiel wirklich kein anderes Wort ein, um die Situation richtig zu beschreiben.

„Was ist passiert?“, wollte Eleonore wissen und sah ihn argwöhnisch an. Sie tat beinahe so, als wäre er der Übeltäter.

„Wie gesagt. Ich habe ein paar Sachen durch die Gegend geworfen, sie eine Weile angeschrien und dann habe ich meine Sachen gepackt und bin zu Greg.“ Eleonores Augen wurden groß.

„Das ist ja schrecklich.“ Jesse zuckte die Schultern.

„Ich habe dir doch schon erzählt, dass ich was an die Wand geschmissen habe.“

„Schon. Ich dachte nur, das wäre wegen mir.“ Jesse runzelte die Stirn.

„Wieso wegen dir?“, fragte er.

„Na, weil ich schwanger bin. Und dir nichts davon erzählt habe.“

Einem Impuls folgend, nahm Jesse Eleonores Gesicht in seine Hände.
 

„Hör mir zu. Ich bin nicht sauer auf dich, okay? Also hör auf, dir Vorwürfe zu machen.“ Jesse fragte sich, ob ihr schlechtes Gewissen daherrührte, dass sie sich entschlossen hatte, das Kind zu bekommen, oder weil sie es ihm all die Zeit verschwiegen hatte. Wahrscheinlich eine Kombination aus beidem.

„Kann ich dich was fragen, und du versprichst mir, ehrlich zu antworten?“ Erst als sie nickte, sprach er weiter. „Hat meine Mutter dich aufgefordert, das Baby... nicht zu bekommen?“ Allein schon ihr Zögern verriet ihm die Antwort. Jesse ließ Elly los und sank auf die Matratze. Er legte einen Arm über seine Augen und brummte unzufrieden.

„Ich glaub's einfach nicht. Wie konnte sie nur.“ Eleonore zog seinen Arm weg, damit sie ihn ansehen konnte.

„Sie hat es ja nicht... direkt gesagt. Sie hat mich nur darum gebeten, mir genau zu überlegen, was ich will, weil ich es dann nicht mehr rückgängig machen könnte.“ Jesse schnaubte verächtlich.

„Genau. So wie sie mit Greg. Kannst du dir das vorstellen? Sie hat mir praktisch ins Gesicht gesagt, dass sie ihn lieber nicht bekommen hätte. Und sowas nennt sich Mutter. Wahrscheinlich bereut sie mich genauso.“ Er biss sich auf die Lippe, fest, weil er sich nur so daran hindern konnte, noch schlimmere Dinge über seine Mutter zu sagen. Eleonore fuhr ihm durchs Haar, weil sie genau wusste, dass es ihn beruhigte. Jesse schloss die Augen und versuchte, sich zu entspannen. Er genoss ihre Berührung.

„Ich will nicht werden wie meine Mutter. Lass mich nie so werden“, wisperte er.

„Okay“, flüsterte sie und plötzlich spürte er ihre Lippen auf seinen. Nur ganz leicht, ein Hauch nur, und er musste die Augen öffnen, um sicherzugehen, dass er sich das nicht nur einbildete.

Das tat er nicht. Sie küsste ihn. Sein Herz hämmerte wie wild, hin- und hergerissen zwischen erfüllender, überquellender, alles einnehmender Freude, und der Angst, dass sie sich sofort wieder von ihm zurückzog und ihm das Herz brach. Noch einmal berührten ihre Lippen kurz die seinen, dann löste sich Eleonore von ihm.

„Ich liebe dich.“ Ihm wurde erst bewusst, dass er es laut ausgesprochen, und nicht nur gedacht hatte, als er ihren Gesichtsausdruck sah.

„Was?“ Sie blinzelte.

„Ich liebe dich“, wiederholte er.

„Wieso sagst du so etwas?“

So etwas? Jesse fühlte, wie sich sein Herz zusammenzog.

„Weil es die Wahrheit ist.“ Eleonore schien ziemlich verwirrt zu sein.

„Warum auf einmal? Damals hast du doch... Du hast es noch nie gesagt.“ Ihre Augen füllten sich zwar nicht mit Tränen, aber an ihrer zittrigen Stimme konnte er hören, dass sie kurz davor war, zu weinen.

„Ich weiß. Ich hätte mich mehr bemühen sollen. Ich hätte nicht einfach abhauen sollen. Aber du warst so distanziert. Ich dachte, du hättest mit mir abgeschlossen. Ich konnte ja nicht ahnen, was der Grund für deine abweisende Haltung war.“ Jetzt, wo er es aussprach, klang es so, als würde er ihr die Schuld geben. Aber zumindest ein klein wenig stimmte das ja auch. Hätte sie ihm gleich erzählt, was los war, wäre er niemals ins Internat gegangen. Damals hatte er sich gedacht, er ging lieber fort, in eine fremde Stadt, wo er niemanden kannte, als zu Hause zu bleiben, wo er unerwünscht war. Seine Eltern - seine Mutter - schickte ihn fort, und seine sogenannte Freundin sah ihn nicht mal mehr mit dem Hintern an.

Fünf beschissene Monate.
 

„Ich wusste nicht, dass du so empfindest“, flüsterte Eleonore und spielte mit einer ihrer Haarsträhnen, noch so eine Angewohnheit, wenn sie nervös war. „Du hast es nie gesagt. Und ich dachte, ich wäre nur...“ Sie unterbrach sich und biss sich auf die Lippe.

„Nur was?“, hakte Jesse nach. In ihm keimte langsam Hoffnung auf. Versuchte sie ihm etwa zu sagen, dass sie genau dasselbe empfand, dass sie sich die ganze Zeit nur missverstanden hatten?

„Naja, eine von vielen. Ich dachte nicht, es wäre dir ernst.“ Jesse stützte sich auf seine Ellbogen.

„Es tut mir Leid, wenn ich dir das Gefühl gegeben habe-“, begann er, doch Elly unterbrach ihn.

„Nein, nein. Es war nicht deine Schuld. Ich bin damals einfach davon ausgegangen, habe mir nicht die Illusion gemacht, es würde ewig halten.“ Jesse glaubte nicht wirklich, dass Eleonore damals so empfunden hatte. Sie war ein wunderschönes, außergewöhnliches Mädchen gewesen, das genau wusste, was für eine Wirkung sie auf Jungs hatte – das hatte sich für Jesse nicht geändert.

Doch durch die Schwangerschaft und den Verlust ihres Selbstbewusstseins, der damit einherging, verzerrte sich offenbar ihre Sichtweise. Natürlich war ihm bewusst, wie anziehend er auf viele Mädchen wirkte und einige Blicke an ihm hängenblieben, aber dass Elly davon ausging, er hätte sie nur benutzt und sie wäre nur eine von vielen gewesen, wie sie gesagt hatte, traf ihn doch ziemlich.
 

„Na schön. Um das ein für alle Mal klarzustellen: Mich interessieren keine anderen Mädchen. Ich will nur dich. Dich und das Baby. Und ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mir jetzt bitte sagen würdest, dass du dasselbe empfindest.“ Er hielt dieses Hin und Her nicht mehr aus, die Andeutungen, das Gerede über die Vergangenheit. Er wollte wissen, woran er war, sofort.

„Du hast Recht. Ich fühle dasselbe. Ich bin auch nicht an anderen Mädchen interessiert“, sagte sie breit grinsend. Aber selbst wenn sie die Worte nicht aussprach, hatte er jetzt seine Antwort. Erleichterung durchflutete ihn, pure Freude, und Hitze, ein Zittern. Er setzte sich auf und küsste sie. Doch er war keineswegs so vorsichtig, wie sie vor noch ein paar Minuten. Es war, als wäre Eleonore ein Brunnen und er am verdursten. Sein Körper war ein Feuerwerk, seine Haut übersensibel, seine Lippen wie magnetisch von ihren angezogen. Mit einem plötzlichen Stöhnen löste sich Elly von ihm.

„Was ist?“ Wehe, sie hatte es sich doch anders überlegt.

„Sie tritt“, sagte die Mutter seines Kindes unter schmerzhaftem Lächeln und legte eine Hand auf ihren runden Bauch. Jesse biss sich auf die Lippe.

„Tut es weh?“ Eleonore wiegte den Kopf.

„Manchmal.“ Jesse starrte wie gebannt auf ihr T-Shirt, doch er konnte keine Bewegung erkennen, außer das stetige Auf und Ab vom Atmen. Konnte man es überhaupt sehen, oder nur fühlen?

„Darf ich?“, fragte er und sah Elly um Erlaubnis bittend an. Sie lächelte, ergriff seine Hand und legte sie auf das gelbe T-Shirt, das über die Mitte ziemlich spannte. Wie gebannt sah Jesse auf ihre übereinanderliegenden Hände und wartete voller Spannung darauf, ob sich etwas tat. Er konnte Eleonores warme Haut durch den Stoff spüren. Für einen Moment fand er es faszinierend, dass sie bisher nicht geplatzt war, oder ihre Haut gerissen, weil sie so stark an Umfang zugenommen hatte. Sie war so zart gewesen, mit weibliche Kurven.

Jesse versuchte sich das kleine Ding unter all der Haut, den Zellen, dem Fleisch und Blut vorzustellen, aber das war schwierig.

„Ich kann sie nicht fühlen“, sagte er enttäuscht. Elly fuhr über seine Wange und lächelte ihn aufmunternd an.

„Keine Sorge. Sie wird mich noch oft genug treten. Sie ist sehr aktiv.“ Jesse wusste, dass Eleonore Recht hatte, doch er fühlte sich gerade wie ein kleines Kind, das nicht bekam, was es wollte, hätte am liebsten mit dem Fuß auf den Boden gestampft und geschrien. Er konnte es einfach nicht erwarten, seine Tochter zu fühlen. Seine Tochter. Noch immer durchflutete ihn ein Rausch bei dem Gedanken.

„Gib mir mal meine Tasche“, bat Eleonore und kramte darin, als Jesse sie ihr überreicht hatte. Sie holte ihren Geldbeutel heraus und zog einen Zettel hervor, den sie entfaltete und ihm vor die Nase hielt.

„Das ist sie.“ Jesse starrte das Bild an, auf dem ihr Baby in schwarzweiß abgelichtet war. Er nahm es Elly ab und betrachtete jeden Millimeter. Eleonore legte ihr Kinn auf seine Schulter und sah ihm zu.

„Sie hat deine Nase“, flüsterte Jesse und fuhr mit den Fingern über das Bild.

„Na zum Glück“, neckte Elly ihn und küsste ihn auf die Wange. „Du kannst es behalten. Ich habe extra zwei machen lassen.“ Jesse löste endlich seinen Blick von seiner Tochter und küsste Eleonore.

„Danke.“ Elly ergriff schnell seine Hand und legte sie auf ihren Bauch.

„Da. Spürst du es?“, fragte sie und sah ihn erwartungsvoll an. Jesses gesamte Welt schrumpfte auf seine Hand zusammen, an der er ein leichtes Klopfen wahrnahm. Er grinste so breit wie noch nie in seinem Leben.

„Ich kann sie spüren. Hey, Kleines. Ich bin's. Dein Daddy.“
 

Später zog Eleonore ihn damit auf, dass sie ihn nie wieder küssen würde, weil ihre Tochter sie gerne in genau diesen Momenten trat. Jesse wiederum behauptete, dass es wahrscheinlich gar nicht das Baby war, das sich bewegte, sondern die Schmetterlinge, die in ihrem Bauch flatterten.

Er verbrachte die meiste Zeit bei Eleonore. Dem Internat hatte er seine Situation erklärt und sich abgemeldet. Sie versuchten nicht, ihn zum Bleiben zu überreden. Er bekam einen Job im Plattenladen BEATZ, demselben, in dem er auch jetzt wieder arbeitete.

Die Zeit verging. Und während Jesse und Elly der Geburt entgegenfieberten und ihre gemeinsame Zukunft samt Baby planten, sprach Jesse kein einziges Wort mit seiner Mutter. Einmal noch hatte er aufgrund von Eleonores Drängen seine Mutter aufgesucht, doch sie zeigte sich uneinsichtig und hielt es für den größten Fehler seines Lebens.

„Jesse, überleg dir das doch nochmal. Du bist noch so jung. Willst du wirklich deine Zukunft zerstören? Du bist doch so ein kluger Junge. Du solltest etwas aus deinem Leben machen.“

Daraufhin brach er jeglichen Kontakt ab.
 

Und dann kam der Tag, an dem die Wehen einsetzten. Auf dem Weg ins Krankenhaus – Ellys Eltern fuhren selbstverständlich mit – brach Eleonore Jesses kleinen Finger, weil sie seine Hand so fest umklammerte. Er biss jedoch die Zähne zusammen und sagte nichts. Im Krankenhaus ging alles ganz schnell und organisiert. Eleonore wurde sofort in einen Rollstuhl und in die Gynäkologie verfrachtet. Ihr Vater füllte die Papiere aus, während ihre Mutter und Jesse sie in den Kreissaal begleiteten. Jesse war froh, dass Helen dabei war, denn er gab zwar sein Bestes, Elly gut zuzusprechen, da sie völlig hysterisch wurde, aber er war eigentlich selbst ein einziges Nervenbündel.

„Ich kann das nicht. Ich bin noch nicht bereit dazu. Ich werde eine schreckliche Mutter, ich weiß es. Ich schaffe das nicht.“

Jesse hatte sie noch nie so reden hören. Allerdings hatte er sie auch noch nie so schreien gehört. Er fand es beinahe verwunderlich, dass ihm nicht das Trommelfell platzte. Oder ein weiterer Finger brach, so wie Elly seine Hand quetschte. Vorsorglich hatte er ihr die gesunde Hand hingehalten. Sein kleiner Finger hätte weitere Torturen nicht ertragen. Aber all das war nur Nebensache. Seine größte Sorge galt Elly, die von Verzweiflung auf Fluchen umgstieg. Hebammen mussten schon eine Menge Dinge mitangehört haben, dachte Jesse, wenn alle Frauen bei der Geburt so ein loses Mundwerk hatten.

„Scheiße ficken Kackdreck! Fuck!“ Die Hebamme blieb völlig unbeeindruckt und sah Elly ermutigend an.

„Und jetzt nochmal ganz fest pressen. Die Wehe ist gleich vorbei. Nur einmal noch.“ Das Nur einmal noch hatte sie jetzt schon etwa achtmal versprochen. Aber Eleonore schien es nicht aufzufallen.

„Der Kopf ist draußen“, verkündete die Hebamme über Ellys Schrei hinweg. Diese ließ den Kopf, an dem ihr nasse Haarsträhnen klebten, in die Kissen fallen, und schloss erleichtert die Augen.

„Sehr gut, Elly. Bei der nächsten Wehe musst du alles geben. Es soll die letzte werden, okay? Dann hast du es hinter dir. Dann ist dein Baby da“, motivierte Sarah – so stand es auf dem Schild der Hebamme. Jesse strich seiner Freundin über die verschwitzte Stirn.

„Wir haben es gleich geschafft,“ sagte er und war sich dabei durchaus bewusst, dass Eleonore die ganze Arbeit allein machte. Es machte ihn rasend, so nutzlos zu sein. Er hätte gerne die Schmerzen mit ihr geteilt. Zumindest waren seine Nerven stark genug, um ihr beizustehen. Ihr Vater, Pete, wartete lieber draußen. Jesse redete Elly gut zu, weil sie das zu beruhigen schien, und sie entspannte sich ein wenig.

„Du schlägst dich echt klasse.“ Sie öffnete die müden Augen und lächelte ihn erschöpft an. Die Verschnaufpause dauerte jedoch nicht lange, da meldete sich schon die nächste Wehe. Das Schreien und Fluchen begann erneut, aber plötzlich verstummte Eleonore und sackte zurück in die Kissen. Sie hatte wohl ihr Limit erreicht. Sarah versuchte, sie zu animieren, nicht aufzugeben. Doch Eleonore reagierte nicht.
 

„Elly? Elly, hörst du mich?“ Keine Antwort.

„Was ist los?“, fragte Jesse und sah beunruhigt zwischen Elly und Sarah hin und her. Sarah rief nach Hilfe. Und Jesse verfiel in Panik. Helen versuchte, mit Eleonore zu reden, doch sie war nicht ansprechbar. War sie ohnmächtig geworden?

„Elly. Sieh mich an. Wach auf.“ Jesse rüttelte an ihrer Schulter. Nichts. Weitere Personen betraten das Zimmer. Zwei Schwestern und ein Arzt.

„Sie müssen bitte das Zimmer verlassen“, wurden Helen und Jesse angewiesen.

„Was ist passiert?“, fragte Helen panisch.

„Ihre Tochter hat das Bewusstsein verloren. Ich muss sie wirklich bitten, zu gehen.“ Ihnen wurde die Tür vor der Nase zugeschlagen.

„Aber was ist mit meiner Tochter?“ Helen schrie die Tür an. Pete war sofort an ihrer Seite. Jesses Herz sprang ihm beinahe aus der Brust und es fiel ihm schwer, zu atmen. Was bedeutete das denn nun? War Eleonore in Gefahr? Und das Baby? Ein Rauschen erfüllte seine Ohren und er musste sich an die Wand lehnen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Was war passiert? Vor noch wenigen Sekunden hatte Elly sie alle verflucht und geschworen, nie wieder Sex zu haben, damit ihr das auf keinen Fall ein zweites Mal passieren konnte. Und jetzt standen sie hier draußen.

Die Minuten verstrichen so langsam, dass Jesse beinahe verrückt wurde. Er musste wissen, was los war, sonst malte er sich noch das Schlimmste aus. Nein. Nein. Elly ging es gut. Und dem Baby auch. Es konnte gar nicht anders sein. Es durfte nicht anders sein.
 

Jesse sah sich nach dem nächsten Mülleimer um. Nur für den Fall, dass er sich gleich übergeben musste.

Ein Schrei war zu hören. Der Schrei eines Babys. Seines Babys. Jesse fuhr herum. Am liebsten hätte er das Zimmer gestürmt. Das Baby war da. Das hieß, Elly ging es gut. Ein riesiger Stein fiel ihm vom Herzen. Er hätte am liebsten geweint vor Erleichterung. Jetzt würden sie ihn jeden Moment hereinlassen. Er war sauer, weil er den entscheidenden Moment verpasst hatte. Aber Hauptsache, den beiden ging es gut. Doch die Tür öffnete sich nicht.

„Wieso dauert das so lange?“, fragte Jesse an Helen und Pete gerichtet, die selbst wie gebannt auf die Tür starrten. Endlich trat der Arzt heraus.

„Sie sind die Eltern?“, fragte er an die beiden gewandt. Jesse trat zu ihnen, der Arzt musterte ihn einen Moment.

„Ich bin der Vater“, erklärte er. Doch als Jesse seinen Gesichtsausdruck sah, wollte er plötzlich nicht mehr wissen, was er zu sagen hatte.

„Dem Baby geht es gut. Es gab jedoch Komplikationen. Eine Ader im Bauchraum ihrer Tochter ist geplatzt. Wir haben alles getan, um die Blutung zu stoppen. Doch da wir zuerst das Baby herausholen mussten, blieb uns nicht genügend Zeit.“

Jesse hörte die Uhr im Gang laut ticken. Es war wie ein Hammer, der auf ihn einschlug, jede Sekunde aufs Neue.

„Wir konnten die Blutung nicht rechtzeitig stoppen. Es tut mir sehr Leid.“
 

Jesse wollte seine lahme Entschuldigung nicht hören. Er glaubte ihm kein Wort. Eleonore ging es gut. Dieser dahergelaufene Typ in dem weißen Kittel, der so tat, als wäre er etwas besseres, hatte doch keine Ahnung. Vor noch wenigen Minuten war er dort drin gewesen, bei Eleonore, und ihr ging es gut. Sie hatte geschrien und geflucht, ihm seine Finger vor Schmerzen zerquetscht, aber es ging ihr gut. Sie war quicklebendig. Was erlaubte sich dieser Kerl, etwas anderes zu behaupten? Machte er einen grausamen Scherz? Er würde gleich durch diese Tür spazieren, hinter der Eleonore auf ihn warten würde, ihr gemeinsames Kind im Arm.

Aber als Jesse Helen an Petes Schulter sinken sah, bitterlich weinend, traf ihn die Realität wie eine Abrissbirne. Er fühlte sein Herz noch, auch wenn er sich sicher war, dass es nicht mehr schlug. Eleonores Eltern folgten dem Arzt in das Zimmer, doch Jesse blieb genau dort stehen, wo er war. Er konnte sich nicht bewegen. Wollte es auch gar nicht. In diesem Moment hatte er aufgehört, zu existieren.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Silberwoelfin
2017-07-23T17:55:52+00:00 23.07.2017 19:55
Hey
Schön das es schon so bald weiter geht.
Ohje armer Jesse... keine leichte Vergangenheit, war bestimmt ein harter Schlag.
Das ist etwas an dem man lange zu knabbern hat. Hier wird es bestimmt immer wieder Schwierigkeiten mit Lea geben.
Bin gespannt wie Lea die Geschichte aufnimmt.
Jesse wird sich bestimmt nicht trösen lassen und sich etwas zurück ziehen.

Bin gespannt wie es weiter geht.

Bis dann


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