Life is precious von JesLea (Das Leben ist wertvoll) ================================================================================ Kapitel 13: Das Schwesterherz und das Goldkehlchen -------------------------------------------------- Am Samstag verkündete ich meiner Schwester, dass ich mit zu dem Gig fahren würde. Sie freute sich sehr, legte aber gleich darauf die Stirn in Falten. „Woher der plötzliche Sinneswandel?“ Ich zuckte die Achseln. „Einfach so. Mir fällt die Decke auf den Kopf, wenn ich die ganze Zeit nur lerne. Ich brauche eine Auszeit.“ Das war nicht mal gelogen, und es schien Tammy als Begründung zu reichen. „So kannst du aber nicht gehen.“ Sie beäugte meine Jogginghose und den weiten Pulli skeptisch. Sie hatte vollkommen recht. Ich wollte gut aussehen für Jesse. Doch um kein Misstrauen bei Tammy zu erwecken, rollte ich wie immer genervt die Augen. „Bitte übertreib es nicht“, sagte ich nur, als sie begann, in meinem Kleiderschrank zu wühlen. „Wie wär's damit?“ Sie zog ein Top aus dem Regal, das einen ziemlich weiten Ausschnitt hatte. „Nein“, sagte ich mit Nachdruck. Es war eines von Tammys Teilen, die sie mir vermacht hatte, weil sie sie selbst nicht mehr anzog. Mir fehlte eindeutig ihre Oberweite, um das Ding auszufüllen. Sie schien es einzusehen, denn sie legte es wieder zurück. „Das hier?“ Sie hob ein dunkelgrünes T-Shirt hoch, das im Schulter- und Dekolletébereich grobmaschige Verzierungen hatte. Es war hübsch. Ich hatte es erst ein- oder zweimal getragen. „Ist einen Versuch wert“, sagte ich. „Und die Hose dazu.“ Sie hielt mir eine Lederimitathose entgegen und ich schüttelte vehement den Kopf. Wieso besaß ich diese Hose überhaupt? „Zu viel!“ Aber Tammy ignorierte meinen Einwand und drückte mir die Klamotten in die Hand. „Einfach mal anprobieren“, befahl sie und zwinkerte mir zu. Ich seufzte, widersprach jedoch nicht, weil ich wusste, dass ich sowieso den Kürzeren zog. Ich schluckte, als ich in den Spiegel sah. Die Hose war verdammt eng. Das Oberteil war wirklich schön, nur leider konnten die Verzierungen nicht über mein A-Körbchen hinwegtrösten. Was soll's, dachte ich mir, ich kann es sowieso nicht ändern. „Soll ich deine Haare hochstecken?“, fragte Tammy. Wenn sie einmal angefangen hatte, mich zu stylen, war sie kaum wieder zu bremsen. Vielleicht sollte sie das zu ihrem Beruf machen. Ich rümpfte die Nase. „Nein, lieber nicht.“ Ich sah ihr die Enttäuschung sofort an, aber mir waren die Klamotten schon genug Veränderung für einen Abend. „Dann lass mich wenigstens dein Make-up machen.“ Ich bereute es langsam schon wieder, ihr erzählt zu haben, dass ich mitging. Ich hätte einfach schweigen und Jesse mich abholen lassen sollen. Meine Nerven flatterten, sobald ich an ihn dachte. Wir hatten uns gestern nicht gesehen und nur kurz geschrieben. Er war arbeiten, in dem Plattenladen. Beatz hieß er. Ich hatte ihn schon mal gesehen, aber da ich keinen Plattenspieler besaß, hatte ich ihn noch nie betreten. Jesse hatte mir erklärt, dass es auch haufenweise CDs gab. Ich beschloss, ihn mal besuchen zu gehen. „Aber nicht zu viel. Bitte. Ich will nicht aussehen, als wäre ich in einen Farbtopf gefallen“, schärfte ich meiner Schwester ein, die ihren Schminkkasten geholt hatte. „Entspann dich. Ich mache es natürlich, okay?“ Als wir den Club betraten – glücklicherweise fragte mich keiner nach meinem Ausweis – wurde ich nervös. Ich rieb meine Hände an der schwarzen Lederhose, die mir plötzlich noch enger vorkam. Es war schon ganz schön voll. In den paar Wochen, in denen ich mich in mein Schneckenhaus verzogen hatte, hatte es wohl die Runde gemacht, dass Zero wieder auftrat. Tammy sah auf ihr Handy. „Sie sind schon backstage“, sagte sie mir und während sie voranging, kam ich nicht umhin zu bemerken, dass sich vorne an der Bühne bereits eine beträchtliche Menge von Zuschauern drängte – hauptsächlich weibliche. Ich versuchte, das Ziehen in meinem Magen zu ignorieren und konzentrierte mich stattdessen darauf, meine Schwester in dem Getümmel nicht aus den Augen zu verlieren. Ich bemerkte die Blicke, die mir einige männliche Gäste zuwarfen. Ich hätte diese Hose wirklich nicht anziehen sollen. Plötzlich kam ich mir nackt vor. Aber jetzt war es zu spät, etwas daran zu ändern. Der Security öffnete sofort die Tür, als er Tammy sah. Da kam man sich schon ziemlich wichtig vor. Ich schenkte dem muskelbepackten Mann ein dankbares Lächeln und folgte meiner Schwester hinter die Bühne. Es waren nur Ezra, Kurt und Jesse da. „Hey Leute“, kündigte Tammy uns an und umarmte sie einzeln. „Wo ist Brandon?“ „Kämpft noch mit seinen Haaren“, meinte Kurt und zeigte in Richtung Toilette. Meine Schwester ging sofort zu ihm, um ihm zu helfen. „Lea. Schön, dass du da bist.“ Es wunderte mich ein wenig, das von Ezra zu hören, da ich mit ihm nicht besonders viel zu tun hatte und schielte kurz zu Jesse. Ich zuckte die Schultern. „Ich wollte mir das nicht entgehen lassen“, sagte ich und wurde ebenfalls umarmt. „Du siehst hübsch aus“, flüsterte Jesse mir ins Ohr, als ich auch ihn umarmte. Ich merkte, wie ich rot wurde. Wie sollte ich mich verhalten, hier, vor den anderen? Darüber hatte ich bisher nicht nachgedacht. Doch Jesse nahm mir die Entscheidung ab, als er seinen Arm um meine Schulter legte. Ich versteifte mich ein wenig, was Jesse jedoch nicht zu merken schien. Dafür sahen Kurt und Ezra stirnrunzelnd zwischen uns hin und her. „Fred kommt heute zu Besuch, um sich seinen Nachfolger anzusehen.“ Ich war Kurt dankbar, dass er keinen Kommentar über mich und Jesse abließ, aber ich hatte Ezra vergessen. „Moment mal. Habe ich da irgendwas verpasst? Ist es das, wonach es aussieht?“ Er zeigte zwischen uns hin und her und ich versuchte, die Röte zurückzuhalten, die langsam meinen Hals hinaufkroch. „Wonach sieht es denn aus?“, fragte Jesse gelassen und zog mich noch enger an sich. Toll. Ich war hier wohl die Einzige, die sich irgendwie unwohl fühlte. „Was sehen meine lieblichen Augen?“ Glücklicherweise unterbrach Ty uns in diesem Moment, als er durch die bewachte Tür trat. Ich nutzte die Gelegenheit, mich aus Jesses Umarmung zu befreien, unter dem Vorwand, Ty zu begrüßen. Ich war liebend gerne in Jesses Nähe, aber nicht, wenn uns dabei alle neugierig anstarrten. Ty beäugte mein Outfit und stieß einen leisen Pfiff aus. „Lea, du siehst heiß aus.“ Ich murmelte ein Dankeschön. Mit Komplimenten konnte ich nicht besonders gut umgehen. „Finger weg, Ty. Sie ist vergeben“, sagte Ezra mit hämischem Grinsen. Na toll. Ty sah mich erstaunt und neugierig an. „An wen?“ Ezra ließ es sich nicht nehmen, ihm auch diese Information weiterzuleiten, indem er auf Jesse zeigte. „Ist Jen eigentlich auch da?“, versuchte ich ein Ablenkungsmanöver, wurde aber ignoriert. Eigentlich hatte sie ja mit uns herkommen wollen. Doch sie war nicht aufgetaucht. „Wann ist das denn passiert?“ „Wann ist was passiert?“, kam nun Brandons Stimme dazu. Er gesellte sich mit Tammy wieder zu uns. Oh nein, nicht meine Schwester. Ich wollte ihren skeptischen Blick nicht sehen und ihre Predigt nicht hören – mit der sie hoffentlich wartete, bis wir zuhause waren. „Hi, Brandon“, versuchte ich nochmals, das Gespräch zu unterbrechen. Er winkte mir kurz zu. „Na, die beiden.“ Ty zeigte auf Jesse und mich – ich hatte mich absichtlich nicht wieder direkt neben ihn gestellt. Ich beschloss, dass dies der richtige Moment war, um meine Augen auf den hässlichen schwarzen Boden zu heften. „Wie, die beiden?“, fragte Tammy. Konnten wir nicht einfach über was anderes reden? „Die zwei Turteltauben hier. Dein liebes Schwesterherz und unser Goldkehlchen.“ Ich biss mir auf die Lippe und nahm mir fest vor, diesen Spitznamen für Jesse im Gedächtnis zu behalten, sollte er mich nochmal Eisprinzessin nennen. „Lea?“, hörte ich die ungläubige Stimme meiner Schwester. Ich atmete tief durch und beschloss, meine Schwester davon abzuhalten, mir hier eine Szene zu machen, weil sie mit der Wahl meines Freundes nicht einverstanden war. „Tamara.“ Ich benutzte ihren vollen Namen, den eigentlich nur unsere Mutter in den Mund nahm, wenn sie ein Hühnchen mit ihr zu rupfen hatte. Ich sah ihr fest in die Augen, entschlossen, nicht als Erste wegzusehen, sollte das ein Starrwettbewerb werden. Sie öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder und setzte auch nicht erneut an. Ich war erstaunt, wie einfach das war. Sie schielte kurz zu Jesse herüber und ich hoffte, dass er in ihrem Blick nicht dasselbe lesen konnte wie ich. Ty klatschte in die Hände. „Okay. Zeit für den Auftritt. Macht euch fertig.“ Ich war mir nicht sicher, ob er die aufkommende dicke Luft bemerkt hatte, oder ob die Zeit wirklich drängte, jedenfalls war ich ihm sehr dankbar für die Unterbrechung. „Viel Glück.“ Als Letztes blieb mein Blick an Jesse hängen und ich hätte ihn auch gerne umarmt und geküsst, so wie Tammy es gerade bei Brandon machte. Doch ich tat es nicht. Ich ging mit Ty und meiner Schwester zurück in den Club. Der Auftritt war unglaublich. Sie waren viel besser als beim letzten Mal. Natürlich. Sie hatten inzwischen geprobt, sich eingespielt und aneinander gewöhnt. Jesse verhielt sich auf der Bühne, als wäre er dafür geboren. Ich versuchte, die weiblichen Groupies vorne an der Bühne zu ignorieren und auch, wie er ihnen zuzwinkerte. Es war nur eine Show, rief ich mir ins Gedächtnis, und schluckte die aufkommende Eifersucht herunter. Meine Zweifel wurden jedes Mal weggewischt, wenn er mich ansah und sich ein Grinsen auf seine Lippen schlich. Das ich diejenige war, die dies hervorrief, war für mich immer noch unverständlich, aber gleichzeitig gab es meinem Selbstbewusstsein einen gewaltigen Push. Ty holte uns Drinks, die ziemlich stark waren, aber ich konnte jetzt ein wenig Alkohol gebrauchen. Ich sollte mich entspannen und die Show einfach genießen, anstatt mir den Kopf zu zerbrechen. Tammy wartete erstaunlich lange, bis sie mich auf Jesse ansprach. „Stimmt das?“, fragte sie nur. Sie musste sich nicht genauer erklären. Ich atmete tief durch, um Ruhe zu bewahren und nahm noch einen Schluck von dem Drink. „Ja, es stimmt“, sagte ich schlicht. Sie sah mich einen Moment an, als würde sie mich nicht kennen und das versetzte meinem Herz einen Stich. „Wie.. ich meine, seit wann?“ Ich warf einen kurzen Blick zur Bühne und zuckte die Achseln. „Nicht lange.“ Sie sah mich stumm an und wollte mich dadurch zum Reden bringen, doch ich schwieg beharrlich. „Ich hoffe, du weißt, was du tust.“ Ich wurde wütend. „Du kennst ihn doch gar nicht“, verteidigte ich Jesse, weil ich es satt hatte, wie sie ihn verurteilte. Mir war klar, dass ich vor ein paar Wochen noch genauso gedacht hatte, wie sie. Zum Glück konnte man seine Meinung immer ändern. „Du hast Recht“, stimmte Tammy mir überraschenderweise zu. „Kennst du ihn denn?“ Besser als du, wollte ich sie angiften, doch sie hatte ja nicht ganz Unrecht. Ich wusste nicht viel über Jesse. Aber ich wusste, dass er so hilfsbereit war, mir Nachhilfe zu geben. Ich wusste, dass er der Einzige war, der Rob nicht verurteilte hatte, wegen seinem Lampenfieber. Ich wusste, wie sich ein sanftes Lächeln auf seine Lippen schlich, wenn er mit den Katzen im Tierheim spielte. Und ich wusste, dass er in der Kälte ausgeharrt hatte, als ich betrunken auf der Schaukel seines Bruders gesessen hatte. „Ich vertraue ihm“, sagte ich und meinte es genauso. Tammy seufzte und schien sich geschlagen zu geben. „Versprich mir nur, dass du vorsichtig bist.“ Ich verdrehte die Augen. Sie musste nochmal nachsetzen und das letzte Wort haben, war ja klar. „Ist gut“, sagte ich schlicht, weil ich wusste, dass sie sich letztendlich nur Sorgen machte und mich davor bewahren wollte, verletzt zu werden. In einem plötzlichen Impuls umarmte ich sie und sie wollte mich gar nicht mehr loslassen. Glücklicherweise endete das Lied in diesem Moment und ich konnte mich ihr unter dem Vorwand entziehen, begeistert Beifall zu klatschen. Ich merkte langsam, wie mir der Kopf schwirrte und sah auf mein leeres Glas. Das musste starkes Zeug gewesen sein. Ich nahm mir fest vor, heute keinen Alkohol mehr anzurühren. Dass Jesse mich einmal sturzbetrunken erlebt hatte, reichte vollkommen. Nach einer Zugabe, die die Zuschauer vehement verlangten, kamen die Jungs von der Bühne und gesellten sich zu uns. Naja, Ezra und Kurt wurden direkt auf dem Weg von ein paar Mädels aufgehalten, die sie überschwänglich komplimentierten. Brandon kam sofort zu uns. Jesse machte noch einen kurzen Abstecher an die Bar und holte ein Tablett voll Shots. Er verteilte sie an alle, für jeden drei, und ich schluckte schwer. Er schien meinen Blick zu bemerken und legte wieder seinen Arm um meine Schulter. „Möchtest du nicht?“, fragte er leise, während sich Tammy, Brandon und Ty lautstark über den Auftritt unterhielten. Ich schüttelte leicht den Kopf. „Nein. Ich glaube, ich sollte heute nichts mehr trinken.“ Ich drehte mein leeres Glas zwischen den Händen. Er nahm zwei meiner Shots und stellte einen vor sich, den anderen vor Brandon. „Nur einen? Zum Anstoßen?“ Ich wusste, er wollte mich nicht betrunken machen und er würde auch nicht weiter drängen, wenn ich Nein sagte. Aber wie sollte ich ihm widerstehen, wenn er mich so ansah und mir so nahe war? Ich war immer noch überwältigt, dass er seinen Arm um mich gelegt hatte, und nicht um eines der vielen Mädchen, die sich momentan mit Kurt und Ezra vergnügten. „Hoch die Tassen“, forderte Brandon und wir alle hielten unsere kleinen Gläser über die Mitte des Stehtisches, um miteinander anzustoßen. Glücklicherweise war das rötliche Getränk ziemlich süß und brannte nicht in der Speiseröhre. Davon hätte ich tatsächlich noch mehr trinken können, aber es war klüger, meine Drinks den Jungs zu überlassen. „Ich geselle mich mal zu den Fluten der Groupies“, sagte Ty, seine restlichen Shots in Händen. Ich fand es etwas seltsam, zusammen mit Jesse meiner Schwester gegenüberzustehen, die sich offensichtlich darum bemühte, uns nicht anzustarren. Mit Publikum kam ich mir noch unsicherer vor als sonst und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Brandon, Jesse und Tammy leerten ihr zweites Glas und ich hatte das Gefühl, dass ich vielleicht doch noch einen Shot brauchen würde, um mich zu entspannen. Ich nahm Jesse seinen vierten Shot wieder ab, wofür ich einen fragenden Blick erntete. „Cheers“, sagte ich und wartete kaum, bis er mit mir angestoßen hatte, um den süßen Alkohol meine Kehle herunterzuschütten. „Tanzen?“, fragte Tammy an Brandon gerichtet und er ließ sich ergeben mitziehen. Somit waren wir allein. Ich war mir nicht sicher, ob mir das nun lieber war. Ich scannte mit meinen Augen den Club und beobachtete die Leute. Jesse legte eine Hand an meine Hüfte und ich bekam trotz der Hitze hier drin eine Gänsehaut. „Möchtest du auch tanzen?“ Seine Lippen waren ganz dicht an meinem Ohr. Wollte ich? Keine Ahnung, mein Gehirn funktionierte nicht richtig, wenn er mir so nah war. Ich bewegte mich eigentlich gerne zu Musik, aber eher in meinem Zimmer - allein. Ich zuckte die Achseln und sah zu ihm auf und verdrehte mir dabei fast den Kopf, weil er eher hinter als neben mir stand. „Weiß nicht. Willst du?“ Ich hatte keine Ahnung, ob Jesse tanzen konnte oder nicht. Er besaß natürlich Rhythmusgefühl und bewegte sich auf der Bühne zur Musik, aber das war etwas anderes. „Ich tanze nicht. Aber ich würde dir dabei zusehen.“ Ein schelmisches Grinsen zierte seine Lippen. „Das hättest du wohl gern“, lachte ich und hatte gleichzeitig keinen Zweifel, dass er das wirklich machen würde. Die Vorstellung, wie er jede meiner Bewegungen genau beobachtete, trieb mir die Röte ins Gesicht. Ich musste mir das wirklich abgewöhnen. Einerseits das Rotwerden, andererseits die Fantasien, die sich in letzter Zeit zu häufen schienen. Er küsste mein Haar und zog mich näher an sich. Jetzt stand ich direkt vor ihm und mein Rücken berührte seine Brust. Ohne weiter darüber nachzudenken, lehnte ich mich an ihn und genoss einfach das Gefühl, ihm nahe zu sein. Wie auf Stichwort wurde eine Ballade gespielt. Jesse ergriff meine Hände und verschränkte seine Finger mit meinen. Seine Wange streifte meine, als er sich vorbeugte und mir ins Ohr flüsterte. „Sollen wir hier abhauen?“ Ich könnte zwar ewig so dastehen, aber bald würde wieder Partymusik ertönen. Und der Gedanke, den wachenden Augen meiner Schwester zu entschwinden, war sehr verlockend. Ich nickte stumm. Wir nahmen ein Taxi und Jesse gab seine Adresse an. Ich wurde nervös, weil ich nicht wusste, was er vorhatte. Um mich abzulenken, schrieb ich Tammy eine SMS, damit sie sich keine Sorgen machte. Wahrscheinlich machte ihr aber genau das Sorgen, überlegte ich, nachdem ich die Nachricht abgeschickt hatte. Es war glücklicherweise eine kurze Fahrt und wir hatten einen redseligen Taxifahrer. Im Haus brannte Licht. Irgendwie war ich froh darüber. Wenn jemand zuhause war, würde Jesse hoffentlich nicht auf dumme Gedanken kommen. Kaum hatten wir das Haus betreten, kam Lydia in den Flur. „Jesse, du bist schon zurück?“, rief sie, während sie um die Ecke bog und staunte nicht schlecht, als sie mich erblickte. „Lea, hi. Schön, dich zu sehen.“ Ich lächelte und erwiderte ihre Umarmung. Sie sagte zwar nichts, aber man merkte ihr an, dass sie definitiv niemals damit gerechnet hätte, mich hier anzutreffen. Ich konnte es ihr nicht verdenken. „Wie war der Auftritt?“, fragte sie und ging in die Küche. Da Jesse ihr folgte, ging ich ebenfalls mit. Er lief sofort zum Kühlschrank und holte einen Riesenpottich Stracciatella-Joghurt heraus. „Ganz okay. Adam zahlt gut.“ Ganz okay. Jesse hatte wohl keine Ahnung, wie gut er wirklich war. Oder er war einfach nur bescheiden. Wohl eher Ersteres. „Willst du auch?“, fragte er mit Blick auf mich und deutete auf das Joghurtglas. Ich schüttelte den Kopf, doch er nahm trotzdem zwei Löffel aus der Schublade. „Ist Greg noch arbeiten?“ Was, so spät noch? Es war mindestens zehn. Ich warf einen Blick auf die Wanduhr. Viertel vor elf. Lydia zog die Nase kraus. „Ja. Wichtige Kunden. Blabla. Du weißt schon.“ Jesse lächelte sie kurz an und ich fand es ziemlich faszinierend, dem Gespräch zu lauschen. Jesse in seinem familiären Umfeld zu sehen war neu für mich. Er wirkte irgendwie viel entspannter. Nicht, dass er sonst in irgendeiner Weise angespannt war, aber ich war mir ziemlich sicher, bei mir zuhause wäre ich viel nervöser – vor allem, wenn meine Eltern dort wären. Naja, Lydia war schließlich nicht seine Mutter. Es würde mich interessieren, wie er sich seinen Eltern gegenüber verhielt. „Helen hat vorhin angerufen.“ Etwas an der Art, wie Jesse für einen Moment innehielt, ließ mich vermuten, dass er nicht erfreut war über diese Information. Das, oder darüber, dass ich mithörte. Er fing sich aber schnell wieder und bevor er mir einen Blick zuwarf, schaute ich schnell weg und tat so, als würde ich das Gewürzregal studieren. „Wann?“ Lydia wiegte den Kopf. „So vor zwei Stunden“, antwortete sie. „War es was Wichtiges?“ „Nein, alles in Ordnung. Ich habe ihr gesagt, dass du heute erst spät heimkommst. Du kannst sie morgen zurückrufen.“ Jesse nickte. „Mach ich.“ Er drängte mich aus der Küche und Lydia rief uns ein Gute Nacht hinterher. Ich wurde beinahe rot und wünschte ihr synchron mit Jesse dasselbe. Gute Nacht. Blieb ich denn über Nacht? Ich hatte mich noch nicht entschieden. Aber dieses Problem schob ich beiseite, denn die viel wichtigere Frage war: Wer war Helen? Dem Gespräch war nichts Besonderes zu entnehmen gewesen. Sie könnte seine Mutter sein, oder eine andere Verwandte. Seine Chefin, oder Arbeitskollegin. Aber seine Reaktion beim Erwähnen ihres Namens machte mich misstrauisch. Sicher ging nur meine Fantasie mal wieder mit mir durch. Wenn Helen jemand wäre, von dem ich besser nichts wissen sollte, hätte Lydia sie niemals erwähnt. In Jesses Zimmer sah es noch genauso chaotisch aus wie beim letzten Mal. „Was hältst du von Heimkino?“, fragte Jesse und machte die Tür hinter uns zu. Er schloss nicht ab, was mich irgendwie beruhigte. „Gibt's auch Popcorn?“, fragte ich rhetorisch und erinnerte mich an den Kinobesuch, der schon eine Ewigkeit zurückzuliegen schien. „Ich dachte, du magst kein Popcorn.“ Als Antwort streckte ich ihm nur die Zunge raus. Er hockte sich im Schneidersitz auf den Boden vor ein Regal und wühlte darin herum. Ich gesellte mich zu ihm. Für einen Moment hatte ich Angst, dass die Hose reißen könnte, weil sie so eng war. Das wäre ziemlich peinlich. Doch der Hersteller hatte in kluger Voraussicht Elasthan in den Stoff miteingearbeitet. „Irgendwelche bestimmten Wünsche?“, fragte er, während ich die Titel der DVDs überflog. Es waren nicht besonders viele, aber die Auswahl gefiel mir. „Such du aus“, sagte ich, hauptsächlich, weil ich Jesses Geschmack testen wollte. „Kennst du den?“ Er hielt mir ein mir bekanntes Cover vor die Nase. „Ich liebe Good Will Hunting.“ Bei dem Film würde ich nicht Gefahr laufen, mich bei gruseligen Szenen zu erschrecken, oder wegen einem traurigen Ende zu heulen. „Gut.“ Er stellte seinen Laptop auf den Schreibtisch, sodass wir vom Bett eine gute Sicht darauf hatten. Das Bett... Ich studierte weiterhin seine kleine Filmsammlung, weil ich den Moment, bis ich mich auf die Matratze setzte, so lange wie möglich herauszögern wollte. Mein Handy klingelte und Tammys Name erschien auf dem Display. Ich wusste, es war einfacher, gleich ranzugehen, anstatt sie fünfmal wegzudrücken. „Hey, was gibt’s?“ Ich hörte laute Musik im Hintergrund. Sie waren noch immer im Club. „Hey, Lea. Wir fahren so in 'ner halben Stunde nach Hause. Sollen wir euch irgendwo abholen und mitnehmen?“ Ich schwieg einen Moment. „Nein“, sagte ich dann schlicht. „Wo seid ihr?“ War das ihr Ernst? „Bei Jesse“, sagte ich. Wir warfen uns gleichzeitig einen Blick zu. Deine Schwester?, formte er mit dem Mund und ich nickte und verdrehte die Augen. Einige Sekunden herrschte Stille. Es hatte ihr wohl die Sprache verschlagen. „Kommst du heute noch nach Hause?“ Wieso fragte sie nicht direkt, ob ich bei Jesse schlief – oder besser noch: mit ihm. Denn das war es, was sie eigentlich wissen wollte. „Nein, wahrscheinlich nicht“, war die Antwort auf beide Fragen. Ich wusste genau, dass sie noch einen Kommentar abgeben wollte, doch sie überraschte mich und schwieg. Jesse winkte mich währenddessen zu sich und ich setzte mich neben ihn auf die Matratze. Nicht zu nah, aber auch nicht so weit weg, dass es wirkte, als würde ich Sicherheitsabstand halten. Tammy seufzte am anderen Ende der Leitung. „Okay. Ich sag Mom Bescheid, damit sie sich keine Sorgen macht.“ Das war ärgerlich, weil sie mir dann hunderte von Fragen stellen würde und ich ihr letztendlich von Jesse erzählen musste, aber unvermeidlich. „Okay. Danke.“ Ich legte auf, bevor sie ihre Meinung doch noch änderte und versuchte, mich zu überreden, mit nach Hause zu kommen. Ich schaltete das Handy gleich ganz aus, nur zur Sicherheit. Jesse sah mir amüsiert zu. „Was sagt sie?“, wollte er wissen. Ich winkte ab. „Nichts Wichtiges. Lass uns den Film ansehen.“ Jesse drückte auf Play und ich versuchte, es mir bequem zu machen. Diese Hose war definitiv nicht zum Rumlümmeln geeignet. Jesse reichte mir einen Löffel und öffnete das riesige Joghurtglas. Während dem Vorspann sah ich ihm unauffällig beim Essen zu. Hin und wieder aß ich auch etwas von dem Stracciatellajoghurt und sobald Matt Damon, Ben Affleck und Robin Williams über den Bildschirm flatterten, war ich vollkommen in den Film vertieft. Irgendwann legte Jesse seinen Arm um meine Schultern und ich lehnte mich reflexartig an ihn. Es kam mir vor, als wäre es schon immer so gewesen, so einfach zwischen uns. Dabei hatte es erst vor ein paar Tagen richtig angefangen. Ich genoss das Gefühl, sein Herz schlagen zu hören und zu spüren, wie sich seine Brust beim Atmen hob und senkte. Er zeichnete mit seinen Fingern kleine Kreise auf meinen Arm und lenkte mich damit ziemlich ab. Er lehnte seinen Kopf an meinen und ich befürchtete, vor Glücksgefühlen gleich zu zerspringen. Die entspannte Atmosphäre endete abrupt, als der Film vorbei war. Und was jetzt? Jesse schaltete den Laptop aus, während ich in dem beinahe leeren Joghurtglas herumstocherte, nur um etwas zu tun zu haben. Ich war ziemlich müde und ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen, als in Jesses Armen einzuschlafen. Aber wie sollte ich ihm klarmachen, dass für mich momentan nicht mehr drin war? Zumindest noch nicht. Ich ertappte ihn dabei, wie er seinen Blick über meinen Körper schweifen ließ und ignorierte die Hitze, die durch meine Adern schoss. „Möchtest du was von mir zum Schlafen? Diese Hose sieht nicht gerade bequem aus.“ Ich räusperte mich. „Obwohl ich es liebe, wie sie an dir aussieht.“ Ich wollte ihn schon damit aufziehen, dass er selbst auch immer ziemlich enge Jeans trug, ließ es aber bleiben, weil ich meiner Stimme gerade nicht traute. Er grinste zufrieden und ich blieb stumm, weil ich mit Komplimenten nicht besonders gut umgehen konnte. „Eine andere Hose wäre nicht schlecht“, gab ich zu. Jesse wühlte in seinem Schrank und zog eine graue Jogginghose heraus, die er mir reichte. „T-Shirt?“, fragte er und ich nickte. Ich war ziemlich froh, dass er mir Wechselkleidung anbot und nicht davon ausging, dass wir in absehbarer Zeit gar keine Klamotten mehr anhatten. „Wo ist das Bad?“, fragte ich. „Direkt gegenüber.“ Ich starrte mich einige Sekunden im Spiegel an. Jesses Sachen waren mir viel zu groß. Sein T-Shirt sah an mir aus wie ein Zelt und die Jogginghose musste ich fest zuschnüren, damit sie nicht über meine schmale Hüfte rutschte. Der Stoff der Hosenbeine sammelte sich um meine Zehen, weil Jesse viel größer war als ich. Meinen BH hatte ich anbehalten, das Oberteil und die Hose zusammengelegt. Ich nahm mir die Freiheit, eine der auf dem Regal stehenden Cremes zu benutzen, um mich abzuschminken. So fühlte ich mich schon viel wohler. Ich fragte mich, wie ich Jesse besser gefiel. Ich atmete noch einmal tief durch und ging dann zurück in sein Zimmer. Er lag bereits im Bett, die Decke bis zum Bauchnabel hochgezogen, und scrollte durch sein Handy. Er beobachtete mich, als ich meine Kleidung auf den Stuhl legte. „Darf ich?“, fragte ich und deutete auf den Plattenspieler. Ich wollte hauptsächlich Zeit schinden, und vielleicht würde mich die Musik auch ein bisschen beruhigen. Ein kurzer Blick auf Jesses Wecker verriet mir, dass es bereits kurz nach eins war. Ich war wirklich müde. „Sicher.“ Ich zog wahllos einen Umschlag aus dem Stapel und legte die Platte auf. Ich mochte das Knacken, das am Anfang ertönte. Let's misbehave stand auf der Scheibe, die sich nun unaufhaltsam drehte und begann, Töne zu erzeugen. Ich fragte ihn, ob er die gesamte Sammlung aus dem Laden hatte, in dem er arbeitete. „Nein. Die meisten sind von meinem Vater.“ Ich setzte mich auf die Bettkante und wartete, ob er noch mehr sagen würde, aber er schwieg und legte sein Handy weg. Ich wollte ihn fragen, was zwischen ihm und seinen Eltern falsch gelaufen war, dass er nun bei seinem Bruder wohnte. Aber ich hatte das Gefühl, jetzt wäre nicht der richtige Zeitpunkt, um das Thema anzusprechen. Jesse hob die Decke ein wenig an und klopfte auf den leeren Platz neben sich. „Komm her.“ Ich folgte seiner Anweisung und legte mich neben ihn. Ich starrte eine Weile stur an die Decke und versuchte, mich auf die Musik zu konzentrieren. Sie half nicht wirklich. „Lea?“ Mir fiel wieder einmal auf, wie sehr ich seine Stimme mochte. „Hm?“ Ich drehte den Kopf zur Seite und sah direkt in seine grünen Augen. Er lächelte. „Was ist?“, fragte ich, weil ich das Gefühl hatte, einen Witz verpasst zu haben. Sein Lachen wurde noch breiter und er biss sich auf die Lippe, um es zu verschleiern. „Hattest du schon mal einen Freund?“ Natürlich. Zwei sogar. Den letzten, als ich fünfzehn war. Aber das war nicht die eigentliche Frage. Ich wusste genau, worauf er hinauswollte, und ich war dankbar, dass er die Worte nicht in den Mund nahm, weil ich sonst knallrot angelaufen wäre. Es hatte da einen Typen gegeben, der mich entjungfert hatte, kurz nachdem Natalie weg war und ich in meine erste Depression gestürzt war. Ich hatte getrunken und erinnerte mich an nicht besonders viel. Nur daran, dass es mir nicht gefallen hatte. Seitdem war ich nicht mehr besonders scharf auf Sex. „Nicht wirklich“, erwiderte ich. „Dachte ich mir schon“, sagte er und ich runzelte die Stirn. „Was soll das denn heißen? Dass mich eh keiner haben will?“ Es rutschte mir einfach so heraus und ich bereute die Worte sofort. Ich biss mir auf die Zunge und schloss für einige Sekunden die Augen. Ich spürte Jesses Hand, die über meine Wange strich. „Nein, so habe ich das ganz bestimmt nicht gemeint.“ Ich wollte keine Zicke sein, und ich wollte auch nicht so unsicher sein, aber zumindest zweiteres war nicht so einfach umzusetzen. „Tut mir Leid“, flüsterte ich und öffnete meine Augen wieder. Ich nahm seine Hand und fuhr mit meinen Fingern die Tattoos nach, die sich über seinen Arm verteilten. Ich mochte den Anker, der in der Mitte seines Unterarms prangte. „Gibt es einen Grund dafür, dass deine Schwester so einen ausgeprägten Beschützerinstinkt hat?“, fragte Jesse, während er mir zusah, wie ich über die Tinte auf seiner Haut strich. Ich war froh über den Themenwechsel. „Es ist dir also aufgefallen, ja?“ Natürlich war es ihm aufgefallen. Meine Schwester war nicht gerade gut darin, ihre Sorge für mich zu verbergen. „Sie ist nur so, weil...“ Wenn ich jetzt anfing, ihm die Wahrheit zu sagen, würde eine Frage die andere jagen und dann würde Jesse zwangsläufig klar werden, dass ich ein einsamer Freak mit einem psychischen Knacks war. „Auf der Party, als ich auf dem Balkon war... Du weißt schon.“ Als ich dich gestalkt habe, fügte ich in Gedanken hinzu. „Ich bin gegangen, ohne irgendwem was zu sagen. Das hat sie in Panik versetzt.“ Ich hatte keine Ahnung, ob ihn das überzeugte, also setzte ich zur Sicherheit noch nach. Außerdem war es ja nicht wirklich gelogen. Es war eben nur ein winzig kleiner Teil der Wahrheit. „Und als wir dann hier waren, bei der Einweihungsparty, und ich mich völlig betrunken habe...“ Jesse grinste. „Ja, daran erinnere ich mich.“ Ich vergrub mein Gesicht an seiner Schulter, weil es mir noch immer peinlich war. „Das hat ihr, glaube ich, den Rest gegeben. Sie vertraut einfach nicht darauf, dass ich selbst auf mich aufpassen kann.“ Womit sie ja auch irgendwie Recht hatte. Jesse schob einen Arm unter meinen Kopf und ich ließ mich gerne von ihm näher an sich ziehen. Mein Ohr ruhte auf seiner Brust, sodass ich sein Herz schlagen hören konnte. „Dann passe ich ab jetzt auf dich auf“, flüsterte er in mein Haar. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)