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Life is precious

Das Leben ist wertvoll
von

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Eisprinzessin

Am Donnerstag war Kino angesagt. Tammy und Jen waren immer noch auf dem Lea-Beschäftigungs-Trip. Ich hätte ihnen beinahe erzählt, dass ich am Sonntag bei Kasper gewesen war, aber das hätte nur weitere Fragen aufgeworfen und außerdem hätten sie sofort mehr hineininterpretiert.

Jen und Tammy wollten in eine Romantische Komödie oder eine Schnulze gehen. Eigentlich war ich kein Fan von sinnlosem Hin und Her, Herzschmerz und dem voraussichtlichen Happy End. Aber wie so oft wurde ich nicht groß gefragt.

Unsere Pläne gingen beinahe den Bach runter, als unser Dad ein geschäftliches Meeting für diesen Tag aufs Auge gedrückt bekam. Das hieß: kein Auto. Und mit dem Bus bis zum Bahnhof zu fahren, um von dort aus nochmal eine halbstündige Fahrt zum Kino zurückzulegen, war uns eindeutig zu teuer. Jen war so frei und telefonierte mit den Jungs, ob sie ebenfalls Lust auf einen Film hätten. Brandon war der Einzige, der Zeit hatte und bot an, uns abzuholen. Mir selbst wäre es unangenehm, ihm solche Umstände zu bereiten, aber Tammy und ihre Freundin schienen es für selbstverständlich zu halten.
 

„In welchen Film gehen wir jetzt eigentlich?“, fragte ich rechtzeitig vor der Abfahrt. Ich wollte nicht in einem Horrorfilm landen. Jen zuckte die Achseln.

„Keine Ahnung. Wir haben gesagt, wir entscheiden spontan. Die meisten Filme fangen zwischen acht und neun an, da sind wir auf jeden Fall rechtzeitig da.“ Das hoffte ich. Es gab nichts Schlimmeres, als im Kino in der ersten Reihe zu sitzen, sich den Hals nach oben zu verrenken und davon Kopfschmerzen zu bekommen. Um sieben, pünktlich auf die Minute, hupte draußen ein Auto. Tammy stakste mit ihren hohen Schuhen voraus, gefolgt von mir und Jen. Es war unübersehbar, dass meine Schwester Brandon ziemlich gerne hatte, doch als wir vor die Tür traten, fiel ihr breites Lächeln in sich zusammen. Da stand nicht Brandons Wagen, sondern – tja, wessen Wagen eigentlich? Es stieg niemand aus, die Scheiben waren dunkel getönt und ich konnte bei bestem Willen nicht sagen, wer von den Jungs ein solches Auto fuhr. Jen stieg vorne ein, ich hinter dem Fahrersitz und Tammy neben mir. Noch während ich mich setzte, registrierte mein Gehirn, wer da am Steuer saß, und beinahe wäre ich wieder aufgesprungen und rückwärts aus dem Auto gestiegen.

„Ladies“, sagte Jesse zur Begrüßung, ohne dabei wirklich charmant zu klingen. Das sollte man eigentlich, wenn man Ladies sagte, fand ich zumindest. Oder hatte er sich das von seinem großen Bruder abgeschaut?Außerdem hatte er doch seine eigene Lady, sollte er nicht lieber Zeit mit der verbringen? Sofort wünschte ich, ich hätte Nein zum Kino gesagt.

„Wo ist Brandon?“, fragte Tammy, nachdem sie Jesse Hallo gesagt hatte.

„Verspätet sich ein bisschen. Er hat mich gebeten, euch schon mal abzuholen, damit wir noch rechtzeitig Karten kaufen können.“
 

Wir? Na toll, ging er etwa mit ins Kino? Hatte er keine eigenen Freunde? Musste er unbedingt mit Brandon und den Jungs abhängen? Eine leise Stimme flüsterte in meinem Innern, dass Jesse schon zu der Clique gehört hatte, noch bevor ich sie überhaupt kennengelernt hatte. Doch ich ignorierte das und fand, dass ich völlig im Recht war, wenn ich jetzt sauer auf Jesse war. Wenn ich mir vorstellte, wie er im Kino vielleicht neben mir saß, wurde mir ganz anders. Ich konnte nur leider nicht eindeutig feststellen, ob gut-anders oder schlecht-anders. Ich seufzte, anstatt ihn zu begrüßen und fing seinen amüsierten Blick im Rückspiegel auf. Machte er sich etwa lustig über mich? Schnell sah ich aus dem Fenster und verschränkte die Arme vor der Brust. Sobald Jesse den Wagen startete, heulte der Motor auf. Im Gegensatz zum Auto seines Bruders war dieses hier nicht halb so ordentlich. Überall lagen zerknüllte Papierchen - wahrscheinlich Strafzettel - ,leere Getränkedosen und… Klamotten?

„Nett, dass du uns abholst“, begann Jen Konversation. Überrascht registrierte ich, wie Jesse ihr ein Lächeln schenkte. Verdammt, sah er gut aus, wenn er lächelte. Ich musste den Blick abwenden, weil ich nicht wahrhaben wollte, dass mein Herz wegen ihm schneller schlug. Ich kannte ihn kaum, eigentlich gar nicht. Ich wusste weder, wie alt er war, noch seinen Nachnamen oder sonst irgendwas. Und außerdem hatte ich ja eigentlich beschlossen, ihn nicht zu mögen. Ich überlegte einen Moment, ob es vielleicht möglich wäre, ihn weiterhin nicht zu mögen und trotzdem sein Äußeres anzuschmachten. Es war eigentlich hauptsächlich seine Ausstrahlung, die mich so faszinierte und ich fragte mich, ob Jesse nur auf mich diese Wirkung hatte. Ich musste an das Mädchen im McDonalds denken. Ganz offensichtlich nicht.

„Und? In welchen Film wollt ihr?“ Ich starrte auf Jesses Nacken zwischen Kopf- und Rückenlehne. Seine Haare kräuselten sich unter seiner Mütze hervor. Gerne würde ich sie mal anfassen.

Oh mein Gott, was passierte hier mit mir? Ich versuchte, einen Blick auf seine Tattoos zu erhaschen, um mir ins Gedächtnis zu rufen, dass er eigentlich gar nicht mein Typ war. Doch er trug einen langen Strickpullover. Nur an seinem Daumen konnte ich eine kleine schwarze Stelle erkennen, die jedoch größtenteils von einem silbernen Ring verdeckt wurde. Ich mochte seine Hände.

„Wir haben uns noch nicht entschieden“, beantwortete Tammy seine Frage. Zu meiner Verwunderung begann er ausschweifend über die momentan laufenden Filme zu erzählen – natürlich nur diejenigen, die für ihn interessant waren. Also nichts mit Schnulze oder romantischer Komödie. Immerhin hatte er einen guten Geschmack, was das betraf. Jen und Tammy diskutierten mit ihm, in welchen Film wir gehen sollten, und ich tat so, als würde ich die Gegend betrachten, während ich seiner Stimme lauschte. Sein Timbre war wundervoll. Er könnte Hörbuchsprecher werden. Ich stellte mir vor, wie ich im Bett lag und seine Stimme mich in den Schlaf lullte. Hör auf, schalt ich mich selbst, doch es nützte nichts.

„Und du, Eisprinzessin?“ Oh nein, nicht schon wieder.

„Nenn mich nicht so“, erwiderte ich eingeschnappt und kam mir wie ein Kind vor, als ich ihm einen bösen Blick im Rückspiegel zuwarf, den er dieses Mal eindeutig registrierte.

„In welchen Film möchtest du?“, fragte er und überging meinen Einwand dabei beflissentlich. Ich hatte keine Ahnung. Ich hatte nicht aufgepasst, als er erzählte, was alles lief. Also, zugehört hatte ich schon, aber ich konnte mich nur noch an den Klang seiner Stimme erinnern, nicht an die Worte. Ich musste verrückt geworden sein. Ich zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung. Mir egal.“ Noch immer klang ich wie eine bockige Achtjährige.

„Willst du lieber Schlittschuhlaufen gehen?“ Er ärgerte mich mit Absicht – schon wieder.

„Nein, danke. Ich bin nicht scharf auf einen weiteren Crash.“ Ich versuchte, mich zu beruhigen. Er brachte mich in nur wenigen Sekunden auf die Palme.

„Dafür hast du dich aber ziemlich eng an mich geklammert.“ Ich wollte ihn schlagen. Hier, sofort. Mir war egal, ob wir von der Straße abkamen. Ich wollte ihm einfach nur wehtun.

„Du hast mich gerammt“, erhob ich meine Stimme.

„Hört auf“, unterbrach uns Jen und sah zwischen uns hin und her.

„Was soll denn das? Wir sind hier nicht im Kindergarten.“ Ihr Kommentar entlockte Jesse ein Lachen, mir nur ein missmutiges Naserümpfen. Mir war Jesse lieber gewesen, als er griesgrämig und still war. Jen drehte das Radio lauter, damit niemand auf die Idee kam, wieder Streit anzufangen. Mein Blick verharrte noch einmal kurz auf Jesses Nacken, dann beschloss ich, dass er meine Aufmerksamkeit nicht verdiente und zwang mich, aus dem Fenster zu sehen. Jesse fuhr schnell und ich hegte die Hoffnung, dass irgendwo ein Blitzer stand und ihn erwischte. Mir doch egal, dass er unsere Mitfahrgelegenheit war. Ich hatte ihn nicht darum gebeten.
 

Im Kino war ziemlich viel los. Wir sahen uns im Foyer um und überflogen die Anzeigetafeln. Letztendlich fiel die Wahl auf einen Actionfilm. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wovon er handelte. Die Schlange war lang.

„Popcorn?“, fragte Jesse nach fünf Minuten, in denen wir kaum weiter vorgerückt waren. Mir fiel auf, wie die Mädchen in unserer Nähe ihn ansahen und wünschte, sie würden damit aufhören.

„Ja, bitte.“ Jen ließ sich nie eine Chance auf Popcorn entgehen. Jesse zeigte auf Tammy und mich.

„Nein, danke“, lehnte meine Schwester höflich ab. Ich schüttelte nur stumm den Kopf und wich seinem Blick aus, der nun wieder gewohnt cool war. War er etwa einer der Typen, die in der Öffentlichkeit ihre Männlichkeit beweisen mussten? Doch dann würde er nicht anbieten, Popcorn zu holen. Er nickte und ging rüber zum Süßigkeiten- und Getränkestand.

„Was war das vorhin im Auto?“, flüsterte Tammy mir zu. Ich seufzte und schüttelte den Kopf.

„Nichts. Er wollte mich nur ärgern.“ Sie runzelte die Stirn.

„Wenn er dir blöd kommt, sag Bescheid. Der soll bloß meine Schwester in Ruhe lassen.“ Sie schlang einen Arm um meine Schulter und schielte zu Jesse hinüber.

„Ist halb so wild“, hörte ich mich sagen. Was? Wieso verteidigte ich ihn auf einmal?

„Leute, ich muss mal ganz dringend“, mischte Jen sich ein und warf einen sehnsüchtigen Blick Richtung Klo.

„Oh, gute Idee. Sonst muss ich wieder während dem Film und ich will nichts verpassen“, sagte Tammy und hakte sich bei Jen unter.

„Lea?“ Sie nickte zur Toilette. Ich schüttelte den Kopf.

„Nein, ich muss nicht. Außerdem muss ja jemand unseren Platz in der Schlange verteidigen“, sagte ich und scheuchte die beiden weg.
 

So ganz allein war ich versucht, zu Jesse hinüberzuschielen, doch ich heftete meinen Blick stattdessen auf den Verkäufer unserer Schlange, der ziemlich ins Schwitzen kam bei den vielen Kunden. War wohl sein erster Tag. Ich musste grinsen, als er beinahe die Fassung verlor, als drei Mädels wohl mehrmals ihre Meinung änderten, in welchen Film sie wollten und ihn damit in den Wahnsinn trieben.

„Genießt du die Aussicht?“, hauchte eine Stimme nah an meinem Ohr und ich machte einen Satz nach vorn.

„Jesse“, zischte ich. Das musste echt aufhören. Er schenkte mir ein unschuldiges Lächeln und drückte mir eine Popcorntüte in die Hand.

„Ich wollte keins.“ Er hob eine Augenbraue.

„Bedank dich einfach und sei still.“ Ich war kurz davor, erneut aus der Haut zu fahren, doch ich entschloss mich für das Gegenteil. Wenn ich einfach nicht zuließ, dass er mich ärgerte, würde er es irgendwann sein lassen.

„Danke“, sagte ich also so charmant ich konnte und lächelte. Er sah mich nur an, hatte wohl definitiv nicht mit dieser Reaktion gerechnet. Für einen Moment standen wir schweigend da und mir wurde unangenehm bewusst, wie nahe er neben mir stand. Ich müsste nur meinen Ellbogen ein bisschen bewegen, dann würde ich ihn berühren. Bei der Vorstellung wurden meine Ohren ganz warm. Wie konnte es nur sein, dass dieser Typ solche idiotischen Gedanken in mir weckte?
 

Für Außenstehende musste es so wirken, als wären wir zusammen hier. Ich meine, wir waren zusammen hier, aber eben nicht… zusammen. Ich schielte zu den Toiletten hinüber und hoffte, dass Tammy und Jen sich beeilten. Jesse nahm währenddessen seelenruhig einen großen Schluck von seinem Getränk. Er hatte den üblichen Deckel und das Röhrchen entfernt und nippte direkt aus dem Becher. In der anderen Hand hielt er Jens Popcorn. Für einen Augenblick war ich versucht, von unten gegen seinen Arm zu schlagen, sodass er mit Popcorn berieselt wurde, aber ich war zu feige, so etwas in der Öffentlichkeit zu tun. Außerdem waren das Jens Popcorn. Und mit Essen spielte man nicht. Ich seufzte. Warum kam ich eigentlich immer wieder auf dieses Thema zurück?

„Ist alles okay?“ Jesse hatte die Stirn gerunzelt und sah mich prüfend an.

„Ja“, sagte ich nur kurz angebunden und schaute weg. Ich wollte nicht mit ihm reden. Solange ich mich nicht entscheiden konnte, ob ich ihn leiden konnte oder nicht, hielt ich lieber Abstand.

„Du solltest mich nicht zu ernst nehmen“, sagte er aus heiterem Himmel.

„Was?“ Nun lag meine Stirn in Falten.

Jesse spielt gerne, hallten Gregs Worte in meinem Kopf wider. Spielte Jesse etwa mit mir? Er war die Katze und ich die Maus?

„Ich sagte: Du solltest mich nicht zu ernst nehmen.“ Wir machten einen kleinen Schritt nach vorn, als die Schlange in Bewegung kam.

„Ich habe dich schon gehört. Ich verstehe nur nicht, was das bedeuten soll“, antwortete ich. „Du irritierst mich“, gestand ich, behielt jedoch für mich, dass es besonders seine Nähe war, die mein Gehirn vernebelte.

„Ich irritiere dich? Du bist doch hier diejenige, die auf mysteriös macht.“ Was? Das glaubte er von mir? Dass ich ein Spielchen spielte?

„Ich bin nicht… mysteriös.“ Ich hatte keine Ahnung, wie er dieses Wort überhaupt mit mir in Verbindung bringen konnte. Er zuckte die Achseln, wobei ein paar Popcorn zu Boden fielen, doch er beachtete es gar nicht.

„Naja, du starrst mich andauernd an.“ Oh Mist, er hatte es bemerkt.

„Und du verhältst dich, als hätte ich dich irgendwie beleidigt oder so.“ War das sein Ernst?

„Entschuldige mal, du hast mich auf dem Eis gerammt. Absichtlich. Weißt du eigentlich, was da alles schiefgehen kann?“ Mir war klar, dass ich mich wie ein hysterisches Schulmädchen mit einem Stock im Arsch anhörte, aber ich musste das alles einfach mal loswerden.

„Ist doch nichts passiert“, verteidigte sich Jesse. Er nahm mich einfach nicht ernst.

„Zu deinem Glück.“ Ich wollte ihm weitere Gemeinheiten seinerseits aufzählen, doch seine grünen Augen, die mich fixierten, als würde er noch immer versuchen, aus mir schlau zu werden, lenkten mich ab.

„Außerdem starre ich dich nicht an.“ Er grinste und ich musste wegsehen.

„Doch, tust du.“
 

Wo waren Jen und Tammy, wenn man sie mal brauchte? Ich sah mich nach ihnen um, doch ohne Erfolg.

„Wo bleibt eigentlich Brandon?“ Der Themenwechsel klappte nicht, denn Jesse hob nur eine Augenbraue – Ich mochte das. Verdammt, schon wieder! – und wartete auf eine Erklärung.

„Ich starre wenn dann nur deine Tattoos an, okay?“ Es hatte ja doch keinen Sinn, es zu leugnen. Er gab ein glucksendes Geräusch von sich und verkniff sich ganz offensichtlich ein Grinsen.

„Wieso, willst du dir auch eines stechen lassen?“ Der Sarkasmus in seiner Stimme war nicht zu überhören.

„Siehst du, genau das meine ich. Ständig machst du dich über mich lustig.“ Jetzt schien er wirklich verwirrt.

„Entschuldige, das ist meine Art von Humor. Wenn du das falsch verstanden hast, tut’s mir Leid. Ich wollte dich nicht kränken.“ Dieses Mal lag keine Ironie in seinen Worten. Ich machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Was soll’s.“ Wie konnte ich auch böse auf ihn sein, wenn er mich so ansah?

„Gut, dass wir das geklärt hätten. Gibt’s sonst noch was, das du an mir auszusetzen hast, wo wir gerade dabei sind?“

Das hatte ich tatsächlich.

„Wenn du schon so fragst: Ich kann Typen nicht leiden, die ihre Freundin betrügen.“ Ups. Da war es mir einfach rausgerutscht. Erst denken, dann den Mund aufmachen, Lea! Das war zu viel. Und es ging mich auch absolut nichts an, aber ich konnte meine Klappe einfach nicht halten. Und außerdem hatte er gefragt. Es offenbarte sich mir ein völlig neuer Zug an Jesse, denn er war auf einmal sprachlos.

„Was?“ Es fiel ihm schwer, seine Stimme nicht zu erheben. Ich hätte lieber nicht davon anfangen sollen. Wenn er mich fragte, woher ich das wusste, musste ich zugeben, dass ich auf der Party am Balkon gestanden und ihn mehr oder weniger gestalkt hatte. Als ich daran dachte, wie er dieses Mädchen geküsst hatte, wurde mir ganz anders, weil ich mir vorstellte, wie sich seine Lippen wohl auf meinen anfühlten. Aber ich würde niemals etwas mit einem Kerl anfangen, der vergeben war.
 

„Ist das eine verquere Art, herauszufinden, ob ich Single bin?“

Ach du Schande, jetzt glaubte er, ich würde auf ihn stehen… Aber war es nicht so? Nur auf sein Äußeres, rief ich mir in Erinnerung, doch das machte es auch nicht besser.

„Was? Nein! Ich dachte… vergiss es. Da habe ich wohl was in den falschen Hals gekriegt.“ Ich spürte, dass ich rot wurde und wollte am liebsten im Erdboden versinken. Stattdessen biss ich mir nur auf die Unterlippe, um weitere blöde Kommentare meinerseits zurückzuhalten. Zum Glück wurde ich in diesem Moment erlöst, weil Tammy und Jen wieder zu uns stießen.

„Da drin ist die Hölle los“, teilte uns Jen mit.

„Ihr seid aber auch noch nicht viel weiter“, meinte Tammy und warf einen Blick auf die Uhr. Dank Jesses Raserei war noch immer genug Zeit. Wir würden es noch rechtzeitig zum Anfang des Films schaffen.

„Hier!“ Jesse überreichte Jen ihr Popcorn, das sie freudig entgegennahm und sich sofort ans futtern machte.

„Danke dir. Was bekommst du?“ Sie kramte in ihrer Tasche, doch Jesse schüttelte den Kopf.

„Lass mal stecken. Geht auf's Haus.“ Die Beschenkte lächelte zuckersüß.

„Danke.“ Es wäre schön, wenn mich etwas so Simples auch so glücklich machen würde. Ich warf Jesse einen kurzen Blick zu. Dass er für das Popcorn bezahlte, fand ich ziemlich nett. Klar waren das nur ein paar Euro, doch die Geste zählte. Apropos Geste. Im nächsten Moment wurden mir meine Popcorn aus der Hand gerissen.

„Hey“, sagte ich empört und sah Jesse böse an – zum gefühlt hundertsten Mal heute.

„Was denn!? Du wolltest keine.“ Da hatte er auch wieder Recht. Gegessen hätte ich sowieso kaum etwas. Endlich gelangten wir an die Kasse.

„Fünf Mal Reveal“, orderte Jesse, und bevor wir unsere Geldbeutel zücken konnten, hatte er auch die Karten für uns bezahlt. Dieses Mal bedankte auch ich mich.

„Jetzt muss nur noch Brandon auftauchen.“ Tammy stellte sich auf Zehenspitzen, um die Menge besser überblicken zu können.

„Da ist er.“ Jesse streckte den Arm in Richtung Eingang. Die Miene meiner Schwester hellte sich sofort auf.

„Sorry, Leute. Ich musste noch kurz was erledigen und auf dem Weg hierher war verdammt viel Stau.“ Wir steuerten zum Kinosaal 2 und suchten unsere Plätze. Ich versuchte, mich nach vorne zu drängen, um den Platz am Rand in unserer Reihe zu erhaschen, aber es drängten alle Leute gleichzeitig ins Kino, als die Türen geöffnet wurden.

Glücklicherweise schaffte ich es noch rechtzeitig, mich zwischen Jen und Tammy zu quetschen, bevor sie sich hinsetzten. Sie verstanden die Botschaft und machten mir Platz. Puh. Eineinhalb Stunden direkt neben Jesse hätte ich nicht ausgehalten.
 

Der Film erwies sich als ziemlich voraussichtlich und es fehlte eindeutig an schauspielerischem Talent. Da wäre mir eine gute Schnulze doch lieber gewesen. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Brandon seine Hand auf Tammys legte. Jackpot. Ich war nur froh, dass Jen noch dabei war, sonst hätte sich das hier zu sehr nach misslungenem Doppeldate angefühlt. Meine Augen wanderten auf die andere Seite, wo ich Jesses Hand gerade in der Popcorntüte verschwinden sah. Er hatte noch nicht besonders viel davon gegessen. Mit der anderen Hand scrollte er über den Touchscreen seines Handys. Ihm schien der Film genauso zu missfallen wie mir. Ich fragte mich, ob er die Nummer des Mädchens im McDonalds gespeichert hatte. Und ich fragte mich, ob er sie getroffen hatte. Und ob er nun eine Freundin hatte oder nicht. Und ob sich seine Lippen wirklich so anfühlten, wie ich es mir vorstellte.

Nach achtundneunzig Minuten voller sinnloser Schießereien und platten Sprüchen wurde ich endlich durch den Abspann erlöst. Die Menge drängte genauso ungeduldig heraus wie herein. Mir fiel auf, dass Tammy und Brandon Händchen hielten.

„Übrigens bin ich Single, falls es dich noch interessiert“, flüsterte Jesse mir ins Ohr und ich versuchte instinktiv, von ihm wegzukommen, doch es mengten sich so viele Leute in dem schmalen Ausgang, dass das leider nicht möglich war. Er stand direkt hinter mir und ich spürte, wie er mit seiner Schulter meine streifte, während wir langsam mit dem Strom heraustippelten. Wieso erzählte er mir das? Und wieso war ich deswegen so erleichtert?

Es interessiert mich nicht die Bohne, hätte ich ihm am liebsten an den Kopf geworfen, doch ich entschied mich dagegen und blieb stumm.

„Und was jetzt? Der Abend ist noch jung.“ Brandon sah in die Runde.

„Morgen ist Schule“, warf Jen ein und ich war froh, dass dieses Mal nicht ich die Spießerin war, die darauf hinwies. Er zuckte leicht enttäuscht mit den Schultern.

„Na schön, dann bringe ich euch nach Hause.“ Jesse fuhr uns also nicht zurück, sondern Brandon. Das sollte mir eigentlich egal sein. War es aber nicht.

Brandon hatte seinen Wagen am anderen Ende des Parkplatzes abgestellt. Wir blieben vor dem Eingang stehen und Brandon und Jesse besprachen noch kurz etwas wegen der nächsten Bandprobe. Jesse drückte mir sein restliches Popcorn in die Hand, um sich eine Zigarette anzuzünden.

„Samstag geht in Ordnung. Schick mir 'ne Nachricht.“

Tammy fragte, ob wir zur Probe vorbeischauen durften. Natürlich wollte sie Brandon so schnell wie möglich wiedersehen.

„Klar, wir brauchen doch unsere Groupies“, scherzte er.

„Also dann.“ Jesse hob die Hand und drehte sich um, ohne sich noch weiter von uns zu verabschieden. Irgendwie hatte ich heute Abend etwas anderes erwartet. Es musste ja nicht gleich eine Umarmung sein – doch, wieso eigentlich nicht? – aber er schien wieder genauso distanziert wie zu Anfang. Vielleicht bewertete ich das aber auch nur über. Ich musste ja nicht gleich in jede Geste etwas hineininterpretieren. Um ihm nicht länger hinterherzustarren, senkte ich den Blick. Und sah in die noch halbvolle Popcorntüte.



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