Life is precious von JesLea (Das Leben ist wertvoll) ================================================================================ Kapitel 5: Groupies und die große weite Welt -------------------------------------------- Rob und ich blieben an der Bar, während das Melting immer voller wurde. Zero war in Topform. Ich dachte, sie würden einfach nur Musik machen – gecovert zwar, aber verdammt gut -, doch sie legten eine regelrechte Show hin. Brandon riss Witze, brachte die Mädels reihenweise zum Kreischen, Ezra benutzte sein Schlagzeug als Sprungbrett und machte Salti, wobei ich jedes Mal zusammenzuckte und hoffte, er würde sich nichts brechen. Kurt, der Gitarrist, spielte ein Solo, dass es mir schwindelig wurde und ihr neuestes Mitglied brachte mit seiner Stimme meinen ganzen Körper zum vibrieren. Wenn ich ein Talentscout wäre, hätte ich meine Goldmine heute Abend gefunden. Rob vergaß während des Konzerts seine Übelkeit und konnte keine Minute stillhalten. Für jemanden, der eigentlich ein gutes Rhythmusgefühl hatte, machte er seltsame Bewegungen. Tanzen war wohl nicht so sein Ding, doch das schien ihn nicht zu stören. Ich selbst haderte noch mit mir, ob ich einfach den Auftritt genießen, oder lieber griesgrämig auf meinem Barhocker sitzen und Jesse böse Blicke zuwerfen sollte. Er würde es sowieso nicht bemerken, weil er viel zu sehr in die Musik vertieft war. Ich fragte mich, ob er schon früher in einer Band gespielt hatte oder mal Gesangsunterricht hatte; so eine Stimme kam doch nicht von ungefähr. Und genießen tat er es auch, das war unübersehbar. Warum er sich vorher so gesträubt hatte, konnte ich mir beim besten Willen nicht erklären. Mochte er es einfach, wenn er im Mittelpunkt stand und alle ihn anbettelten? Eigentlich hatte ich nicht den Eindruck. Außer bei mir- da machte er eine Ausnahme. Andauernd schweifte mein Blick zu ihm zurück und beobachtete seine Gesten, wie er die Augen über die Menge gleiten ließ, sie bei einem langsamen Lied schloss, und seine Lippen, aus denen diese fantastischen Töne hervorkamen. Als ich mich dabei ertappte, wie meine Gedanken zurück zum See schweiften, als er ganz dicht hinter mir gestanden und ich mich zuvor an ihn geklammert und seinen Atem gespürt hatte, stand ich abrupt auf. Das konnte so nicht weitergehen! „Ich muss mal an die frische Luft“, erklärte ich Rob kurz angebunden, der mir verwirrt hinterher sah, und verließ das Melting so schnell ich konnte, ohne dabei zu wirken, als wäre ich auf der Flucht. Draußen war es kühl und die frische Luft bereitete mir Gänsehaut. Hätte ich bloß meine Jacke mitgenommen. Ich schlang meine Arme um meinen Körper und bildete Wölkchen beim Atmen. Nach den ungewöhnlich warmen Sonnentagen hatte ich beinahe vergessen, dass erst Januar war. Ich ging auf und ab, immer zehn Schritte in die eine, und genauso viele in die andere Richtung, um nicht auszukühlen. Was machte ich hier überhaupt? Alle waren da drin und genossen den Gig und ich fror mir den Hintern ab, nur weil ich meine Gedanken bezüglich einer bestimmten Person nicht mehr unter Kontrolle hatte. Ich beschloss, mein Verhalten zu analysieren, um wieder einen klaren Kopf zu kriegen: Jesse trieb mich zur Weißglut, ja, und er ging mir nicht mehr aus dem Sinn, weil für mich unverständlich war, wie gemein er zu jemandem sein konnte, den er eigentlich gar nicht kannte – also mir. Erst disste er mich, dann ignorierte er mich und schließlich stellte er mich absichtlich bloß. Das Einzige, was mich davon abhielt, ihn als gewöhnlichen Idioten abzustempeln und weit hinten in einer Schublade meines Hirns zu verstauen, war sein Aussehen. Normal stand ich nicht auf diese Art Typ. Aber er war einfach sehr interessant. Seine Augen waren eindringlich und ausdrucksstark. Und ich mochte seine Hände. „Lea. Alles in Ordnung?“ Ich erschrak, als Tammys Stimme mich aus meinen Gedanken riss. Wenn sie wüsste, worüber ich mir gerade den Kopf zerbrach… „Ja, mir geht´s gut.“ Ich räusperte mich. „Ich habe nur ein wenig frische Luft gebraucht. Da drin ist es ein bisschen stickig.“ Und das war nicht mal gelogen. Tammy rollte mit den Augen. „Ja, ich weiß, was du meinst.“ Sie meinte es nicht ernst. Sie mochte Typen, die rauchten. Sie fand, dass es cool aussah, was ich absolut nicht nachvollziehen konnte. Außer bei Jesse vielleicht. Herrgott! Das musste echt aufhören! „Kommst du wieder mit rein? Es ist echt kalt hier draußen. Ich will nicht, dass du dir eine Erkältung einfängst.“ Und Mom dir dafür die Schuld gibt, fügte ich lautlos hinzu. Aber ich nickte. Es war wirklich zu kalt. Zero spielte eine bunte Mischung, sodass für jeden was dabei war. Rob und ich gesellten uns zu der Traube vor der Bühne, weil Tammy darauf bestand. Jetzt waren wir noch näher dran. Ich spürte die Körper um mich herum, die zur Musik wippten und tanzten. Mir entging nicht, wie die Mädels in der ersten Reihe mit den Bandmitgliedern flirteten. Ich konnte es ihnen nicht verübeln, sie waren alle attraktiv. Die Musik ging mir hier noch mehr unter die Haut, weil wir direkt neben einer der riesigen Boxen standen. Jeder Beat vibrierte in meinem Innern. Ich hatte mich schon lange nicht mehr so lebendig gefühlt und beschloss, den restlichen Abend einfach zu genießen, ohne mir weiter den Kopf zu zerbrechen. Am Ende des Gigs, das in meinen Augen viel zu früh eintrat, hielt Brandon noch eine kurze Rede und bedankte sich bei den Gästen für ihr Kommen. Als die Jungs hinter der Bühne verschwanden, natürlich nicht, ohne sich noch vor ihrem Publikum zu verbeugen und ihm zuzuzwinkern, schoben Jen und Tammy mich Richtung Backstagebereich. Rob folgte uns. Es standen bereits ein paar Mädels vor der schweren Tür, die darauf warteten, dass die Band herauskam. Der Besitzer der Bar hatte in weiser Voraussicht einen Security dort platziert. Ich kam mir vor wie ein VIP, als er uns erkannte und durchwinkte. Als wären wir was Besonderes. Die Jungs waren voller Adrenalin und alberten herum, als wären sie gerade mal zwölf. Naja, zumindest drei von ihnen. Jesse drehte sich gerade eine Zigarette, im Schneidersitz auf derselben Box wie vorhin sitzend. Nein, er drehte die zweite. Eine hatte er sich schon hinters Ohr gesteckt. Er hatte seinen Pullover ausgezogen und trug nun nur noch ein graues T-Shirt. Meine Augen wanderten seine Arme entlang. Tattoos. Viele Tattoos. „Ihr wart klasse, Leute“, beglückwünschte Jen die Jungs zu ihrem gelungenen Auftritt. Es begann eine überschwängliche Umarmungsrunde, bei der ich nicht ausgelassen wurde. Jesse blieb glücklicherweise, wo er war, und zündete sich seelenruhig seine Zigarette an und beobachtete das wilde Durcheinander. Erst als Brandon Rob bemerkte, trat eine peinliche Pause ein. „Gratuliere, das war erste Sahne“, sagte Rob etwas verhalten. „Zu schade, dass du nicht dabei warst.“ Der Sarkasmus in Ezras Stimme war nicht zu überhören. Ich fand das ziemlich fies, schließlich konnte Rob nichts für sein Lampenfieber. „Tut mir echt leid, aber deinen Platz hat jetzt ein anderer eingenommen“, sagte Ezra und deutete auf Jesse. Ich erwartete Widerworte, da ich angenommen hatte, er würde nur für diesen einen Gig einspringen, doch er zog nur an seinem Nikotinstängel und fixierte Ezra mit einem seltsamen Blick. Also hatte Zero tatsächlich ein neues Mitglied gefunden. Rob wirkte niedergeschlagen, doch er riss sich zusammen und nickte. „Das hätte ich sowieso nicht toppen können“, komplimentierte er Jesse. „Wieso feierst du nicht mit uns“, bot dieser an, während er Rauch aus seinem Mund hauchte. Rob schien überrascht über das Angebot, nickte aber dankbar. „Wir haben sicher genug Kohle eingespielt, um uns alle unter den Tisch zu saufen“, freute sich Kurt. Na toll, würde dieser Abend etwa mit lauter Alkoholleichen enden? Ich stand nicht so auf Alkohol, aus dem einfachen Grund, dass ich ihn nicht vertrug. Nur zwei Gläser Sekt und ich hatte am nächsten Tag einen Kater, als hätte ich in einem Bierfass gebadet. Die Tür wurde aufgerissen und herein kamen Ty und Greg, die johlend von den Jungs begrüßt wurden. „Was für ein Auftritt!“ Ich hatte Greg das ganze Konzert über nicht gesehen, aber wahrscheinlich war er nicht der Typ, der sich unter die Menge mischte. Ty holte sein Portemonnaie in einer feierlichen Geste aus seiner Hose und zog zwei Hunderter heraus. „Das ist unsere Gage, Jungs. Lasst und feiern!“ Tammy zeigte Richtung Bar und deutete darauf hin, dass dort lauter Groupies warteten, um den Jungs ihre Handynummern zuzustecken. „Ich hab verdammten Kohldampf“, warf Brandon ein und klopfte sich demonstrativ auf den flachen Bauch. „Gute Idee. Lasst und was futtern gehen.“ Dass die Jungs nicht wild darauf waren, von den Mädels da draußen in Empfang genommen zu werden, konnte aus meiner Sicht nur drei Dinge bedeuten: Sie waren vergeben, nicht an Mädchen interessiert, oder die verfressenste Bande, die ich je gesehen hatte. Aber mir war es nur recht. Wir waren elf Personen. Greg hatte seine Freundin mitgebracht. Aus irgendeinem Grund hatte ich nicht erwartet, dass Greg in festen Händen war. Und dann auch noch in denen einer absolut sympathischen, lockenhaarigen, sommersprossigen Frau. Sie war älter als wir, aber das war Jesses Bruder schließlich auch. Später erfuhr ich, dass die beiden sogar verlobt waren. Da wurde er mir gleich noch sympathischer. Ich hatte ganz eindeutig einen falschen ersten Eindruck von Greg gehabt. Ich schalt mich in Gedanken, nicht so voreilig über Leute zu urteilen. Während Tammy, Jen, Rob und ich bei Ty im Auto zu McDonalds fuhren – ja, McDonalds, da konnte man zu elft wunderbar zweihundert Euro auf den Kopf hauen – fragte ich mich, ob ich womöglich auch eine falsche Meinung von Jesse hatte. Doch bei ihm war es eigentlich genau umgekehrt. Sein Äußeres fand ich ziemlich anziehend, und ich hasste es, dass ich mir das selbst eingestehen musste; sein Charakter hingegen war äußerst zweifelhaft. Er ärgerte mich mit Absicht, stellte mich bloß und ließ uns betteln, damit er uns einen Gefallen tat. Nicht gerade die besten Eigenschaften an einem Menschen. Es könnte aber auch schlimmer sein. Immerhin hatte er Rob eingeladen, uns zu begleiten. Im Gegensatz zu Ezra hatte er ihn nicht dafür verurteilt, dass sein Lampenfieber ihn an die Kloschüssel fesselte. Ich beschloss, ihm noch eine Chance zu geben. Von jetzt an würde ich versuchen, auf die positiven Dinge zu achten. Es war gar nicht so leicht, einen Tisch zu finden, an dem wir alle Platz hatten. Doch die Jungs schoben einfach zwei zusammen. Trotzdem war es eher kuschelig-eng als gemütlich. Ich war eingequetscht zwischen Tammy und Lydia, Gregs Verlobter. Auf den Tabletts türmten sich haufenweise Burger, Pommes und Getränke. Ty hatte einfach von allem etwas bestellt und jeder Griff herzhaft zu. Ich dachte eigentlich, zwanzig Burger und zehn große Portionen Pommes sollten reichen, um ihre hungrigen Mäuler zu stopfen, doch Greg stand nach einer halben Stunde auf und fragte, ob jemand Nachschlag wollte. Sechs Hände schossen sofort in die Höhe. Ich befürchtete langsam, dass uns das Geld nicht reichen würde und begann nachzurechnen. Zur Not mussten wir eben was draufzahlen. Ich war im Nachhinein froh, dass die Jungs sich für eine Fastfoodkette entschieden hatten. Nirgendwo anders wäre es möglich gewesen, so viele Münder mit verhältnismäßig wenig Geld zu stopfen. Außerdem fingen sie irgendwann an, sich gegenseitig mit Pommes zu bewerfen. Wir wurden von den wenigen verbliebenen Gästen seltsam angeschaut, und zwei Tische neben uns sah ich fünf Mädels immer wieder zu uns herüber schielen. Mir wurde schmerzhaft bewusst, dass sie viel eher in die Gruppe passen würden, in deren Mitte ich mich befand. Wahrscheinlich fragten sie sich schon, wie jemand wie ich dazu kam, mit so coolen Typen abzuhängen. Irgendwann standen sie auf und kamen zu uns. Nur eine traute sich zu sprechen. Sie beugte sich zu Jesse herunter – natürlich musste es Jesse sein! -, wobei man einen tiefen Einblick in ihr Dekolleté erhielt, und flüsterte ihm etwas zu. Ich wünschte, ich könnte verstehen, was sie sagte, aber ich wollte nicht zu auffällig in ihre Richtung starren. Jesse saugte etwas Mayonnaise von seinem Daumen und antwortete ihr erst danach. Sie lächelte charmant und legte einen kleinen Zettel vor ihm auf den Tisch, berührte kurz seine Schulter und ging hüfteschwingend zu ihren Freundinnen zurück. Sie versuchten, den Laden möglichst eindrucksvoll zu verlassen. Jesse sah ihr nicht nach, was mich mit Genugtuung erfüllte. Doch als er nach dem Papier griff und in seiner Jackentasche verschwinden ließ, sah ich schnell weg. Ich versuchte, mir nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, ob er sie anrufen würde. „Hey, Lea. Du hast kaum was gegessen. Hier, nimm noch was von den Pommes.“ Lydia legte mir eine volle Tüte vor die Nase. Ich schüttelte den Kopf. Mir war der Hunger vergangen – wenn ich denn überhaupt einen gehabt hatte. „Du fällst sowieso fast vom Fleisch, Süße. Du musst mehr essen“, gab Greg laut seinen Senf dazu, während er seinen Arm um Lydias Schultern legte. Plötzlich sahen mich alle an. Warum musste Greg auch so eine laute Stimme haben. Ich fühlte mich verdammt unwohl, denn solche Situationen erinnerten mich immer daran, wie es bei Natalie angefangen hatte. Aber bei mir war alles in Ordnung. Ich fand mich nicht zu dick. Ich hatte einfach keinen Hunger! Wut stieg in mir auf, doch anstatt etwas zu erwidern, lehnte ich mich so weit in meinen Sitz wie möglich und starrte auf meine Cola. „Wie viel habt ihr heute eigentlich eingespielt?“, rettete mich meine Schwester. Ich war ihr sehr dankbar für die Ablenkung, auch wenn ich genau merkte, dass Lydia mir noch einen fragenden Blick zuwarf, den ich ignorierte. „Vierhundert. Zweihundert Kaution. Ich würde sagen, das ist nicht schlecht“, antwortete Ty. „Wie viele Leute waren das dann?“, warf Kurt ein und runzelte die Stirn, während er rechnete. „Also fünf Euro der Eintritt. Die Hälfte bekommen wir. Das sind dann… ähm…“ Ezra schien die Weisheit auch nicht mit Löffeln gegessen zu haben. Ich war zwar eine absolute Niete in Mathe, aber nur, wenn es um irgendwelche komplizierten Gleichungen ging. Im Kopfrechnen war ich schon immer gut gewesen. Nur leider wurde man in der elften Klasse nicht mehr nach solchen Sachen benotet. „Einhundertundsechzig“, sagten Jesse und ich gleichzeitig und warfen uns einen kurzen Blick zu. Es war das erste Mal, dass ich nicht das Gefühl hatte, dass er gemein zu mir war, oder mich für einen absoluten Loser hielt. „Wie gut, dass wir unsere eigenen Taschenrechner dabeihaben“, scherzte Ty und knuffte Jesse spielerisch in die Schulter. „Tja, mein Bruder kommt frisch aus dem Gefängnis, wie ihr wisst. Da lernt man so einiges“, brachte Greg wieder seinen Scherz; doch dieses Mal wusste ich, was er meinte. „Was willst du jetzt eigentlich mit all deinem Wissen anfangen?“, witzelte Kurt. Jesse zuckte die Achseln - wobei mein Blick auf seine Armmuskeln fiel, die man unter dem Pullover vorhin nicht hatte sehen können - und legte die Unterarme auf den Tisch. Ich betrachtete seine Tattoos. „Ich weiß noch nicht. Ich will jetzt erst mal Zeit mit Kelly verbringen.“ Wer war Kelly? „Du hast sie lange nicht gesehen, was?“, meldete Lydia sich zu Wort. Jesse nickte. Er wirkte beinahe… sehnsüchtig? „Sie sind für drei Wochen nach Spanien gefahren“, erläuterte er. Hatte Jesse etwa eine Freundin? Und machte er tatsächlich mit einer anderen rum, während sie im Urlaub war? Und die Jungs ließen ihn einfach machen und sagten nichts dazu? Oder hatten sie keinen blassen Schimmer, was Jesse so auf Partys trieb? Ich war kurz davor, etwas zu sagen, doch ich riss mich zusammen. Es ging mich nichts an. Aber hiermit hatte er seine zweite Chance vertan. Am nächsten Tag rief ich Kasper an. Wieso, wusste ich selbst nicht genau. Er schien sehr froh, dass ich mich meldete und hatte anscheinend nicht mit meinem Anruf gerechnet. „Steht dein Angebot noch? Du weißt schon, die virtuelle Reise in die große weite Welt?“ Er schlug vor, dass ich am Nachmittag gleich vorbeikommen könnte und ich war einverstanden. Außerdem hatte ich Angst, es mir anders zu überlegen, wenn ich noch ein paar Tage wartete. Meiner Familie erzählte ich, ich würde ins Tierheim gehen. Das war nicht mal gelogen. Nur eben nach einem Abstecher bei Kasper. Vor der Haustür blieb ich unschlüssig stehen. Ich traute mich nicht, zu klingeln. Es käme mir seltsam vor, wenn Natalies Mutter oder Vater öffnen würde. Ich war lange nicht mehr hier gewesen. Doch Bux, der Verräter, kündigte mich mit lautem Gebell an. Früher hatte ich nicht mal geklingelt, war einfach ins Haus spaziert, als würde ich dort wohnen. Doch ich fühlte mich entgegen meiner Erwartung schnell wieder wohl im Haus der Karrers. Und dass Kaspers Eltern nicht da waren, trug wesentlich zu meiner Entspannung bei. Ich streichelte Bux, wofür er sich mit ausgiebigem Abschlecken meiner Hand bedankte. „Immer noch Sprite?“, fragte Kasper, der sich ganz offensichtlich noch genau daran erinnerte, was ich gerne trank. Ich verzichtete darauf, ihm zu erklären, dass ich nicht mehr auf Softdrinks stand. Stattdessen betrachtete ich ihn genauer, während wir in der Küche standen und er Getränke und Gläser herausholte. Ich hätte ihm helfen können, denn ich wusste genau, wo alles stand, aber das wäre mir komisch vorgekommen. Früher hatte ich irgendwie dazugehört, jetzt war ich nur noch ein Gast. Kasper war immer noch braungebrannt, obwohl er schon mehrere Monate wieder hier war. Ich vermutete, er stattete dem Solarium regelmäßig Besuche ab, und musste mir ein Lachen verkneifen. Aber er sah gut aus, mit seinem blonden Haar. Es war genauso hell wie Natalies – nur dass sie es sich färben musste. Mein Herz zog sich zusammen, als meine Gedanken zu ihr abschweiften. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals ohne sie hier gewesen zu sein. Im Wohnzimmer machten wir es uns auf der großen Couch bequem, Kasper schloss seinen Laptop an den riesigen Flatscreen an und er begann, mir Bilder von der großen weiten Welt zu zeigen. Australien, Afrika, Neuseeland, Spanien, Italien, Asien. Er war wirklich ganz schön rumgekommen. „Das sind fantastische Aufnahmen, Kasper. Du hast echt Talent“, lobte ich ihn und meinte es ernst. Er strahlte mich breit lächelnd an. Er war seiner Schwester so ähnlich. „Ja, ich habe auf meinen Reisen endlich entdeckt, was ich machen will“, gestand er stolz. „Du willst Fotograf werden? Das ist eine super Idee“, bestärkte ich ihn in seinem Entschluss. Er stützte den Ellbogen auf die Rückenlehne des Sofas, legte seinen Kopf in seine Hand und sah mich forschend an. Ich spürte, dass ich unter seinem Blick leicht rot wurde. „Und du? Weißt du schon, was du mit deiner Zukunft anfangen willst?“ Ich hatte einen Wunschtraum, doch der war so unwahrscheinlich, dass ich niemandem davon erzählte und es lieber für mich behielt. Ich schüttelte also nur den Kopf und blieb eine Antwort schuldig. Kaspers Handy klingelte und er warf einen kurzen Blick auf das Display. „Wow, wir sind ganz schön verhockt. Es ist schon nach sechs.“ „Was?“ Ich sprang auf. „Schon so spät? Tut mir Leid, Kasper, ich muss los. Ich muss arbeiten.“ Er stand ebenfalls auf, um mich zur Tür zu begleiten. „Tierheim?“, fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte. „Ja, tut mir echt Leid. Und danke“, sagte ich, während ich die Treppen herunter sprang und nochmal kurz winkte. „Nichts zu danken. Ich ruf dich an.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)