Wie man es noch sagen kann von Yosephia ([Romance OS-Sammlung/ Prompt-Liste]) ================================================================================ 42. “Is this okay?” (IgneelWeiß) - 75er-Jubiläum ------------------------------------------------ Das Dragon’s Nest lag im Dunkeln. Die vielen Steh-, Hänge und Nachttischlampen, welche die Bar sonst mit warmem Licht erfüllten, waren ausgeschaltet. Die hölzernen Fensterläden waren geschlossen. Nur durch einige winzige Spalten fiel das Licht der Straßenlaternen von draußen herein und malte dünne Linien auf den frisch gewischten Dielenfußboden. Die Stühle waren hochgestellt, die herunter gebrannten Kerzen ausgetauscht, die Tische sauber. Alles lag und stand an seinem Platz, ein wohl vertrautes Arrangement, das trotz der Düsternis Frieden und Heimeligkeit ausstrahlte. Noch vertrauter waren Weißlogia nur die Theke und der Mann, der dahinter stand und die Flaschen auf dem Regal sortierte. Von Zeit zu Zeit machte er einen Vermerk auf einer Liste oder bückte sich, um etwas im Kühlschrank zu überprüfen, der gut versteckt unter der Theke eingebaut worden war, um den rustikal-altertümlichen Flair der Bar so wenig wie möglich zu beeinträchtigen. Aufmerksam verfolgte Weißlogia jede Bewegung des Mannes. Wie schwielige, kräftige Finger abwesend mit dem Bleistiftstummel herumspielten, während die Flaschen auf dem Regal in Ordnung gebracht wurden. Wie Strähnen von einem dunklen Pink, das im Licht der letzten noch leuchtenden Hängelampe über der Theke beinahe rot wirkte, in eine nachdenklich gerunzelte Stirn fielen. Wie unbeschäftigte Finger von Zeit zu Zeit geistesabwesend den Kinnbart kratzten. Wie sich die Lippen des Mannes zu allen möglichen Ausdrücken verzogen, die von Unmut über Überraschung bis hin zu Zufriedenheit reichten. Es war genauso faszinierend wie am ersten Tag. Wahrscheinlich würde es selbst in zehn, zwanzig, dreißig und noch mehr Jahren faszinierend sein. Wahrscheinlich würde Weißlogia nie aufhören können, hier zu sitzen und all diese so simplen und doch so bedeutenden Kleinigkeiten zu betrachten. Wahrscheinlich sollte Weißlogia endlich damit anfangen, diese Gedanken auch auszusprechen. Als der Mann den Blick hob und ihn verlegen angrinste, wurde er aus seiner nachdenklichen Beobachtung gerissen. In seiner Brust flatterte es aufgeregt und seine Finger begannen zu kribbeln, erfasst von dem Wunsch, sich zärtlich um stoppelige Wangen zu legen, um den Mann für einen Kuss festzuhalten. Es war beinahe lächerlich, wie viele Gefühle allein dieses Grinsen in Weißlogia auslöste. „Ich habe es gleich geschafft, dann können wir hoch gehen“, erklärte Igneel mit seiner tiefen Stimme, die Weißlogia sogar vertrauter und lieber war als der Klang des alten Klaviers, welches er seit so vielen Jahren in seinem heimischen Wohnzimmer hegte und pflegte. „Wir könnten schon längst oben sein, wenn du mich hättest helfen lassen“, merkte Weißlogia leise an und deutete auf die blank geputzten Gläser auf dem Regalbrett unter den Flaschen, auf die Kassenabrechnung neben der Bestellliste und auf den leeren Putzeimer, über dessen Rand noch der Wischlappen zum Trocknen hing. „Du bist hier Gast, Gäste helfen nicht“, widersprach Igneel leichthin. Langsam beugte Weißlogia sich auf seinem Barhocker über die Theke, um dem Anderen näher zu kommen. „Igneel, du lässt mich schon seit drei Jahren nicht mehr für meine Drinks bezahlen.“ „Gast, Weißlogia“, schnurrte Igneel, legte den Bleistift beiseite und umfasste Weißlogias Gesicht zärtlich mit beiden Händen, um einen kurzen und doch so intensiven Kuss auf seine Lippen zu hauchen. „Du bist hier Gast, nicht Kunde. Kunden bezahlen für den Service und müssen deshalb nicht helfen. Gäste müssen nicht helfen, weil sie nun einmal Gäste sind.“ Das warme Gefühl des Kusses auf seinen Lippen verflüchtigte sich, als Weißlogia von bitteren Gedanken erfüllt wurde. Er war hier nur ein Gast. Ein Stammgast zwar, der Lieblingsgast sogar, aber dennoch nicht mehr als eben ein Gast – und er hatte es sich selbst so ausgesucht… Weißlogia verdrängte die bitteren Gedanken und hob seine Hand, um seinem Gegenüber gegen die Stirn zu schnippen. „Dir ist schon klar, dass das überhaupt keinen Sinn ergibt?“ „Finde ich schon“, lachte Igneel leise, gab ihm noch einen flüchtigen Kuss und widmete sich dann wieder seiner Arbeit. Er war fast am Ende der Liste angekommen und Weißlogia rutschte schon mal von seinem Barhocker, um ihn umzudrehen und auf die Theke stellen zu können. In seinen Knochen spürte er den langen Tag. Sein Rücken war steif von den vielen Unterrichtsstunden am Klavier, seine Augen ermüdet vom Lesen krakeliger Notenzeichnungen in Übungsheften, seine Kehle rau von schier endlosen Erklärungen. Es war Dienstag – oder mittlerweile war es vermutlich schon Mittwoch. Am Dienstag hatte Weißlogia die meisten Klavierstunden und zugleich auch die mühsamsten. Er hatte Freude daran, Kindern das Klavierspielen beizubringen, aber es war zermürbend, wenn er genau wusste, dass diese Kinder bald aufgeben würden. Mehr als die Hälfte von ihnen wurde von ihren Eltern dazu gedrängt, ein Instrument zu lernen. Es war ein neuer Erziehungstrend, die Kinder so früh wie möglich musikalisch auszubilden. Die meisten Kinder, die deswegen zu Weißlogia kamen, konnten keine Freude am Klavierspielen finden. Ihre Finger verkrampften über den Tasten, ihre Mienen waren immer verkniffen, ihre Haltungen steif. Sie waren nicht zugänglich für den Fluss der Musik und waren mit ihren Gedanken immer anderswo. Sie zu unterrichten, kostete mehr Kraft als bei Kindern, die von sich aus ihre Eltern nach Klavierunterricht gefragt hatten. Mitunter war es richtig zermürbend mit ihnen, wenn sie unter seinen behutsamen Korrekturen immer unwilliger wurden und ihre Stimmungen in Wut oder Niedergeschlagenheit ausschlugen. Aber manchen dieser Kinder konnte Weißlogia auch helfen. Dann und wann gelang es ihm, ihnen einen Weg aufzuzeigen, der sie Freude an der Musik empfinden ließ. So wurden aus ihnen keine einzigartigen Talente, aber darum ging es Weißlogia ja auch nicht. Nicht einmal bei seinem eigenen Sohn, der schon quietschvergnügt auf dem Klavier herum geklimpert hatte, als er noch nicht einmal richtig hatte sprechen können, ging es Weißlogia darum. Weißlogia war kein Talentscout, er war ein Lehrer. Dafür hatte er sich vor zehn Jahren entschieden, als er die Wahl zwischen einer Karriere im Orchester und einem ruhigen Leben als alleinerziehender Vater gehabt hatte – und er bereute es bis heute nicht. Nichts desto trotz: Er war müde und sehnte sich danach, mit Igneel nach oben zu gehen, wo sie unter sich sein konnten. Mit der Gewissheit, dass Sting bei den Cheneys gut aufgehoben war und morgen früh pünktlich zur Schule kommen würde, konnte Weißlogia es sich erlauben, die Zeit mit seinem Partner einfach nur zu genießen. „Fertig!“, verkündete Igneel und wedelte mit der Bestellliste herum. „Doch schon?“, entgegnete Weißlogia trocken. Zur Antwort streckte Igneel ihm kindisch die Zunge heraus, ehe er Bestellliste, Kassenabrechnung und Trinkgeldbüchse auf die Kasse legte, um damit den Thekenbereich zu verlassen. „Darf ich als Gast zumindest die Lampe ausschalten?“, fragte Weißlogia und deutete auf den Taster neben der Durchgangstür, die ins Hinterzimmer führte. „Ausnahmsweise“, gluckste Igneel und beugte sich vor, um einen Kuss zu erhaschen. Damit sein Partner nicht die Kasse fallen ließ und das Geld in der gesamten Bar verteilte – einmal mitten in der Nacht hunderte von Münzen einsammeln zu müssen, genügte Weißlogia für den Rest seines Lebens –, drückte er sein Gesicht mit der flachen Hand von sich. Er erschauderte, als Igneels Lippen seinen Handteller berührten, aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und eine stoische Miene zur Schau zu tragen. „Bring’ die Sachen nach oben, dann darfst du wieder.“ „Jawohl, Herr Lehrer“, frotzelte Igneel, aber seine dunklen Augen funkelten vergnügt. Kopf schüttelnd wandte Weißlogia sich von ihm ab, um zu überprüfen, ob alles in Ordnung war. Auch wenn Igneel ihn selten helfen ließ, wusste Weißlogia genau, wie alles aussehen musste. In den fünf Jahren, seit er das erste Mal durch die Tür des Dragon’s Nest getreten war, hatte sich nur wenig verändert. Igneel hatte beinahe alles so gelassen, wie sein älterer Bruder es ihm hinterlassen hatte – genau so, wie es schon gewesen war, als er vor mehr als dreißig Jahren mit seinen Bauklötzen auf dem Dielenfußboden gesessen und neugierig die Gäste beobachtet hatte. Obwohl er bereits Bilder davon gesehen hatte, war es für Weißlogia immer noch schwer vorstellbar, dass Igneel schon so lange hier gelebt hatte – so nahe für ihn und doch so fern. Sie waren in derselben Stadt aufgewachsen, waren durch dieselben Straßen gewandelt und dennoch hatten sie einander erst kennen gelernt, als Igneel vor fünf Jahren von Crocus nach Magnolia zurückgekehrt war, um sich um das zu kümmern, was sein älterer Bruder und dessen Frau ihm hinterlassen hatten: Einen fünfzehnjährigen, viel zu ernsthaften Sohn und die kleine, gemütliche Bar, die ihr gemeinsamer Vater einstmals aus dem Boden gestampft hatte. Vielleicht war es gut so, dass Weißlogia und Igneel einander erst so spät begegnet waren. Ansonsten wäre vieles in ihrer Beider Leben ganz anders gelaufen. Wahrscheinlich wäre keiner von ihnen jetzt ein Vater – und so viele Opfer es ihm auch abverlangt hatte, für Weißlogia gab es auch heute noch keinerlei Zweifel daran, dass seine Entscheidung, die Verantwortung für den „Unfall“ damals zu übernehmen, die beste seines Lebens gewesen war. „Kommst du, Weiß?“, rief Igneel von oben. „Du musst mich nicht kontrollieren, weißt du? Ich bin schon groß.“ Für einen Moment lag ihm eine seiner üblichen spitzen Bemerkungen auf den Lippen, aber er verkniff es sich, weil ihn noch andere Gedanken umtrieben, die er immer noch nicht in Worte zu fassen wagte. Dass er diese Bar lieben gelernt hatte – genau wie ihren anfangs noch überforderten Besitzer – und dass er sich um sie kümmern wollte. Dass er sich hier mehr Zuhause fühlte als in seiner Drei-Raum-Wohnung mit der bärbeißigen Nachbarin mit den besten Kontakten zum Klatsch- und Tratschzirkel der Stadt. Dass er genau wüsste, wo sein geliebtes Klavier hier stehen könnte. Dass er sich für Sting wünschte, er könnte hier aufwachsen, inmitten der Erinnerungen an eine gute Vergangenheit und der Hoffnungen auf eine noch bessere Zukunft. Und dass er all diese Chancen selbst zum Fenster hinaus geworfen hatte. Seufzend massierte Weißlogia sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel, um sich zur Ordnung zu rufen. Es brachte nichts, daran zu denken, was hätte sein können. Er hatte seinen Punkt damals klar gemacht und jetzt war die Gelegenheit verstrichen. Alles, was er jetzt hatte, war der eine Abend in der Woche, an dem er seinen Sohn bei seinem Paten unterbringen und hier bei Igneel sein konnte, und die vielen kleinen Momente, die sich durch glückliche Zufälle ergaben. Die Treffen auf der Straße, die gemeinsamen Ausflüge an den seltenen freien Tagen… Es war zu wenig. Viel zu wenig. Aber auf mehr hatte Weißlogia kein Recht mehr. Mit einem weiteren Seufzer schaltete Weißlogia das Licht aus und tastete sich mit der Sicherheit zahlloser Besuche zur Durchgangstür, zog sie hinter sich zu und hielt sich rechts, um die Treppe hinauf zur geräumigen Wohnung zu gelangen. Die Dielen knarrten vertraut unter Weißlogias Schuhen, als wollten sie ihn willkommen heißen, und von oben schien ihm warmes Licht entgegen. Igneel hatte die Tür für ihn offen gelassen, obwohl er längst wusste, dass Weißlogia sich selbst im Stockdunkeln hier zurecht finden würde. Der Wohnbereich über der Bar erstreckte sich über zwei Etagen. Im Dachgeschoss befanden sich neben einem Bad die drei ehemaligen Kinderzimmer von Igneel und seinen Brüdern, von welchen jetzt nur noch eines von Igneels Sohn Natsu dauerhaft genutzt wurde. Ein zweites gehörte seinem Neffen Zeref, der jedoch nur noch in den Semesterferien hier wohnte. In der ersten Etage des Wohnbereichs befanden sich Küche, Bad, Wohnzimmer, Arbeitszimmer und Igneels Schlafzimmer, früher das Schlafzimmer seiner Eltern. Alles wurde liebevoll in Schuss gehalten und trotz wohl durchdachter Modernisierungsmaßnahmen strahlte die Wohnung auf positive Art etwas Altertümliches aus. Obwohl der Baustil überhaupt nicht zu vergleichen war, erinnerte es Weißlogia an die Familienvilla am Stadtrand, in der er aufgewachsen war und welche nun von seiner Schwester und ihrer Familie bewohnt wurde. Es war ein richtiges Zuhause mit einer Geschichte und Charakter. Schon bei seinem ersten Besuch hatte Weißlogia sich hier wohl gefühlt. Aus dem Arbeitszimmer drang Licht in den großzügigen Flur, aber Weißlogia ging daran vorbei und zum Schlafzimmer, um seinen Waschbeutel und Wechselsachen aus dem Rucksack zu holen, den er vor einigen Stunden dort deponiert hatte, ehe er wieder nach unten in die Bar gegangen war, um Igneel während der Arbeit Gesellschaft zu leisten. Beinahe war er schon wieder zur Tür heraus, als ihm etwas auf dem Nachttisch auffiel, was dort nicht hingehörte. Selbst im hier nur noch schwachen Licht der Straßenlaterne erkannte Weißlogia sofort, was es war. Es war dasselbe Samtkästchen, welches ihn in den letzten vier Monaten immer wieder in seinen Träumen heimgesucht hatte. Das Samtkästchen, das ihm so viele Chancen angeboten und das er dennoch abgelehnt hatte. Kurzum: Jener eine Gegenstand, den er am liebsten aus seiner Erinnerung streichen würde. Für einen Moment zögerte Weißlogia. Er konnte Igneel noch im Arbeitszimmer hören. Wahrscheinlich fuhrwerkte er noch mit dem Safe herum, der hatte seit einiger Zeit eine Macke. Weißlogia blieb also noch etwas Zeit – wofür auch immer, er wusste selbst nicht, warum er sich auf einmal darüber Gedanken machte. Langsam legte er seine Sachen auf dem Fußende des Bettes ab und ging hinüber zum Nachttisch, um sich aufs Bett zu setzen und das Samtkästchen in die Hand zu nehmen. Als er es vor vier Monaten das erste Mal gesehen hatte, hatte er sich nicht eine Sekunde lang Zeit genommen, es näher in Augenschein zu nehmen. Letztendlich war es auch jetzt nichts Besonderes. Eben einfach nur ein Samtkästchen, wie man sie überall kannte. Als Weißlogia es aufklappte, kamen zwei identische Eheringe für Männer zum Vorschein. Schlichte Silberreifen. Keine Steine, keine Ranken, keine Unebenheit, die sich Weißlogias Finger beim Ertasten offenbart hätte. Sie passten perfekt zu Igneel, der die Dinge immer so einfach hielt. Seine Gedanken waren so klar und direkt. Nicht so verschnörkelt und verdreht wie Weißlogias inneres Chaos. „Weiß?“ Vor Schreck ließ er das Samtkästchen fallen. Unnatürlich laut klappte es zu und rollte noch einen Meter weiter in Igneels Richtung. Dann blieb es liegen. Da auf dem Boden zwischen ihnen. Wie passend, wo es doch schon in den letzten vier Monaten irgendwie zwischen ihnen gelegen hatte. Sie mochten Beide so getan haben, als hätte es dieses Samtkästchen und alle Fragen, die damit zusammen hingen, nie gegeben, aber in Wahrheit hatte es Weißlogia bei jedem Schritt und Tritt verfolgt. Schwer schluckend hob Weißlogia den Blick zu Igneel an, der seinerseits noch immer auf das Kästchen hinunter blickte. Seine Gesichtszüge lagen im Schatten, aber seine breiten Schultern wirkten steif und seine Hände hatten sich zu Fäusten geballt. „Tut mir Leid, ich wollte nicht herumschnüffeln oder so“, murmelte Weißlogia und senkte den Blick unbehaglich. „Ich habe vergessen, es wieder in die Schublade zu stecken.“ Weißlogia konnte hören, wie sein Partner in den Raum herein trat, aber er starrte weiterhin auf den Dielenfußboden hinunter. Erst als Igneel sich vor ihm zu Boden kniete, war er gezwungen, ihn anzusehen. Im Halbschatten wirkte seine Miene ernst, beinahe verbittert. Weißlogia verspürte den Drang, mit seinen Fingern über die Falten im Gesicht des Anderen zu fahren, um sie zu glätten. Als Igneel das Kästchen wieder aufschnappen ließ, einen der Ringe heraus nahm und dann Weißlogias Hand ergriff, klopfte diesem auf einmal das Herz bis zum Hals. „Ist das okay?“, wisperte Igneel. Seine Stimme klang rau und Weißlogia hatte das Gefühl, das sich hinter dieser Frage tausend andere Fragen zu verbergen schienen. Es war falsch. Sie waren zu alt dafür. Sie trugen Beide die Verantwortungen für ihre Söhne. Sie durften sich nicht einfach so treiben lassen. Dennoch brachte Weißlogia es nicht fertig, ein Wort des Widerspruchs zu formulieren. Er ließ zu, dass Igneel das Schmuckstück auf seinen Ringfinger schob. Er kam ihm etwas zu weit vor und das Gefühl des Metalls auf der Haut war fremdartig, beinahe beängstigend. Schon wieder musste er schwer schlucken. „So sähe es also aus…“, murmelte Igneel und strich behutsam über Weißlogias Ringfinger, schob den Metallreif leicht hin und her. „Tut mir Leid, dass er zu groß ist. Ich hatte keine Ahnung von Ringgrößen. Deine Finger sind ja nun auch nicht so viel schmaler als meine, also dachte ich, meine Ringgröße wäre schon in Ordnung. Ich könnte es noch ändern lassen…“ Als Igneel Anstalten machte, den Ring wieder von Weißlogias Finger zu ziehen, ballte der die linke Hand zur Faust und griff mit der rechten nach Igneels Hand. „Igneel…“ Die Worte blieben Weißlogia im Halse stecken, als sein Partner den Blick hob. Um die Lippen des Pinkhaarigen spielte ein traurig-bitter Zug, der ihn ungewohnt verletzlich wirken ließ. Tief holte Weißlogia Luft, dann rutschte er von der Bettkante, umfasste Igneels Gesicht und küsste ihn. Beinahe sofort erwiderte der den Druck der Lippen. Seine Arme stützten sich links und rechts von Weißlogia am Bett ab und sein Oberkörper drängte sich immer dichter auf. Seine Lippen waren hungrig, geradezu verzweifelt und schafften es dennoch irgendwie, zärtlich zu bleiben, die Kontrolle aufrecht zu erhalten. Gerade wegen dieser Zärtlichkeit hatte Weißlogia das Gefühl, zu ertrinken. Seine Gedanken wirbelten immer schneller umher und seine Finger begannen so heftig zu zittern, dass sie von Igneels Gesicht abglitten. Sie suchten Halt an den breiten Schultern, klammerten sich schwach an das T-Shirt. Als sie selbst dort zu fallen drohten, wurden sie von Igneels Fingern aufgefangen. Langsam öffnete Weißlogia die Augen wieder, ohne sich erinnern zu können, wann er sie geschlossen hatte. Igneels Gesicht schwebte direkt über seinem, ihre Nasenspitzen nur Zentimeter voneinander entfernt. „Weiß… Ich habe nicht vergessen, was du an Weihnachten gesagt hast, und ich verstehe deine Gründe, aber…“ Igneels Stimme erstarb. In seinen Augen lag ein Flehen, das er wahrscheinlich all die Zeit seit seinem ersten Antragsversuch, der ihr erstes gemeinsames Weihnachten mit ihren Söhnen zum Platzen gebracht hatte, versteckt gehalten hatte. „Wir können das nicht einfach so tun, Igneel“, krächzte Weißlogia und klammerte sich an die starken Hände seines Partners. „Du hast Natsu und ich habe Sting und wir leben in einer gottverfluchten Kleinstadt.“ „Es ist egal, wo wir wohnen“, widersprach Igneel und drängte sich näher an Weißlogia. „Hinterweltler aus dem vorigen Jahrtausend wirst du selbst in Crocus finden.“ „Aber hier sind genug davon, die unseren Jungs das Leben schwer machen würden…“ Für einen Moment sah Weißlogia ganz deutlich das lachende Gesicht seines Sohnes vor sich. Sting war erst zehn Jahre alt. Seine Mitschüler waren genau in dem Alter, in dem man das vorurteilsbehaftete Getuschel von Erwachsenen unreflektiert weiter trug. Was sollte Weißlogia tun, wenn sein Sohn seinetwegen Probleme bekam? Verdammt noch mal, Weißlogia wusste noch ganz genau, wie hart es gewesen war, als er sein Coming Out gehabt hatte! „Ich will nicht, dass irgendjemand Natsu deswegen angeht“, fuhr Igneel fort. „Aber ich vertraue meinem Jungen, dass er versteht, dass es weder sein noch unser Fehler ist, wenn ihm so etwas passieren sollte. Er hat schon immer seinen eigenen Kopf gehabt. Und Sting ist ganz genauso. Er würde dir niemals einen Vorwurf machen.“ „Das muss er auch nicht“, murmelte Weißlogia und wandte gequält den Blick ab. Igneel stieß einen schweren Seufzer aus und zog sich zurück, um sich neben Weißlogia an das Bett zu lehnen. Er war nahe genug, um ihn zu spüren, aber weit genug entfernt, dass ihre Schultern einander nicht berührten. Es fühlte sich an, als wäre er Lichtjahre weit weg. Und das Schweigen legte sich wie eine erstickende Decke über sie. Hilflos starrte Weißlogia den Nachttisch an, während er sich den Ehering wieder vom Finger zog und daran dachte, wie er nur in diese Situation hatte geraten können. Um Sting Stabilität bieten zu können, hatte er sich nach seiner Geburt nie wieder auf irgendwelche Abenteuer eingelassen – nicht dass er bereute, es vorher getan zu haben, denn aus einem eben solchen Abenteuer war schließlich Sting hervor gegangen, aber genau das war Weißlogia auch eine Lehre gewesen. Er hatte seinen neuen Job als Klavierlehrer und seinen Sohn gehabt, um mehr hatte er sich keine Gedanken machen wollen. Und dann hatte er vor fünf Jahren Igneel kennen gelernt. Lange – wirklich lange – waren sie nur irgendetwas zwischen Bekannten und Freunden gewesen. Weißlogia hatte sich ewig eingeredet, die Zeichen falsch zu deuten, sowohl Igneels als auch seine eigenen. Es hatte erst einen kräftigen Schubs vom sonst so geduldigen Skiadrum gebraucht, um ihm die Augen zu öffnen, und selbst dann hatte er lange gezögert, sich darauf einzulassen. Es war Igneel gewesen, der die Initiative ergriffen, ihn nach Ladenschluss gegen die Theke gedrückt und geküsst hatte. Das war vor zwei Jahren gewesen. Zwei lange Jahre… „Meine erste Beziehung mit einem Jungen ist auch daran kaputt gegangen“, durchbrach Igneel die Stille. „Wir waren damals siebzehn und unser Klassenlehrer war ein homophobes Arschloch. Der perfekte Freibrief für all diejenigen, die nach Opfern für ihre Langeweile gesucht haben. Mein Freund hat nach drei Monaten die Schule gewechselt und den Kontakt abgebrochen. Vielleicht lebt er jetzt irgendwo ein artiges Leben, wie alle es von ihm erwartet haben, keine Ahnung.“ Die Geschichte kam Weißlogia sehr bekannt vor. Bei ihm war es ähnlich gelaufen. Vorher war er bei den Mädchen äußerst beliebt gewesen, aber nach seinem unfreiwilligen Coming Out hatten sie sich von ihm abgewandt und ihn angesehen, als hätte er Syphilis. „Damals habe ich mich dafür verflucht, dass ich mich habe erwischen lassen“, fuhr Igneel fort. „Aber heute bin ich froh drum.“ Verwirrt drehte Weißlogia sich zu Igneel um, der den Kopf in den Nacken gelegt hatte und zur Decke hoch starrte. „Froh drum?“, echote er langsam. „Weil es mir gezeigt hat, auf wen ich mich verlassen kann. Meine Familie hat zu mir gehalten. Und vorher dachte ich immer, Silver wäre ein Arschloch, aber er war derjenige, der die meisten Nasen für mich gebrochen hat…“ Igneels Lippen verzogen sich kurz zu einem erinnerungsseligen Lächeln. „Damals habe ich erst gelernt, was richtige Freunde sind. Es wäre vielleicht schön gewesen, das unter besseren Umständen zu lernen, aber insgesamt hat es mir doch nicht geschadet. „Und ich bin überzeugt, dass es bei Natsu nicht anders wäre. Er zankt sich vielleicht andauernd mit Gray und Gajeel und bringt Lucy andauernd auf die Palme, aber das sind dennoch gute Kinder, auf die er sich verlassen kann. Mein Junge ist nicht allein. Und wenn ich die Eltern von irgendwelchen dummen Gören vor Gericht zerren muss, die glauben, Natsu mobben zu können, nur weil ich schwul bin, dann tue ich das. Natsu ist es wert. Und du auch.“ Igneel drehte den Kopf herum, damit er Weißlogia in die Augen sehen konnte. Sein Gesicht wurde gut genug von der Straßenlaterne beleuchtet, dass die grimmige Entschlossenheit unübersehbar war. „Ich kann und will dich nicht dazu zwingen, Weißlogia, aber ich glaube daran, dass wir es gemeinsam schaffen können. Wir werden unsere Jungs nicht von vorneherein vor allem und jedem beschützen können, aber das könnten wir auch dann nicht, wenn wir alleine bleiben würden. Was spricht dann schon dagegen, wenn wir gemeinsam unser Bestes geben?“ Die Worte waren von einer entwaffnenden Logik und Weißlogia fielen auf Anhieb mehrere Freunde ein, auf die sein Junge sich in der Schule verlassen konnte. Außerdem war Sting stark und mit seinen zehn Jahren in mancherlei Hinsicht sogar klüger als viel Ältere. Sting hatte Weißlogias Beziehung zu Igneel nie in Frage gestellt. Er war ein guter Junge. Und er wäre wahrscheinlich überglücklich, hier zusammen mit Weißlogia einziehen und mit Igneel und Natsu eine Familie bilden zu können. Weißlogia wäre überglücklich, richtig hier leben zu können. Jeden Tag neben Igneel aufzuwachen und einzuschlafen, ihn zu unterstützen, ihm noch näher zu sein, eine richtige Familie mit ihm zu haben, mit ihm gemeinsam all die Hürden überwinden, die das Leben ihnen noch in den Weg stellen mochte… Tief holte Weißlogia Luft, dann stieß er sich vom Bett ab, um sich aufrecht hinzusetzen und nach dem Samtkästchen greifen zu können, das Igneel vorhin beiseite gelegt hatte. Vorsichtig nahm er den zweiten Ring heraus und hielt ihn hoch, den Blick auf seinen Gegenüber gerichtet, während er nach den richtigen Worten suchte. Wie fasste man all die Gefühle zusammen, die er für Igneel empfand? Wie all die Wünsche ausdrücken, die mit diesem schlichten Metallreif verbunden waren? Weißlogias Sprachrepertoire schien sich in Luft aufgelöst zu haben. „Ist es okay?“, krächzte er schließlich genau die Worte, die Igneel vorhin benutzt hatte und die sich trotz ihrer Banalität bedeutungsschwerer als jeder hochtrabende Schwur angefühlt hatten. Zur Antwort nahm Igneel sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn. Warm und zärtlich und so, so intensiv… „Mehr als nur okay“, sagte Igneel, seine Stimme mindestens genauso heiser wie Weißlogias, und streckte seine linke Hand aus. Darauf bedacht, den Ring auf keinem Fall fallen zu lassen, schob er ihn langsam über den richtigen Finger. Bei Igneel saß er genau richtig. Wie symbolträchtig. Behutsam öffnete Igneel danach Weißlogias linke Faust und nahm den Ring an sich, um ihn noch einmal eingehend betrachten zu können. Selbst im Halbschatten waren das selige Grinsen und das Leuchten in seinen Augen unübersehbar. Dieses Mal lag definitiv auch der Schalk in seinen Worten, als er sprach. „Ist es okay?“ Und aller großen Gefühle zum Trotz entfuhr Weißlogia auf einmal ein Schnauben. Wer würde ihnen jemals glauben, dass sie ihre Entscheidung, den Bund der Ehe einzugehen, mit so simplen Worten besiegelt hatten? Aber noch immer fielen Weißlogia keine besseren ein. Vertrauensvoll legte er seine Hand in Igneels und blickte dem Mann, der bald sein Mann werden würde, in die Augen. „Mehr als nur okay.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)