Wie man es noch sagen kann von Yosephia ([Romance OS-Sammlung/ Prompt-Liste]) ================================================================================ 10. “I’m sorry for your loss.” (GraLu) -------------------------------------- Zarte, schlanke Finger umschlossen Grays bebende Faust. Mehr taten sie nicht. Sie versuchten nicht, die Faust zu öffnen, strichen nicht darüber, um das Zittern zu beruhigen. Sie waren einfach nur da. Die Finger der einzigen Person, die wahrscheinlich so voll und ganz verstand, wie Gray sich fühlte. Wortlos standen sie vor den beiden Gräbern, einem neuen und einem alten, beide gleichermaßen nichtssagend und doch geradezu schreiend. In schlichter Blockschrift waren die Namen und Lebensdaten von Grays Eltern eingraviert. Kein blumiger Zusatz wie Geliebte Mutter und Ehefrau oder In ewiger Erinnerung oder was die Leute auch sonst noch auf die Grabsteine ihrer verstorbenen Angehörigen schreiben ließen. Wozu bräuchte es diese Zusätze auch? Die Hinterbliebenen, die hierher kamen, wussten auch so, um wen sie hier trauerten, und sie entschieden selbst, ob sie sich an sie erinnern und ob sie ihnen eine ewige Ruhe oder sonst was wünschen wollten. Und Fremde gingen diese Grabsteine nichts an. So hatte Silver es Gray mal vor einigen Jahren erklärt, als sie gemeinsam Mikas Grab besucht hatten. Deshalb waren die Dinge für Gray einfach gewesen, als der Bestattungsunternehmer ihn bezüglich der Grabinschrift angesprochen hatte. Alles war erschreckend einfach gewesen. Irgendwie hatte Gray die ganze Zeit gewusst, wie er die Beerdigung seines Vaters organisieren musste. Ganz klar hatte er alles vor Augen gehabt, hatte alle Anrufe mit völliger Ruhe getätigt, hatte das Geld für den Bestattungsunternehmer und für die Grabmiete aufgetrieben. Alles ohne auch nur einmal zu wanken. War er so gut darauf vorbereitet gewesen? Hatte er tief in seinem Herzen gewusst, dass das auf ihn zukommen würde? Nein, wie hätte er das voraussehen sollen? Sein Vater hatte einen völlig harmlosen Job gehabt, bei dem eindeutig mit einem schnellen Tod nicht zu rechnen war, und keines seiner vielen Hobbys war lebensgefährlich gewesen. Nein, Silver Fullbuster war nach einem ganz normalen Arbeitstag auf dem Heimweg gewesen, als das Auto vor ihm scharf gebremst hatte, weil sich die Ladung des davor fahrenden LKWs selbstständig gemacht hatte. Zwar war es Silver gelungen, rechtzeitig zu bremsen, aber die nächsten drei Fahrer waren zuvor alle zu dicht aufgefahren und Silver war dreimal nach vorn geschoben worden, eingequetscht zwischen Vorder- und Hintermann… So etwas passiert auf den fiorianischen Straßen immer wieder. Dazu gab es erschreckende Statistiken. Aber diese Statistiken waren einfach nur dumme Zahlen gewesen. Niemand ging jemals davon aus, dass er Inhalt dieser Diagramme und Tabellen werden könnte. Mit so etwas rechnete man einfach nicht, wenn man ein gutes Leben führte! Gray biss sich auf die Unterlippe und senkte den Blick auf seine Füße. Die Finger lagen noch immer auf seiner Faust, weich und sanft, aber kalt vom erbarmungslosen Herbstwind. Sie rührten sich nicht. Nicht einmal ein Zittern ließen sie erkennen. Fast als würden sie zu einer Statue gehören. Dieselben Finger hatten Grays Hand gehalten, als er die Nachricht vom Tod seines Vaters erhalten hatte. Als er alles mit dem Bestattungsunternehmer geklärt hatte, waren sie da gewesen. Und bei der Beerdigung hatten sie sich zwischen seine Finger geschoben. Sie hatten in der Nacht danach die Feuchtigkeit von seinen Wangen gewischt, immer und immer wieder. Und kein einziges Mal hatten sie gezittert. Vielleicht waren diese Finger – und alles, was noch dazu gehörte – der Grund dafür, dass er das alles irgendwie überstanden hatte, ohne völlig zusammen zu brechen. Vielleicht waren es diese zarten Finger gewesen, die ihn aufrecht gehalten hatten, ja, beinahe könnte man sogar sagen, sie hatten ihn am Leben erhalten. „Du solltest dir Handschuhe anziehen.“ Gray war selbst verwirrt, warum die ersten Worte, die er jemals am Grab seiner Eltern heraus brachte, etwas so Triviales enthielten, doch in dem Moment, da ihm dieser Gedanke gekommen war, hatte er ihn auch schon ausgesprochen. „Du hast damals auch keine angezogen.“ Langsam hob Gray den Blick und erkannte das Lächeln auf den Lippen seiner Freundin, das keines war und zugleich doch. Es war so traurig und müde und einsam, aber gleichzeitig voller Dankbarkeit und Zuneigung. Gray fragte sich, ob das Lächeln, das er sich vor drei Jahren für Lucy abgerungen hatte, genauso widersprüchlich gewirkt hatte. Unwillkürlich befreite er seine Hand, nur um sie gleich um zarten Finger zu schließen, sie vor der Kälte zu schützen. Die Glieder drehten sich in seinem Griff, bis sie sich zwischen seine Finger schieben konnten. Als sich ihre Finger vollständig miteinander verschränkt hatten und sich ihre Handflächen aneinander pressten, trat Lucy näher an ihn heran. In ihren großen, braunen Augen erkannte Gray immer noch eine Spur des Schmerzes, den sie vor drei Jahren durchgemacht hatte, als sie ihren Vater zu Grabe getragen hatten – in viel zu jungen Jahren einem Schlaganfall erlegen. Überarbeitung, hatten viele damals getuschelt. Vorher zu sehen. Für Lucy war es nicht absehbar gewesen. Ihr hatte es den Boden unter den Füßen weg gerissen, den Vater zu verlieren, dem sie sich endlich angenähert hatte. Alles, was Gray damals hatte tun können, war, für sie da zu sein, ihre Hand zu halten, sie in den Arm zu nehmen. Er hatte sich dabei immer so schrecklich unzulänglich gefühlt, als würde er als Lucys Freund versagen. Heute wusste er, dass er damals gar nicht mehr hätte tun können. Ihm waren damals genau dieselben Grenzen gesetzt gewesen wie heute Lucy. Mehr als füreinander da zu sein, konnten sie nicht. Es war schwer zu sagen, ob das tatsächlich reichte. Grays Trauer verschwand nicht einfach, nur weil Lucy seine Hand hielt. Sein Schmerz und seine Sehnsucht lösten sich nicht in Luft auf, seine Wut auf die geheuchelten Beileidsbekundungen wurde nicht gemildert, die Leere in seinem Leben nicht gefüllt. Aber irgendwie hielt Lucy ihn am Boden verankert. Sie gab ihm das Gefühl, dass es neben der Trauer auch andere Dinge – Empfindungen – gab. Vielleicht war ja doch etwas an dem Spruch dran, dass die Zeit alle Wunden heilte… „Lass’ uns nach Hause gehen“, murmelte Gray und wandte sich endgültig von den Gräbern ab. „Du solltest dich aufwärmen.“ „Gray…“ Er blickte zurück, als seine Freundin ihm nicht folgte, sondern einfach stehen blieb, wo sie war. Sie öffnete die Lippen, schloss sie wieder, öffnete sie noch einmal. Beinahe wirkte es, als würde sie an etwas würgen. Im nächsten Moment stand Gray vor ihr und schlang die Arme um ihren Körper, denn er wusste, was sie sagen wollte und doch nicht konnte. Dieselben Worte, die er vor drei Jahren nie über die Lippen gebracht hatte, weil sie sich abgenutzt und bedeutungslos angefühlt hatten. Jeder sagte sie in so einer Zeit andauernd, ohne sie tatsächlich so zu meinen. Gray hatte sich nicht bei den Heuchlern einreihen wollen, obwohl diese Worte genau das ausgedrückt hätten, was er tatsächlich empfunden hatte. Zitternd drückte Gray den Körper seiner Freundin noch enger an sich und führte seine Lippen an ihr Ohr, schluckte den Kloß in seinem Hals herunter, um endlich das zu sagen, was er vor drei Jahren nicht hatte sagen können. Er meinte es heute genauso ernst wie damals und gleichzeitig wusste er, dass auch Lucy es ernst meinte, selbst wenn sie es noch nicht aussprechen konnte. „Herzliches Beileid.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)