Erinnerungen an ein Palastleben von C-T-Black ================================================================================ Kapitel 10: Zwei Gräber der Hoffnung ------------------------------------ Benjiro ließ den Blick über den Wald wandern. Natürlich hatte er von Anfang an gewusst, dass ihre Mission ihn so weit in den westlichen Süden bringen könnte, doch jetzt wieder hier zu sein überwältigte ihn. Dieser Anblick brachte so viele, gut verdrängte Erinnerungen und Gefühle zurück, dass seine Hände zu zittern begannen. Seitdem er seine Familie verloren hatte, war er nicht mehr hier her zurückgekehrt. Jetzt wieder da zu sein… Zu sehen, dass das Leben weiter gegangen war und zu spüren, dass sich hier mittlerweile ein neues Rudel niedergelassen hatte, das zog ihm fast den Boden unter den Füßen weg. Aber es hatte keinen anderen Weg gegeben. Der schnellste Weg zurück nach Hagi hatte sie zuerst weiter Richtung Süden geführt, wo sie jetzt eine Straße erreicht hatten, die sie auf direktem Weg zurückbringen würde. Nur führte diese Straße direkt an seinem alten Territorium vorbei. Einem Territorium, das er einstmals als Einziger lebend verlassen hatte. Am liebsten hätte er das neue Rudel aufgesucht und dieses aus seinem Territorium vertrieben, doch das stand ihm schon lange nicht mehr zu. Und irgendwie beruhigte es ihn, zu wissen, dass man hier wieder leben konnte. Er schloss einen Moment die Augen und atmete tief ein. Ließ den Wald und all seine Bewohner auf sich einströmen und versetzte sich zurück in eine Zeit, in der noch alles in Ordnung gewesen war. Doch dieser Ausflug dauerte nur einige Minuten. Das Geräusch eines zerbrechenden Zweiges riss Benjiro aus seinen Gedanken. Irgendjemand näherte sich aus dem Wald hinter ihm, doch da der Wind von vorne kam, konnte er nicht ausmachen wer es war. Aber er hatte eine Vermutung. Eine Vermutung, die wenig später bestätigt wurde, als Kasumi auf den Felsvorsprung trat. „Was willst du hier?“, fragte Benjiro gereizt und ohne sich umzudrehen. Kasumi blieb stehen. Sicher zitterte sie vor Angst und dennoch war sie hier. Er verstand diese Frau einfach nicht. Was brachte sie nur dazu gegen all den gesunden Menschenverstand zu handeln? „Du bist nicht zum Essen erschienen. Deshalb habe ich dir etwas mitgebracht.“ Ihre Stimme war ruhig und ihr Herzschlag verhältnismäßig gleichmäßig. Sie wagte es sogar noch ein paar Schritte näher zu kommen um etwas auf den Boden zu stellen. Benjiro wünschte sich der Wind würde drehen, damit er riechen können was sie fühlte. „Nein, danke!“ Sie zuckte. Das bemerkte er sogar, ohne sie riechen zu können und unwillkürlich musste er lächeln. Was auch immer sie an sich hatte, sie schaffte es jedes Mal seine Yōkai-Instinkte zu wecken. Egal wie gut er sie auch zu verbergen suchte. „Ich werde es trotzdem hier lassen.“, sagte sie nach einem Moment und wandte sich um, um wieder zu gehen. Ein warnendes Knurren dran über Benjiros Lippen. Hier, in seinem alten Revier waren seine Nerven so dünn, dass sein Yōkai jede Sekunde hervorbrechen konnte und Kasumis Auftauchen hatten diesen Zustand nur verschlimmert. Das sie jetzt wieder ging, das brachte ihn irgendwie in Rage. Er konnte es sich selbst nicht erklären, doch als er sich jetzt umdrehte, glühten seine Augen wie Feuer und seine Pupillen verengten sich zu Schlitzen. Seine gut gestutzten Fingernägel fuhren sich zu Klauen aus und seine Instinkte fuhren zu hundertprozentiger Leistung hoch. Er war ein Raubtier, bereit zu jagen und zu töten und Kasumi hatte ihm den Rücken zugewandt. Innerhalb eines Sekundenbruchteils hatte er sie erreicht und gegen den Stamm einer mächtigen Eiche gedrückt. Die Hände an ihre Schultern gepresst, so dass seine Klauen in das Holz drangen. „Warum bist du hier?“, fragte er erneut. Seine Stimme mehr ein Knurren als verständliche Worte. Kasumi reagierte nicht, doch zum ersten Mal an diesem Abend nahm er ihren Geruch war. Sie hatte Angst, dass konnte er nur zu genau an ihr rieche, doch es war nicht wie sonst. „Du bist von Furcht erfüllt und dennoch kommst du immer wieder in meine Nähe. Was ist das nur mit dir? Sehnst du dich etwa nach dem Tod?“ Sie schluckte und jetzt endlich sah sie zu ihm auf. Ihr Blick jedoch alles andere als angsterfüllt. „Ich bin hier, weil ich mich Sorge und ich bin nicht mehr bereit mich von einer Angst beherrschen zu lassen, deren Ursachen ich vergessen habe!“ Von einer Sekunde zur anderen schlug der Geruch nach Angst in den von Mut um. Ihre Stimme war fest und selbstsicher und ihr Blick zeigte eine Entschlossenheit, die er nur selten bei Menschen gesehen hatte. Diese Frau brachte ihn noch einmal um den Verstand. „Es ist nicht deine Aufgabe dich zu Sorgen. Was ich tue oder nicht, das geht dich absolut nichts an!“, knurrte er. Dabei kam er ihr so nahe, dass sie sich fast berührten, bevor er sich von ihr löste und wieder auf den Felsvorsprung zuging. „Es tut mir leid!“, sagte sie nach einem Moment leise. Das ließ ihn stehen bleiben und noch einmal über seine Schultern sehen. „Das sollte es auch-“ „Nicht deswegen, sondern wegen deinem Rudel…“ Benjiro fuhr herum und starrte sie ungläubig an. „Was meinst du?“, fragte er verwirrt. „Das hier war einmal dein Reich oder etwa nicht. Ich kann es in deinen Augen sehen… Es ist sicher nicht leicht für dich wieder hier zu sein.“ Benjiro hatte es von Kazuma gehört. Er hatte ihm den Moment beschrieben, als sie ihn so dermaßen überrascht hatte, dass er wusste, dass sie etwas ganz besonderes war. Genau das gleiche Erlebnis hatte er in diesem Moment. Er konnte es sich nicht erklären, aber diese menschliche Frau war in der Lage ihn komplett und bis auf den Boden seiner tiefsten Finsternis hinein zu durchschauen. Etwas, dass noch nie jemand bei ihm geschafft hatte. Und offenbar war ihre Angst damit verschwunden, denn er konnte keine Spur mehr davon an ihr ausmachen. Benjiro wandte sich ab und ließ seinen Blick wieder über den Wald wandern. „Du solltest zurück zum Lager gehen. Kazuma wird sich sicher schon sorgen!“ Diesmal widersprach sie nicht. Fast lautlos verschwand sie im Wald und ließ das Essen für ihn zurück. Benjiro brauchte einen Moment der Reglosigkeit, bevor er zu dem Essen hinunter sah, dass neben ihm stand. Reis und Fisch, liebevoll zusammengeschnürt. Sie hatte sich also wirklich sorgen um ihn gemacht. Mit einem Lächeln auf den Lippen hob er das Paket auf und begann die Portion zu essen. Hätte Kasumi gewusst, was in Benjiro vor sich ging, wäre sie heute Nacht nicht zu ihm gekommen. Sie hätte ihm seinen Raum gelassen und einen anderen Moment gesucht um endlich mit ihm zu reden. Aber sie hatte fast nichts von ihm gewusst und die Wahrheit in seinen Augen zu sehen, das hatte ihr einen Einblick gegeben, den sie so niemals erhalten hätte. Ein Einblick, der ihr gezeigt hatte, dass sie sich nicht vor ihm zu fürchten brauchte. Er war einmal der Herr eines großen Rudels gewesen und er hatte jeden einzelnen seiner Kammeraden verloren. Freunde. Familie. Und er war bereit gewesen ihnen zu folgen. Die Schuld, dass er noch lebte, hatte sie ganz deutlich in seinem Blick gesehen. Doch er hatte neue Freunde gefunden, die ihm gezeigt hatten, dass es sich lohnte weiter zu leben. Dafür war sie sehr dankbar. Ein nahes Knurren ließ Kasumi herumfahren. Sie hatte nicht bemerkt wie sich jemand näherte und erwartete fast Benjiro, doch was im nächsten Moment aus dem Unterholz sprang, war etwas völlig anderes. Nämlich ein gigantischer Wolf, der mit seinem erhobenen Kopf fast waagrecht in Kasumis Augen sehen konnte. Er fletschte die Fänge und setzte zu einem weiteren Sprung an. Kasumis Gehirn setzte aus und sie konnte nichts anderes mehr tun als wegzulaufen. Es war purer Instinkt, der in ihr schrie um ihr Leben zu rennen und das tat sie. Sie lief so schnell sie konnte durch den Wald wobei immer wieder Bilder eines anderen Waldes vor ihrem inneren Auge aufflackerten. Ein fremder Wald, in dem sie schon einmal von Wölfen verfolgt worden war. Sie war jung gewesen. Höchstens acht Jahre. Doch sie war nicht entkommen. Diese Tatsache ließ Kasumi stolpern und fast zu Boden fallen. Angst schnürte ihr die Kehle zu, doch als sie die glühenden Wolfaugen hinter sich erblickte, entrang sich ihrer Kehle ein panischer Schrei. Sie wollte nicht sterben. Nicht bevor sie wusste, wer sie war und wohin sie gehörte. Also rannte sie weiter. Immer weiter, bis ein weiteres Paar Wolfsaugen vor ihr aufblitzte und sie zum Stehen brachte. Sie hatten sie eingekesselt. Kasumi drängte sich an den Stamm des nächsten Baums und ließ ihre Hand über ihr O-Mamori gleiten. Ihren Stab fest in den Händen haltend, würde sie auf keinen Fall kampflos aufgeben. Die zwei Wölfe kamen langsam und geschmeidig auf sie zu. Sie wussten, dass sie ihr Opfer dort hatten wo sie es wollten, also konnten sie sich Zeit lassen. Kasumi griff ihren Stab fester und hob ihn in eine verteidigende Haltung. „Kommt doch. Ich werde auf keinen Fall einfach so aufgeben. Wenn ihr etwas zum Fressen wollt, dann müsst ihr es euch verdienen!“, rief sie dabei. Die Wölfe knurrten und stellten ihre Nackenhaare auf. Ihre Fänge glänzten schneeweiß in der Nacht. Sie waren bereit ins Rot einzutauchen und dort den Rest der Nacht zu verbleiben. Einer der Beiden setzte zum Sprung an und Kasumi war bereit zuzuschlagen. Er sprang los und sie war auf den Einschlag gefasst, als der Wolf wie aus dem Nichts aus der Luft gepflückt und zu Boden geschleudert wurde. Ein Knurren, dass Kasumi bis ins Mark erschütterte, donnerte durch den Wald und eine silberne Mähne blitzte vor ihr auf. „Benjiro…“, es war nur ein Flüstern. Ein Gebet auf ihren Lippen, doch er hörte es und schien dabei noch zu wachsen. So groß wie in diesem Moment hatte sie ihn gar nicht in Erinnerung, doch er stand hier vor ihr und verteidigte sie vor den Wölfen. Ein Wolf, gegen seinesgleichen um einen Menschen zu beschützen. Die beiden Angreifer hatten ihre erste Überraschung überwunden und griffen jetzt gemeinsam an. Sie versuchten Benjiro zu umzingeln, doch er ließ sie nie so weit kommen. Im Gegenteil, er versuchte sogar sie zu umzingeln. Er wollte sie zusammentreiben und weiter von Kasumi weglocken und als einer der Wölfe los sprang, trat er ihm entgegen und biss ihm in die Kehle, bevor der Wolf überhaupt reagieren konnte. Dieser winselte verletzt und versuchte sich zu befreien, doch das ließ Benjiro nur noch fester zubeißen. Er knurrte. So wild und ungezügelt, dass Kasumi froh war, dass er auf ihrer Seite war. Sie durfte nur nicht vergessen ihn niemals zu verärgern. Erst als sich der zweite Wolf langsam zurückzog, ließ Benjiro von dem anderen und beide verschwanden winselnd im Wald. Einen Moment verharrte er noch in seiner Angriffsposition. So lange, bis er sich sicher war, dass die Wölfe nicht zurückkommen würden. Erst dann entspannte er sich und fuhr zu Kasumi herum. Diese hielt immer noch ihren Stab in Händen, doch als Benjiro mit großen Schritten auf sie zu kam ließ sie ihn fallen und lief in seine Arme. Die Tränen, dir ihr in diesem Moment über die Wangen strömten konnte sie nicht zurückhalten. Sie war so froh noch am Leben zu sein, dass sie nicht anders konnte. „Bist du verletzt, Imōto-chan?“, fragte er sanft, während er seine Arme um sie schlang. Kasumi brauchte noch einen Moment, bevor sie sich über das Gesicht wischte und zu ihm aufsah. „W- Wie hast du mich genannt?“, fragte sie, ohne seine Frage zu beantworten. Benjiros Lachen war wie Balsam für ihre erschreckte Seele. „Imōto-chan.“, sagte er noch einmal, woraufhin sie ihm ein Lächeln schenkte. „Mir geht es gut.“, sagte sie schlicht, was Benjiro befreit aufatmen ließ. Er war so erleichtert, dass er seine Stirn an ihre drückte, die Augen schloss und tief einatmete. Es war ein Zeichen der Zuneigung und ein Zeichen der Prägung. In diesem Moment schoss ein anderes Bild vor Kasumis inneres Auge. Ihr Mann, den sie immer nur verschwommen in ihren Erinnerungen sah. Doch diesmal erkannte sie silberweißes Haar und goldene Augen, die sie zu verbrennen schienen. In ihrer Erinnerung drückte auch er seine Stirn an ihre und prägte sich ihren Geruch ein. Hielt sie fest an sich gedrückt, um sich davon zu überzeugen, dass es ihr gut ging und dass er sie nicht verloren hatte. Und sorgte gleichzeitig dafür, dass er keine Nuance ihres Geruchs jemals wieder vergas. Damit er sie im Ernstfall schnell wiederfinden zu konnte. Das Gefühl geliebt zu werden, war in diesem Moment so überwältigend, dass sich Kasumi fester an Benjiro klammerte. Doch ihr war klar, dass sie diese Liebe nicht für ihn empfand, sondern für ihren Mann, der irgendwo da draußen war. Und sie war fest entschlossen ihn wiederzufinden. „Ich bin froh, dass ich noch rechtzeitig gekommen bin. Lass uns jetzt zurück gehen. Dieser Wald ist kein Ort für dich.“, sagte Benjiro, nachdem er sich wieder von ihr gelöst hatte. Kasumi nickte, woraufhin Benjiro ihre Hand ergriff und auf dem ganzen Weg durch den Wald keinen Millimeter von ihrer Seite wich. „Ich weiß jetzt, woher meine Angst vor Wölfen kommt.“, sagte Kasumi nachdem sie ein gutes Stück gegangen waren. Benjiro sah zu ihr und seine Augen hüllten sie in ein angenehm warmes Licht. „Du hast etwas gesehen?“ „Ich war jung. Sehr jung und floh vor einem Rudel Wölfe. Sie haben mich gejagt und… und getötet…“ Benjiro griff Kasumis Hand fester und blieb stehen um sie besser ansehen zu können. „Aber du bist am Leben!“, sagte er ruhig. Kasumi nickte. „Ja, das bin ich. Er hat mich zurückgeholt. Mit seinem Schwert, das kein Leben nehmen, sondern nur Leben geben kann.“, erklärte sie. Benjiro atmete hörbar ein, bevor er begann weiter zu laufen. „Wenn wir zurück sind, dann werden wir ihn suchen!“ Kasumi sah zu Benjiro auf, wie er eisern versuchte seinen Blick gerade aus zu halten. Sie wusste es. Von Kazuma, von ihm und sogar Keiji. Sie liebten sie. Auch wenn Benjiro und Keiji es niemals zugeben würden. Aber ihr reichte es, dass sie es wusste. Deshalb schmiegte sie sich an seinen Arm. „Danke, dass du heute mein Leben gerettet hast und bitte verzeih mir, dass ich so lange Angst hatte. Das war nie gegen dich persönlich gerichtet.“ Endlich hatte Kasumi aussprechen können, was sie schon lange hatte sagen wollen und es fühlte sich gut an. Völlig erschöpft, von dem Aufstieg auf den Hügel, ließ sich Kasumi auf den nächstbesten Stein sinken. Früher hätte sie keine Probleme mit so einem Hügel gehabt, aber in den letzten Wochen war ihr Kind enorm gewachsen und ihr Bauch hatte sich ein gutes Stück nach vorne geschoben. Deshalb schnappte sie jetzt auch mehr nach Luft als die Aussicht zu genießen. "Alles in Ordnung mit dir?" Benjiros Stimme ließ sie aufsehen und als sie sein besorgtes Gesicht sah schenkte die ihm ein beruhigendes Lächeln. Wenn ihr gestern um diese Zeit noch jemand gesagte hätte, dass sie schon heute allein mit Benjiro unterwegs sein würde, hätte sie ihn für verrückt erklärt. Und doch saß sie jetzt hier. Schon als sie gestern Abend, Seite an Seite, zurück zum Lager gekommen waren, wären Kazuma und Keiji fast die Augen heraus gefallen. Als Benjiro dann heute Morgen vor ihrem Zelt auf sie gewartet hatte waren seine Wangen leicht rot gewesen, als er sie darum gebeten hatte mit ihm zu kommen. Er war dabei so süß gewesen, dass sie unmöglich hatte ausschlagen können. "Mach dir keine Sorgen. Es fällt mir nur schwer Luft für zwei zu holen.", erklärte sich Kasumi und versuchte ihn damit zu beruhigen. Benjiro ließ seinen Blick noch einmal über Kasumi wandern, bevor er leicht den Kopf schüttelte. "Warte hier.", sagte er, bevor er davon stapfte. Keine fünf Minuten später kam er zurück mit einer Schale voll Wasser, die er ihr wortlos reichte. Kasumi sah ihn einen Moment an, bevor sie ihm erneut ein Lächeln schenkte und die Schüssel entgegen nahm. "Vielen Dank, Benjiro!" Das Wasser war eiskalt und floss wie Samt ihre Kehle hinunter. Es war eine einzige Wohltat. Doch sie verschluckte sich fast daran, als sich Benjiro vor sie kniete, einen ihrer Füße ergriff und begann diesen zu massieren. "B- Benjiro? Was tust du da?", fragte sie völlig überfordert mit der Situation. Benjiro starrte verbissen auf einen Punkt am Boden, rechts von Kasumi und bei ihrer Frage stieg erneut leichte Röte in seine Wangen. Doch er hörte nicht auf ihren Fuß zu massieren. "In diesem Zustand ging es meiner Frau nach einer Fußmassage immer besser.", erklärte er schließlich verlegen. Bei diesen Worten wurde Kasumi ganz anders. Ihre Beziehung hatte sich erst gestern zum besseren gewandelt. Zwar hatte sich innerhalb dieses Abends ein starkes Band zwischen ihnen gebildet, doch sie hätte nicht erwartet, dass er sich so weit öffnen würde um so etwas mit ihr zu teilen. In diesem Moment wirkte er wie eine andere Person und Kasumi bekam eine Vorstellung davon wie alt er eigentlich war. "Wo ist sie jetzt? Sie und euer Kind?", fragte sie nach einem langen Moment, in dem sie nach Worten suchte. Zuerst dachte sie er würde ihr nicht antworten, doch dann wechselte er den Fuß und begann zu sprechen. "Nicht weit von hier... Das hier war immer ihr Lieblingsort. An der Grenzen zu unserem Territorium. Amaya mochte den Gedanken einfach mit mir und unserem Kind davon zu laufen. Damit ich ihr allein gehören würde. Ihr und Daichi." Benjiro klang wehmütig als er das sagte und Kasumi spürte, dass er von einem anderen, einem lange vergangenen Leben sprach. „Tut mir Leid… Es ist wirklich wunderschön hier!“ Zum ersten Mal seit dem Aufstieg ließ Kasumi ihren Blick aufmerksam über ihre Umgebung schweifen. Es war ein friedlicher Ort hier. Ein Hügel, der den Wald überragte und von dem aus man sogar das entfernte Meer sehen konnte. Mit dem weiten Land auf seiner anderen Seite war es der perfekte Platz um über alles einen Überblick zu haben und um neue Reiche zu sehen. Kein Wunder also, dass er hier gerne gewesen war. Er und seine Frau… „Niemand weiß davon. Nur Keiji und Kazuma. Keiji, weil er mich hier aufgelesen hat und Kazuma… naja, weil er einfach ist wer er ist.“, erklärte Benjiro. Kasumi wand ihren Blick wieder auf Benjiro. Es lag kein Schmerz in seinen Worten. Wie lange musste diese ganze Sache schon her sein, dass er so frei von Trauer darüber sprechen konnte? Auch wenn sich Kasumi nicht an ihr Leben erinnern konnte, sie war sich nicht sicher, ob sie es überwinden könnte, wenn ihr Mann starb. Er oder ihr Kind. „Danke, dass du es mir gesagt hast.“, sagte sie deshalb leise. Bei diesen Worten hob Benjiro seinen Blick und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Kasumi Schmerz darin zu sehen. Doch dieser Eindruck hielt keinen Wimpernschlag, bevor sein Ausdruck einem friedlicherem wich. „Ich hatte mir einmal geschworen nie wieder hier her zurückzukehren. Ich wolle diesen Schmerz nicht mehr ertragen und nicht daran erinnert werden… Es ist mein erster Schwur, den ich gebrochen habe. Aber gerade erinnert mich dieser Ort nicht an das Leid, sondern an die schönen Tage, die ich hier verbracht habe. Es scheint mir fast… friedlich. Das Leben ist an diesen Platz zurückgekehrt und das macht mich glücklich. Amaya hätte das sicher gefallen.“ Kasumi spürte, wie ihr die Tränen in die Augen tragen, weshalb sie den Blick abwand und eine Träne aus dem Augenwinkel wischte. Benjiros Frau war mit Sicherheit eine Yōkai gewesen und dennoch war sie gestorben. So wie Kasumi weit vor ihrem Mann sterben würde. Diese Erkenntnis erfüllte sie mit Traurigkeit. Doch zu sehen, dass Benjiro weiterlebte. Dass er das Beste aus seinem Leben machte und versuchte jeden Moment zu einem besonderen zu machen, dass stimmte sie zuversichtlich. „Ich bin mir sicher, dass es deiner Frau gefallen hätte. Ich würde mir auch immer wünschen, dass mein Mann glücklich ist. Wo auch immer er jetzt ist…“ Benjiro beendete die Fußmassage, erhob sich wieder und reichte Kasumi seine Hand. „Danke, Kasumi… Ich würde es dir gerne zeigen.“, erklärte er sich und als Kasumi seine Hand ergriff, führte er sie ein Stück über den Hügel. Auf der anderen Seite des Hügels blieb er stehen. Direkt vor zwei Gräbern, die in weiße Steine gefasst waren und deren Holztafeln man fast nicht mehr lesen konnte. „Es ist bereits über fünfzig Jahre her und ich bin mir sicher, dass ich sie auch in fünfhundert Jahren nicht vergessen werde. Ich möchte, dass du daran denkst, wenn du dich wieder erinnern kannst. Wir Yōkai neigen dazu unsere Gefühle nicht zu offenbaren, aber ich bin mir sicher, dass dich dein Mann ebenfalls niemals vergessen wird!“ Kasumi sah von den Gräbern zu Benjiro und wusste nicht, was sie sagen sollte. So lange hatte er ihre Gräber nicht besucht, weil der Verlust noch zu frisch für ihn war. Dennoch hatte es keinen Tag gegeben, an dem er nicht an sie gedacht hatte. Für Yōkai verging die Zeit wahrhaftig anders. Langsamer. Was ihnen mehr Zeit gab, sich an alles zu erinnern, was ihnen wichtig war. In diesem Moment spürte Kasumi wie sich ihr Kind regte und begann sie zu treten. Sicher war der Aufstieg und die ganzen Emotionen zu aufregend für den Kleinen gewesen. Behutsam legte sie eine Hand an die Stelle, an der sie die Tritte spürte und schloss einen Moment die Augen. Sie gab sich der Vorstellung hin, dass ihr Mann jetzt bei ihr war. Das seine Hand jetzt auf ihrem Bauch lag und das er Lächeln würde, wie sie es tat. Voller Stolz und Zuversicht, was die Zukunft bringen würde. „Danke, Benjiro.“, hauchte Kasumi schließlich. Sie pflückte ein paar Blumen in der Nähe und legte diese auf die beiden Gräber, bevor sie ein stilles Gebet sprach in dem sie um den Frieden von Benjiros Familie bat. In diesem Moment wehte eine frühlingswarme Briese über den Hügel und es fühlte sich an, als wollte diese Kasumi und Benjiro liebkosen und sich für die Gebete bedanken. Als Kasumi zu Benjiro aufsah, wusste sie, dass sich ihr Band noch verstärkt hatte. Sie wusste, dass sie einen Freund gewonnen hatte. Einen wahren Bruder im Geiste. Den sie niemals wieder verlieren würde. Dieser Gedanke ließ sie Lächeln und mit diesem Lächeln stiegen sie wieder vom Hügel und machten sich auf den Weg zurück zu den anderen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)