The Wolves among us von UrrSharrador ("Die Werwölfe erwachen. Sie wählen ihr heutiges Opfer ... Die Werwölfe schlafen wieder ein." [Video-Opening online]) ================================================================================ Kapitel 5: Dräuendes Unheil --------------------------- ~ 5 ~ Oberste Priorität hatte Inos Wunde gehabt. Sakura hätte ja zuerst Sasuke behandelt, wenn sie nur irgendeine Ahnung gehabt hätte, wie sie das hätte anstellen sollen. Dank ihres Medizinstudiums hatte sie einigermaßen Erfahrung mit beschädigten menschlichen Körpern, und es war eine Wohltat für ihre Seele, dass sie nun tatsächlich etwas Nützliches tun konnte – all ihre Freunde waren zwar verletzt worden, aber keinem hatte Sakura helfen können. Dennoch waren ihre Möglichkeiten hier extrem beschränkt. Ino erklärte ihr, wo im Schlafzimmer der Erste-Hilfe-Koffer zu finden war, aber selbst ihr mitgebrachter Verbandskasten enthielt nichts, das Sasuke retten konnte. Ein Wort kam ihr in den Sinn, das Sasuke vielleicht geholfen hätte – Thoraxdrainage –, doch sie war weder Chirurgin noch Notärztin und wusste gar nicht, wo sie hätte anfangen sollen. Und wie sollte sie das hässliche Loch in seinem Brustkorb schließen? Immerhin konnte sie etwas für Ino tun. Obwohl sie tief in ihr Fleisch eingedrungen war, hatte die Messerspitze keine wichtigen Organe verletzt – zumindest soweit Sakura das sagen konnte. Sakura desinfizierte die Wunde und nähte sie auf Inos Bitte hin sogar behelfsmäßig. Dann legte sie einen Verband an, so fest es ging. Auch wenn geplant gewesen war, dass sie die Hütte heute verlassen würden: In ihrem Zustand würde Ino nirgendwohin gehen. Abgesehen von ihren Schmerzen hatte sie viel Blut verloren. Sasuke zuzusehen, wie er seine letzten Atemzüge tat, brach Sakura förmlich das Herz. Selbst Ino sah stumm zu und enthielt sich jeden Kommentars, obwohl sie ihn regelrecht hassen musste. Ihr Gesicht noch von Tränen feucht, kniete Sakura neben ihm und hielt seine Hand, die sich erstaunlich fest um ihre schloss, aber sie wusste nicht einmal, ob er noch instinktiv versuchte, gegen sie zu kämpfen. Sasuke hatte die Augen geschlossen und brachte nur noch ein tonloses Hauchen hervor, und seine Worte konnte sie nicht verstehen. Und sie war hilflos, abgeschnitten von der Zivilisation, von Ärzten und Sanitätern, von allem, was menschlich war, ohne jede Möglichkeit, Kontakt mit Leuten aufzunehmen, deren Hilfe für Sasuke wahrscheinlich zu spät kommen würde. „Es tut mir so leid, Sasuke“, flüsterte Sakura. „Ich wünschte, das alles wäre nie passiert. Ich wünschte … ich wünschte, wir wären nie hierhergekommen.“ Ihre Tränen begannen wieder zu fließen, während sie weitersprach. „Ich wünschte, das alles wäre nur ein Traum. Ich wünsche es mir so sehr! Wie kann das alles plötzlich zerstört sein, zu Ende sein … Es ist alles sinnlos, es fühlt sich alles so leer an … Dabei habe ich euch alle geliebt, wirklich, ich hätte noch so gern etwas mit euch unternommen, wäre mit euch auf Skiurlaub gefahren oder ans Meer … Ich habe auch gedacht, wir könnten in Zukunft öfter mal in ein Café gehen, weißt du, du und Naruto und ich … Wieso musste es so kommen? Wieso?“ „Sakura“, murmelte Ino. Sie hielt inne. Die Hand, die sie nun so fest drückte, als wollte sie sie zerquetschen, war erschlafft. Sasukes letzte, qualvolle Atemzüge waren versiegt.   Mit leerem Gesicht saß Sakura auf ihrem Bett. Sie wusste nicht, wie viel Zeit seitdem vergangen war. Vielleicht war es Mittag. Aber sie verspürte keinen Hunger. Sie verspürte gar nichts. Diese entsetzliche Leere in ihrem Inneren quälte sie nicht länger, sie war eine Wohltat. Je apathischer sich Sakura fühlte, desto mehr konnte sie abschalten. Sie hoffte inzwischen, den Verstand zu verlieren. Lieber würde sie den Rest ihrer Tage in der Klapsmühle verbringen und sich ihre Freunde zusammenfantasieren, als sich der grausamen Realität zu stellen. Ino schlief tief und fest neben ihr. Fast völlig auf ihre Freundin gestützt, hatte sie es über die Treppe ins Erdgeschoss geschafft. Auf Sakuras Anraten hin hatte sie eine Flasche Cola geleert, danach war sie schläfrig geworden. Sakura betrachtete ihr schweißüberströmtes Gesicht. Ino hatte auch um Alkohol gegen die Schmerzen gebeten, aber der erweiterte die Gefäße und hätte womöglich die Blutung verstärkt. Ino war jetzt ihre Patientin, die letzte Freundin, die ihr geblieben war. Sie wusste, auch sie war verdächtig, aber es blieb ihr nichts anders übrig, als für sie zu sorgen. Sie war es leid, allem und jedem zu misstrauen. Nur dadurch war es überhaupt so weit gekommen. Sie schwor sich, sich lieber nachts im Schlaf erdolchen zu lassen, als eine Freundin anzugreifen. Dank der Wunde in Inos Hüfte hatte sich ihr Vorhaben, durch den Wald zur nächsten Siedlung zu marschieren, endgültig in Nichts aufgelöst. Sakura wusste nicht, wie es jetzt weitergehen sollte. Alleinlassen wollte sie Ino nicht, und wenn Tenten noch in der Nähe war … Nein, sie hoffte, dass sie noch in der Nähe war. Sie sollte zurückkommen, sie würden über alles reden, und der Spuk würde ein Ende haben. Vielleicht war sie unschuldig, dann würde sie eine Waffenruhe willkommen heißen. Wenn nicht, würde Sakura sich anhören, was sie zu sagen hatte. Würde sie sterben, wenn sie Tenten ohne Waffe begegnete? Mittlerweile war ihr sogar das egal. Naruto. Sasuke. Hinata. Kiba. Neji. Ino. Zumindest ihr Überleben musste sie sichern. Ino hatte ihr Bestes getan, die Mörder ausfindig zu machen, und das war gut gewesen. Sie hatte Sakura gewarnt, wann immer sie etwas Merkwürdiges gehört oder gesehen hatte. Und wenn der unwahrscheinlichste aller Fälle eintrat und Ino und Tenten in Wahrheit die Täter waren, die die anderen einen nach dem anderen abgemetzelt hatten, dann war das in Ordnung. So würden wenigstens sie beide überleben. Was immer ihre Gründe sein mochten. Sakura durchsuchte gründlich das Haus, jedes Zimmer und jeden Winkel. Niemand versteckte sich irgendwo, nirgends waren weitere Botschaften versteckt. Es gab keine Waffen bis auf diverse Küchenmesser. Sakura ließ sie alle in einen Kissenüberzug fallen. Nur zwei Messer ließ sie da, eines für Ino,  eines für sie selbst, obwohl sie im Grunde keines mehr anrühren wollte. Die Tür war verschlossen, der Schlüssel fort. Tenten hatte ihn wohl einer Eingebung folgend mitgenommen, also kletterte Sakura durch das Fenster im Schlafzimmer. Von außen konnte sie es nicht schließen, aber wenn sie die Umgebung im Auge behielt, konnte sich auch niemand ins Haus schleichen. Zur Sicherheit drehte sie eine Runde um das Haus. Niemand war zu sehen. Sie glaubte Tentens Fußspuren im weichen Gras zu sehen, aber vielleicht waren es auch ihre eigenen Abdrücke oder die ihrer Freunde. Sie kam am See an. Hier hatten sie die erste Leiche gefunden. Hier hatte alles Misstrauen seinen Anfang genommen, an einem wunderschönen Vormittag in den Ferien, nach einem wunderschönen Tag mit der ganzen Gruppe. Der Gruppe, von der nun nur noch drei Mädchen übrig waren. Die Kälte machte ihr nichts mehr aus. Mitsamt ihren Kleidern stieg sie in das kalte Wasser, watete so weit hinaus, bis sie an eine tiefe Stelle kam. Dort ließ sie den Polsterbezug mit den Messern fallen. Der Stoff saugte sich mit Wasser voll, und das Metall im Inneren ließ ihn schnell sinken. Man sah durch das klare Wasser gut, dass hier etwas versenkt worden war, doch der sich bauschende Überzug wirkte nicht wie etwas Nützliches, in dem Waffen versteckt waren. Sakura hoffte jedenfalls, keinen Fehler gemacht zu haben. Um sich abzulenken, versuchte Sakura sich einen Reim auf all die Morde und merkwürdigen Vorkommnisse zu machen. Sie fand eine Leiter im Schuppen, über die der Mörder vielleicht von dessen Dach geklettert war. Kurzerhand stieg sie hinauf und begutachtete die beiden seichten Dellen im Blech. Jemand war hier mit den Füßen gelandet, aber natürlich konnte sie nichts Verräterisches wie Schuhform oder Profil erkennen. Als Nächstes schloss sie das Auto auf und setzte sich hinters Steuer. Der Motor gab kein Geräusch von sich, als sie den Zündschlüssel umdrehte. Sie warf einen Blick unter die Motorhaube, dann unter die Sitze und in alle versteckten Ritzen, auf der Suche nach einem weiteren Drohbrief, einem Beweisstück oder irgendetwas. Ergebnislos. Sie dachte an die anderen, kleinen Dinge, die ihr rätselhaft erschienen. Ob der Mörder nun Sasuke oder Tenten oder beide oder sonst jemand war, warum hatten er Neji den Autoschlüssel zurückgegeben? War das einfach eine Gedankenlosigkeit gewesen, weil das Auto ohnehin fahruntüchtig war? Und warum hatte er sich die Mühe gemacht, auch noch die Reifen aufzuschlitzen? Hatte Tenten Kiba vielleicht doch absichtlich die Klippe hinuntergestoßen? Was war es, das Ino vor dem Fenster gesehen hatte? Wenn Sasuke der Täter war, hätte er für den Mord an Naruto und Hinata nicht ins Freie gehen müssen, da er Wachdienst gehabt hatte. War das Motorengeräusch Zufall gewesen? Wer verirrte sich schon hierher? Oder war der Mörder aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz doch niemand aus ihrer Clique, sondern ein Fremder, ein psychopatischer Nachbar, ein Waldmensch, etwas in der Art? Der sich vielleicht mit einem von ihnen verbündet hatte? Sakuras Gedanken waren ein Strudel; sie drehten sich im Kreis und saugten sie tiefer und tiefer in eine Welt aus Halbwahrheiten und Möglichkeiten. Der Nebel in ihrem Kopf wollte nicht weichen. Als sie den Blick zum Himmel hob, sah sie, wie strahlend blau er war. Nur wenige Wolken tummelten sich dort oben. So ein schöner Tag. Das Wetter verhöhnte sie und ihre toten Freunde. Alles war still. Unter freiem Himmel fühlte sich Sakura plötzlich allein auf der Welt. Sie ging in den Wald, dem einzigen Ort, an den Tenten geflohen sein konnte. Der Duft von Fichten war beruhigend, und es war hier wesentlich kühler. Sonnennadeln stachen durch das Dickicht, ließen Schatten und Licht wechseln und verliehen allem ein träumerisches Glühen. Der Boden war von trockenen, braunen Nadeln übersät. Hie und da lagen Baumstämme quer; der Wald schien selten durchforstet zu werden. Von Tenten fand Sakura keine Spur. Vielleicht war sie längst auf dem Weg zurück in die Zivilisation. Dann konnte es nur eine Frage der Zeit sein, ehe die Polizei hier eintraf. Selbst wenn nicht, ihre Familien würden sich fragen, wo sie so lange blieben. Sakura seufzte tief. Es war erst der dritte Tag. Zwei weitere mussten sie und Ino noch durchhalten an diesem Ort des Schreckens, dann erst stünde ihre Heimkehr auf dem Plan. Schließlich kletterte sie ins Haus zurück und schloss wieder ordentlich das Fenster. Ino schlief immer noch, also beschloss sie, etwas aus den Resten zu kochen, die sie im Haus fand. Das Ergebnis war ein Eintopf von undefinierbarer Farbe, der trotz aller Gewürze fade schmeckte. Schließlich wachte Ino irgendwann am Nachmittag auf und fuhr in die Höhe. „Tenten“, stieß sie aus. „Wo ist …“ „Bleib ruhig liegen.“ Sakura war überrascht, wie rau ihre Stimme klang. Es war, als müsste sie erst wieder lernen, wie man mit anderen Menschen sprach. „Hier, ich hab was gekocht.“ Ino zögerte, dann nahm sie die Schale mit dem Holzlöffel entgegen. Noch vor dem ersten Bissen wiederholte sie ihre Frage. „Wo ist Tenten?“ „Auf und davon, vermute ich. Ich glaube nicht, dass sie wiederkommt. Selbst wenn ich mich an ihrer Stelle verlaufen würde, in die Nähe dieses Hauses würde ich nicht mehr gehen.“ Ino sah nicht überzeugt aus. „Ich … danke.“ „Wofür?“ „Du hast zu mir gehalten. Ich weiß nicht … Also, ich meine …“ Sie lachte kurz, bitter. „Denk bitte nicht schlecht von mir, aber ich weiß nicht, ob ich dasselbe getan hätte.“ „Du warst unschuldig.“ Bevor das mit Sasuke passiert ist. Nein, sie wollte Ino nicht die Schuld an seinem Tod geben. Entschlossen fügte sie hinzu: „Und ich habe genug davon, andere zu verdächtigen. Iss jetzt, kalt schmeckt es sicher noch grässlicher.“ Nachdem die Schale leer war, ließ sich Ino wieder in die Kissen sinken. „Verdammt, wenn nur das Loch in meiner Hüfte nicht wäre …“ „Tut es sehr weh?“ „Als wäre das Messer immer noch drin“, murmelte Ino düster und sah ins Leere. „Hast du die Tür verschlossen? Wenn Tenten zurückkommt, bin ich keine große Hilfe, und du weißt ja, sie ist ziemlich sportlich …“ „Und ich habe ein Dutzend Selbstverteidigungskurse gemacht“, erwiderte Sakura. „Und die Messer habe ich im See versenkt, außer eines für jede von uns.“ Es tat ihr gut, mit jemandem zu sprechen, erkannte sie. Allein mit ihren Gedanken würde sie in tiefe Verzweiflung stürzen. „Allerdings … Die Tür ist zwar abgeschlossen, aber ich habe den Schlüssel nicht.“ „Was?“ „Tenten muss ihn mitgenommen haben.“ Ino stöhnte. „Diese … Diese Schlange … Sie wird sicher zurückkommen.“ „Oder sie wollte einfach nicht, dass wir ihr folgen. Ich schätze, sie ist in den Wald geflohen.“ „Prima. Dort kann sie sich verstecken“, brummte Ino und versuchte, sich in die Höhe zu ziehen. „Du malst schon wieder den Teufel an die Wand. Vielleicht ist sie unschuldig.“ „Vielleicht“, ächzte Ino. „Aber wenn sie wirklich zu zweit waren, bleibt sonst niemand übrig. Glaubst du echt, Kiba wäre einer von denen gewesen? Er wusste zu viel, darum musste er sterben. Sasuke und Tenten waren wirklich von Anfang an ein krummes Paar. Dafür, dass sie so selten miteinander zu tun haben, meine ich.“ „Hoffen wir einfach das Beste und erwarten das Schlimmste. Ich schlage vor, dass wir weiterhin hier schlafen und immer eine von uns Wache hält. Bleib liegen, du solltest dich so wenig wie möglich bewegen.“ „Wenn ich dem Ruf der Natur folgen muss, bleibt mir wohl kaum was übrig, oder? Das kommt von der ganzen Flasche Cola“, brummte Ino übellaunig. „Hat dein Vater vielleicht einen Spazierstock oder so etwas hier? Etwas, das du als Krücke verwenden kannst?“ Ino überlegte. „Bring mir das Gewehr“, sagte sie dann.   Sie bestand darauf, alleine zu gehen, obwohl Sakura ihr davon abriet. Es ging gerade so; schwer auf die Winchester gestützt, kam Ino langsam und mit zusammengebissenen Zähnen voran. Sakura trottete dennoch hinter ihr her. Wieder im Haus verbrachten sie den Abend in eisernem Schweigen. Als die Sonne unterging, verbarrikadierte Sakura die Zimmertür mit allerlei Stühlen und Bänken aus dem Schuppen und legte das Messer auf ihr Nachtkästchen. Mit Inos Wunde würde sie trotzdem selbst wieder zur Waffe greifen müssen, wenn das Äußerste passierte … „Gute Nacht“, murmelte sie. „Gute Nacht. Hoffen wir, dass es nicht unsere letzte ist.“ „Ja.“ „Die Mörder haben bisher immer nachts zugeschlagen, ist dir das aufgefallen?“ „Wirklich?“ Sakura überlegte. „Du hast recht. Wenn man das mit Kiba wegzählt. Was meinst du wohl, warum?“ Ino zuckte mit den Schultern. „Vermutlich sind wir nachts einfach leichtere Ziele. Wir waren die ganze Zeit über so blöd, uns nicht in einem Zimmer zusammenzurotten.“ „Und wenn sie uns dann alle auf einmal getötet hätten? Hinata und Naruto hatten zu zweit ja auch keine Chance.“ Ino seufzte. „Keine Ahnung. Dann wäre es wenigstens vorbei gewesen.“ Sakura wusste genau, was sie meinte. Es war erst vorbei, wenn entweder sie beide tot waren, oder sie sich sicher sein konnten, dass Tenten nicht noch in der Nähe war und etwas gegen sie plante. Und sicher sein konnten sie sich nie.   - In den Bergen, dritte Nacht -   „Und wieder wird es dunkel; es ist die dritte Nacht. Die Dorfbewohner wähnen sich in Sicherheit, aber die Werwölfe sind immer noch unterwegs. Sie suchen und überlegen und wählen schließlich ein neues Opfer … Wir machen weiter wie gehabt.“ Diesmal war Sakura es, die mitten in der Nacht erwachte, weil sie ein Geräusch gehört hatte. Ein Blick auf den Wecker sagte ihr, dass es kurz nach fünf war. Die Kerzen, die sie ins Zimmer gestellt hatte, waren fast völlig heruntergebrannt. Ino schlief unruhig, auf die Seite gedreht. Das Geräusch wiederholte sich. Jemand klopfte von draußen gegen die Holzwand, eindeutig. Hätte sie sich nicht zu Bett begeben, wäre Sakura vermutlich ganz ruhig und gleichgültig gewesen. Aber nun hatte ein erstaunlich ruhiger Schlaf ihre Nerven mit Balsam bestrichen, und jetzt lagen sie wieder verwundbar der Realität zum Fraß vorgeworfen da. Fröstelnd setzte Sakura sich auf und langte nach ihrem Messer. „Ino“, flüsterte sie alarmiert. Ino blinzelte ein paarmal, dann war sie hellwach. Sakura bedeutete ihr, zu lauschen. Das Klopfen ertönte wieder. Auch Ino griff nach ihrer Waffe. „Was tun wir?“, fragte Sakura. „Kannst du nachsehen?“, wisperte Ino. „Ist das eine gute Idee?“ „Nein“, räumte sie ein. „Aber weißt du, ich dachte … vielleicht ist es derselbe Typ wie gestern Nacht. Das würde Tenten von ihrem Verdacht reinwaschen, meinst du nicht?“ Sakura nickte. Wenn überhaupt, dann war das ihr Ziel: Ihren letzten, lebenden Freundinnen vertrauen zu können. Sie gab Ino mit einer Geste zu verstehen, dass sie liegen bleiben, aber wachsam sein sollte, und tappte geduckt auf das Fenster zu. Als sie über das Fensterbrett spähte wie schon in der Nacht zuvor, rechnete sie halb damit, dass gleich eine verwahrloste Gestalt mit glühenden Augen vor ihr aufspringen würde, aber nichts dergleichen geschah. Sie sah nichts Ungewöhnliches. Vorsichtig drehte sie den Fenstergriff und öffnete die Flügel. Die Angeln quietschten mal wieder erbärmlich. Die kühle Luft schärfte Sakuras Sinne. Sie beugte sich hinaus, suchte zuerst den Bereich unter dem Fenster nach dem nicht vorhandenen Monster ab, dann sah sie nach links, von wo das Klopfen gekommen war, dann nach rechts – und ein schmaler Schatten sauste heran und traf sie mit voller Wucht am Hinterkopf. Sakuras Kinn knallte gegen das Fensterbrett, ihre Zähne schlugen schmerzhaft aneinander und sie schmeckte Blut im Mund. Jemand packte sie an der Schulter und riss sie mit Gewalt von der Fensterbank, auf der sie ohnehin nur noch wie ein schlaffer Sack lag. Zu dem Geschmack von Blut gesellte sich der von Gras und Erde, und sie spürte den kühlen Tau im Gesicht. Als sie sich herumwälzte, sah sie gerade noch, wie eine Gestalt mit geschmeidigen Bewegungen durch das offene Fenster ins Zimmer schlüpfte. Verdammt! Das war eben eine riesengroße Dummheit! Was hatten sie sich dabei gedacht? Die Barrikade war nun nutzlos, Sakura selbst hatte dem Angreifer Tür und Tor geöffnet. Oder eher, der Angreiferin. Obwohl ihr Gesichtsfeld mehr und mehr verschwamm, hatte sie die Umrisse der Person klar erkannt. Tenten. Wer sonst. Von wegen, es könnte jemand anders sein. „Ino … pass auf …“, murmelte Sakura. Zu mehr war sie nicht imstande, und als ihr Bewusstsein schwand, war sie sicher, niemals wieder aufzuwachen.   - In den Bergen, dritter Tag -   „Und schon ist der dritte Tag angebrochen. Was noch vom Dorf übrig ist, erwacht jetzt …“   Sie hatte sich geirrt. Das Nächste, was sie spürte, war ein pochender Schmerz in ihrem Hinterkopf. Sakura war eiskalt. Ihr Pyjama war völlig durchnässt von dem feuchten Gras, auf dem sie lag. Wo war sie? Was war nochmal geschehen? Richtig, die Welt war völlig aus den Fugen geraten, war so verrückt geworden, dass sie wider alle Logik immer noch am Leben war. Sakura fragte sich ernsthaft, warum sie noch nicht ermordet worden war. Wenn jemand sich durch die Reihen ihrer Freunde schlächterte, warum blieb sie dann als Einzige übrig? Wenn das Gnade sein sollte, dann war es Gnade voller Gift. Die Sonne spähte gerade so über den Wald im Osten, so viel konnte sie von hier aus sehen. Erst nach und nach kamen alle Erinnerungen zurück – und sie sorgten dafür, dass sie so schnell aufsprang, dass sie beinahe wieder das Bewusstsein verloren hätte, und nur einem Wunder war es zu verdanken, dass sie auf dem glitschigen Gras nicht sofort wieder ausglitt, sondern sich an dem offenen Fensterladen festhalten konnte. Ino! Und Tenten! Sie kämpfte verzweifelt gegen die schwarzen Flecken vor ihren Augen an, drängte sie an den Rand ihres Sichtfelds. Verdammt, sie musste sehen, was im Schlafzimmer passiert war! Endlich klärte sich das Bild, und wieder einmal wünschte sie sich, sie hätte einfach gar nichts gesehen.   „Und es gibt wieder ein Opfer.“ Beide ihre Freundinnen hatten einander schlimm zugerichtet. Ino war diejenige, die am schlimmsten aussah. Tenten hatte es dafür am schlimmsten erwischt.   „… Tenten.“ Sakura atmete auf. Für einen Moment hatte sie erwartet, Sphinx würde ihren eigenen Tod verkünden. Das hätte ihren ganzen Plan durcheinandergeworfen und all ihre Überlegungen als falsch hingestellt. Aber so musste die Hexe ihren Gifttrank ausgespielt haben, und wenn nicht Sakura, dann hatte sie den letzten Werwolf erwischt. „Oh Mann“, seufzte Tenten, stand auf und verließ die Runde. Auch Ino entspannte sich. „High Five, Sakura“, sagte sie, und die beiden klatschten ein. Inos ganzer Körper war mit Blutergüssen und Schürfwunden übersät. Ihr Gesicht war geschwollen und ihre Hände zerkratzt, aber sie lebte. An das Fußende des Bettes gelehnt saß sie da. Die Wunde in ihrer Seite hatte sich wieder geöffnet; ein dunkler Fleck breitete sich auf dem Verband aus. Tenten hatte einige wenige Stiche davongetragen, die jeder für sich fast harmlos aussahen, wenn man sie damit verglich, wie sehr sie Ino zugerichtet hatte. Sie hatte sich offenbar im Wald selbst Waffen besorgt; neben ihr ruhte ein Ast mit einem knotigen Auswuchs, der als Keule durchging, außerdem eine Art Speer, und im Zimmer verteilt lagen einige scharfkantige Steine, die vorher eindeutig noch nicht da gewesen waren. Im Tod hatte sich Tentens Hand jedoch um ein rotes Schweizer Taschenmesser geschlossen. Sakura erkannte die Klinge wieder, durch die Neji zu Tode gekommen war. Sie hatte völlig vergessen, sie mit den anderen Messern zu entsorgen. Allem Anschein nach war Tenten jedoch nicht dazu gekommen, damit zuzustoßen. Sie lag halb unter Stühlen, Tischen und Bänken begraben, der Barrikade, die eingestürzt war. Getötet hatte sie jedoch ein Stich ins Herz. Was davon vorher geschehen war, vermochte Sakura nicht zu sagen. Anscheinend hatte Ino noch einmal Glück gehabt, obwohl sie so schwer verletzt war. „Sakura“, nuschelte ihre beste Freundin, als sie sie am Fenster stehen sah. „Ein Glück, du lebst … Als ich dich da draußen liegen sah … Ich hab versucht, rauszuklettern, aber mit meiner Hüfte …“ Sakura schüttelte den Kopf. „Ist schon gut. Wie … wie hast du das geschafft?“ Ino zuckte mit den Schultern und sah so aus, als begreife sie es selbst nicht. „Ich weiß nicht, plötzlich war sie da und hat mit den Stöcken auf mich eingeprügelt … Sie wollte wissen, ob Sasuke noch lebt und hat ständig damit gedroht, mich umzubringen …“ Ino schüttelte sich. „Ich frage mich, was mit ihr los war.“ Sakura nickte. Sie konnte sich Tenten nicht in der Rolle einer Mörderin vorstellen. Andererseits konnte sie das auch bei keinem anderen ihrer Freunde … „Denkst du, sie war ganz einfach wahnsinnig?“ „Möglich. Ausschließen kann man es wohl nicht.“ „Lass mal sehen.“ Sakura kletterte durch das Fenster. Sie vermied es, Tentens Leiche anzusehen, obwohl es sie mittlerweile nicht mehr schreckte. Sie erneuerte den Verband und zog ihn nochmal straffer an, dann desinfizierte und verarztete sie all die anderen Kratzer und Schnitte, die Tenten Ino beigebracht hatte. Als sie fertig war, ließ sie sich mit einem tiefen Seufzer auf ihr Bett fallen. Es war kein Seufzer der Erleichterung, sondern nur der Trauer. „Es ist vorbei“, meinte sie. „Der Albtraum ist vorbei.“ „Ja“, murmelte Ino. „Wir haben es geschafft. Wir haben überlebt … Und jetzt sitzen wir hier fest, mit den Leichen unserer Freunde unter einem Dach.“ „Wenn du willst, gehe ich gleich los und versuche, Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen. Theoretisch sollten wir nichts mehr zu befürchten haben.“ Sasuke war tot, Tenten war tot. Alle Falschspieler waren ausgemerzt. Sakura glaubte nicht länger, dass ein Außenstehender seine Finger im Spiel gehabt hatte. Wenn sie ehrlich war, hatte sie diesen Gedanken schon lange aufgegeben. „Ich komme mit“, sagte Ino. Sakura seufzte. „Das geht wohl kaum mit deiner Verletzung.“ „Ich muss es versuchen. Wenn du mich stützt, wird es schon gehen. Wenn du nicht willst, nehme ich wieder das Gewehr, oder ich robbe mich einfach durchs Gras! Ich schaffe das! Ich will auf keinen Fall länger hierbleiben, verstehst du? Wir, meine Familie und ich, haben mindestens fünf Mal unseren Urlaub hier verbracht, und jetzt liegen unsere Freunde überall im Haus verteilt herum … Wenn du willst, schlagen wir im Wald unser Lager auf. Dann brauchen wir eben ein wenig länger. Aber ich bleibe keine Minute länger in diesem Haus!“ Sakura verstand sie gut, und wie sie das tat. „Also gut“, meinte sie mit einem schweren Seufzer. „Aber erst schonst du dich. Du bleibst heute ruhig liegen und lässt die Wunde ein wenig verheilen, und am Abend brechen wir dann auf, ja? Wir schlafen nicht hier, aber wir ruhen uns hier aus, in Ordnung?“ „Wenn’s sein muss“, grummelte Ino. Sakura half ihr aufs Bett. Dann oblag es ihr, Tenten aus dem Raum zu schaffen. Sie fand diese Aufgabe besonders makaber, aber vielleicht musste sie dann nicht ständig daran denken, was hier alles Schreckliches und Verdrehtes geschehen war. Sie baute den Rest der Barrikade ab und zerrte Tenten auf den Flur. Aus ihrer Tasche stellte sie den Eingangstürschlüssel sicher. Alle Fenster und Türen waren noch verschlossen, sie prüfte es schon fast aus Routine. Ino war wieder eingeschlafen, der Blutverlust hatte sie sichtlich erschöpft. Sakura versuchte, die kolossale Blutlache, die die Dielen verunzierte, irgendwie aufzuwischen, gab es dann aber auf. Sie packte einige Dinge zusammen, die sie auf dem Weg durch den Wald brauchen konnten, von Proviant bis hin zu nützlichem Werkzeug. Als sie nicht länger die Zeit totschlagen konnte, ließ sie sich neben Ino auf dem Bett nieder und dachte wieder einmal nach. So viel war geschehen, aber immerhin, jetzt, bei Tageslicht und dem erneut strahlenden Wetter, kam ihr wenigstens nicht alles so düster vor wie gestern oder gar in der Nacht. Immerhin hatten sie überlebt. Das war nicht die Hauptsache, aber es war zumindest etwas. Ehe sie sich versah, forderte die schon Tage andauernde Erschöpfung ihren Tribut, und auch sie fiel in tiefen Schlaf.   - In den Bergen, vierte Nacht -   „Da nur noch zwei Dorfbewohner übrig sind, gibt es an diesem Tag keine Abstimmung. Und schon senkt sich die vierte Nacht über das Dorf …“ Sakuras Herz machte einen Sprung. Was hatte das zu bedeuten? Sie hatten doch die Werwölfe besiegt, müssten jetzt nicht das Ende des Spiels und der Sieg der Dorfbewohner verkündet werden? Oder hatte sie nur eine Regel missverstanden? Sie sah in Sphinx‘ breit grinsendes Gesicht. Und er war nicht der Einzige, der grinste. So unsanft war Sakura trotz allem schon lange nicht aus dem Schlaf gerissen worden. Eine Hand presste sich auf ihren Mund, und sie spürte etwas Schweres auf ihrer Brust liegen. Sakura stieß einen erstickten Schrei aus und riss die Augen auf. Auf ihr kniete, gekrümmt wegen ihrer Wunde, Ino. Sie lächelte hämisch. „Du bist die Letzte, Sakura.“ Damit fuhr das Messer in ihrer Hand herab.   „… und die Werwölfe haben gewonnen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)