The Wolves among us von UrrSharrador ("Die Werwölfe erwachen. Sie wählen ihr heutiges Opfer ... Die Werwölfe schlafen wieder ein." [Video-Opening online]) ================================================================================ Kapitel 3: Verschanzung ----------------------- ~ 3 ~   Sie standen so lange an der Klippe und starrten in die Tiefe, bis der Himmel sich rot verfärbte. Tenten sah reglos auf die Stelle, an der Kiba in den Baumwipfeln verschwunden war. Bei ihrer Rangelei hatte sich einer von ihren Haarknoten gelöst, und die braune Mähne fiel ihr über die Schulter. Ein ungewohnter Anblick. „Ich wollte das nicht“, hauchte sie, die Augen mit Tränen gefüllt. „Erst Neji, jetzt Kiba … Was … Was ist hier los? Ist dieses Ferienhaus verflucht?“ Sie stieß ein wortloses Heulen aus, die Finger gegen den Haaransatz gepresst. Keiner antwortete. Alle starrten bedrückt in die Tiefe. Sakura fragte sich, wie es so weit hatte kommen können. Waren das noch ihre Freunde, die sich vor ihren Augen und Ohren gegenseitig beschuldigt hatten? Jetzt waren zwei von ihnen tot. Und hatte sie nicht auch darüber nachgegrübelt, wen sie beschuldigen sollte? War sie überhaupt noch sie selbst? Es heißt, dass ein Teil der Seele eines Menschen immer auch in der Seele seiner Freunde lebt. Waren also schon zwei Bruchstücke ihrer Seele unwiederbringlich verloren? Zwei Stücke von dem, was sie ausmachte? „Und … Und wenn er es überlebt hat?“, fragte Naruto vorsichtig. Niemand war so naiv, das zu glauben. Dennoch schrie der Junge den Namen seines Freundes. Seine Stimme kehrte als Echo wieder, aber die Antwort blieb natürlich aus. Hinata war es, die an Tenten herantrat und sie in den Arm nahm. „Komm, lass uns gehen.“ So wie vorher Tenten sie von Nejis Leiche fortbugsiert hatte, führte Hinata nun sie weg. Mechanisch wie eine Puppe bewegten sich ihre Beine, und immer noch sah sie Kiba hinterher. „Wir sollten auch reingehen“, murmelte Sasuke. Sakura nickte. Naruto schluckte hart und wischte sich mit dem Arm über die Augen. Nur Ino stand noch eine Weile vor dem Abgrund. „Das ist alles meine Schuld“, murmelte sie. „Ich habe euch hierher gebracht. Wenn ich gewusst hätte …“ „Mach dir keine Vorwürfe“, sagte Sakura, fühlte sich selbst jedoch so weinerlich, dass sie am liebsten losgeschluchzt hätte. „Komm.“ Während sie zum Haus zurückgingen, legte sich eine geradezu absurde Stille über den Hügel. „Ich weiß, das ist der falsche Moment, um das zu sagen“, murmelte Ino irgendwann, „aber ich glaube trotzdem, dass Kiba Neji getötet hat. Ich weiß nicht, warum. Aber ich denke, wir können heute Nacht ruhig schlafen.“ „Ruhig?“ Naruto sah sie voller Schmerz an. „Glaubst du echt, wir können überhaupt schlafen, nach allem, was heute passiert ist?“ Er sah zum Himmel hoch, als erwarte er von dort irgendeine Form der Erlösung. „Was ist geschehen, dass wir uns alle plötzlich so sehr gegenseitig fertigmachen? Braucht es wirklich nur irgendeinen fiesen Mörder, um unsere Freundschaft total zu entzweien?“ Sakura fühlte ähnlich. Sie wollte nichts weiter, als ihren Freunden zu vertrauen – und doch, irgendwie, aus irgendeinem Grund, war das nicht möglich. Selbst wenn alles darauf hindeutete, dass jemand sie gegeneinander ausspielen wollte – sie fürchtete, dieses blinde Vertrauen nie wiederzuerlangen. Sie fürchtete, am Boden zu landen, wenn sie sich fallen ließ. Da sie für das Abendessen nicht nur Reis essen wollten, sollte jemand Eier und Fleisch aus dem See holen. Sakura meldete sich freiwillig. Sie hatte alleine keine Angst, und sie fühlte sich seltsam leer. Selbst als sie bei Neji vorbeiging, glitt ihr Blick zwar über das weiße Betttuch, aber sie fühlte nichts. Das empfand sie als genauso erschreckend wie alles andere. Als sie die Nahrungsmittel und auch etwas zu trinken aus dem See zog, dachte sie, dass heute Morgen noch Nejis Leiche darin geschwommen war. Das Essen war aber noch frisch verpackt und außerdem kühl und in einer Box gelagert gewesen, also würde es schon gehen. Außerdem war das sowieso alles zu unwirklich, um noch wirklich schrecklich zu sein. Nach einem Essen, das trotz der vielfältigen Zutaten geschmacklos zu sein schien, wurden Pläne für die Nacht geschmiedet. Sasuke schien der Einzige zu sein, der nicht völlig von Gefühlen überwältigt war. Er schlug vor, jemand solle die Tür bewachen, nur zur Sicherheit. Ihm war der Gedanke gekommen, dass, falls es trotzdem noch einen Unbekannten in diesem Trauerspiel gab, er vielleicht einen nachgemachten Schlüssel zum Ferienhaus besaß. Von der Tür aus konnte man außerdem den gesamten Flur im Blick behalten. Tenten bot sich für diese Aufgabe an, da sie meinte, jetzt sowieso niemals schlafen zu können – und sie gab zu, sich vor den Albträumen zu fürchten, die sie zweifellos heimsuchen würden. Aber niemand wollte ihr zumuten, die ganze Nacht Wache schieben zu müssen. In einer kurzen Krisensitzung teilten sie die Nacht in Einheiten von anderthalb Stunden ein. Jeder würde eine Wache übernehmen, Tenten die erste, Sakura hatte die zweite Wache um halb zwölf, vor Ino. Dann folgten Naruto, Sasuke, und ab sechs Uhr noch einmal Tenten. Hinata wollten sie schlafen lassen. Das Mädchen hatte den ganzen Tag über kaum ein Wort gesprochen, und auch wenn Sakura ihr zutraute, dass sie im Ernstfall sogar die Nerven behielt, wirkte sie dennoch so zerbrechlich und ängstlich, dass die anderen übereinkamen, sie vom Wachdienst freizustellen. „Ich kann auch …“, protestierte sie schwach. „Du legst dich einfach ins Bett und schläfst“, sagte Naruto streng, aber freundlich. Hinata knetete ihre Hände. „… bei mir“, murmelte sie nach einer kurzen Schweigeminute. „Was?“ „Kannst du … bei mir bleiben?“, flüsterte sie so leise, dass es Sakura gerade so verstand. Naruto sah sie überrascht, dann entschlossen an. Fragend warf er einen Blick in die Runde. „Wäre das okay?“ Ino seufzte. „Theoretisch sollten wir ohnehin sicher sein. Wenn Hinata dadurch besser schlafen kann, warum nicht? Was meinst du, Tenten?“ Tenten, die eigentlich mit Hinata im Zimmer geschlafen hätte, zuckte nur mit den Schultern. Ihr Mienenspiel war schon den ganzen Abend über düster und grimmig, und es lag nicht an den tiefdunklen Rändern unter ihren Augen. „Ist mir sogar lieber. Ich schlafe im Gästezimmer. Dann bin ich sofort zur Stelle, wenn was an der Tür passiert.“ Sakura musterte sie genau. Tenten schien entweder entschlossen, sie alle vor neuem Unheil zu beschützen, oder sie glaubte, dass es immer noch einen Mörder gab, den sie um jeden Preis entlarven wollte. Sakura kannte sie nicht so gut, um sich sicher zu sein. „Niemand schläft in Kibas Bett“, sagte Naruto plötzlich. „Das ist nicht richtig.“ Tenten warf ihm einen abschätzigen Blick zu, wollte etwas erwidern, schien dann aber hin- und hergerissen ob Kibas Sturz von der Klippe, an dem sie nicht ganz unbeteiligt gewesen war. „Du willst ihr Bett haben, verbietest ihr aber, in einem anderen zu schlafen?“, merkte Sasuke an. Als Naruto grimmig schwieg, fügte er hinzu: „Er ist nicht in seinem Bett gestorben. Und Neji hat auf der Couch geschlafen, willst du uns von dort auch verbannen? Was haben wir davon, wenn wir alle auf dem Boden schlafen?“ Naruto haderte mit sich. „Gut“, meinte er dann. „Sorry. Ist schon okay.“ Er nahm Hinatas Hand, als müsste er sich ablenken. „Ich werde auf dich aufpassen, Hinata. Einmal habe ich selbst Wache, aber sonst bleibe ich bei dir.“ Sie senkte errötend den Blick, nickte aber dankbar. So wurde die neue Schlafordnung beschlossen. Um zehn Uhr begann Tentens erste Wache. Obwohl dieser Tag alle Versammelten mehr als aufgewühlt hatte, hatte die Erschöpfung doch ihre nagenden Zähne in sie geschlagen, und Ino bestand darauf, dass sie früh ins Bett gingen, um am nächsten Morgen frisch ausgeruht zu sein, falls sie tatsächlich den Marsch durch den Wald in Angriff nehmen würden. Tenten hockte sich mit angezogenen Knien auf den Stuhl, den sie im Flur direkt vor der Eingangstür platziert hatte. In der Hand hielt sie wie ein Westernganove im Film das Gewehr, das Ino ihr überreicht hatte. Die Winchester war zwar nicht geladen, aber mit etwas Glück wusste das ein potenzieller Einbrecher nicht. Am Tisch vor der Treppe stand nun ein Kerzenleuchter, und drei Flammen schenkten dem Flur zaghaftes Licht. Sakura lag noch lange neben Ino wach und grübelte über diesen schrecklichen Tag nach. Schon komisch, sie betrachtete die Geschehnisse immer noch, als würde sie neben sich stehen, als würden sie sie nicht selbst betreffen. Vermutlich schaltete ihr Verstand einfach eine Sicherung dazwischen, ohne die sie in ein Meer aus Verzweiflung gestürzt wäre. Im Schneidersitz saß Ino in ihrem kurzen, gelben Pyjama auf dem Bett und werkte halbherzig mit dem Schraubenzieher in den Innereien des Satellitentelefons herum. „Ich geb’s auf“, seufzte sie irgendwann. „Wir werden morgen wirklich zu Fuß ins nächste Dorf gehen müssen.“ Sakura antwortete nicht. Sie fragte sich, ob sie nach diesem Abenteuer je wieder dieselbe sein würde. Ob je wieder einer von ihnen lachen könnte, ohne an die Gesichter ihrer toten Freunde denken zu müssen. Morgen würden sie die Polizei verständigen – vermutlich auch die Bergrettung. Sie machte sich nichts vor; egal, wie weich das Nadeldach der Bäume gewesen war, diesen Sturz konnte Kiba nicht überlebt haben. Morgen würde sie eine neue Welt erwarten, ohne Anarchie und Chaos, mit routinemäßigen Polizeiarbeiten, Zeugenaussagen und all dem Kram, den man als gewöhnlicher Bürger mehr oder minder durch Serien und Filme vermittelt bekam. Sie würden harten Fakten ins Auge sehen, harten Fakten wie dem Tod zwei ihrer besten Freunde, aber es wäre auch das Ende dieser schrecklichen Ungewissheit. „Okay, lass uns schlafen“, meinte Ino, als sie eine Weile vergeblich darauf gewartet hatte, dass Sakura etwas sagte. Sie stand noch einmal auf, um das Fenster zu schließen. Ino hatte allen eingeschärft, bei geschlossenen Fenstern zu schlafen, um es etwaigen Einbrechern nicht zu leicht zu machen, darum hatten sie und Sakura vor dem Schlafengehen noch einmal ordentlich gelüftet. Die Scharniere quietschten schrecklich; unwillkürlich dachte Sakura an eine zuschwenkende Gefängnistür. Ino löschte die Kerzen auf dem Nachtkästchen und kroch ohne ein weiteres Wort wieder in das Doppelbett. Sakuras dunkle Gedanken echoten immer noch unter ihrer Schädeldecke. Wie ein Gefängnis … und sie selbst waren die Wärter, bewaffnet mit einem ungeladenen Gewehr.   - In den Bergen, zweite Nacht -   „Die zweite Nacht bricht heran. Die Werwölfe öffnen die Augen und wählen ein neues Opfer. Die Zeit für ein neuerliches Blutbad ist gekommen, und gierig geifernd ziehen sie durch das Dorf. Sie haben ihr Opfer gewählt, umkreisen es, stürzen sich darauf … Und wir machen weiter wie beim letzten Mal. Bevor übrigens jemand von euch so dumm ist zu fragen: Ich spreche immer in der Mehrzahl von den Wölfen oder von den Dorfbewohnern, egal wie viele von ihnen noch am Leben sind.“ Als Sakuras Wecker läutete, hatte sie noch keine Minute geschlafen. Neben ihr drehte sich Ino grummelnd herum. Es war halb zwölf, Zeit für Sakuras Wache. Immerhin bereitete es ihr keine Probleme, aufzustehen und Tenten abzulösen. Die junge Frau saß noch genauso da, wie sie sie zurückgelassen hatten. Sie hatte die Augen geschlossen, aber als Sakura in den Gang trat, schnellten ihre Lider auf. „Du bist es“, murmelte sie und streckte sich. Sakura nickte. „Wachablöse. War alles ruhig?“ „Alles ruhig. Sie werden auch kaum schon vor Mitternacht was unternehmen.“ Tenten gähnte herzlich und reichte Sakura die Waffe. Ein wenig unbehaglich fühlte sie sich schon, als sie die Winchester in den Händen hielt, obwohl sie wusste, dass es im ganzen Haus keine Patronen dafür gab. Tenten nahm einen Schluck aus der Orangensaftpackung, die sie neben der Wand abgestellt hatte. Dann rückte sie den Stuhl zurück. „Ich geh nur mal schnell für kleine Mädchen. Wenn ich viermal klopfe, lass mich wieder rein.“ Sakura nickte und Tenten huschte nach draußen. Ob Kiba tatsächlich Nejis Mörder gewesen war? Ihr wollte nicht einfallen, warum er das getan haben könnte, aber falls es stimmte, war dieses ganze Wacheschieben vermutlich reine Zeitverschwendung. Nach einer Weile klopfte es viermal gegen das Holz, und Sakura öffnete. „Danke“, flüsterte Tenten. „Ich bin im Gästezimmer. Wenn du irgendwas Ungewöhnliches bemerkst, weck mich.“ Sie verzog sich in Kibas ehemaliges Zimmer vor der Treppe. Unwillkürlich fragte sich Sakura, ob Neji überhaupt der Grund war, wieso die beiden so aneinandergeraten waren. Sicher, wenn man annahm, dass Tenten in Neji verliebt gewesen war und sie Kibas Worte nach dessen Tod deshalb so sehr aufgeregt hatten, konnte man es wohl nachvollziehen – aber diese ganze Logik fußte auf einer Mutmaßung. Wenn es in Wirklichkeit einen ganz anderen Grund gehabt hatte … Sakura schüttelte den Kopf und befreite sich von diesem Gedanken. Sie wurde allmählich paranoid. Bis Ino sie um ein Uhr gähnend ablöste, verbrachte sie ihre Wache mit düsteren Grübeleien, aber die einzigen Angreifer, die es gab, schienen ihre eigenen Gedanken zu sein. Hundemüde tappte sie in ihr Zimmer, warf sich auf das leere Doppelbett, und diesmal schlief sie beinahe sofort ein.   „Sakura! Sakura, wach auf!“ „Hm?“ Sakura schlug blinzelnd die Augen auf. Schemenhaft erkannte sie Inos Gesicht über sich. „Was ist los?“ Sie setzte sich auf. War etwas passiert? Wie spät war es? „Schscht! Hörst du das?“ Sakura lauschte verwirrt, hörte jedoch am Anfang gar nichts, dann nur das Pochen ihres Herzens – das mit jedem Moment schneller wurde. „Jetzt ist es weg“, flüsterte Ino. Ihre Hand hatte sich in den Bezug ihres Kissens gekrallt. „Bist du sicher, dass du nicht geträumt hast?“, murmelte Sakura hoffnungsvoll. Ihr Blick glitt zu ihrem Wecker, der auf dem Nachtkästchen stand. Die Leuchtzeiger verkündeten kurz nach vier. Draußen war es noch stockdunkel; ohne das sanfte Mondlicht, das durch das Fenster sickerte, hätte sie die Hand vor Augen nicht gesehen. Plötzlich richtete sich Ino stocksteif auf. „Da! Da war es wieder!“ Ino schwang die Beine aus dem Bett, eilte zum Fenster und riss es auf. Das schrille Quietschen bohrte sich wie eine Nadel in Sakuras Gehörgang. „Warte – es ist besser, wenn du vom Fenster wegbleibst“, wisperte sie und sprang ebenfalls auf. Ein heftiger Schwindelanfall attackierte sie, und für einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen. Ino sah sie unsicher an, dann duckte sie sich immerhin so weit, dass sie gerade so über dem Fensterbrett ins Freie lugen konnte. „Ich hätte schwören können … Hast du es nicht auch gehört?“ Sakura merkte, dass sie die Luft angehalten hatte. Langsam atmete sie wieder aus und kauerte sich neben ihre Freundin. „Wir sind alle überspannt“, sagte sie beruhigend und legte ihr die Hand auf den Arm. „Da ist nichts. Nur die Ruhe.“ Sie wünschte, sie könnte selbst ihre Ruhe wiederfinden. Auch ihre eigenen Träume waren verseucht gewesen von im Wasser treibenden Leichen und Bergen, die über ihren Freunden zusammenstürzten. Ino atmete zittrig aus. „Es hat sich angehört wie ein Motor“, flüsterte sie. „Ein Motor?“ „Ein ganz leises Brummen.“ „Wie von dem Van?“ Ino schüttelte den Kopf. „Unmöglich. Der lässt sich schließlich nicht mehr starten – es muss etwas anderes gewesen sein.“ Sakura fröstelte. Ein Fahrzeug, hier? Die Augen zusammengekniffen, versuchte sie etwas in der Dunkelheit draußen zu erkennen, aber die nahe Felswand und die fernen Berge waren nur finstere Schatten, und alles davor ein Mischmasch aus dunkelgrauen bis schwarzen Schlieren. Aber war dort nicht etwas, ein finsterer Fleck, schwärzer als das Gras, wie ein Tintenklecks? Etwas – oder jemand? Jemand, der sie beobachtete. Sakuras Augen wurden feucht, eine Gänsehaut überkam sie. Stand dort nicht jemand und starrte ihnen aus unheimlichen, unsichtbaren Augen entgegen? „Vielleicht ist jemand einfach durch den Wald gefahren“, schlug sie vor. Sie verfluchte sich dafür, dass ihre Stimme so zitterte. „Möglich …“ Inos Stimme klang nicht fester, und schon gar nicht klang sie überzeugt. Mittlerweile war Sakura hellwach. Die frische Luft und das unangenehme Gefühl, von jemandem hämisch beobachtet zu werden, übertünchten die bleierne Müdigkeit, die sie gegen Ende des Vortages befallen hatte. „Wir machen das Fenster zu“, sagte Ino entschlossen, mehr an sich selbst gewandt, drückte die Scheibe zu und verriegelte sie. „So. Die anderen sollten sie auch geschlossen lassen. Wer auch immer da draußen ist, er kann unmöglich herein.“ Sie hielt inne. „Wie spät ist es?“ „Kurz nach vier.“ „Dann hat Sasuke gerade Wache, oder? Gut, der wird zur Not die Nerven behalten.“ „Meinst du denn, sie versuchen einzubrechen?“ Sakura behagte der Gedanke ganz und gar nicht – es behagte ihr schon nicht, dass sie nun wieder annahmen, es gäbe noch einen Feind dort draußen. Die genauen Umstände von Nejis Tod waren noch nicht geklärt, aber es bestand eine gute Möglichkeit, dass er im Haus ermordet worden war. Außerdem waren der oder die Täter auch an das Satellitentelefon, den Autoschlüssel, den Teppich und möglicherweise den Drohbrief herangekommen. „Sag mal … gibt es von dem Hausschlüssel eigentlich ein Duplikat?“ Ino überlegte. „Nicht, dass ich wüsste … Das heißt, wir haben schon einen Ersatzschlüssel, aber der ist bei meinen Eltern zuhause. Hier im Ferienhaus ist der, der momentan in der Tür steckt, der einzige.“ „Aber es wäre prinzipiell möglich, ihn zu kopieren, oder? Wenn ihn jemand von euch zuhause gestohlen hätte, oder einen Abdruck von diesem hier gemacht hätte, als wir gerade nicht hingesehen haben …“ „Ich weiß, worauf du hinauswillst.“ Ino schluckte hörbar. „Aber es ist eine alte Tür mit einem Zylinderschloss. Wenn innen der Schlüssel steckt, kommt man von außen nicht rein, egal was man tut.“ Sie kletterten wieder ins Bett, doch keine der beiden machte Anstalten, sich hinzulegen. Stattdessen blieben sie einander gegenüber sitzen, wie zwei Freundinnen, die im Urlaub spät nachts noch tratschten. Nur dass dies hier kein gemütlicher Plausch war. „So betrachtet, ist das Wacheschieben eigentlich überflüssig“, spann Ino den Gedanken weiter. „Es ist eher so, dass derjenige, der im Flur steht, das ganze Haus überblicken kann. Wie ein Aufseher in einer Jugendherberge.“ „Sasuke hatte die Idee“, erinnerte sich Sakura. „Meinst du, er denkt auch, dass einer von uns Neji umgebracht hat?“ Ino zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Ich weiß es nicht.“ „Und was denkst du?“ Diesmal ließ sich ihre Freundin mit ihrer Antwort Zeit und legte sich jedes Wort genau zurecht. „Ich denke, wir sind hier im Haus sicher. Solange die Fenster und die Tür geschlossen bleiben. Wenn da draußen jemand lauert, der imstande ist, das Holz aufzubrechen, haben wir vermutlich eh keine Chance gegen ihn.“ „Wir haben die Messer in der Küche“, erinnerte Sakura sie. „Richtig. Aber das Prinzip bleibt dasselbe. Wenn der Mörder Neji in der Nacht erstochen hat, dann fehlen ihm vielleicht die Mittel, uns am helllichten Tag anzugreifen.“ „Gehen wir noch mal die Möglichkeiten durch“, sagte Sakura, einfach um sich zu beruhigen. „Wir beide sind hier. Tenten schläft allein im Gästezimmer, Sasuke im Wohnzimmer. Allein zu sein ist in unserem Fall schlecht, es sei denn …“ „Es sei denn, der Zimmerkollege ist ein Mörder“, vervollständigte Ino den Satz, den Sakura nicht hatte aussprechen wollen. „In diesem Fall ist man in einem Einzelzimmer am sichersten, solange die Wache ihren Dienst gut versieht.“ „Das aber auch nur, wenn der Wachposten nicht der Mörder ist. Dann ist man in einem Einzelzimmer wahrscheinlich geliefert. Oder wenn er jemanden von draußen hereinlässt, es muss ja gar nicht absichtlich sein.“ Sakura stöhnte auf und warf sich auf ihre Matratze. „Wir kommen keinen Schritt weiter“, jammerte sie. Und beruhigt hatte sie dieses Gespräch auch nicht. Im Gegenteil, allein sich ihre Freunde als Mörder vorzustellen, hatte ihr Übelkeit beschert. „Vielleicht machen wir uns auch umsonst Sorgen“, beschwichtigte sie Ino und legte sich ebenfalls wieder hin. „Lass uns schlafen. Morgen machen wir uns auf den Weg ins nächste Dorf oder meinetwegen auch zu diesem Bauernhof, dann hat der Albtraum ein Ende.“ „Hoffentlich“, murmelte Sakura. Diesmal dauerte es noch länger, bis sie in Orpheus‘ Arme fand. Ständig spukten ihr Möglichkeiten durch den Kopf, wie ein Mörder agieren könnte, sowohl welche, in denen sie völlig sicher waren, als auch solche, die man nur als Worst-Case-Szenarien beschreiben konnte. Die Worst-Case-Szenarien überwogen.   - In den Bergen, zweiter Tag -   „Der zweite Tag bricht an. Die Sonne steigt hoch hinauf, und die Dorfbewohner erwachen.“   Ihr Schlaf war diesmal nur sehr kurz und unruhig, und als Sakura die Sonne aufweckte, fühlte sie sich wie gerädert. Ein wenig döste sie noch, um der Realität zu entfliehen, dann weckte sie ihr Pflichtgefühl endgültig. Sie hatten einen langen Marsch vor sich, und sie durfte auch nicht verpassen, was im Haus vorging. Außerdem war Ino wieder vor ihr aufgestanden, und Sakura wollte nicht zu lange von den anderen getrennt sein. Sie wusste nicht, ob aus Sicherheitsgründen, oder weil sie nicht wollte, dass man sie verdächtigte. Als sie die Küche betrat, begrüßte sie der Gestank von Verbranntem. Sie rümpfte die Nase. „Was ist denn hier passiert?“ „Das riecht schon seit meiner Schicht so“, sagte Sasuke, der am Tisch saß, eine große Kaffeetasse vor sich, die noch dampfte. Offenbar war er ebenfalls erst aufgestanden. Er deutete auf eine Pfanne, in der schwarz verbrannte Reiskörner klebten. „Irgendjemand war so schlau, sich in der Nacht was zu essen zu machen und die Pfanne auf dem Ofen stehenzulassen“, grummelte Ino, die mal wieder dabei war, so etwas wie Frühstück zuzubereiten. Sie erwärmte eben Öl in einer zweiten Pfanne und hatte Mehl und Zucker in einer Küchenwaage abgewogen. „Als ich mit Wacheschieben dran war, hat es jedenfalls noch nicht gestunken. Also muss es Naruto gewesen sein. Der kann was erleben, wenn er hier aufkreuzt! Die Pfanne schrubbt er mir höchstpersönlich.“ „Naruto ist halt mehr der Typ für Instant-Ramen“, seufzte Sakura und setzte sich Sasuke gegenüber. „Kann ich auch eine Tasse Kaffee haben? Ich bin hundemüde.“ Sasuke schob ihr wortlos die Kanne hin, Ino brachte ihr flink eine Tasse. Die Eingangstür ging auf, und Tenten kam herein. „Morgen“, sagte sie, weniger euphorisch, als man es von ihr gewohnt war. In der Hand hielt sie eine Viererschachtel Eier, die sie Ino überantwortete. Anscheinend gab es heute Morgen Pfannkuchen. Als Sakura die anderen drei musterte, stellte sie fest, dass einer schlechter aussah als der andere. Sasuke hatte sie noch nie so wortkarg erlebt, Tenten sah man ihr doppeltes Wachpensum deutlich an, und Ino hatte wahrscheinlich dreimal so viel Makeup aufgetragen, um die dunklen Ringe um ihre Augen zu kaschieren. Sakura wollte gar nicht erst wissen, wie fürchterlich sie selbst aussah. Als die Pfannkuchen sauber auf einem Teller gestapelt auf dem Tisch standen, sah Ino stirnrunzelnd zur Decke. „Jemand sollte diese zwei Langschläfer wecken gehen. Wenn wir heute losmarschieren wollen, sollten wir nicht wieder so lange damit warten.“ „Ich hole sie“, sagte Tenten und machte sich auf den Weg in den Flur. Kurz darauf hörte man die Treppe unter ihrem Gewicht knarren. „War alles ruhig während deiner Wache, Sasuke?“, fragte Sakura, um ein Gespräch in Gang zu bringen. Sie hielt die drückende Stille nicht länger aus. Sasuke sah einen Moment zwischen den beiden Frauen hin und her, dann machte er den Mund auf – und noch ehe er einen Ton von sich geben konnte, wurde er unterbrochen. Tentens heller Schrei gellte durch das Haus. Wie von der Tarantel gestochen sprangen die drei auf. Nein!, war das Einzige, was Sakura in den Sinn kam. Sie befürchtete das Schlimmste. „Wartet!“, rief Ino, als Sakura und Sasuke nach oben laufen wollten. Sie riss eine Schublade auf und verteilte drei große Messer, eines für jeden von ihnen. Die Spitzen gesenkt, trampelten sie die Treppe hoch. Sakura fiel auf, dass sie noch gar nie im ersten Stock gewesen war. Die Treppe führte auf eine schmale Balustrade, von der nur eine einzige Tür abzweigte. Das Schlafzimmer lag halb über dem Flur, halb über dem Wohnzimmer, und nahm das komplette obere Stockwerk ein. Tenten stand in der Tür und blockierte die Sicht ins Innere des Zimmers. Sasuke erreichte sie als Erster, drängte sich an ihr vorbei und blieb ebenfalls wie vom Donner gerührt stehen. Sakura hatte keine Gelegenheit, das Zimmer, das eindeutig das luxuriöseste in der Hütte war, zu begutachten. Ihr Blick heftete sich auf das große Doppelbett. Sie hatte das Schlimmste angenommen, aber was auch immer sie sich ausgemalt hatte, das hier war schlimmer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)