Selbstmord ist keine Lösung......oder? von LadyShihoin ================================================================================ Kapitel 6: Eingebrannte Bilder ------------------------------ Das Erste, was Carina wieder bewusst wahrnahm, war ihr ruhige Atmung. Nachdem sie mitten in der Nacht vollkommen fertig aus einem Albtraum erwacht war, schien sie danach wieder in eine Art Halbschlaf geglitten zu sein. Ihre Kopfschmerzen waren verschwunden, dennoch hatten diese Bilder einen bleibenden Eindruck hinterlassen. „Das war kein Albtraum“, dachte die 16-Jähriger mit einer Gewissheit, die sie selbst überraschte. Zu 100 % war sie sich sicher, dass es eine längst vergessene Erinnerung gewesen war. „Durch einen Schock können Erinnerungslücken entstehen“, murmelte sie und hörte fast detailgetreu die Stimme ihrer Biologielehrerin, die ihnen dies vor einem Jahr beigebracht hatte. Wer war das gewesen? Wer zum Teufel hatte ihr damals das Leben gerettet? Und warum tauchte diese Erinnerung gerade jetzt wieder auf? Das konnte doch kein Zufall sein. „Entweder das oder ich drehe langsam wirklich durch“, sagte sie und stieg aus dem Bett. Ihr Nacken war unangenehm verspannt und als sie im Badezimmer in den Spiegel schaute, entfuhr Carina ein Stöhnen. Ihr nächtlicher Ausbrach hatte Spuren hinterlassen. Ihre Augen waren gerötet und geschwollen, ihr Gesicht etwas bleicher als sonst. „Großartig“, dachte sie. Nur, weil sie bei einem Bestatter lebte, musste sie noch lange nicht wie eine Leiche aussehen. Ihre Hoffnung, dass dies ein guter Tag werden könnte, sank gerade gegen Null. Müde und mit einem unguten Gefühl in der Magengegend ging sie in die Küche und lauschte für einen Moment auf andere Geräusche. Aber es herrschte nach wie vor Totenstille. „Oh man, den muss ich mir merken. Totenstille… Jetzt bekomme ich schon den gleichen Humor wie Undertaker.“ Ziemlich lustlos kaute die 16-Jährige eine Weile auf ihrem Toast rum, bevor sie es schließlich aß und ein wenig in der Küche aufräumte. Als sie gerade fertig wurde und in den Vorraum trat, bimmelte es und die Tür ging auf. Erstaunt schaute Carina auf. Das war das erste Mal, dass jemand diesen Laden in ihrer Anwesenheit aufsuchte. Zwei Männer traten nacheinander ein. Der Erste war ziemlich breit und ziemlich groß, mit braunen langen Haaren und einem Schnauzer. Der Zweite war klein, aber dafür ziemlich muskulös. Er hatte zwar auf dem Kopf keine Haare, dafür aber einen dunkelbrauen Vollbart. „Die sehen irgendwie dubios aus“, dachte Carina noch, dann fiel ihr Blick auf die Trage, die die Beiden mit sich führten. Ein erstickter Laut entfuhr ihrer Kehle. Auf der Trage lag eine junge Frau. Oder eher das, was von ihr noch übrig war. Das Blut, das aus ihrer aufgeschlitzten Kehle geflossen war, war längst getrocknet. Es war in ihr ehemals hellblaues Kleid gesickert und hatte den Stoff bis zur Hüfte rot gefärbt, während der Saum komplett zerrissen worden war. Ihre langen schwarzen Locken waren zerzaust und konnten die riesige Platzwunde an der Stirn nicht verdecken. Ihre tiefbraunen Augen, die am gestrigen Tag vermutlich noch voller Leben gewesen waren, blickten jetzt nur noch stumpf und leer ins Nichts. Carina spürte, wie ihr das verbliebene Blut aus dem Gesicht wich. Sie presste ihre Lippen fest aufeinander und unterdrückte somit das Würgen, das sogleich in ihrer Kehle aufstieg. Alles in ihrem Körper schrie danach wegzulaufen, ihr Gehirn stellte auf Panikmodus um. Entgeistert wich sie zurück und prallte plötzlich gegen einen Widerstand. Gleich darauf legten sich Hände sanft auf ihre Schultern und die Stimme des Bestatters ertönte. „Ein Gast und das schon so früh am Morgen.“ Er kicherte. Die 16-Jährige war verstummt, aber ihr Körper zitterte immer noch. Der Druck auf ihren Schultern wurde fester, aber nicht unangenehm. Sie schloss ihre blauen Augen, aber trotzdem konnte sie die Tote weiterhin in ihren Gedanken sehen. „Sie wurde heute Morgen in einer Gasse gefunden. Da sie anscheinend noch nicht vermisst wird, haben wir sie direkt hierhergebracht.“ Carina achtete gar nicht mehr auf die Antwort des Undertakers. Sie konzentrierte sich viel mehr darauf ruhig zu bleiben, nicht durchzudrehen und – vor allem anderen – sich nicht zu übergeben. Ihre Nägel, die Gott sei Dank nicht besonders lang waren, krallten sich in ihre Handinnenflächen als sie die Hände zu Fäusten ballte. Diese Frau konnte nur wenige Jahre älter gewesen sein als sie, vielleicht 18 oder 19. „Wie können Menschen nur so grausam sein?“, dachte sie. Natürlich hatte sie immer wieder in den Nachrichten von Morden gehört, aber nie hatte sie es so richtig an sich herangelassen. Und in Mangas, Animes und Filmen da war das alles nicht echt gewesen. Es jetzt so vor sich zu sehen, in der Realität, war wie ein Schlag ins Gesicht. „Du hast noch nie eine Leiche gesehen, stimmt‘s?“ Carina öffnete die Augen. Sie hatte überhaupt nicht bemerkt, dass die Männer gegangen waren. Der Bestatter schien seinen „Gast“ bereits in den Keller gebracht zu haben, jedenfalls war sie nicht mehr zu sehen. „Nein“, antwortete die 16-Jährige mit brüchiger Stimme. „In meiner Zeit…“, sie räusperte sich kurz, „in meiner Zeit steht so etwas nicht auf der Tagesordnung.“ Der Silberhaarige gab einen missbilligenden Laut von sich. „Scheint, als hätten die Bestatter im 21. Jahrhundert nicht mehr sonderlich viel zu tun. Solche Fälle passieren hier fast jeden Tag.“ Die Blondine starrte ihn entsetzt an, in der Hoffnung, dass er wie so oft einen Scherz gemacht hatte. Doch dieses Mal lachte der Undertaker nicht. „Sag mir, was glaubst du ist ihr zugestoßen?“ Ihre blauen Augen weiteten sich, als er sie dies fragte. Warum wollte er ihre Meinung dazu hören? War die Antwort nicht sogar offensichtlich? „Für mich ist sie offensichtlich“, dachte das Mädchen und erschauderte unwillkürlich. Als sie die Lippen erneut öffnete um zu sprechen, war ihr Mund verdammt trocken. „Sie wurde vergewaltigt…nehme ich an. Und dann wurde ihr die Kehle durchgeschnitten. Mit einem Messer oder ähnlichem. Die Platzwunde an der Stirn kommt sicherlich davon, dass sie versucht hat sich zu wehren.“ Bei seinem jetzigen Grinsen entblößte er seine weißen Zähne. „Scharfsinnig“, meinte er und Carina blinzelte. „Scharfsinnig? Was soll daran scharfsinnig sein? Es ist offensichtlich.“ „In dieser Zeit bilden sich die meisten Frauen nicht so weiter wie im 21. Jahrhundert. Die adeligen Frauen besuchen zwar Schulen für höhere Töchter, aber dort wird kein logisches Denken vermittelt. Dafür sind hier einzig und allein die Männer zuständig.“ Aus irgendeinem Grund machten seine Worte die 16-Jährige wütend. „Ist es für Euch so überraschend, dass eine Frau denken kann, wenn sie will?“ Sie zuckte zusammen, als er ihr mit einem seiner langen Nägel gegen die Wange pickte. „Überrascht? Nein. Erfreut? Ja. In dieser Gegend finden sich nicht viele Frauen, mit denen man über ernste Themen sprechen kann. Nun ja, höchstens die Tante des Earls vielleicht.“ Carina schnaubte und achtete gar nicht darauf, dass er gerade indirekt die Frau erwähnt hatte, die sie bereits aus dem Manga kannte. „Es gibt schon einen Grund, warum nicht nur Männer ein Gehirn haben. Ich werde meines jedenfalls benutzen, ob das den Leuten hier nun gefällt oder nicht. Es wäre doch ziemlich bedauerlich dumm zu sterben, oder etwa nicht?“ Herausfordernd starrte sie ihn an, doch er beugte sich lediglich ein wenig zurück und lächelte, dieses Mal ohne Zähne. „In der Tat“, antwortete er und Carina fiel auf, dass seine Stimme tiefer wurde, wenn er etwas ernst meinte. „Allerdings solltest du dann auch so schlau sein und dich in der Öffentlichkeit anpassen. Hier kann einen zu viel Wissen schon einmal leicht den Kopf kosten.“ Irgendwie erinnerte Carina das daran, was Bianca immer zu ihr gesagt hatte. Dein großes Mundwerk wird dich eines Tages noch in große Schwierigkeiten bringen, Carina. Und wenn es soweit ist wirst du dir denken „Hätte ich doch mal besser meinen Mund gehalten“. Und so abwegig war dieser Gedanke gar nicht… „Wer schlau ist kann sich dumm stellen“, antwortete sie und lächelte nun leicht. „Keine Sorge, ich werde meine Gedanken für mich behalten.“ Es verging eine ganze Woche. Carina hatte einen geregelten Tagesablauf und bekam Gott sei Dank keine weiteren Leichen zu Gesicht. Allerdings schlief sie immer noch sehr schlecht. Der seltsame Albtraum hatte sich zwar nicht wiederholt, aber die Leiche des Mädchens ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie konnte sich zwar oft nicht mehr an ihre Träume erinnern, wenn sie verschwitzt aufwachte, aber ihr Unterbewusstsein schien nachts auf Hochtouren zu arbeiten. Am heutigen Tag war sie nicht wie sonst auf dem Friedhof, sondern in der Stadt. Der Undertaker hatte ihr eine kleine Liste in die Hand gedrückt und sie zum Einkaufen geschickt. So kam sie endlich mal dazu das viktorianische London etwas näher kennenzulernen. London war eine schöne Stadt, daran gab es keinen Zweifel. Allerdings hatte auch die schönste Stadt ihre Schattenseiten. Carina konnte viele Bettler und Obdachlose sehen, teilweise sogar Kinder die alleine am Straßenrand standen. „Ich hab nie darüber nachgedacht wie gut es uns in der Zukunft geht. Dagegen waren die Probleme, die ich hin und wieder mal hatte, ja wirklich Kinderkram.“ Nach ca. 2 Stunden hatte sie bereits alles gefunden, was der Bestatter benötigte. Besonders überrascht war sie über die verschiedenen Sorten von Make-Up gewesen. Dann war ihr allerdings eingefallen, für was er es brauchte. „Um seine – wie nennt er es noch gleich – „Gäste“ wieder hübsch zu machen“, dachte sie. Wie das Mädchen von letzter Woche. Carina wusste, dass somit nur die Wahrheit verschleiert wurde. Allerdings würde sie an Stelle der Familie auch nicht sehen wollen, wie die junge Frau zuletzt ausgesehen hatte. Ihre Mutter hatte damals auch nicht die Leiche ihres Vaters sehen wollen. „Ich möchte ihn so in Erinnerung behalten, wie er lebend ausgesehen hat“, hatte sie später einmal zu Carina gesagt. Ihr Großvater war zwar an einem natürlichen Tod gestorben, aber die 16-Jährige konnte es dennoch verstehen. Das Bild eines Toten brannte sich für immer in das Gedächtnis, soviel stand fest… „Ich bin wieder da“, rief sie beim Betreten des Instituts und stellte den Korb auf die Anrichte in der Küche. Während sie die Lebensmittel verstaute, legte sie die Döschen mit dem Make-Up vorsichtig auf den Tisch, genauso wie das restliche Geld. „Ah, wunderbar“, meinte der Undertaker, als er durch die Tür kam und eines der Döschen in die Hand nahm. „Davon war fast nichts mehr da.“ Unwillkürlich fragte sich Carina, wie viele Leichen er schon unter seinen Händen gehabt hatte. „Ich will es lieber nicht wissen“, dachte sie kurz darauf und nahm sich ein Glas Wasser. Zum ersten Mal an diesem Tag ertönte das Klingeln der Türglocke und kurz darauf waren Schritte zu hören. „Bitte keine Leiche“, fuhr es ihr kurz durch den Kopf, als bereits eine Stimme ertönte. „Undertaker, bist du da?“ „Ah, der werte Earl“, murmelte der Bestatter und machte sich bereits auf den Weg, um seinen Besuch zu empfangen. Carinas Neugierde wurde geweckt und sie folgte ihm in den Eingangsbereich. Ob das wirklich… „Ja, er ist es wirklich“, dachte sie gleich darauf und schaute den Hauptcharakter dieser Geschichte mit großen Augen an. Er war ein paar Köpfe kleiner als sie, dennoch wirkte er in seinen edlen Klamotten und seiner aufrechten Haltung wesentlich älter als er war. „Ich glaube, er müsste jetzt 10 oder 11 sein“, dachte sie. Ihr Hals wurde trocken, als sie Sebastian hinter ihm stehen sah. Er war wirklich überdurchschnittlich gutaussehend, aber Carina ließ sich davon nicht täuschen. Nein, sie wusste ja was er wirklich war. „Sebastian, mein Mantel“, sagte der Junge mit der Augenklappe und streckte die Arme aus. „Jawohl, junger Herr“, antwortete der Dämon und streckte seine Hände aus, um seinem Meister den Mantel abzunehmen. Carinas Eingeweide gefroren augenblicklich zu Eis. Ohne es kontrollieren zu können ließ sie ihr Glas los, was am Boden in tausend Scherben zersprang. Drei Augenpaare wandten sich ihr zu, wobei die Augen des Undertakers natürlich wie immer von seinen Haaren verdeckt wurden. Carina waren die Blicke jedoch egal. Sie konnte nur weiterhin den Butler in stummem Entsetzen anstarren. Er hatte nur drei Worte gesagt, dennoch war sie sich absolut sicher. „Er war es. Er hat mich gerettet.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)