Dear Junk von RedSky (Kazzy's Vorgeschichte) ================================================================================ Kapitel 26: taste of cherry --------------------------- Er hatte gedacht es würde aufhören, sobald sie Kyo wieder hätten. Doch das tat es nicht. Der Stress der letzten Tage und Wochen ließ Joe nicht los. Egal wie sehr er auch versuchte sich zu entspannen, einfach nur mal zu relaxen. Es ging nicht. Irgendwas war immer. Und seitdem sowohl Kazzy als auch J bei ihm wohnten, hatte er sowieso eingeschränkte Wohnverhältnisse. Er machte den anderen keinen Vorwurf daraus, immerhin hatte er sie ja aus freien Stücken aufgenommen und er wollte sich auch um sie kümmern. Doch allmählich zehrte all das doch spürbar an seiner eigenen Kraft. Joe war sich stets darüber bewusst gewesen, dass der Leader generell die härteste Aufgabe einer Gruppe zu erfüllen hätte und wäre er dazu nicht in der Lage gewesen, hätte er nicht die ganze Zeit seine Position als Leader von Snakebite tragen können. Denn keine einzige Straßengang in ganz Süd-Korea folgte einem Leader, der nichts drauf hatte. Aber irgendwie war in letzter Zeit einfach der Wurm drin. Manchmal wünschte er sich einfach nur einzuschlafen und lange, lange Zeit nicht aufzuwachen. Als er an diesem Tag den Kiosk betrat um Limonade und irgendein Knabberzeugs, das Kazzy so gerne haben wollte, zu kaufen, fielen ihm die Männer noch nicht auf, die verteilt im Laden standen und allesamt unauffällige Blicke zu ihm rüberwarfen. Lucifer hatte mit ihrer Beobachtung Recht gehabt: Joe mangelte es zunehmend an seiner sonst so geschärften Aufmerksamkeit. Erst als er vor dem Limonadenregal stand und gerade nach seiner Marke greifen wollte, registrierte er den einen Kerl im weißen Hemd, der zwei Regale hinter ihm stand und ihn so seltsam beäugte. Joe zögerte. Er sah nicht aus wie einer von Rancor's Spitzel...viel zu gut gekleidet. Und er bewegte sich auch ganz und gar nicht wie Einer von der Straße. - Das konnte nur ein Cop sein! Fuck! Und er selbst stand gerade in einem so äußerst dämlichen Winkel...! Ein Cop kam bekanntlich nie allein... Hier mussten noch mehr rumlungern. Joe drehte sich halb zur Seite, als würde er sich plötzlich brennend für die Erdnüsse im Nebenregal interessieren. Aus den Augenwinkeln versuchte er nun in dieser neuen Position einen möglichst aufschlussreichen Überblick über die Lage zu bekommen. Der Typ da, der seine Nase auffallend tief in die Zeitung steckte, war doch garantiert auch ein Bulle...! Joe's Augen huschten weiter umher, doch er konnte noch immer nicht den gesamten Laden einsehen. Aber so wie es im Moment schien, wimmelte der Schuppen hier nur so vor Cops. Wenn draußen jetzt auch noch Welche standen...? Shit, und er war alleine! Keiner konnte ihm in dieser Situation Deckung geben. Der erste Typ starrte ihn an. Starrte ihn viel zu auffällig an. Was waren das für Flaschen, die noch nicht mal richtig observieren konnten?! Unerfahrene Polizisten waren gerne mal etwas übereifrig.... - Was machten die überhaupt hier? Wieso hatten die ihre Drecksärsche mitten in irgendeinen x-beliebigen Shop geparkt? Glaubten die, hier liefen ihnen die Junkies geradewegs in die Arme? Oder sollte hier irgendein größeres Ding abgehen, von dem er nichts mitbekommen hatte? Dem Leader wurde das alles zu brenzlig. Er hatte ein schlechtes Gefühl und im Alleingang wollte er nichts riskieren. Möglichst unauffällig wand er sich von dem Erdnussregal wieder ab und schlenderte, mit vorgetäuscht interessierten Blicken auf Schokoriegel und Waffeln, wieder Richtung Ausgang. Die Blicke des einen Cops verfolgten ihn. Das spürte er. Also hatten sie ihn auf dem Kieker, denn andere Kunden außer ihm (und dem gefakten Zeitungsleser) gab es hier im Moment nicht. Ohne sich selbst darüber im Klaren zu sein, bewegten sich seine Füße schneller, je näher er dem Ausgang kam. Er wollte hier einfach nur noch weg, er fühlte sich hier zu unsicher, zu angreifbar. Und die Augen des einen Typen wollten nicht von ihm weichen. Noch drei Schritte...noch Zwei....noch Einen.....er trat über die Schwelle des Ladens. Seine Ohren vernahmen ein unverständliches Genuschel von dem Cop, der ihn schon die ganze Zeit beobachtet hatte. Sein Verstand setzte aus und er begann zu laufen. Ein zu auffälliges Indiz dafür, dass er irgendwas zu verbergen hatte. Das hätte ihm sein Verstand auch sofort klar gemacht, wenn Selbiger nicht plötzlich auf Autopilot geschaltet hätte. Dass der Eingangsbereich der Tankstelle, die sie vor einigen Tagen überfallen hatten, mit einer Videokamera ausgestattet und Joe bei der Flucht genau in deren Blickwinkel aufgetaucht war, in dem Moment als sein schwarzer Schal verrutschte und für einen kurzen Augenblick sein Gesicht gut erkennbar freigab – das alles wusste er nicht. Wie eine gesengte Sau raste Joe die Treppenstufen zu seiner Wohnung hoch, bekam vor Aufregung und Hektik kaum den Schlüssel ins Schloss und als er es dann doch noch geschafft hatte sich Zutritt zu seinen eigenen vier Wänden zu beschaffen, stürmte er sofort zu dem ersten Fenster, noch bevor die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war. Er riss das Rollo vor dem Küchenfenster mit solch einer Wucht runter, dass er die Halterung fast aus der Wand beförderte. Dann hechtete er auch gleich schon quer durch den Raum zur Schlafecke und riss die Vorhänge zu. Dass er bei dieser Aktion auf halbem Wege beinahe über Kazzy gestolpert wäre, der auf dem Fußboden nahe des Bettes saß, registrierte er gar nicht. Überhaupt schien es so, als sei ihm die Anwesenheit seiner Leute gerade gar nicht bewusst. Lucifer, die auf der Bettkante saß, beäugte den außer Kontrolle geratenen Lockenkopf skeptisch. „Nun komm ma' wieder runter. Was ist denn los?“ Auch J, Kyo, Sugizo und Kazzy sahen ihren Führer fragend an. Dieser sank inzwischen, mit dem Rücken an eine Wand gedrückt, langsam gen Boden. Sein Gesicht war verzweifelt und ratlos und für wenige Momente verbarg er es hinter seinen vorgeschlagenen Handflächen. Ein kurzes Kopfschütteln, ganz so, als wollte er das gerade Geschehene als irreal abstempeln und es aus seinem Kopf verscheuchen. Die Snakebites waren verunsichert und unschlüssig: So hatten sie Joe noch nie erlebt. Was konnte nur passiert sein, das ihn so aus der Bahn warf? „Ey...“ Lucifer glitt vom Bett runter und kniete sich neben den Leader. „Was ist passiert?“ Ihre Stimme war ungewöhnlich mitfühlend. Joe hob den Kopf, antwortete jedoch nicht sofort. „Die scheiß Bullen haben's auf mich abgesehen!“ In seiner Stimme lag ebenso viel Verzweiflung wie in seinem Gesicht. Es war noch nie vorgekommen, dass er alleine auf der Flucht war. Wenn dann immer mit Snakebite, mit seinen Jungs. Sie waren immer als Gruppe auf der Flucht gewesen, selbst wenn sie sich mal aufteilen mussten. Doch diese Szene eben.....in denen er der Polizei völlig unverhofft alleine gegenüber stand...ohne Deckung, ohne Rückzugsmöglichkeiten....das war bis jetzt noch nie vorgekommen. Ohne Gruppe war man in dieser Welt schutzlos und ausgeliefert, das wurde Joe in diesen Augenblicken deutlicher denn je. „Haben sie dich hierher verfolgt?“, wollte Lucifer wissen. Sie wusste nicht warum, aber irgendwie bekam sie gerade ein zunehmend schlechtes Gefühl. Joe starrte sie an. „Spinnst du?! Natürlich nicht!“, fuhr er die Rothaarige an, etwas härter als beabsichtigt. Er wand seinen Blick von ihr ab als er merkte, dass seine Reaktion ein wenig zu heftig ausfiel. „Ich hab sie erst abgehängt, bevor ich hierher gekommen bin...“ Jedoch war es nun nur noch eine Frage der Zeit, wann sie seine Wohnung ausfindig machen würden. Sie kannten sein Gesicht, sie suchten ihn gezielt (weshalb auch immer) und seine Bude war nun nicht unbedingt das non-plus-ultra-Versteck. Eine verramschte, alte, kleine Hütte in einem ebenso verramschten, kleinen Viertel Seoul's. Sie würden ihn finden. Früher oder später. „Ihr müsst hier verschwinden.“ Dieser Satz traf alle hart. Besonders aber J, Sugizo und Kazzy, die im Moment, was eine Unterkunft anging, kaum Ausweichmöglichkeiten hatten. „Wo soll'n wir hin?“, brach die überreife Frage nach Sekunden des Schweigens aus Kazzy raus. Joe wand seinen Blick wieder Lucifer zu. „Du musst sie aufnehmen“, bat er leise und mit belegter Stimme. Die Angesprochene schien von dieser Idee jedoch ganz und gar nicht begeistert zu sein. „Joe, hast 'n Rad ab? Wie soll das gehen?“, blaffte sie ihn unkontrolliert an. Sie fand den Vorschlag ihres Leaders einfach absurd, unrealistisch. „Mein Zimmer ist winzig! Ich müsste die Jungs darin stapeln! Und Gardie-!“ „Fuck Gardie! Es geht hier um Snakebite!“ Nun blitzten Joe's Augen wieder kampfbereit auf; zum ersten Mal an diesem Tag. Es wurde immer seltener. „Wo sollen die Anderen sonst hin? Kyo's Vater dreht durch wenn die alle bei ihm auftauchen. Und Sugi's Sippe kannst'e eh vergessen! Und die Anderen haben gar kein zu Hause mehr!“ Die Luft zwischen Joe und Lucifer brannte. Sie sahen sich schweigend an. Joe spürte, dass es eine Veränderung geben würde und die schien unausweichlich. Und dafür erwartete er Mithilfe aus den eigenen Reihen. Von Lucifer dafür jedes Mal Gardie als Ausrede zu hören zu bekommen, machte ihn wahnsinnig. Lucifer verstand diese Blicke. Sie sollte jetzt am Zug sein, sie sollte sich jetzt um das kümmern, wozu Joe im Moment nicht mehr fähig war. Der Rotschopf nickte knapp und nur für Joe erkennbar. „Okay. Wann?“ „Jetzt!“ Kazzy und J sahen sich gegenseitig an. Beide waren sich im Moment absolut nicht mehr sicher, worum es gerade ging. Sie erkannten die Zeichen von Joe und Lucifer nicht. Sie verstanden lediglich, dass sie ihren Aufenthaltsort wechseln mussten. Dass sich damit aber grundlegend für alle Beteiligten etwas ändern würde, das ahnten sie noch nicht einmal ansatzweise. „Was wirst du machen?“, wollte Lucifer wissen. Irgendwie schien sie Zeit schinden zu wollen, um den nächsten Schritt so lange wie möglich hinaus zu zögern. Der Lockenkopf sah sie nur an. Sah sie an mit solch einer Gewissheit in den Augen, dass es seine Betrachterin fast erschrak. Er wusste, wie sehr seine Leistung als Leader in letzter Zeit nachgelassen hatte, er war nicht blind. Er hatte nie mit jemandem darüber gesprochen, doch ihm blieben seine eigenen Fehler nicht verborgen. Es war soweit gekommen, dass er seine eigenen Leute mehr in Gefahr brachte, als sie vor eben Dieser zu beschützen. Und das durfte nicht so weiter gehen. Sie brauchten mehr Sicherheit, seine Jungs. Sicherheit, die er ihnen nicht mehr bieten konnte. „Verschwindet hier...“, befahl er fast tonlos. Kazzy blickte Joe kurz an, dann sprang er auf und sammelte seine sieben Sachen zusammen. Viel besaß er eh nicht, seit er hier eingezogen war. Ein paar Klamotten und drei-vier Mangas. All das stopfte er, ohne lange zu überlegen, in seinen Rucksack. J war jedoch nicht ganz so schnell zum Aufbruch bereit. Er versuchte, auf Joe einzureden. „Ey komm, wir haben bisher alles gemeinsam durchgezogen!“ Er fixierte die Augen des Leaders. „Das hier schaffen wir auch! Auch wenn die Bullen dir am Arsch kleben.“ Joe sah den blonden Wirbelwind nüchtern an. „Nein J, du verstehst es nicht“, entgegnete er. „Wir sind zu tief drin. Wir müssen uns aufteilen, bevor sie uns alle kriegen.“ Diese Aussage war für J jetzt absolut keine Hilfe gewesen und er wollte erneut Einspruch einlegen, doch Joe's Blick hinderte ihn daran. Er sah, dass der Andere nicht streiten wollte. Aber es war ihm ernst um ihn. Immernoch zögerlich begann J nun auch, seine wenigen Klamotten zusammen zu suchen, stopfte sie widerstrebend ebenfalls in einen Rucksack. Kyo und Sugizo sahen ihnen nur zu. Auch an ihnen ging diese fragwürdige Aufbruchstimmung nicht vorbei und beide ahnten, dass ihre Zukunft auf noch wackligeren Beinen stand, als sie es eh schon immer tat. Der Missmut war ihr anzusehen, als Lucifer im Türrahmen stand und beobachtete, wie J und Kazzy ihre Sachen in ihrem winzigen Zimmer ablegten. Ausgerechnet Kazzy.... Sugi hätte sie viel lieber bei sich aufgenommen, mit Sugi hatte sie keine Probleme. Aber Kazzy..... Hätte Joe sie nicht drum gebeten, sie hätte den Kleinen skrupellos vor die Tür gesetzt. Lucifer wand sich der ungeliebten Szene ab und begab sich zu Gardie's Zimmer, um ihn über die neuen Mitbewohner zu unterrichten. Sie öffnete leise seine Tür, lugte herein. Gardie wand seinen Kopf nach hinten und sah seine Freundin und Kollegin an. Er saß mit dem Rücken zur Tür und schrieb auf dem Fußboden neue Songs. Für einen Moment blieb Lucifer's Blick auf den Blättern Papier haften, auf denen sie Noten und Wörter erkannte. Schreiben, komponieren.....wie gerne täte sie das jetzt auch. Im nächsten Augenblick hatte sie sich jedoch wieder gefangen. „Ich hab da jetzt zwei Kumpel bei mir im Zimmer wohnen, denen ist die Hütte abgebrannt und sie brauchen was für'n Übergang. Is' nicht für lange“, erklärte sie kurz und hoffte inständigst, dass der letzte Satz auch tatsächlich zutreffen würde. Kazzy überhaupt aufnehmen zu müssen, war bereits schlimm genug. Ihn jedoch über einen längeren Zeitraum bei sich zu beherbergen – daran wollte Lucifer gar nicht erst einen Gedanken verschwenden! Gardie nickte nur. „Geht klar.“ Er hatte keine Ahnung von irgendwelchen Bandenaktivitäten, in denen Lucifer involviert war; er kannte die Jungs von Snakebite überwiegend aus Erzählungen und selbst die fielen bei Lucifer stets sehr knapp aus. Lucifer wand sich wieder ab, schloss Gardie's Zimmertür ebenso leise wie sie sie geöffnet hatte und trabte zurück in ihr eigenes, kleines Reich – welches erst mal nicht mehr ihr Reich war. Auf halber Strecke kam ihr J entgegen, der auf dem Weg zum Klo war. Er sah ihr an, wie unglücklich sie mit der aktuellen Situation war und er schenkte ihr einen entschuldigenden Blick. Wollte er sich doch wirklich niemandem aufdrängen. Aber wo sollte er im Moment sonst hin, ohne Bleibe? Lucifer kannte J und wusste dessen Blick daher richtig zu deuten. Er spiegelte genau das wieder, was auch parallel in seinem Kopf ablief. Sie trabte weiter, betrat ihr Zimmer – und durfte als Erstes sehen, wie Kazzy sich neugierig über ihre aktuellen Songnotizen beugte. „Ey!“, machte sie sofort laut auf sich aufmerksam. Kazzy schreckte auf, starrte sie an wie jemand, der bei etwas Verbotenem erwischt wurde. „Halt dich von meinen Sachen fern – sonst wird 'n fehlendes Dach über'm Kopf dein kleinstes Problem sein!“, zischte sie wie eine angriffslustige Schlange. Kazzy schluckte. Mit dem Mädchen war einfach nicht gut Kirschen essen. Die Flucht aus Joe's Wohnung lief für alle Beteiligten ziemlich überstürzt. Nachdem Kazzy und J ihre Sachen zusammen gesammelt hatten, verließen alle, außer Joe selbst, die Behausung. J und Kazzy wurden zu Lucifer's Unterkunft gelotst, währen Kyo und Sugizo den Rest des Tages damit verbrachten, durch die Gegend zu streunern. Lucifer konnte sie unmöglich auch noch aufnehmen und weder Kyo noch Sugizo hatten ernsthaftes Interesse daran, zu ihren jeweiligen Familien zurück zu kehren. Zumal Sugizo auch seine Zweifel daran hatte, ob seine Alten ihn auch nur über die Türschwelle gelassen hätten. Sie würden die heutige Nacht bestimmt durch machen, wenn sie nicht zufällig irgendeine Unterkunft – sprich, eine leerstehende Wohnung oder ein verlassenes Ladengeschäft – fänden. Doch daran verschwendeten beide Jungs im Moment keinen einzigen Gedanken. Die Zwei liefen ziemlich geistesabwesend nebeneinander her, jeder mit seinen eigenen Problemen und Fragen im Kopf. Während Sugizo die ganze Zeit seinen Blick hoch in den Himmel gerichtet hatte, studierte Kyo den Gehweg. „Warum wollte er dich retten?“ Diese Frage drang aus Sugizo's Mund und sie klang als reine Lautäußerung fast schon irreal im Kontrast zur anhaltenden Schweigsamkeit, die schon die ganze Zeit zwischen ihnen geherrscht hatte. Kyo zuckte deshalb auch kurz zusammen, als er diese unerwartete Frage – sprichwörtlich aus heiterem Himmel – vernahm. Sein Kopf drehte sich zur Seite, er sah Sugizo an. Ohne in seinem Gang inne zu halten. Hielt sein Schweigen anfänglich noch aufrecht, wand den Blick dann jedoch wieder ab und heftete seine Augen abermals auf den hoch faszinierenden Gehweg vor sich. Er hörte es wieder. Den Schuss. Den Schrei. „Weil er's mir versprochen hatte.“ Die Antwort hatte lange auf sich warten lassen. Dennoch hatte Sugizo zu keinem Zeitpunkt des Wartens ungeduldig erschienen. „Wieso?“ Er richtete seinen Blick kein einziges Mal auf Kyo. Dieser verzog seine Mundwinkel für einen kurzen Moment zu einem bitteren Lächeln. Er würde Sugizo jetzt ganz bestimmt nicht die ganze Story von Cipher und sich erzählen! Ihm beichten, dass er plötzlich schwul geworden war und sich vom Feind in den Arsch hat ficken lassen. Sein Leben war schon anstrengend und turbulent genug, da wollte er jetzt nicht auch noch aus Snakebite rausfliegen. Also tat er lieber das, worin er heute schon den ganzen Tag gut geübt war: Er schwieg. Und so war es abermals ruhig zwischen den beiden Jungs, die durch die lauten Straßen Süd-Korea's wanderten. Ziellos und scheinbar unermüdlich. Oder sich mit ihrem Schicksal abgefunden habend. „Vermisst du ihn?“, drängelte sich die Frage aber doch irgendwann aus Kyo's Mund heraus. Er meinte Inoran. „Klar!“ Sugizo ließ ein kleines Auflachen verlauten, als sei es überflüssig, ihn diese Frage zu stellen. Und eigentlich war sie es auch, das wusste Kyo. Aber er wollte nicht auf dem alten Thema sitzen bleiben – andererseits kam er sich bald schon vor wie ein Mönch, bei der ganzen Schweigsamkeit. „Denkst du viel an ihn?“ Nun warf Sugizo dem blonden Freund einen Blick zu, der nur allzu deutlich klar machte, dass diese Frage wirklich überflüssig war. Kyo senkte zum wiederholten Male seinen Kopf und schämte sich schon fast für seine Worte. Er war so durcheinander, so ausgelaugt, hilflos und müde von all den Geschehnissen, dass seine mickrigen Bemühungen zur Konversation alle erbärmlich scheiterten. Sugizo nach Ino zu fragen war genauso wie ihn nach Cipher zu fragen. Glaubte er. Kyo grübelte. Sugizo hatte aus seiner Sympathie zu Inoran nie ein Geheimnis gemacht und doch wusste er nicht, ob das, was zwischen ihm und Ino lag, nur reine Freundschaft war. Oder ob da nicht womöglich doch auch ein paar erotische Aspekte mitmischten. Immerhin hatte Sugizo stets viel und innigen Körperkontakt mit seinen Freunden ausgetauscht und das niemals auch nur zu verstecken versucht. Bei Ino fiel es immer besonders stark auf. Ob zwischen denen was gelaufen war? Ob Sugizo's Vorliebe, sich in Inoran's Bett zu schleichen wenn Dieser noch schlief, nicht doch irgendwelche Hintergedanken bargen? Jetzt wäre eigentlich der ideale Zeitpunkt dafür gewesen, nachzufragen. Von Sugizo würde er die Antworten zu den Fragen immerhin aus erster Hand erhalten. Und wer weiß, vielleicht war Sugizo ja gar nicht so homophob wie viele ihrer Kollegen. Vielleicht hätte er sogar Verständnis für Kyo's Situation gehabt. Situation. Was war das schon für eine 'Situation', sich in den Feind zu verlieben... Snakebites waren Snakebites und Iron Killers waren Iron Killers, daran hätte auch Sugizo nichts ändern können! Der Schuss. Aber was spielte das noch für eine Rolle. Der Schrei. Jetzt. Der Ärmel der Lederjacke vor seinen Augen, auf dem Boden. Jetzt wo alles vorbei war. Alles vorbei, was hätte anfangen können. Plötzlich blieb Kyo stehen, krümmte sich, presste sich die Hände an den Kopf und ging in die Knie, während aus seinem Mund Laute drangen, die zuerst klangen wie die Jagdschreie eines exotischen Raubvogels. Diese gurgelnden und bald schon schrillen Laute wandelten sich jedoch ziemlich rasch in verzweifeltes Heulen und Schluchzen und Kyo spürte den harten Steinboden unter den Knien. Sugizo war abrupt stehen geblieben, kaum dass er Kyo's Veränderungen wahr genommen hatte, und kniete nun dicht neben ihm, die Arme um den bebenden Oberkörper des Blonden gelegt. Er hatte mit dem Beginn seines Gesprächs einen wunden Punkt bei Kyo getroffen. Das hatte er zwar vorhin schon vermutet, doch nun hatte er die endgültige Bestätigung. Und auch die Gewissheit für seinen Verdacht, in welcher Beziehung Kyo zu dem erschossenen Cipher gestanden hatte. Um den Anderen und sich selbst aber erst mal aus der umherwandelnden Masse von Menschen zu befreien, zerrte Sugizo den Gleichaltrigen mit sanfter Gewalt vom Gehweg zur nächstgelegenen Hauswand, lehnte sich mit ihm gegen Selbige. Hier liefen sie zumindest nicht Gefahr, umgerannt zu werden. Mit einer erstaunlichen Gelassenheit drückte der Rothaarige den Freund an seinen Körper, fuhr mit der Hand beruhigend über das gebleichte Haar und wisperte ihm ab und an beruhigende Worte ins Ohr, wie eine Mutter es mit ihrem kleinen, aufgeregten Sohn machen würde. Kyo klammerte und krallte sich nur haltsuchend an den Anderen fest, heulte und rotzte hilflos rum. Irgendwann, nach ein paar Minuten, beruhigte er sich langsam wieder und es erklangen nur noch vereinzelte, halb verschluckte Schluchzer. Kyo hatte sein Gesicht an Sugizo's Schulter geschmiegt und die Augen geschlossen, seine erschöpften Gesichtszüge entspannten sich wieder. Es tat so weh. Tief im Herzen. Es war der größte Verlust, den er je erlebt hatte. Der Verlust eines Jungen, den er kaum gekannt, aber dennoch irgendwie geliebt hatte. Sugizo's Schulter war schön warm. Erinnerte ihn an die starken Schultern von Cipher. Der Rotschopf griff sich mit einer Hand in die Tasche seines Hemdes und holte im nächsten Augenblick ein paar Bonbons hervor, die er seinem Schützling vor die Nase hielt. Schon die Bewegungen, die er spürte, veranlassten Kyo dazu, die Augen zu öffnen und so präsentierten sich ihm auf einmal Kirsch- und Zitronenbonbons. Seine Lieblingsbonbons. Sugizo wusste das. Kyo griff nach einem der rot eingewickelten Bonbons, befreite die runde Süßigkeit aus der Plastikhülle und ließ sie in seinem Mund verschwinden. Sogleich schmeckte alles nach intensiver Kirsche. Ein beruhigender Geschmack für ihn. Er tröstete ihn jedes Mal ein bisschen. Er hatte auch oft welche bei sich, wenn seine Eltern wieder besonders heftig miteinander stritten. Der Geschmack des Zuckers und des künstlichen Fruchtaromas war sein kleiner Ausgleich für die psychischen Strapazen, die er durchzustehen versuchte. Wenn alles nach Kirsche schmeckte, war die Welt wieder ein Stückchen heiler. Hosted by Animexx e.V. 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