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Dear Junk

Kazzy's Vorgeschichte
von

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numb

Der Renkon schmeckte seltsam, fand Inoran. Genauso wie das übrige Gemüse. Nur zögerlich führte er die beladenen Essstäbchen zu seinem Mund, kaute sehr langsam. Als hätte er noch nie in seinem Leben Renkon gegessen. Dabei hatte seine Mutter dieses Gericht durchaus öfter mal gemacht. Aber bei ihr schmeckte es irgendwie ganz anders.....besser..... Seine Mutter....die hatte er gestern zuletzt gesehen...oder war es vorgestern? Seit dem Flug war sein Zeitgefühl völlig verschroben, obwohl Seoul und Mihara in der selben Zeitzone lagen. Einen Tag vor seiner Abschiebung hatte er sie gesehen, hatte sie ihn im Gefängnis besucht. Das zweite Mal. Sie hatte ihn zuvor nur ein einziges Mal dort besucht, kurz nachdem sie erfahren hatte, dass er im Gefängnis gelandet war. Sie war einfach zu labil, zu zerbrechlich um mit dieser Situation umgehen zu können. Als sie ihn gestern (oder vorgestern) besucht hatte, ihm im Besucherraum am Tisch gegenüber saß, hatte sie fast nur geweint. Geweint, ihr Gesicht verborgen, seine Hand gehalten, vom Wachdienst ermahnt worden, dass körperlicher Kontakt untersagt sei, und wieder geweint. Sie war nicht lange geblieben, höchstens eine Viertelstunde. In dieser Viertelstunde hatten sie kaum miteinander gesprochen. Obwohl Inoran sie so viel fragen, ihr so viel sagen wollte. Doch sie hatte immer nur geweint. Geweint und geweint. Die letzten Momente mit seiner Mutter hätte er gerne etwas produktiver verbracht.

Inoran sah auf, schaute zu Onkel Isamu rüber. Der futterte eifrig sein Renkon, schaufelte es beinahe schon in sich hinein. Vielleicht war es sein Lieblingsessen. Inoran fragte sich, ob sein Vater überhaupt schon erfahren hatte, dass sein einziger Sohn abgeschoben worden war. Er war nur sehr selten zu Hause, war ständig am arbeiten. Manchmal glaubte Ino, er hätte vergessen wie sein Vater überhaupt aussah, so selten hatte er ihn in den letzten Monaten, den letzten Jahren zu Gesicht bekommen. Vielleicht war seine Mutter deshalb so schwach, so fragil geworden, weil ihr Mann die Familie völlig aus den Augen verloren hatte. Ganz früher war sie nicht so gewesen, zumindest nicht so intensiv. Oder...?

„Inoue-kun? Ist alles in Ordnung mit dir?“, riss ihn die Stimme seiner Tante aus der Gedankenwelt, in die er schon wieder abzudriften drohte. Sie hatte sich leicht vorgebeugt, um ihm besser ins Gesicht sehen zu können.

Inoran schreckte auf. „Huh? Ja...ja, alles in Ordnung, Tante Aimi“, log er, warf einen Blick in seine Essschüssel, auf diesen undefinierbaren, matschigen Haufen, und legte die Stäbchen daraufhin beiseite. „Hat gut geschmeckt“, folgte die nächste Lüge. „Uhm...ich bin nicht mehr hungrig, ich geh noch ein bisschen raus...“ Der Junge stand auf.

Tante Aimi sah ihn voller Unverständnis und Verwirrtheit an und selbst Onkel Isamu, der noch die letzten Happen des Abendmahls in seine Futterluke verschwinden ließ, blickte auf. „Aber es ist doch schon spät!“, erinnerte Tante Aimi. „Du kannst um diese Uhrzeit doch nicht mehr raus – und dann noch alleine! Du wirst dich verlaufen, Inoue-kun!“

Sie hatte nicht ganz unrecht, es war bereits spät am Abend (und es hatte ihn auch recht stutzig gemacht, dass sie so verspätet zu Abend aßen; andererseits, vielleicht hatte seine Ankunft auch ihren Tagesrhythmus durcheinander gebracht). Aber alles andere von ihrem Gesagten tat er als bemutternden Blödsinn ab. Er war kein kleines Kind mehr, er war fünfzehn! Und gefährlicher als Seoul's Straßen waren die hier in Mihara sicherlich auch nicht, dachte sich der braunhaarige Junge, als er bereits die Küche verließ um sich seine dünne Jacke zu schnappen und überzuziehen. „Keine Sorge, Tante! Ich komm' wieder!“, rief er ihr noch zu, dann hatte er sich auch schon ungefragt das zweite Schlüsselbund vom Schlüsselbrett genommen und die Wohnung verlassen.
 

Es war schon dunkel und der Wind wurde kühler, kaum dass Inoran hinaus auf die Straße trat. Sogleich schlang er die dünne Jacke enger um sich, während er, völlig planlos, einfach einen Weg einschlug von dem er sich überraschen ließ, wo er ihn hinführen würde. Er kam ziemlich bald schon in eine größere und wesentlich belebtere Straße (die Straße, in der sein Onkel und seine Tante wohnten, war recht ruhig), in der noch jede Menge los war. Eine Art 'Abendmark' schien es hier zu geben, denn überall am Straßenrand waren Marktstände und Wagen aufgebaut, vereinzelt sogar kleine Zelte oder ganz simple, provisorische Tische. Jeder Stand, jeder Tisch war beschmückt mit bunten Lichtern, Leuchtketten oder kleinen Lampen, die die Form eines Drachenkopfes oder einer anderen Phantasiefigur hatten. Die Autos konnten nur mit deutlich gedrosseltem Tempo durch die Straße fahren, während die Marktfrauen und -männer ihre unterschiedlichsten Waren anpriesen und Neugierige, von jung bis alt, sich an den Ständen tummelten. Ein kunterbuntes Treiben, Welches Inoran in dieser Form noch nie gesehen hatte. Er blieb am oberen Ende der Straße stehen und ließ seine Blicke über das neuentdeckte Bild schweifen, beobachtete genau. Es war ein fabelhafter Anblick, fast wie aus einem Märchen und für einige Momente vergaß er völlig, wo er war. Hätte ihm jemand zuvor versucht, diese Szenerie zu beschreiben – er hätte sie sich nicht vorstellen können. Schließlich setzten sich seine Füße wieder in Bewegung und schritten langsam die abschüssige Straße hinab, trugen ihn durch dieses ganze bunte Getümmel. Seine Augen huschten so aufmerksam wie schon lange nicht mehr umher, entdeckten verschiedenstes Obst und Gemüse, Tücher in einer Vielzahl an Farben, Töpfe, Porzellan, kleine Püppchen und andere Figuren. Ihn streiften beim Bummeln sowohl kleine Kinder an der Hand ihrer Mütter, als auch ältere Menschen oder junge Pärchen. Die ganze Straße schien auf den Beinen zu sein, um diesen besonderen Abend zu erleben – und Inoran wusste noch immer nicht, was an diesem Abend eigentlich so besonders war. Während er sich vom Menschenstrom mitreißen ließ, blieb er selten stehen; er bewegte sich langsam genug, um die ausgelegten Waren auf den Tischen der Verkäufer begutachten zu können. Und wenn er doch mal inne hielt, dann nie für lange – denn der benachbarte Stand lockte ja schon wieder mit seinem bunten Licht, seinen Tüchern und Früchten. Sich inmitten dieser bunten, fremden Welt zu befinden war wie ein kleiner Rausch und der Junge mit den sonst so scheuen, verschlafenen Augen hatte für wenige Momente keine sorgenverseuchten Gedanken mehr. Hier herrschte eine ganz andere Atmosphäre, ein ganz anderes Feeling. Die Gerüche waren anders, die Geräusche – ja, selbst die Luft schien anders zu schmecken! Die Zeit wurde aufgehoben und mental befand er sich nicht mehr in diesem schrecklichen Japan, vor dem er solche Angst und solches Misstrauen gehabt hatte. Hier war er einfach nur auf dem Markt; auf einem fabelhaften Markt. Und er ließ sich gehen.... Doch so unerwartet und plötzlich diese Fabelwelt vor seinen Augen aufgetaucht war, so plötzlich sollte sie auch wieder verschwinden. Das musste Inoran leider viel zu früh feststellen, denn kaum war er das letzte Stück der Straße hinunter gegangen und befand sich nun am Fuße Selbiger, erstreckte sich vor ihm wieder nächtliche Düsternis, sah man von der kalten Straßenbeleuchtung und den bunten Reklametafeln ab. Eine andere Straße, ein anderes Leben. Er war verstörend, dieser Kontrast. Nicht so wirklich verstehend was hier vor sich ging, drehte Inoran sich noch ein Mal um, sah den Weg hinauf, den er eben noch hinuntergeschritten war. Es schien kein Traum gewesen zu sein, der Markt, die Leute und die bunten Lichter waren noch da. Aber nur da. Nur dieses kleine, winzige Stück. Hatte er wirklich geglaubt, ganz Japan sähe plötzlich so aus, hätte sich in den paar Stunden, in denen er bei Onkel und Tante geschlafen und gegessen hatte, von einer unscheinbaren Raupe in einen farbenprächtigen Schmetterling verwandelt? Ja, das hatte er geglaubt. Zumindest für einige Momente. Inoran's Blick sank, sein Kopf drehte sich langsam und zögerlich wieder zurück in seine vorherige Position. Sah von den bunten Lichtern hinab auf die schwarze Straße. Zog den Reißverschluss seiner Jacke ein Stückchen höher und schlang seine Arme um den Oberkörper. Es schien wieder kälter geworden zu sein.
 

Der Japaner mit mentalen koreanischen Wurzeln wandelte, ohne wirkliche Anhaltspunkte, durch die nächtliche und kalte Stadt, fing mit seinen Augen so viel ein und spürte im Herzen so wenig. Zu nichts, was er sah, konnte er irgendwelche großartigen Empfindungen aufbauen, alles war einfach nur fremd. Alles war distanziert zu seinen eigenen, inneren Gefühlen. Er war der Fremdling, ein Alien, der viele der beleuchteten Reklametafeln, um die man nicht herum kam, gar nicht lesen konnte weil der die japanischen Schriftzeichen nicht verstand.

Irgendwann hatten ihn seine Füße zur Mihara Station geführt und ohne darüber nachzudenken, betrat er den Bahnhof durch einen der Seiteneingänge. Er schritt durch die unterirdischen Gänge und erreichte die automatischen Schranken, die ursprünglich dafür vorgesehen waren, Reisende vom Schwarzfahren abzuhalten – Inoran ignorierte diese Absicht jedoch und kletterte gekonnt über die Hindernisse rüber. Hier war ja niemand, der sein Handeln kontrollierte. Überhaupt schien der Bahnhof hier um diese Zeit fast wie ausgestorben zu sein, hatte er das Gefühl. Ungewöhnlich....hatte er doch sonst immer gesagt bekommen, Japan würde, genau wie Süd-Korea, nie schlafen. Doch anstatt lange darüber nachzugrübeln, weshalb ihm kaum Reisende begegneten, schlenderte er weiter durch die Bahnhofsgänge, bis er irgendwann zum Abfahrtsbereich der San'yo Main Line kam. Dort blieb er nun erst mal stehen, denn seine Augen hatten in einigen Metern Entfernung eine Gruppe Jugendlicher erblickt, die sich auf einer der Bänke am Bahngleis lümmelten. Wild sahen sie aus, in ihren schwarzen Lederklamotten, teilweise mit Nieten gespickt...die, teils blondierten, Haare wirr vor dem halben Gesicht hängend.... Es musste eine Bande sein und sie erinnerte ihn an zu Hause. Also an Seoul. An den Ort, den er als sein zu Hause empfand. Inoran stand unschlüssig da. Er hätte die Kids da hinten gerne angesprochen, sich zu ihnen gesellt. Er brauchte wieder Kontakte zu Gleichgesinnten – diese Isolation in der Fremde machte ihn noch krank. Aber er war zu langsam. Denn noch bevor er sich dazu durchgerungen hatte, zu einer Entscheidung zu kommen, hatten die Anderen ihn schon längst entdeckt.

„Hey! Was is'?“, rief Einer von ihnen herüber als er registrierte, dass Inoran ihn und seine Kollegen unentwegt anstarrte. Er hatte sich eine Kopfseite kahlrasiert und sein blond-blassrosanes Haar war strähnig und zerwühlt. Er sah so aus, als würde er nicht lange zögern, jedem, der ihm nicht gefiel, Eine reinzuhauen.

Genau diesen Eindruck hatte auch Inoran von ihm und ausweichend flüchtete sein Blick sogleich zur Tafel die über ihren Köpfen schwebte und verriet, dass der Zug auf dieser Linie nach Tokuyama fuhr. Was auch immer er mit dieser Information anfangen wollte. Aber es war einfacher, als dem Kerl da hinten eine Antwort zu liefern.

Besagter Kerl beäugte den Fremdling misstrauisch, nuschelte etwas zu seinen Kollegen, die den Braunhaarigen inzwischen auch eingehend musterten. „Hast'e Probleme, oder was?“, drang es erneut über den Bahnsteig zum Gefragten.

Doch der Gefragte wusste keine Antwort darauf und wand sich wortlos rasch wieder ab, ging wieder zurück, die Treppe hoch und schaute sich kein einziges Mal um. Hoffte lediglich, dass sie nicht aufgestanden waren um ihm zu folgen. Deprimiert tauchten seine Hände dabei in seine Hosentaschen ab. Er hatte es vergeigt. Er hatte sich nicht getraut. Einfach nicht getraut. Obwohl er sich mit ihnen wahrscheinlich sogar ohne größere Probleme hätte unterhalten können, denn zumindest der Typ, der ihn angesprochen hatte, verwendete Gossenslang und den verstand Inoran auf japanisch. Denn den hatten Snakebite auch verwendet. Nur bei normalem Japanisch wusste er oftmals nicht, worum es ging.

Er verließ das Bahnhofsgebäude wieder genauso, wie er gekommen war und stand kurz darauf auf einem großen, freien Platz. Die Leuchtreklame der übergroßen Werbetafeln an den Gebäuden gegenüber strahlten ihm entgegen. Erzählten ihm in ihrer Bildersprache etwas von bald erscheinenden Kinofilmen, Popmusik und dem neuesten Super-Softdrink. In der Ferne sah er die Menschen über die bunten Straßen hasten. Wie war es nur möglich, sich in solch einem, mit Menschenmassen überladenem Land wie Japan, so schrecklich einsam zu fühlen?

Onkel Isamu hatte schon stolz angekündigt, ihn morgen einem Verwandten vorzustellen. Dieser Verwandte besaß ein Restaurant und dort wollte er ihm einen Job als Küchenhilfe besorgen. Wenn er sich gut benehmen würde, hatte der Onkel gesagt, dürfte das alles kein Problem sein. Scheinbar war der alte Mann scharf drauf, ihn so schnell wie möglich in Arbeit zu bringen. Das erinnerte ihn irgendwie stark an seinen Vater, der auch immer nur seine Arbeit im Kopf hatte. Warum hatte er damals eigentlich eine Familie gegründet...? Abwesend schüttelte der Junge den Kopf, als wollte er seine flüchtigen Gedanken sogleich wieder los werden. Egal was die Anderen wollten, er wollte keinen Job. Schon gar nicht als Tellerputzer und erst recht nicht in Japan. Seine Füße setzten sich wieder in Bewegung und seine nächtliche Reise wurde fortgesetzt. Sollte noch stundenlang fortgesetzt werden. Stunden, in denen Inoran durch ein Rotlichtviertel, verlassene Fußgängerzonen und Baustellen wandelte, noch reichlich belebte als auch völlig ausgestorbene Straßen passierte und sich in kleineren, einsamen Hinterhöfen rumtrieb. Stunden, in denen er sich fragte, ob es schon Menschen gab, die an einem gebrochenen Herzen gestorben waren und wenn nicht, ob er möglicherweise der Erste sein könnte. Ob sein Herz plötzlich von der einen Sekunde auf die Andere einfach zu schlagen aufhören könnte, nicht mehr dazu im Stande, die endlose Einsamkeit zu tragen. Erst in den frühen Morgenstunden, als sich der aufgehende Feuerball über Hiroshima's Himmel erstreckte, fanden Inoran's müde und wundgelaufene Füße wieder zurück zu seiner neuen Bleibe. Und in der Hoffnung, Onkel und Tante nicht zu wecken, schlich er sich quer durch die Wohnung bis in sein Zimmer, wo er todmüde und in voller Montur ins Bett fiel. Keine zwei Atemzüge später war er eingeschlafen.
 

Es war Samstag, er hatte keine Schule und konnte demnach lange schlafen. Das hätte er vermutlich auch getan, wenn ihn nicht irgendwann am Vormittag jemand an der Schulter gerüttelt und somit geweckt hätte. Inoran hatte sich verschlafen umgedreht und im nächsten Moment sah er auch schon in die breit grinsenden Gesichter seiner beiden Freunde J und Sugizo, die mit einer großen Torte vor seinem Bett standen. Das hielt nun selbst Schlafmütze Inoran nicht mehr in den Federn und gemeinsam vergriffen sich die drei Freunde an der süßen Speise, die so köstlich schmeckte und für deren Fertigstellung Sugizo und J den ganzen Morgen in der Küche von J's Mutter verbracht hatten. Danach fuhren sie mit dem Zug zum Strand, wo sie den kompletten Tag verbrachten. Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel herab, der feinkörnige Sand war warm unter den nackten Fußsohlen und das frische Wasser kühlte ihre Körper ab. Die drei Jungs tobten und tollten herum, als sei es der allererste Tag ihres Lebens. Es war Inoran's dreizehnter Geburtstag.
 

Das hämmernde Klopfen an der Tür war das Erste, was er wahr nahm. Doch das stetige Rütteln seines Körpers holte ihn schließlich gänzlich aus dem Schlaf. Inoran drehte sich halb auf die andere Seite, seine verschlafenen Augen öffneten sich nur einen minimalen Spalt weit. Trotzdem konnte er die verschwommene Gestalt, die über ihm stand, recht schnell als seine Tante ausmachen.

„Inoue-kun, aufstehen! Du musst aufstehen!“, rief sie immer wieder, scheinbar fast schon verzweifelt darüber, ihren neuen Mitbewohner kaum aus dem Bett zu bekommen. Tante Aimi war kein aggressiver Mensch, aber ein sehr Hartnäckiger. So gutmütig sie auf der einen Seite auch war, so schwer ließ sie sich auf der anderen Seite abschütteln. Da Inoran auch langsam zu dieser Erkenntnis kam, ließ er sich von ihr breitschlagen und quälte sich, schweren Herzens, aus dem Bett, in welchem er kaum drei Stunden verweilt hatte. Nach seiner üblichen Katzenwäsche erschien er dann schließlich, immernoch mehr schlafend als wach, in der Küche, wo sein Onkel sich schon aufgebaut hatte.

„So kann das nicht weiter gehen, Inoue-kun!“

Er befand sich noch nicht einmal 24 Stunden lang in diesem Land und durfte sich schon solche Floskeln anhören. Inoran warf einen etwas hilflosen Blick in die offenen Küchenregale, auf der Suche nach Tee oder Kaffeepulver. Als seine immernoch müden Augen weder das Eine noch das Andere ausfindig machen konnten, schlurfte er zum Kühlschrank um dort nach irgendeiner Art von Saft zu suchen. Und Bingo – er wurde fündig.

„Ich will dir eine vernünftige Arbeit besorgen, bei der du dich bewähren und ordentliches Geld verdienen kannst und du tust so, als ob dich das alles gar nicht interessiert!“, fuhr Onkel Isamu fort, ignorierend, dass Inoran ihn ignorierte.

Dieser ließ sich derweilen lieber ein paar Schlucke Orangensaft durch den Hals gehen als die Worte seines Onkels durch den Kopf.

„Mein Cousin ist ein sehr großzügiger Mann und er hat mir versprochen, er will dir eine Chance in seinem Restaurant geben“, fuhr der Onkel fort. „Also sei nicht dumm und schlag diese Chance nicht in den Wind! Das kannst du dir nicht leisten!“

Inoran stellte die Tüte Orangensaft auf die Küchenablage, während sein Blick scheinbar geistesabwesend durch das kleine Fenster nach draußen fiel. Jetzt war da auch noch irgendein Cousin mit im Spiel. Er verlor allmählich den Überblick über die Leute, mit denen er sich hier vertraut machen sollte und die sich alle – angeblich – um ihn kümmern wollten. Sie stürzten sich ja alle geradezu auf ihn, um ihn unter ihre Fittiche zu nehmen und sich mit ihm zu brüsten (oder mit ihrer vorbildlichen Tat, einem entwurzeltem Jungen unter die Arme zu greifen) – aber hatte auch nur ein Einziger von denen ihn je gefragt, ob er das überhaupt wollte? Nein, hatten sie nicht! Niemand hatte ihn auch nur irgendwas gefragt. Es wurde einfach bestimmt. Er wurde herum gereicht, wie ein exotisches Souvenir aus einem fremden Land, das jeder mal in Händen halten und betrachten wollte. Und so fand er sich auch eine gute halbe Stunde später im Personalbereich eines Restaurants wieder, zusammen mit seinem Onkel und dessen Cousin. Hörte seinen Onkel große Reden schwingen und Lobeshymnen über ihn verkünden. Vorhin, zu Hause, hatte er ihn noch zur Schnecke machen wollen und jetzt machte er regelrecht Werbung für ihn. Inoran hatte aufgegeben, diesen Mann zu verstehen. Das war auch für die kommenden Stunden gar nicht nötig, wie er merkte, denn nachdem sein Onkel mit Reden schwingen fertig war und sich vom Cousin verabschiedet hatte, wurde er zielstrebig in die Küche manövriert, wo er vor einer großen Spüle geparkt wurde.

„Du wäschst all das schmutzige Geschirr, das man dir hierhin stellt. Trocknest es ab und stellst es den Anderen wieder zur Verfügung. Und das alles so schnell wie möglich.“ Der Cousin, der auf einmal eine messerscharfe Stimme aufgelegt hatte, sah ihn eindringlich, fast missmutig an, bevor er ihn alleine ließ und sich seiner eigenen Arbeit widmete. Wie auch immer die aussah.

Völlig entgeistert starrte Inoran das Spülbecken an, das bereits über die Hälfte mit Wasser und Schaum gefüllt war. Er wusste ja, dass es ein Job in einer Restaurantküche war, den sein Onkel für ihn ausgesucht hatte – aber dass er hier den ganzen Tag tatsächlich nur Teller waschen sollte, davon war bis eben noch nicht die Rede gewesen! Oder er hatte es nicht mitbekommen; das Japanisch der beiden Männer, des Onkels und des Cousins, hatte er vorhin wieder nicht verstanden. Viel zu schnell hatten sie gesprochen. Und viel zu japanisch. Zögerlich griff Inoran zum ersten, schmutzigen Teller, der nur die Spitze eines ganzen Tellerturms darstellte. Spuren von Soßenresten. Ein leicht schmieriger Film von irgendwas anderem. Verdammt, er wusste nicht einmal, wie diese Hütte hier hieß.
 

„Ich weiß auch nicht, was in ihn gefahren ist!“ Hektisch mit den Händen gestikulierend, versuchte Onkel Isamu mit den wildesten Gesten scheinbar noch, das Unheil bestmöglich abzuwenden. Doch sein Gegenüber wollte sich dazu nicht breitschlagen lassen.

„Er hat in den paar Stunden sechs Teller und zwei Gläser fallen lassen!“, wütete der Cousin aufgebracht. „Er ist langsam und stinkendfaul! Meine Großmutter würde diese Arbeit schneller erledigen als er!“

Inoran bezweifelte stark, dass die Großmutter des Restaurant-Chefs noch lebte, daher hinkte dieser Vergleich ziemlich.

„Bitte, Kouta! Gib ihm nur noch eine Chance!“ Onkel Isamu hob nun beschwichtigend – oder bettelnd? - die Hände. „Er wird sich bessern, ich schwöre es dir!“ Er hatte schon längst verloren. Doch er wollte es nicht wahr haben.

Der Cousin schüttelte kurz und knapp den Kopf. Seine Gesichtszüge waren angespannt und spiegelten seine Wut und seinen Zorn in jeder Falte wieder. „Dieser Bengel ist ein Hund! Er wird sich nicht bessern, nie!“

Das war der Moment, in dem Inoran seinen Kopf abwandte und das Interesse am weiteren Gespräch verloren hatte. Es würden von nun an sowieso nur noch gegenseitige Beschuldigungen und Beleidigungen folgen.

„Kouta, ich flehe dich an! Der Junge hat außer uns doch niemanden mehr! Er braucht Arbeit und du bist mein Cousin!“

Aber auch mit Flehen kam man bei Cousin Kouta nicht weiter. Er ließ nicht mit sich reden. Für ihn war das Thema abgehakt.

Kurz darauf saßen Onkel Isamu und Inoran wieder in dem kleinen Auto, fuhren Heim. Schweigend. Bis der Mund des Onkels sich irgendwann doch nochmal öffnete. „Du blamierst uns noch alle“, zischte er, während er mit beiden Händen fest das Lenkrad umklammerte und stur auf die Fahrbahn starrte. „Kein Wunder, dass man dich in Süd-Korea nicht mehr haben wollte. Du machst nichts als Ärger.“

Inoran antwortete nicht darauf, schaute nur aus dem Seitenfenster. Sah die vorbeifliegende Gegend, die Häuser, die Menschen, die Straßen. Die vereinzelten Bäume, die das allgemeine Stadtgrau stellenweise auffrischen sollten. Sein erster Job hatte gerade mal einen halben Tag lang gedauert.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  hideplueschtier
2010-12-05T11:40:25+00:00 05.12.2010 12:40
Schön geschrieben, besonders deine atmosphärische Darstellung des Straßenmarktes gefällt mir gut und auch die Bahnhofszene ist dir super gelungen.
Genauso wie Darstellung von Inos Gefühlen, du bringst seine Einsamkeit (und auch die Verzweiflung seiner Mutter) sehr gut zur Geltung.
Allerdings habe ich fast den Eindruck das sich seine Situation kaum bessern wird, zumindest nciht solange das Trio auf welchem Wege auch immer, wiedervereint ist...?
Freu mich aufs nächste Kapi ^^
Von:  Luinaldawen
2010-12-04T16:04:21+00:00 04.12.2010 17:04
Armer Inoran... .__. Aber ich frage mich, warum die ihn nicht in die Schule schicken, er hat ja wohl keinen Abschluss. Und auch Japan hat eine Schulpflicht.
Aber gut, er würde eh nicht hingehen. XD
Das sieht ja alles ziemlich beschissen für Ino aus, ich hoffe ja, das besser sich noch... >_<


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