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Dear Junk

Kazzy's Vorgeschichte
von

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Shock

Die roten langen Haare lagen Sugizo in Strähnen wild und quer über das Gesicht verteilt, mit Welchem er mitten auf J's Brust lag. Einen Arm hatte er zusätzlich noch über den Oberkörper des Freundes gelegt, der sich durch gleichmäßige Atemzüge leicht hob und senkte. Die Morgensonne, die ohne Probleme ihre Strahlen durch das Fenster schicken konnte, da die Gardine – wie so oft – nur gut zur Hälfte zugezogen war, hüllte die Zwei im Bett Liegenden in warmes, honigfarbenes Licht. Doch von diesem Schauspiel bekamen die beiden Jungs nichts mit, denn sie schliefen noch tief und fest. Und wenn man sie nicht kannte, hätte man sie locker für ein Liebespaar halten können, so vertraut wie sie mit-, oder besser, übereinander da lagen.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers und noch ganz im Schatten gelegen, stand der große Sessel, der für die letzte Nacht einem Gast als Schlafplatz gedient hatte. Und das nicht zum ersten Mal. Zusammengefaltet und eingekugelt hatte Kazzy seinem Körper in Diesem eine Auszeit verschafft und tat es noch immer. Es erinnerte leicht an Schlangenmenschen, wenn man sich Kazzy's Körper genauer betrachtete, wie er ihn so kompakt in den weichen Sessel gebettet hatte. Auch er befand sich noch weit weg, im Land der Träume.

Sowohl auf als auch vor dem kleinem Tischchen, dicht neben dem Sessel, stand ein gutes Dutzend Bierflaschen. Allesamt bis auf den letzten Tropfen gelehrt. Die Bierdeckel verstreut auf der Tischplatte rumliegend, Einige hatten auch ihren Weg auf den Fußboden gefunden. Die Sonne stand noch nicht hoch genug, um auch diesen Bereich des Zimmers mit ihrem lebensbejahendem Licht zu fluten. Durch das nicht ganz schalldichte Fenster drang das gedämpfte Gezwitscher der Vögel.

Joe lies seinen Blick gedankenverloren durch den Raum und über seine Freunde schweifen. Jetzt beherbergte er inzwischen also schon die Hälfte seiner Leute bei sich. Und dabei hatte er sich diese Wohnung ursprünglich zugelegt, um mal Ruhe vor der Welt da draußen zu haben. Aber wie bekannt war, kommt immer alles anders als geplant. Er schmunzelte. Musste seinen Blick eine Weile auf J und Sugizo verweilen lassen. Manchmal fragte er sich ernsthaft, ob dem Rothaar seine mehr als eindeutigen Gesten überhaupt bewusst waren oder ob er es extra tat und es womöglich drauf ankommen ließ. Oder ob er einfach jemand war, der besonders viel Körpernähe spüren musste, weil er sie woanders als von seinen Freunden nie bekam. Seine Augen wanderten langsam weiter zu Kazzy, der von Joe's Position aus nur als graues, ovales Gebilde zu erkennen war. Wie lange der Kleine dem aktuellem Druck auf ihn wohl noch Stand halten konnte? Er wünschte ihm, dass er es noch lange aushielt. Aber manchmal war Joe sich nicht so ganz sicher, was in Kazzy's Kopf abging und wieviel Last das jüngste Mitglied der Gruppe auszuhalten vermochte. Schließlich wand er sich dann aber doch aus seiner Bettdecke heraus und tapste, nur mit Shorts bekleidet, halbnackt zu dem abgetrennten Duschbereich seiner Behausung.

Das in Folge dessen aufgedrehte Wasser der Dusche weckte von seinen drei Gästen nur J. Leise murrend verzog er das Gesicht, als er die störenden Geräusche vernahm, und wand seinen Kopf ein Stück in die entgegengesetzte Richtung. Was auch immer dieser prasselnde Lärm, den er in seinem nur halbwachem Zustand nicht einordnen konnte, zu bedeuten hatte – er wollte weiter schlafen. Und beinahe wäre ihm das auch gelungen. Wenn es nicht einige Minuten später kräftig gegen die Tür geklopft hätte. „Mmmmmmoah man...!“, knurrte J und grabschte mit einer Hand blind neben sich nach einem Kopfkissen, Welches er sich anschließend schützend und demonstrativ auf das Gesicht drückte. „Keiner da!“, kam nur noch als kaum verständliches Gebrummel unter dem hellen Kissen hervor.

Joe hingegen war inzwischen mit seiner morgendlichen Dusche fertig und band sich gerade eiligst das große Badetuch um die Hüften, während er zur Tür hastete. Er hatte zwar keine Ahnung wer zu dieser ungewöhnlich frühen Zeit sein zu Hause aufsuchte, doch es konnte nur einer seiner Leute sein, denn jeder andere benutzte ausschließlich die Klingel und klopfte nicht. Als er nun also die Tür öffnete, trat Lucifer in die Wohnung ein.

„Oh“, war ihre erste Begrüßung, als sie den Leader halbnackt vor sich stehen sah. Sie hatte mit diesem Anblick irgendwie nicht gerechnet. Als sie jedoch in der Wohnung stand und Joe die Tür schon wieder hinter sie geschlossen hatte, erblickte sie noch mehr, womit sie nicht gerechnet hatte. Zumindest nicht um diese Uhrzeit. Kazzy, der seinen Schlafplatz in ihrer unmittelbaren Nähe hatte, ignorierte sie sogleich gekonnt. Dafür beäugte sie die zwei Freunde in Joe's Bett etwas ausführlicher. „Hast'e hier jetzt schon 'n Stundenhotel aufgemacht?“, lautete die schnippische Frage des Mädchens mit den wilden Locken.

J, der diese Worte durchaus vernommen hatte und die Stimme auch der passenden Person zuordnen konnte, obwohl er noch immer das Kissen vor dem Gesicht hatte, hob langsam eine Hand und hielt Lucifer einen gestreckten Mittelfinger entgegen.

Sugizo, dessen Schlaf von der aufkommenden Unruhe auch zunehmend bedroht wurde, nörgelte nur leise und unverständlich und kuschelte sich enger an J's halb entblößten Körper, wie ein kleines Kind an ein großes Kuscheltier. Ob der Rotschopf in seinem Zustand auch nur ansatzweise ahnte, wie homoerotisch seine Tat gerade aussah, wusste niemand in diesem Raum.

„Wenn's hier so weiter geht, wär's 'ne Überlegung wert“, quittierte Joe nur lässig Lucifer's Frage, während er sich zur Küchenzeile begab um die erste Ladung Kaffee zu kochen.

Lucifer wand sich daraufhin vom Bett und den darauf befindlichen, schlummernden Gestalten ab und Joe zu. „Hey, ich hab was für uns!“ Der eigentliche Grund für ihr Kommen. Obwohl sie einem Becher Kaffee auch nicht abgeneigt war. „Du kennst doch den Schrottplatz bei den Nutten, ne?“

Joe löffelte gerade das Kaffeepulver in das Behältnis. „Klar.“ Obwohl er sich fragte, wie lange die Nutten dort noch anschaffen gehen würden, denn ihm war nicht entgangen, dass die Anzahl der leichten Mädchen, die in der Straße direkt neben dem Schrottplatz anschaffen gingen, in den letzten zwei-drei Monaten beachtlich geschrumpft war.

„Ich hab jetzt endlich 'n Abnehmer für das ganze alte Zeugs gefunden. Autoradios und die ganze Amaturenscheiße.“

„Wieviel?“ Joe sprach damit auf den Preis an, den man ihnen für den ausgebauten Schrott bieten wollte.

„Kommt natürlich auf die Qualität an.“ Lucifer lehnte sich mit dem Hintern an die Kante der Arbeitsfläche des Küchentresens, während sie die Arme vor der flachen Brust verschränkte. Für ein Mädchen war sie verhältnismäßig groß gewachsen, was ihr für ihre Tarnung als Junge nur zu Gute kam.

Joe antwortete nicht sofort darauf. Zuerst galt es, die seltsam klebrigen Flecke von der Küchenschrankplatte abzuwischen. „Okay. Und wann macht der Laden dicht?“

„Früh. Schon um sechs Uhr Abends. Die haben auch keine Wachen, keine Hunde oder sowas. Das Tor vorne ist halb provisorisch, da kommen wir gut rein“, erklärte sie im Schnelldurchlauf.

Joe stellte sich ihr nun gegenüber, während die Kaffeemaschine vor sich hinblubberte, und verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust. Anerkennend nickte er ihr zu. „Klingt gut. An wann hast du gedacht?“

„Heute Abend?“
 

Wie an jedem Tag, seit dem Brand, begab sich J auch heute wieder ins Krankenhaus um seine Mutter zu besuchen. Es ging ihr gesundheitlich zwar schon wesentlich besser als noch zu Anfang, doch J fühlte sich einfach verpflichtet, zum Wohl seiner Mutter beizutragen. So sehr er Krankenhäuser an und für sich auch hasste. Doch für seine Mutter überwand er diesen Hass.

„Und du kommst noch immer zurecht?“ Die ruhige, leise aber warme Stimme der Frau im Krankenbett hatte die Wirkung eines positiven Schleiers, der sich über das Krankenzimmer legte und alles etwas erträglicher scheinen ließ.

„Klar Mom, mach dir keine Sorgen.“ J hielt, wie immer, die linke Hand seiner Mutter in seiner Eigenen und liebkoste mit dem Daumen gleichmäßig ihren Handrücken.

„Was machen deine Freunde?“

Der blonde Junge zögerte einen kurzen Moment. „Geht ihnen gut“, log er. Doch sein plötzlich abgewandter Blick verriet ihn.

„...du musst mich nicht schonen, Jun. Wenn dir etwas auf dem Herzen liegt, dann sag's mir ruhig.“

J haderte gerade mit sich selbst. Er wollte seine Probleme von seiner Mutter so gut er konnte fern halten, sie musste sich doch erholen. Andererseits waren ihre Worte und ihre Stimme so vertrauensvoll....als wolle sie ihn stützen...... „Ino sitzt im Knast.“ Er blickte noch immer auf die Kante der weißen Krankenbettmatratze statt in das Gesicht seiner Mutter. „Sugi ist gerade bei ihm.“

„Und was machst du dann noch hier?“

J wand nun endlich seinen Blick zurück zu den Augen seiner Mutter, als er diese völlig unerwartete Frage vernahm. Hatte er sich gerade verhört?

J's Mutter war nicht blöd und nicht ganz so naiv, für wie man sie vielleicht manchmal halten mochte. „In so einer schweren Situation braucht man seine Freunde ganz besonders.“

„Aber...ich muss doch hier bei dir sein!“ In seinen Kopf wollte gerade nicht rein, dass seine Mutter drauf und dran war, ihn weg zu schicken.

„Und was glaubst du, kannst du hier tun?“ Ihre Augen sprachen von Ehrlichkeit. „Ich muss nur hier liegen und wieder gesund werden. Ino aber braucht jetzt deine ganze Unterstützung.“

„Ich wollte ja noch zu ihm – nachher...wenn man uns überhaupt lässt... Gestern wurden wir nicht zu ihm durchgelassen, Sugi und ich...“

„Dann probiert es heute nochmal!“ Inzwischen funkelten die Augen der versehrten Mutter regelrecht vor Aufforderung. „Probiert es immer wieder, bis ihr wieder zu ihm durchgelassen werdet!“ Sie zwinkerte ihrem Sohn zu. „Du hast doch sonst auch immer so einen starken Willen. Dann setze ihn doch zur Abwechslung mal richtig ein.“

J's Verwirrung und Irritation wuchs stetig. Er hatte von seiner Mutter verschiedene Reaktionen auf die Tatsache erwartet, dass Inoran im Gefängnis schmachtete. Aber diese Reaktion hatte er in seinem Katalog nicht mit aufgelistet gehabt.

„Mom......ich...ich muss doch-“

„Du musst für deine Freunde da sein, wenn sie dich brauchen!“, fiel seine Mutter ihm ins Wort und schlug nun einen deutlich energischeren Ton an, ohne jedoch auf ihre bisherige Wärme zu verzichten. Sie sah sehr wohl die Verwirrtheit und die aufkommende Feuchte in den treuen Augen des Jungen, doch sie wusste auch, dass sie mit ihren Worten Recht hatte. Und auch wenn sie manche Taten ihres Sohnes nicht verstand oder sie nicht immer befürwortete, so hatte sie schon längst begriffen, dass J seinen eigenen Weg beschritt. Wohin auch immer Dieser ihn führen mochte.

Der Blonde kämpfte gerade mit sich selbst, kämpfte mit seinem Gewissen, seinem Herzen und seinem Verstand. Er schien zuerst noch unentschlossen, doch dann ließ er endlich die Hand seiner Mutter los, gab ihr einen Kuss auf Wange und Stirn und verließ laufenden Schrittes das Krankenhaus.
 

Doch obwohl er vom Krankenhaus aus sofort in die U-Bahn sprang und kurz vor'm Gefängnis ausstieg, sollte J sein Vorhaben nicht wie geplant in die Tat umsetzen können. Denn noch bevor er auch nur die Pforten des Gefängniskomplexes sehen konnte, stürmte augenblicklich Sugizo auf offener Straße auf ihn zu, kaum dass er die U-Bahn-Station verlassen hatte.

J!!!“, schrie er aus voller Kehle, völlig aufgebracht und aufgelöst. Mit zerzaustem Haar und ausgestreckten Armen rannte der sonst immer so tollkühne und vorlaute Junge nun verzweifelt auf den entdeckten Freund zu. Kaum hatte er Diesen erreicht, schmiss er sich an dessen Brust. „Sie wollen Ino weggeben!! Sie wollen ihn abschieben!! Nach Japan!! J, TU WAS!!!“ Hysterisch und von Sinnen klammerte und krallte sich Sugizo an J fest, presste sein tränennasses Gesicht an dessen Schulter und war zwischen seinen Heulkrämpfen kaum zu verstehen.

J war die ersten Augenblicke erst mal völlig perplex. Doch nicht von Sugizo's Worten, die verstand er in seiner Bedeutung anfangs noch nicht mal. Aber das Erscheinungsbild und vor allem dieses ausnahmezustandähnliche Verhalten seines Freundes irritierte ihn mächtig und machte es ihm anfänglich schwer, überhaupt zu reagieren. Er hatte ja nur das ohrenbetäubende Geheule in den Ohren und das ständige Gezerre an seinen Klamotten. Den ersten Schock darüber überwunden, packte er den Anderen schließlich mit sanfter Gewalt an den Oberarmen und hielt ihn sich einen halben Meter vom Leib – erstens um mal wieder Luft zu bekommen, die Sugizo ihm nämlich schon am abdrücken war, und zweitens um ihn durchzurütteln und ihn zu zwingen, ihm ins Gesicht zu blicken. „Sugi, ganz ruhig! Beruhig dich!“, befahl er und musterte dabei das vor Ausweglosigkeit verzerrte Gesicht des Jüngeren. „Was ist los? Was genau?“

„Sie schieben ihn ab!“, wiederholte er mit verrotzter und tränenerstickter Stimme. Seine Augen, Wasserfällen gleich, sahen nichts mehr klar. Alles nur noch verschwommen. „Sie schieben ihn ab nach Japan!! NACH JAPAN!!!“ Zum wiederholtem Male überschlug sich seine Stimme und kippte in den unangenehm schrillen Tonbereich. „Sie reißen uns auseinander! Sie nehmen ihn uns weg!! Mach was, J...!! Bitteee~.....!!! Tu was....!!“ Sugizo verließen so langsam seine Kräfte. Die Aufregung, die Wut, die Angst und die Hilflosigkeit, die sich in seinem Körper angesammelt hatte, raubte ihm nicht nur den Verstand. Wieder sank er gegen J's Oberkörper.

Und Dieser ließ es auch zu, denn langsam drangen die Informationen der soeben aufgenommenen Worte zu seinem Gehirn durch und er realisierte die Bedeutung die dahinter steckte. Sein Blick driftete ins Nichts ab und seine kräftigen Arme legten sich abwesend um den bebenden, dürren Körper Sugizo's. Alles um ihn herum verlor an Farbe, verlor an Glanz. Die Geräusche wurden immer leiser und leiser, bis sie irgendwann im Hintergrund verschwanden. Er spürte nicht mehr die warmen Sonnenstrahlen, die auf seine entblößten Arme fielen. Spürte gar nichts mehr. Außer den elendig zitternden Körper an seiner Brust. Inoran. Sie wollten ihn wirklich wegbringen. Nicht nur aus Seoul raus, nein...ganz aus Süd-Korea raus. Nach Japan. In das Land, aus dem sie alle stammten, was aber kaum Einer von ihnen überhaupt kannte. Er selbst kannte es noch aus frühester Kindheit – im Gegensatz zu Inoran. Der kannte es nicht, denn Inoran wurde in Süd-Korea geboren. Und nun sollte er in das Land, aus dem seine Vorfahren stammten, das ihm aber völlig fremd war. Er konnte ja kaum richtig japanisch sprechen! Wie konnten sie das dann nur tun? Wie konnten sie ihn nur dorthin bringen....? Weg, in eine andere Welt....weit entfernt von seinen Freunden.....von alledem, was er bisher kannte...... Die Hilflosigkeit und Verzweiflung, die Sugizo seine ganze Kraft gekostet hatte und die ihn aussehen ließ wie ein Gespenst, diese Verzweiflung kroch nun auch in J hoch und machte sich unaufhaltsam in jeder einzelnen seiner Adern und Venen breit. Nur J verzweifelte im Stillen.
 

Eigentlich hatte Joe seine Jungs an diesem Nachmittag zusammen getrommelt, um die bevorstehende Aktion auf dem Schrottplatz zu besprechen. Doch anstatt die kommenden Schritte durchzugehen saßen sie alle in seiner Wohnung verteilt, geschockt und betroffen vor sich hinstarrend, nicht fassen können, was sie erst vor wenigen Minuten erfahren hatten. Sugizo saß zusammen gekauert mitten auf dem großen Bett, ununterbrochen an seinen Fingernägeln kauend und mit verstörtem Gesicht ins Leere blickend. J saß neben ihm auf der Bettkante, tätschelte ab und an sanft den Rücken des Freundes und erschrak innerlich jedes Mal auf's Neue, wenn er die einzelnen Wirbel des Rothaars so überdeutlich unter seiner Hand spüren konnte. Kyo, der es sich auf dem Fußboden gemütlich gemacht hatte, spürte wie sein Herz etwas an Rhythmus zugenommen hatte, seit er die schlechte Nachricht vernommen hatte. Es war nie ein Thema gewesen, nie wurden sie davon berührt – und jetzt auf einmal hatte er die Befürchtung, es könnte jeden von ihnen treffen, zu jeder Zeit. Kazzy, abermals im Sessel vorzufinden, begriff kaum, was diese neue Situation für Einen von ihnen bedeutete. Die Informationen sind zwar zu seinem Hirn durchgedrungen, doch die Tragweite Dessen, was dahinter steckte, war für seinen Geist eine Spur zu hoch. Abschiebung? In ein anderes Land? In ein fremdes Land? Wie, warum und wieso? Wie konnte das gehen? Wer bestimmte das und wie konnte das funktionieren? Auch wenn er sich all dies nicht vorstellen konnte, spürte er die bedrückende Stimmung, die im ganzen Raum hing und zum schneiden dick war. Die Ernsthaftigkeit.

Und selbst an Lucifer ging diese Berichterstattung nicht spurlos vorbei, das sah man ihr an. Wenn sie sich auch nicht verbal zu dem Thema äußerte, spiegelten sich ihre Gedanken überdeutlich in ihren Augen wieder, die sie nur allzu oft in Sugizo's und J's Richtung wandern ließ.

„Wenn du willst, kannst du nachher hier bleiben, Sugi. Du musst nicht mit zum Schrottplatz.“ Es schien fast so, als sei das Glas einer Fensterscheibe zersprungen, so fremdartig und die Stille zerstörend klang es, als Joe's Stimme als Erste nach minutenlangem, allgemeinem Schweigen durch den Raum drang. „Das Gleiche gilt für dich, J“, fügte der Leader hinzu, als er seinen Blick von Sugizo zu J wechselte. J tat stets alles dafür, um immer einsatzbereit zu sein und darüber hinaus vergaß man schnell, mit was für Lasten er sich selbst abquälte. Selbst Joe hatte das für einen Moment vergessen, war der unübersehbare Mittelpunkt in diesem Zimmer doch Sugizo, dessen Verzweiflung und Hilflosigkeit nur schon vom bloßen Betrachten das Wasser in die Augen treiben konnte.

Doch eben Dieser schüttelte auf einmal seinen zotteligen Rotschopf, zog die Nase hoch und wischte sich mit dem Handrücken fahrig über die Augen, ungeachtet davon, dass die Tränen auf seinem Gesicht längst getrocknet waren. „Nein....ich komm mit“, entgegnete er mit leiser, heiserer und trotziger Stimme. Er wollte nicht zurück bleiben, er wollte hier nicht untätig rumsitzen.

„Ich auch“, antwortete J daraufhin und strich dem Freund, zum unzähligsten Mal heute, ein paar verirrte Haarsträhnen aus dem blassen Gesicht. Er würde seinen Freund im Moment um keinen Preis der Welt alleine lassen, egal was es ihn für Energie kosten mochte. Darüber dachte er schon lange nicht mehr nach. Würde er das tun, wäre er zu dieser bedingungslosen Aufopferung womöglich gar nicht mehr in der Lage.
 

Lucifer hatte Recht gehabt: Man gelangte tatsächlich ohne weitere Probleme auf das Gelände des Schrottplatzes. Die Eisenkette, die das Tor zusammenhielt, war nicht einmal mit einem Sicherheitsschloss gesichert, sondern lediglich zusammengeknotet. Und zusammengeknotete Eisenketten waren leicht zu lösen. Nun wuselten die sechs Bandenmitglieder von Snakebite zwischen den alten Autokarosserien herum und erleichterten Diese von ihrem Amaturenleben und eingebauten Radios und Cassettenrecordern. Jedoch ging jeder dabei seinen eigenen Gedanken nach. Die Nachricht von Inoran's geplanter Abschiebung war allen stark auf den Magen geschlagen. Es war etwas, womit bis zu diesem Zeitpunkt noch keiner von ihnen je konfrontiert wurde, geschweige denn sich darüber Gedanken gemacht hatte. Manche hatten es bis zu diesem Moment nicht einmal für möglich gehalten, dass soetwas jemals passieren könnte. - Und jetzt sollten sie es direkt in ihrer eigenen Mitte zu spüren bekommen...

Sugizo's Finger arbeiteten vollkommen automatisch, als er die Amaturen eines europäischen Kleinwagens auseinander nahm. Seine Augen waren zwar auf seine Arbeit gerichtet, sahen jedoch immer nur Inoran vor sich. Ino, sein kleiner, verpennter, schüchterner Freund..... Der Angsthase, den er stets mit vollem Körpereinsatz zu beschützen bereit war. Der Junge, zu dem er so gerne ins Bett krabbelte und einfach nur die ruhigen Atemzüge des Anderen genießen konnte. Der Typ, der diese abartige Vorliebe für Orangensaft hatte, die Sugizo niemals nachvollziehen würde, sie ihm aber im Moment mehr gönnte als irgendjemand anderem. Und all das sollte jetzt einfach vorbei sein.....all das wollten sie ihm nehmen, wollten sie von ihm reißen....wollten sie zerstören, auflösen..... Sugizo realisierte nicht, dass ihm bereits wieder Tränen über die Wangen perlten. Er fingerte unentwegt an der Amatur herum. Ein plötzlich gezischtes „Shit!“ von Lucifer ließ den Rotschopf jedoch aufhorchen und er hob seinen Kopf, blickte durch die verdreckte Windschutzscheibe in die Richtung, in der er Lucifer vermutete.

Lucifer kletterte indes aus der alten, verrosteten Karosserie heraus, in der sie zuvor noch herumgewerkelt hatte, und hastete zu Joe, der nur einige Meter von ihr entfernt ebenfalls am schrauben und werkeln war. Sie duckte sich dicht neben ihm und zeigte wortlos in eine bestimmte Ecke des Schrottplatzes, in Welcher plötzlich ein paar düstere Gestalten auftauchten und rasch an Anzahl zunahmen.

Joe blinzelte und brauchte ein paar Sekunden, bis er erkennen konnte um wen es sich bei den erneuten Eindringlingen gerade handelte. „Fuck...“, fluchte er jedoch plötzlich leise. „Das sind die Iron Killers! Verdammt...!“ Hastig sah Joe sich um, ohne den sicheren Schutz des Autos zu verlassen. Das war gerade ja mal eine sowas von unpassende Situation! Seine Jungs befanden sich ziemlich zentral auf dem gesamten Platz verteilt, und die Meute der Iron Killers steuerte genau diesen zentralen Punkt an. Es war unmöglich, das aktuelle Versteck zu verlassen um alle anderen unbemerkt zu warnen. Dafür waren seine Leute zu sehr verstreut und die Feinde bereits zu nah an ihnen dran. Bisher schienen sie sie ja noch nicht entdeckt zu haben. Aber für wie lange würde das gut gehen? Was, wenn einer seiner Jungs die kommende Gefahr noch nicht gewittert hatte und nicht in Deckung blieb?

So erging es nämlich Kyo, der tatsächlich noch nichts von der drohenden Gefahr mitbekommen hatte. Er hatte gerade ein ziemlich neuwertiges Radio ausgebaut und wollte sich gerade an die ebenfalls noch recht neuwertige Amatur zu schaffen machen, als er plötzlich Schritte näher kommen hörte. Im ersten Moment dachte er, es wäre J, doch dann realisierte er, dass es mehrere Leute sein mussten und dieser Schrittrhythmus klang untypisch für seine Leute. Kyo überlegte kurz. Wer sollte um diese Zeit noch hier sein, außer ihnen? Andere Typen, die, genau wie sie, sich das noch verwendbare Innenleben der Autoleichen unter den Nagel reißen wollten? Die Schritte wurden härter, kamen immer näher. Und jetzt hörte er auch Stimmen. Es waren definitiv nicht die Stimmen von Snakebite – und doch kamen sie ihm vertraut vor....er hatte sie schonmal gehört...... Kyo verkroch sich in den Fußraum der Beifahrerseite und verfluchte gerade die Tatsache, dass die Fahrertür dieses Autos nicht mehr vorhanden war. Auf eben dieser Seite aber kamen die Schritte immer näher! Es blieb ihm also nichts anderes übrig als zu hoffen, dass sich die ungebetenen Gäste nicht gerade dieses Auto ausgesucht hatten und sie auch darauf verzichteten, einen Blick in das Innere zu werfen. Doch all sein Hoffen half nichts, denn einer der drei Typen, die das Autowrack soeben erreicht hatten, warf sehr wohl einen Blick in das Innere der ausgedienten Karosserie – und sein Blick traf Kyo's Blick!

Die Augen beider Jungs weiteten sich vor Schreck.

Kyo stockte der Atem und er glaubte, ihm bliebe das Herz stehen. Er sah geradewegs in die braunen, unergründlichen Tiefen Cipher's!



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Luinaldawen
2010-10-28T20:14:54+00:00 28.10.2010 22:14
Ein schönes Kapitel. >_<
Auch wenn ich die Abschiebung von Inoran auch schon ganz schön krass finde o.o;; Vor allem wenns das erste Mal war, wo er da auffällig geworden ist. Aber gut... ich erinnere mich, dass sie bei uns mal eine Familie ohne einen ersichtlichen Grund in einer nacht-und-nebel-aktion abgeschoben haben. Von daher...
Und der arme Sugizo >_< Ich hab richtig mit ihm und J mitgelitten. ;_; Aber verständlich, dass sie bei der Aktion mitmachen wollten. Mieses Timing aber, wenn die Iron Killers da aufkreuzen. Ich hoffe, für Kyo geht das nochmal glimpflich aus. Er hat ja echt ein Talent dafür, Cipher über den Weg zu laufen. XD
Von: abgemeldet
2010-10-25T11:37:21+00:00 25.10.2010 13:37
wow, schon mit 15 abgeschoben werden...das sind aber rauhe sitten in südkorea... und das völlig allein oder muss seine familie auch mit?
hui, da ist jetzt aber wieder action drin, in dem kapitel. gefällt mir.
und das mit dem schrottplatz klingt auch nach nem interessanten locationwechsel... oh und da haben snakebite aber glück dass ausgerechnet cipher auf ausgerechnet kyo trifft ;P ne andre kombi wär wohl fatal...aber weiß ja noch gar nicht wie's weiter geht... vielleicht verpfeift er ihn ja hehe...
oh, und das am anfang hat mir auch sehr gut gefallen. die ganze situation hatte verdammt viel stimmung. und könnte mir das sehr gut vor augen führen... ja, da kommen erinnerungen wach ;P
aber scheinen wohl n paar von denen dem männlichen geschlecht nicht ganz abgeneigt zu sein, oder? ;)
und was is mit luci? interessiert die sich für jungs? mensch, mir ist grad aufgefallen, die müssten ja alle volle kanne in der pubertät stecken!
aber schönes und vorallem schön langes kapitel.
kleine kleinigkeit zum bemängeln: mir ist aufgefallen, dass du gerne wörter neu erfindest wie zB Verwirrung - Verwirrtheit, das gibts zwar als Wort aber das klingt doch sehr medizinisch ;P
Und noch was: Als du Kazzy (ich glaub es war Kazzy) beschrieben hast, "der es sich auf dem Boden bequem gemacht hat" - da stell ich mir so eine relaxte position vor und hab auch dieses gefühl von entspannung...im nächsten moment beschreibst du ihn aber als tiefsttraurig... ich verstehe zwar, dass man traurig auch bequem sitzen kann, nur hätte ich das nicht ganz so beschrieben. ich finde die körpersprache wurde da ein wenig vernachlässigt... er könnte ja auch mit hängenden schultern auf dem boden hocken zB... verstehst du was ich meine?


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