Dare o erabu kana? von Shizana (Für wen soll man sich entscheiden?) ================================================================================ Prolog: -------- Seit ihrem Debütkonzert waren nun schon sechs Monate vergangen. Ein halbes Jahr, in denen Starish versuchte, aus dem Schatten eines One-Hit-Wonders hinauszutreten und wahre Idole zu werden. Ein schwieriges Unterfangen, wie sie alle schon bald feststellen mussten. Doch in letzter Zeit war es seltsam. Es war, als drohte sie das Glück zu verlassen. Irgendetwas lag in der Luft, doch was, das wusste keiner zu sagen. Sie trainierten viel. Sangen zusammen, übten an einem neuen Performing und tüftelten an neuen Texten für ihre Songs. Zwar waren alle bei der Sache, doch Haruka hatte das Gefühl, als läge etwas Bedrückendes auf jedermanns Seele. Nicht zuletzt auch auf ihr selbst. Lag es an ihrem straffen Zeitplan? Wenn sie nicht gerade im Wohnheim gemeinsam übten, hatten der Direktor, Ringo-sensei und Hyuga-sensei immer neue Aufträge und Termine für sie parat. Sie waren viel unterwegs, teilweise über Tage hinweg, und ihre Tage könnten wahrlich länger sein. Ein freies Wochenende gab es eigentlich nie für die Gruppe. „Es ist hart“, seufzte Haruka und ließ sich bauchlings auf ihr Bett fallen. Sie war müde, erschöpft von dem langen Tag voller Kritikenauswertungen mit den Lehrern und den Medien, und sie wollte am liebsten einen ganzen Tag durchschlafen. Doch das konnte sie sich nicht leisten. Ihr letzter Song für Starish war nahezu vom Direktor in der Luft zerrissen worden, da er ihren letzten Hit nicht toppen konnte. Sie musste ein besseres Lied schreiben, und zwar bald, schließlich hing von ihr ab, wann die Jungs mit ihrem Anteil der Arbeit fortfahren konnten. Obgleich ihr die Lider schwer waren, hob sie ihren Kopf und blickte neben sich zu ihrem Nachttisch. Dort hatte sie ihre Unterlagen abgelegt, das bunt benotete Blatt ganz oben. Die vielen roten Kritzeleien über einigen eingekreisten Notengruppen lösten Unmut in ihr aus. „Es ist zu viel“, hatte der Direktor gesagt, „und zugleich zu wenig. Miss Nanami, Halbherzigkeit wird sich nicht nur auf den Song auswirken. Kannst du verantworten, dass Starishs prächtiger Sonnenaufgang wegen eines zerrissenen Songs noch vor Tagesanbruch von dicken Wolken verhangen wird?“ „Halbherzigkeit“, murmelte sie leise dieses Wort, welches Shining Saotome dafür verwendet hatte, um Kritik an ihr zu üben. War sie wirklich nur halbherzig bei der Sache? Sie schrieb jede einzelne Note mit Bedacht, dachte bei jeder Melodie an die Jungs und versuchte sich auszumalen, wie es klingen mochte, wenn sie dazu singen würden. Wie sie im Übungsraum, sie am Piano und die Jungs um sie herum, gemeinsame Worte dazu fanden und diese zu einem Song vereinten, der auf einer großen, hell erleuchteten Bühne vor großem Publikum gesungen werden könnte. Immer, wenn sie sich an die Komposition eines Liedes setzte, rief sie sich das Bild der Jungs ins Gedächtnis. Wie sie lächelten, sich mit ihr freuten und glücklich waren. Bei jeder Zeile, die sie einem von ihnen widmete, dachte sie an eben diesen und erinnerte sich gern, was sie schon alles mit demjenigen erlebt hatte. So versuchte sie, all ihre Liebe, all ihr Herzblut in ihre Lieder zu stecken, um den Jungs so zu zeigen, was sie ihr bedeuteten. Alle zusammen und jeder für sich. ‚Was ist es?‘, dachte sie still, während sie noch immer auf das Notenblatt starrte. Dann raffte sie sich auf, streckte sich nach dem Blatt und setzte sich mit diesem in ihren Händen an die Bettkante. Ihr Blick wurde traurig, als sie die Noten zum unzähligen Male las. ‚Was ist es, das mir fehlt? In diesem Lied steckt so viel Liebe… Wieso sagt der Direktor, es sei halbherzig?‘ „Ich verstehe es nicht“, sprach sie zu sich selbst und ließ das Blatt auf ihren Schoß sinken. Die Zweifel trieben ihr Tränen in die Augen, welche sie schnell wegwischte, ehe sie auf das Papier tropfen und die Noten verwischen konnten. „Ich verstehe es nicht… Was soll ich nur tun? Ich will nicht, dass Starish meinetwegen schlecht dasteht. Sie geben sich alle so viel Mühe… und es ist unser Traum.“ Wieder blickte sie zu ihrem Nachttisch, wo ihr Handy lag. Dann sah sie hinüber zu ihrem Schreibtisch. Doch sie schüttelte nur kurz darauf mit dem Kopf. Sie konnte Tomo-chan nicht anrufen, nicht zu solch einer späten Uhrzeit. Ihre Freundin hatte selbst genug um die Ohren, da konnte sie ihr nicht auch noch mit ihren Sorgen zur Last fallen. Und auch ihrer Großmutter konnte sie nicht schreiben. Sie schämte sich, ihr in einem Brief davon zu erzählen, was man ihr heute zu ihrer Arbeit gesagt hatte. Ihre Großmutter glaubte an sie und steckte viel Hoffnung in sie. Zudem konnte die alte Frau ihr in dieser Situation keine Hilfe sein. Doch es würde gut tun, jetzt ein paar liebe Worte von ihr zu hören. Seufzend legte sie das Notenblatt zurück in den Hefter, wo es hingehörte. Anschließend erhob sie sich, um in ihr Nachthemd zu schlüpfen, ehe sie sich unter die helle, mit einem bunten Blumenmuster versehene Bettdecke verkroch. Sie zog sie sich bis zum Kinn und schloss die Augen. ‚Was soll ich nur tun?‘, wiederholte sich die Frage in ihrem Kopf, bis sich Haruka schlussendlich auf die Seite drehte mit dem festen Entschluss, schnell einzuschlafen. Kapitel 1: Auftakt ------------------ „… und dann hat es seine Wolle aufgeplustert. Es sah so süß aus und hat mich angelächelt. Und seine Wolle war so weich und flauschig.“ „Das ist krank, weißt du das? Außerdem: Laber mich nicht die ganze Zeit mit deinem dämlichen Schafstraum zu!“ Die lebhaften Stimmen von Natsuki und Syo drangen bis in den Flur hinaus. Nur flüchtig warf Haruka einen Blick auf ihre Armbanduhr und beschleunigte ganz unbewusst ihren Schritt. Hatte sie etwa verschlafen? Aber die Uhr zeigte gerade einmal halb sieben. Und einen Termin für die Früh hatten sie doch gar nicht, oder hatte sie etwas versäumt? „Ah, Haruka-chan!“ Natsuki, der in Richtung Flur zum Mädchenflügel saß, war der Erste, der sie bemerkte, gerade als Haruka den Gemeinschaftsraum betrat. Er lächelte über das ganze Gesicht und hob einen Arm, um eifrig zu ihr herüberzuwinken. „Ohayooo~!“ „Guten Morgen, Shinomiya-san, Syo-kun“, erwiderte sie die Begrüßung außer Atem, da sie das letzte Stück beinahe gerannt war. Zwischen Sessel und Couch, wo es sich die beiden Jungs bequem gemacht hatten, kam sie zum Stehen und ging etwas in die Knie, um nach Luft zu schnappen. „Was ist los, Nanami? Wieso bist du so außer Atem?“ „Ist alles okay, Haru-chan?“ „Ich bin… gerannt… als ich euch… gehört habe“, erklärte sie brüchig. Dann begab sie sich wieder in eine aufrechte Haltung und blickte die beiden Jungs fragend an. „Haben wir einen Termin?“ „Nicht dass ich wüsste“, entgegnete Syo und kratzte sich nachdenklich hinterm Ohr. „Wieso fragst du?“ „Na weil ihr schon so früh auf seid. Ich hatte nicht erwartet, schon jemanden anzutreffen.“ „Ah, so ist das.“ Natsukis erleichtertes Lächeln schwang in seiner Stimme mit. „Mach dir keine Sorgen, Haru-chan. Seit Ai-chan ein Auge auf uns hatte, ist Syo-chan zu einem richtigen Frühaufsteher geworden. Auch ohne Wecker wird er immer schon um fünf Uhr wach und ist dann außer Rand und Band.“ „Oi, was erzählst du denn da, Natsuki?! Es ist ja nicht so, dass ich nicht gern hin und wieder länger schlafen wollen würde. Aber…“, kurz schüttelte es den Kleinen, „… es ist, als hätte es sich eingebrannt, was der Kerl alles getan hat, um mich aus den Federn zu kriegen. Und was, wenn ich es nicht getan habe. Woah, allein der Gedanke! So ein Scheißkerl!“ „So?“, klang Haruka nun überrascht und legte den Kopf nachdenklich schief. „Davon habe ich nie etwas mitbekommen.“ „Wie denn auch, wenn wir immerzu anderes um die Ohren haben? Ist ja nicht so, als würden wir uns jeden Morgen hier alle zusammenfinden“, beschwichtigte Syo mit einer abwinkenden Geste. „Wir hatten in der letzten Zeit auch wirklich viel zu tun. Jeder von uns.“ „Wie dem auch sei“, warf Syo zwischen die Worte des Freundes ein und lehnte sich in dem roten Sessel zurück, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Lässig überschlug er die Beine und schloss die Augen. „So ist eben das Leben als Profi. Seien wir einfach froh, dass wir auch mal Tage wie heute haben, an denen wir etwas Ruhe am Morgen haben.“ Natsuki ihm gegenüber gab ein kurzes, verzücktes Lachen von sich, ehe er sein typisches engelsgleiches Lächeln über das ganze Gesicht strahlte. „Das frühe Aufstehen tut dir gut, Syo-chan. Du bist ja so entspannt.“ „Ich bin nicht entspannt!“ Kurz zuckte Haruka erschrocken zusammen, als der kleinere der beiden Jungs bei diesen Worten hochgefahren war. Sie hatte noch gar keine Worte gefunden, um ihn zu beruhigen, da zeterte dieser auch schon weiter: „Wie kann man denn entspannt sein, wenn man schon morgens von deinem Gerede zugeschwafelt wird?! Scheiße Mann, hättest du dich nicht einfach nochmal umdrehen können?!“ „Unmöglich.“ Natsukis helles Lachen drang durch den ganzen Raum. „Dann hätte ich ja Syo-chans Morgenritual verpasst. Du verbringst viel Zeit vor dem Kleiderschrank und dem Spiegel, wenn du dich zurechtmachst. Und es ist so süß, wenn du dich über Kleinigkeiten aufregst oder dich freust, wenn du eine neue Stilkombination entdeckt hast.“ „W-was?“ Die Augen des Kleineren weiteten sich und sein Gesicht nahm eine rötliche Färbung an. Sehr zum Vergnügen aller Anwesenden im Raum. „Außerdem habe ich doch versprochen, dich beim morgendlichen Joggen zu begleiten. Wenn du schon so früh aufstehst, muss ich das doch auch tun, sonst gehst du einfach ohne mich los.“ „Was laberst du? Du joggst nicht! Du läufst höchstens die ersten fünf Minuten mit, dann setzt du dich ins Gras oder sonst wohin und wirfst mir peinliche Anfeuerungsrufe entgegen oder pennst ein bis ich fertig bin und dich wecke, Idiot.“ Ein Lachen stahl sich aus Haruka heraus. Es tat gut, den beiden bei ihren üblichen Neckereien zuzuhören. Syo und Natsuki waren zwei sehr lebhafte Personen, und das war genau das, was sie im Augenblick brauchte. Sie könnte ihnen ewig so zuhören. „Guten Morgen“, brachte sich eine weitere Stimme in das Geschehen mit ein und Haruka blickte auf. Ren, lässig bekleidet wie so meist mit einem halboffenen, weißen Hemd, hatte sich nun ebenfalls mit Otoya an seiner Seite in der Runde eingefunden. Der Rotschopf gähnte herzhaft neben ihm. „Ihr seid ganz schön laut so früh am Morgen.“ „Jinguji-san, Ittoki-kun!“, begrüßte sie die beiden Jungs fröhlich und drehte sich nach ihnen um, um sich zu verbeugen. „Guten Morgen.“ „Ah, Nanami! Ohayo“, grüßte Otoya zurück, als er sie erblickte, und seine Müdigkeit schien mit einem Mal wie verflogen. Stattdessen grinste er nun über das ganze Gesicht. „Und natürlich auch einen guten Morgen an euch zwei, Nacchan, Syo-kun.“ „Tze“, gab Syo von sich und warf beleidigt den Kopf zur Seite. „Na klar, wir sind nur zweitrangig, was?“ Seinen besten Freund schien dies weniger zu stören. Er lächelte unbekümmert zu den beiden Neuankömmlingen herüber. „Einen schönen guten Morgen, Ren-kun, Otoya-kun.“ Derweil ging der Womanizer auf direktem Wege auf Haruka zu, ohne die anderen weiter zu beachten. Vor ihr angekommen, nahm er ihre Hand in die seine, legte ihr die andere auf die Schulter und beugte sich ein Stück zu ihr herunter, um sein Gesicht nah an das ihre zu bringen. Ein verschmitztes Lächeln lag auf seinen Lippen, während seine ozeanblauen Augen die ihren bannten. „Einen wunderschönen Morgen, my Lady.“ Sie lief unwillkürlich rot an, als er einen Kuss auf ihren Handrücken hauchte. Seine rauchige Stimme, während er gesprochen hatte, tat sein Übriges und bereitete ihr Herzklopfen. Plötzlich war ihr warm und sie fühlte sich auf eine seltsame Art benommen. Ihre Lippen stammelten unverständliche Laute, doch sie brachte kein vernünftiges Wort heraus. „Hey, Ladykiller! Muss das schon am frühen Morgen sein? Lass sie in Ruhe, klar?“, motzte Syo von seinem Platz aus. Er hatte sich derweil nach ihnen umgedreht und die Szenerie widerwillig verfolgt, und war wenig begeistert von dem, was er zu sehen bekam. „Oho“, machte Ren gespielt und erhob sich in eine gerade Haltung. Nur halbherzig blickte er über seine Schulter zu dem Kleineren herüber, wobei sein Grinsen nur noch breiter wurde. „Sind wir heute mit dem falschen Fuß aufgestanden, Ochibi-chan?“ „Pass auf, was du sagst! Ich habe einen Namen, das gilt auch für dich, Arschloch!“, fuhr er aus der Haut, lehnte sich weit über die Sessellehne und streckte dem Schönling seinen schwarz lackierten Mittelfinger entgegen. Schnell machte Otoya einen Satz nach vorn und stellte sich zwischen die beiden. Indem er die Arme in ihre Richtungen ausbreitete und ein vorsichtiges Lächeln aufsetze, versuchte er die Kampflustigen zu beschwichtigen. „Hey, hey. Ganz ruhig, Jungs, okay? Nicht streiten.“ „Streiten? Mit dem? Pah!“ Syo lehnte sich betont zurück und wandte den Blick entschieden ab. „Ich bin nur genervt, das ist alles. Jeder sülzt heute nur Schwachsinn vor sich hin, das nervt gewaltig.“ „Sei doch nicht so, Syo-chan…“ „Syo-kun…“ Haruka blickte sorgenvoll zu dem abweisenden Freund. Doch statt weiterhin auf die bestehende Situation einzugehen, fiel ihr etwas ein, um das Thema zu wechseln. Damit wandte sie sich an den Rotschopf. „Wo sind Hijirikawa-san und Ichinose-san? Sind sie nicht bei euch?“ „Nun“, ging dieser auf ihre Frage ein und ließ die Arme sinken, um sich ihr ganz zuzuwenden, „Tokiya hatte mich noch geweckt, aber ist nur kurz darauf aus dem Zimmer gegangen. Ich weiß nicht, wo er hin ist; er hat mir nichts gesagt. Aber ich dachte, dass er entweder im Tonstudio oder bei euch sein würde.“ Dabei nahm sein Blick einen besorgten Ausdruck an und er strich sich flüchtig über den Nacken, als sei ihm etwas unangenehm. „Wir haben ihn noch nicht gesehen“, erklärte sie darauf leise und senkte ihren Blick vor sich zu Boden. Die Art, wie sie so mit vor sich gefalteten Händen dastand, erweckte den Eindruck, als bedrückte sie das wiederholte Verschwundensein des gemeinsamen Freundes. „Um den macht euch keine Sorgen“, meldete sich daraufhin Ren erneut zu Wort. Sein Blick haftete auf Haruka, um in erster Linie sie mit seiner Aussage anzusprechen. „So ist unser lieber Ichi eben: Er kommt und geht, wie es ihm gerade passt. Aber er wird schon wieder auftauchen. Spätestens, wenn die ganze Gruppe für etwas gebraucht wird.“ „Ja, genau“, versuchte auch Natsuki die zwei Besorgten aufzumuntern. „Tokiya-kun ist sehr viel zuverlässiger geworden, seit er mit seiner Agentur gebrochen hat. Er ist zwar noch viel unterwegs im Namen von Hayato, aber er sagte selbst, dass er das zu einem Ende bringen und in Zukunft nur noch als Ichinose Tokiya für Starish da sein möchte.“ Das stimmte, und diese Tatsache munterte Haruka in der Tat wieder auf. Es war unnötig, sich in dieser Hinsicht um Tokiya zu sorgen, und sie vertraute ihm. Dankbar lächelte sie und nickte bestätigend zu Natsuki herüber. „Was Hijirikawa anbelangt“, nahm Ren das Thema wieder auf, wobei er die Hände in einer abwehrenden Geste in den Hosentaschen verschwinden ließ, „er hat vor gut einer halben Stunde das Zimmer verlassen. Ich gehe davon aus, dass er schon vorgegangen ist, als er fertig war.“ Als seien seine Worte ein stummer Wink gewesen, hob Haruka ihren Arm und warf einen prüfenden Blick auf die Uhr. Zehn vor sieben. Laut ihrem üblichen Zeitplan, sofern sie die Möglichkeit dazu hatten, war es gleich Zeit für das gemeinsame Frühstück. „Vielleicht ist er schon dort“, hörte sie Otoya neben ihr sagen und war im ersten Moment erschrocken, da sie nicht bemerkt hatte, dass er zu ihr getreten war und ebenfalls auf ihre Uhr geschaut hatte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich wegen der unerwarteten Nähe. Auch Otoyas Wangen nahmen einen verräterischen Rotschimmer an, als sein Blick auf den des überraschten Mädchens traf, das ihn regelrecht anstarrte. Schnell brachte er etwas Abstand zwischen ihnen, ehe er sich wieder um ein unbekümmertes Lächeln bemühte. „Gehen wir doch alle zusammen. Ich sterbe vor Hunger!“ „Mhm“, fand auch Haruka zu ihrem Lächeln zurück. Als sie daraufhin in die Runde blickte, hatten sich Syo und Natsuki bereits erhoben, als Zeichen ihres Aufbruchs. „Lasst uns gehen.“   So setzte sich die Gruppe in Bewegung. Flankiert von Ren und Otoya ging Haruka voraus, gefolgt von Natsuki und Syo, welche mit einer erneuten Diskussion über süße Dekorationen für Leben in der Runde sorgten. Sie waren auf halber Strecke zum Essbereich, als Haruka etwas auffiel. „Wo ist eigentlich Cecil-san? Hat ihn schon einer gesehen?“ „Du kennst ihn doch“, grinste sie Otoya von der Seite an, welcher sich gerade herzhaft gestreckt hatte. „Er ist ein Morgenmuffel, gerade an so sonnigen Tagen wie heute. Seit unsere Seniors wieder eigene Zimmer bezogen haben und ihm Camus-senpai nicht mehr ständig im Nacken sitzt, kann er es sich ja auch leisten, sofern nichts ansteht. Vermutlich dreht er sich in diesem Augenblick noch einmal in seinem Bett herum, haha.“ „Aber… sollten wir dann nicht jemanden schicken, um ihn zu wecken?“ „Also mich stört es nicht, dass er nicht hier ist“, brummte Syo von hinten. In all der Zeit, in der Cecil schon Teil ihrer Gruppe war, hatte er sich noch immer nicht mit dem fremdländischen Prinzen anfreunden können. Diese Tatsache war hier niemandem neu. „Wann werdet ihr endlich Freunde?“, seufzte Natsuki neben dem Kleineren, woraufhin er einen bösen Blick von eben diesem kassierte. „Nicht mehr in diesem Leben!“ „Mit Aijima ist es genau dasselbe wie mit Ichi: Der taucht schon ganz von selbst auf, nur keine Sorge.“ „Ja, besonders dann, wenn man nicht mit ihm rechnet“, kommentierte Syo abschließend. Nur flüchtig warf Haruka einen Blick über ihre Schulter zu ihm. Es bedrückte sie, dass Syo nicht mit Cecil anbandeln konnte. Alle anderen hatten recht schnell Freundschaft mit dem leibhaftigen Prinzen geschlossen – sie hatten ihn zumindest akzeptiert –, aber bei ihm stieß man bei diesem Thema auf Granit. Ja, er akzeptierte ihn in der Gruppe, wenn er es musste. Er weigerte sich auch nicht, wenn er für eine Performance neben ihm aufgestellt wurde. Doch wahre Begeisterung sah wahrlich anders aus. ‚Cecil-san…‘ Sie blickte wieder nach vorn und dachte einen Augenblick über den Jungen nach. Er würde das Frühstück verpassen, wenn er nicht noch rechtzeitig auftauchen oder ihn nicht jemand wecken würde. Es wäre nicht das erste Mal. Dabei war es ihm doch so wichtig, dass jeder ausreichend aß. Und seit Kurzem erst sagte er auch, dass er gern mit der Gruppe beisammen war. Anders als zu Beginn, als er zwar auch oft bei ihnen gewesen war, aber eher aus Neugierde und Notdurft heraus. „Mach dir keine Sorgen“, flüsterte Otoya neben ihr, woraufhin sie ertappt zu ihm aufblickte. Er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Wir werden alle zusammen frühstücken, nicht?“ „Mhm“, lächelte sie zurück. Vermutlich hatte er recht, sie machte sich wohl viel zu viele Sorgen. Doch lieber sorgte sie sich um die Jungs als… – Allein der Ansatz dieses Gedankens deprimierte sie aufs Neue. Zu ihrem Glück hatte sie nicht lange die Gelegenheit, sich in diesen Gedanken zu vertiefen. Nur wenig später hatte die Gruppe ihr Ziel erreicht und Ren öffnete die Tür zum Esszimmer. Und kaum dass sie eingetreten waren, erwartete sie die nächste Überraschung. „Gut, ihr seid pünktlich.“ „Hijirikawa-san!“ Die Jungs kamen neben Haruka versammelt zum Stehen. Fünf Augenpaare ruhten auf dem jungen Mann, der eben noch zwei Schalen gefüllt mit Reis und einer Suppe auf ihrem Stammtisch abstellte. Über der schwarzen Stoffhose und dem grau-blauen Pullower, unter welchem der Kragen eines weißen Hemdes herausragte, trug er eine hohe, weiße Küchenschürze. Die Haare waren mit einem ebenso weißen Kopftuch zurückgebunden und seine Hände zierten weite, rosa gepunktete Kochhandschuhe. „Du hast gekocht?“ „Oah~, wie cool!“ „Was für süße Handschuhe!“ Nur Ren verkniff sich jeglichen Kommentar, während er seinen Zimmermitbewohner intensiv musterte. Erst als sich alle in Bewegung setzten, rang er sich noch eine stichelnde Bemerkung ab: „Neuerdings ein Zimmermädchen, Hijirikawa? Ich könnte mir ein schöneres Model in dieser Rolle vorstellen.“ Doch Masato war resistent gegen diese Worte. Er beendete lediglich seine Tätigkeit, ehe er so weit von dem Tisch wegtrat, dass jeder seinen gewohnten Platz einnehmen konnte. „Setzt euch schon einmal. Wir sind gleich fertig.“ „Wir?“, wiederholte Haruka fragend, als sie sich auf einen der rot gepolsterten Holzstühle setzte. Ihre Frage sollte sich nur einen Augenblick später ganz von selbst beantworten. „Tee und Kaffee sind fertig. Nimmst du es mir bitte ab? … Hm?“ „Ichinose-san?“ „Tokiya!“ Otoya, welcher sich gerade erst auf dem Platz neben Natsuki gesetzt hatte, sprang von seinem Stuhl auf, als er den Freund erblickte. „Hier hast du gesteckt? Du hättest doch auf mich warten können, dann hätte ich euch geholfen.“ „Unnötig“, entgegnete Tokiya knapp, wobei er eine Kaffee- und Teekanne an Masato reichte, welcher nach seiner Aufforderung zu ihm gekommen war, um ihm die Heißgetränke abzunehmen. „Ich bin selbst noch nicht lange hier. Aber da ihr noch nicht da wart, habe ich eben ein wenig bei den Frühstücksvorbereiten ausgeholfen.“ „Süß…“, kommentierte Syo von Natsukis anderer Seite aus und lehnte gelangweilt das Gesicht in die Hand, während er mit der anderen auf Tokiya deutete. Auch dieser hatte sich eine Halbschürze notdürftig umgebunden, um sich vor dem gröbsten Schaden zu bewahren. „Ist das Piyo-chan? Ah, wie süß!“, freute sich Natsuki, als er das gelbe Enten-Motiv auf der weißen Schürze entdeckte. Es war nur klein auf Hüfthöhe, und vermutlich hatte Tokiya gehofft, dass es niemandem auffallen würde. Nach einem kurzen Räuspern „Die hing in der Küche“ überging er den Kommentar einfach und lenkte stattdessen zurück aufs Thema. „Natsuki, für dich steht noch Kakao auf dem Herd. Es dauert noch einen Moment.“ „Oh, das wäre doch nicht nötig gewesen. Aber es ist lieb von euch. Vielen Dank, Tokiya-kun.“ Nach einem weiteren Blick auf die Schürze mit dem Piyo-Aufdruck, schmunzelte er, ehe er leise auflachte. „Ihr beide seid wie Mütter zu uns. Es fühlt sich so an, als seien wir alle eine große, glückliche Familie.“ „Jesus Christus“, stöhnte Syo, schlug sich die Hand gegen die Stirn und schüttelte mit dem Kopf. „Jetzt geht das wieder los!“ „Findest du das denn nicht, Syo-chan?“ „Mit euch Typen als Familie wundert es mich gar nicht, wenn meine Nerven schnell im Keller sind!“ „Aber… Syo-chan…?“ „Mach doch keinen Aufriss, Ochibi-chan. Gib’s doch einfach zu“, schmunzelte Ren an der Tischspitze zu Syos Seite und zwinkerte dem Kleinen vielsagend zu. Dieser lief sofort rot an. „S-sei doch still! Mann, ihr seid heute aber wirklich alle komisch.“ Damit verschränkte er abwehrend die Arme vor der Brust und wandte den Blick zur Seite ab, doch verbergen tat er damit weniger als er preisgab. Haruka hob sich eine Hand an die Lippen, um das Kichern zu überdecken, welches sie sich nicht verkneifen konnte. Sie liebte diese Runde mit ihren Freunden, und es tat gut. Wenn sie alle so natürlich waren, hatte sie das Gefühl, als habe sich nichts verändert, seit sie die Saotome Academy verlassen hatten. Diese Momente waren immer seltener geworden, seit sie alle unter einem Dach lebten und nahezu immer beisammen waren. Anders als damals, als sie sich nur nach der Schule in den Gemeinschaftsräumen oder auf dem Hof gesehen hatten und es noch, im Vergleich zu jetzt, so ungezwungen gewesen war. Freier, irgendwie, und mit weit weniger Stress verbunden. Gerade die letzten zwei Monate waren sehr hart für sie alle gewesen. Ein Termin jagte den nächsten, oft waren sie als Gruppe unterwegs, aber zeitweise auch jeder für sich oder aber in vereinzelten Grüppchen. In manchen Wochen hatten sie sich für Tage nicht gesehen, hatten dann nicht so wie jetzt so fröhlich und entspannt beieinandersitzen und plaudern können. Sie fragte sich, was von all diesen Aspekten am meisten Schuld daran hatte, dass die Gruppe in der letzten Zeit deutlich häufiger als sonst gestritten hatte. Aber das war auch ganz egal, zumindest für diesen Moment, in dem all das weit weg erschien und gar nicht mehr daran zu denken war, dass es je anders hätte sein können. „Habt ihr Cecil-san heute schon gesehen?“, wollte sie von Tokiya wissen, welcher sich gerade links von ihr setzte, da seine Arbeit für das Frühstück getan war. Einen Moment lang sah er sie an, ohne etwas zu sagen. Erst als er seinen Blick wieder von ihr abwandte, setzte er zu einer Antwort an. „Nein, noch nicht.“ „Hm…“ „Er wird das Frühstück verpassen“, gab Otoya zu bedenken, wobei er eine Hand an sein Kinn und die Stirn in Falten legte. Nach einem kurzen Überlegen schob er schließlich seinen Stuhl entschieden zurück. „Ich werde ihn holen gehen.“ „Bleib sitzen“, sprach Masato hinter ihm und drückte ihn auf seinen Platz zurück, gerade als Otoya Anstalten machte, sich zu erheben. Mit der freien Hand gab er Natsuki den gerade fertig gewordenen Kakao in dessen Tasse, wobei er erklärend fortfuhr: „Er weiß, dass um sieben Uhr regulär gemeinsames Frühstück ist, sofern nichts dazwischenkommt. Nanami hat ihm sogar einen Wecker gekauft, damit er nicht so viel Ärger mit seinem Senior hat. Es liegt in seiner eigenen Verantwortung sich selbst gegenüber, diesen auch seinem Zweck entsprechend zu verwenden.“ „Ja, aber…“ „Masato hat recht“, unterbrach Tokiya den Einwand des Rothaarigen, tat es dabei dem Firmensohn gleich und gab Haruka Tee in ihre Tasse ein. „Kein Aber, Otoya. Lass ihn.“ Nur widerwillig gab der Rotschopf bei. Seine Schultern sackten nach vorn und er schaute nur vorsichtig zu Haruka hinüber. Als er ihren Blick auf sich bemerkte, lächelte er entschuldigend, als wollte er sagen: „Tut mir leid, Nanami. Ich kann mein Versprechen dir gegenüber nicht einhalten.“ Sie verstand seine stumme Botschaft und lächelte beschwichtigend zu ihm zurück. Doch sie konnte nicht verhindern, dass ihr Blick besorgt zu dem freien Platz an der anderen Spitze des Tisches schweifte. Nachdem auch Masato seinen Platz an ihrer anderen freien Seite eingenommen hatte, war jener Stuhl der letzte, der unbesetzt blieb. – Cecils Platz. Es stimmte sie traurig. Wäre er hier, wären sie alle das erste Mal seit fast zwei Wochen fürs Frühstück beisammen gewesen. Doch solange auch nur einer aus ihrer Gruppe fehlte, waren sie nicht mehr vollständig. Dabei wäre es so schön gewesen, wenn sie es wenigstens für diesen Morgen gewesen wären.   Das Frühstück verlief friedlich, jedenfalls für die Verhältnisse von Starish gesprochen. Nachdem sie fertig waren, waren die Rollen schnell verteilt, dass all jene, die nicht am Herrichten des Frühstücks beteiligt gewesen waren, das Abräumen und den Abwasch übernehmen würden. Zum Ausgleich, könnte man sagen. So hatte sich Haruka zusammen mit Ren um das Abräumen des Tisches gekümmert, während Syo und Natsuki den Abwasch bedienten. Otoya übernahm das übrige Aufräumen, und so war die Arbeit schnell erledigt. Während alle ihrer Arbeit nachgegangen waren, hatten sich Haruka und Otoya hinter dem Rücken der anderen abgesprochen, ein wenig des übrig gebliebenen Frühstücks für das fehlende Mitglied ihrer Gruppe zurückzulegen, welches Otoya anschließend in Cecils Zimmer schmuggeln wollte. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn sie es selbst hätte tun können, doch Otoya hatte ihr davon abgeraten. Bei so vielen Jungs, die den Jungenflügel bewohnten, wäre es zu riskant gewesen, dass sie einer von ihnen dabei erwischt hätte. Und niemand hätte es gern gesehen, wenn sie sich auf den Fluren der Jungs herumtrieb. Also hatte sie klein beigegeben und es an ihn übertragen. Mittlerweile war sie wieder auf ihrem Zimmer und stand unschlüssig vor ihrem Schreibtisch. Auf diesem waren einige leere Notenblätter ausgebreitet, die nur darauf warteten, von ihr beschrieben zu werden. Doch ans Komponieren war im Augenblick nicht zu denken. Wenn sie es versuchen würde, würde sie wieder versagen? Die Worte des Direktors brannten ihr noch immer auf der Seele und raubten ihr jeglichen Mut. Sie hatte lange nicht mehr so schlecht geschlafen wie letzte Nacht, weil sie jene Worte einfach nicht aus ihrem Kopf bekommen hatte. Schwer seufzte sie und ließ den Kopf zwischen ihren Schultern hängen. Ihr war durchaus bewusst, dass sie sich nicht lange so hängen lassen konnte. Aber vielleicht, wenn sie es nur noch ein wenig besser sacken lassen und verarbeiten konnte, vielleicht würde es dann wieder besser gehen. Vielleicht würde ihr dann eine neue Melodie in den Sinn kommen, die besser war als die letzte. Egal wie, sie musste es einfach schaffen, den Direktor wieder von sich zu überzeugen. Auf gar keinen Fall wollte sie abberufen werden, für Starish die Musik zu schreiben. Die Angst war so schon groß genug, dass es jederzeit passieren könnte, denn letztlich – auch das war ihr bewusst, schon immer – waren es die Jungs, um die der ganze Jubel prangte. Ihre Leistungen auf der Bühne waren es, die für die Leute in erster Linie zählten, alles andere kam erst an zweiter oder gar dritter Stelle. Wenn ihr Lied nicht gut genug war, fiel es in erster Linie auf die Jungs – auf Starish – zurück, selbst wenn sie die Einzige war, deren Arbeit ungenügend gewesen war. Ein leises Klopfen holte sie aus ihren negativen Gedanken. Es dauerte einen Moment, bis sie es realisierte und sich fragend in Richtung Tür umblickte. Gerade machte sie die ersten Schritte darauf zu, als das Klopfen erneut ertönte. Erst da wurde ihr bewusst, dass es nicht von der Tür kam, sondern vom Balkon. Sie blickte über ihre Schulter zurück und erkannte sofort jene Person, die dort hinter der Glasscheibe stand und noch ein weiteres Mal mit den Fingerknöcheln zart gegen das Glas klopfte. „Cecil-san?“ Schnell wandte sie sich um und eilte auf die Balkontür zu, um sie dem unerwarteten Besucher zu öffnen. Ihre Überraschung war nicht zu verbergen, als sie zu dem dunkelhäutigen Jungen aufblickte. „Cecil-san, was machst du denn hier?“ „Guten Morgen, my Princess“, sprach er sanft und schenkte ihr dabei ein Lächeln, welches sie sofort erröten ließ. „Guten M-M-Morgen…“ Sichtlich angetan von ihrer Reaktion legte er den Kopf ein wenig schief. Nach einem kurzen Moment reichte er mit seiner Hand in sein Gewand und holte dort ein kleines Schälchen hervor, welches mit Reis gefüllt und einer Klarsichtfolie abgedeckt war. „Otoya hat mir das gerade vorbeigebracht, mit lieben Grüßen von dir“, erklärte er vielsagend in seinem Lächeln, ehe es einem traurigen Ausdruck wich. „Es tut mir leid, dass ich verschlafen habe. Ich hätte gern mit dir zusammen gefrühstückt.“ Bei diesen Worten fiel ihr ein großer Stein vom Herzen. Sacht schüttelte sie den Kopf. „Ist schon okay. Wir hatten die letzte Zeit alle viel zu tun, da ist es verständlich, wenn man zur Abwechslung einmal ausschlafen möchte. Dir ist deswegen niemand böse.“ „Mir ist nur wichtig, dass du mir nicht böse bist. Dennoch, ich bin froh, das zu hören.“ Er wandte sich dem Schälchen in seiner Hand zu, liftete die Folie so weit, dass er ein wenig des Reises zwischen Daumen und Zeigefinger zu fassen bekam und schob sich diese in den Mund. Otoya hatte ein wenig der Frühlingssuppe, welche Masato zubereitet hatte, darübergegeben, so schmeckte der sonst so milde Reis angenehm würzig nach Brühe und frischem Zwiebelgemüse. „Das ist lecker“, befand er und lächelte zu Haruka herüber. „Hast du das gekocht, Haruka?“ „Nein. Hijirikawa-san hat für uns das Frühstück gemacht“, erklärte sie kopfschüttelnd. Ihr war dennoch anzusehen, dass sie peinlich berührt von dem fälschlichen Kompliment war, das nicht ihr zu machen war. „Masato? Ach so.“ Zwar sank Cecils Begeisterung unverblümt bei diesen Worten, dennoch griff er nach den Stäbchen, welche er unter seiner Schärpe festgebunden hatte. Er löste schließlich die Folie vollständig, nahm die Stäbchen zur Hand und schenkte dem Mädchen ein weiteres, fröhliches Lächeln. „Lass uns zusammen frühstücken, Haruka.“ „Wa-was? Aber… ich habe doch schon gefrühstückt.“ „Hm…“ Cecil ließ seinen Blick sinken. Einen Augenblick lang schwieg er betreten, bis er das Reisschälchen in seiner Hand sinken ließ. „Dann mag ich auch nicht mehr essen. Ich esse viel lieber mit dir zusammen.“ „Cecil-san…“ Ihre Blicke trafen sich, als er wieder zu ihr aufsah. Für Sekunden sagten sie nichts, was Haruka seltsam unangenehm war. Sie wusste nicht wieso, aber sie hatte das Gefühl, als forschte er sie; als blickte er in sie hinein. „Haruka“, sprach er dann endlich wieder, doch seine Stimme klang ernst dabei. „Geht es dir gut? Du siehst müde aus.“ „W-was? Echt?“ Reflexartig tastete sie mit ihren Fingern über ihr Gesicht, insbesondere unterhalb ihrer Augen, ob sie wohlmöglich Augenringe haben könnte, die dies verrieten. Jedoch konnte sie nichts Verdächtiges ausmachen, und beim Frühstück hatte sie auch niemand der anderen Jungs darauf angesprochen. „Naja, ich habe etwas schlecht geschlafen letzte Nacht“, gestand sie schließlich, versuchte es aber sofort mit einem unbekümmerten Lächeln zu entkräften. „Schlecht geschlafen?“ Er überdachte diese Worte einen Augenblick lang. „Wegen der Kritik des Direktors gestern?“ – Volltreffer! „Ä-ähm… ja…“ Es nützte nichts, es vor ihm verbergen zu wollen. Bei Cecil hatte sie schon oft das Gefühl gehabt, dass er die Leute durchschauen konnte. Genug jedenfalls, um zu erkennen, wenn jemand log oder nicht aufrichtig zu sich selbst war. Das hatte er schon oft genug bewiesen, nicht nur bei den Jungs. „Mach dir keine Sorgen, Haruka. Was Shining Saotome gesagt hat…“ Doch er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden, denn just in diesem Augenblick ertönte das melodische Klimpern von Harukas Handy in ihrem Zimmer. Zeitgleich blickten sie in jene Richtung, aus der es gekommen war. „Eine SMS“, sprach Haruka mehr zu sich selbst, ehe sie sich auch schon umdrehte und zurück in ihr Zimmer ging. Und sie sollte sich nicht irren: Das Display zeigte ihr ein kleines Briefsymbol an, als Absender stand „Shining Saotome“ geschrieben. Cecil war ihr derweil gefolgt und stand nun dicht hinter ihr, um ihr über die Schulter schauen zu können. „SMS?“, fragte er wenig interessiert. Die Störung kam ihm äußerst ungelegen und er gab sich wenig Mühe, diese Tatsache zu überspielen. „Von wem?“ „Vom Direktor. Mal sehen…“ Sie öffnete die Textnachricht mit wenigen Tastendrucks, bis sie die wenigen Wörter laut vorlas: „‚Starish, versammelt euch im Gemeinschaftsraum.‘  – Was, jetzt? Wieso?“ Sie erhielt keine Antwort darauf. Cecil stand nur hinter ihr, starrte ohne jegliche Regung in seinen Gesichtszügen auf das kleine Display in ihren Händen und schwieg. „Cecil-san, lass uns gehen. Die anderen werden sicherlich auch diese SMS erhalten haben.“ Damit befestigte sie ihr Handy über einen angebrachten Widerhaken an einer Schlaufe ihres Rockes und wollte auch schon aufbrechen, doch eine kräftige Hand hielt sie an ihrem Handgelenk zurück. „Haruka, warte noch einen Moment.“ Sofort hielt sie in ihrem Vorhaben inne und blickte sich fragend nach dem Jungen hinter ihr um. Dessen sonst so sanftes Gesicht, auf dem die meiste Zeit über ein warmes Lächeln lag, war nun ernst und von Sorge gezeichnet. „Wir führen dieses Gespräch fort. Nachher.“ Erst nach einem kurzen Zögern nickte sie zusagend. Auch sie hätte gern gewusst, was er ihr gerade hatte sagen wollen, doch im Augenblick hatten andere Dinge Vorrang. Das musste auch Cecil einsehen, auch wenn sie ihm ansah, dass er dies nur widerwillig tat. Er erwiderte ihr Nicken, ehe er mit seiner Hand so umgriff, dass sich seine Finger mit den ihren verflochten. So mit ihr verbunden, kehrte sein Lächeln auf seine Lippen zurück und er umfasste ihre Hand fester. „Gehen wir.“ Kapitel 2: Zwangsurlaub für ST☆RISH ----------------------------------- Haruka hatte mit ihrer Vermutung recht gehabt. Als sie und Cecil sich im Gemeinschaftsraum einfanden, waren auch Masato, Ren, Natsuki und Syo bereits eingetroffen. Während sie erste Überlegungen aufstellten, wieso man sie hierherbestellt hatte, kamen auch Tokiya und Otoya dazu und somit war ihre Gruppe komplett. Doch von dem Direktor fehlte jede Spur. Masato stand am Fenster und behielt den Vorhof und die Einfahrt im Blick. Für mehrere Minuten tat sich jedoch nichts; kein Wagen fuhr vor, kein Helikopter war zu sehen und bis auf zwei Gärtner rührte sich nichts vor dem Wohnheim. „Aber von uns immer Pünktlichkeit erwarten, tze“, grummelte Syo genervt und kickte halbherzig gegen den Sessel vor ihm, in welchem es sich dieses Mal Nasuki bequem gemacht hatte. Dieser ließ sich von der leichten Erschütterung in seinem Rücken nicht stören und nippte in aller Seelenruhe dieser Welt an seiner Tasse Tee. „Es wird bestimmt gleich jemand kommen“, versuchte Haruka ihn zu besänftigen, worauf sie nur ein weiteres „Tze“ erhielt. Cecil neben ihr blieb stumm, während er ebenfalls zu dem übellaunigen Blondling schaute. „Ich nehme an, wir haben alle dieselbe SMS erhalten?“, fragte Tokiya in die Runde und ließ seinen Blick schweifen. Ren nickte. „‚Starish, versammelt euch im Gemeinschaftsraum.‘  Nicht wahr?“ Auch Haruka nickte bestätigend. Daraufhin wurde es wieder still zwischen ihnen, während sie warteten, dass irgendetwas geschah. Nur hin und wieder wandte sich Ren an seinen Zimmergenossen, ob sich schon etwas tun würde, doch immer folgte ein monotones „Nein“ oder lediglich ein Kopfschütteln. So blieb es für etwa zehn Minuten, bis Masato sich endlich regte und sogleich ein „Da kommt jemand“ verkündete. Nur kurz darauf war ein leises, eiliges Klacken zu vernehmen, welches in den hohen Fluren widerhallte und immer lauter wurde, je näher jener Neuankömmling ihnen kam. Als es laut genug war, dass jene Person jeden Moment den Raum betreten musste, eilte ein „Ich bin schon da, ich komme ja schon!“ dem Ankommenden voraus. „Puh… ich bin da. Bitte verzeiht die Verspätung“, gab sich schließlich Ringo, der Lehrer der A-Class und gleichzeitig einer der Vorsitzenden der Saotome Agentur, zu erkennen und stützte sich erschöpft gegen den Türrahmen, als er den Gemeinschaftsraum erreicht hatte. Er japste hörbar nach Luft, da er sich offensichtlich wirklich beeilt hatte, so schnell es ging zu ihnen zu kommen. Unter seinem rechten Arm hielt er mehrere Hefte, Hefter und sogar eine Plakatrolle an sich gedrückt. „Rin-chan?“, fand Otoya zuerst zu sich und eilte zu dem Idol herüber, um ihm eine helfende Hand zu reichen. „Ist alles in Ordnung?“ „Ja, alles okay. Danke, Oto-chan.“ Der feminine Mann mit den weichen Gesichtszügen – dessen wahres Geschlecht man unter der frühlingshaften One-Shoulder-Bluse, himmelblauer Dreiviertelleggins und dem breiten, silbern glitzernden Taillengürtel niemals vermutet hätte, wäre er eben kein berühmtes Crossdressingidol –  bemühte sich um ein Lächeln, wobei er die Hilfe dankend annahm und sich von dem Rotschopf in das große Zimmer führen ließ. Die ebenso weiß-silbern glitzernden Absatzsandalen begleiteten jeden Schritt mit einem hohen Klacken. „Wieso sollten wir uns hier versammeln?“, kam Tokiya gleich zum Punkt, als ihr Vorsitzender vor ihnen angekommen war und kurz verschnauft hatte. Natsuki hatte ihm ein Glas Wasser angeboten, welches Ringo ebenfalls dankend angenommen hatte und gerade einen großen Schluck davon nahm. „Nicht so forsch bitte, Tokiya-kun. Immer schön langsam und eines nach dem anderen“, mahnte er den Schwarzhaarigen, hob dabei belehrend einen Finger in die Luft, um die Neugierde aller Anwesenden auszubremsen. Gemächlich nahm er noch einen weiteren Schluck aus dem Glas, ehe er es mit einem Lächeln an Natsuki zurückreichte und sich schließlich an die Gruppe wandte. „Ich komme gerade von einem Meeting, deswegen hat es so lange gedauert. Es war eigentlich nicht geplant, aber Shiny hat euch noch während wir im Gespräch waren kontaktiert und mich anschließend losgehetzt, um gleich mit euch zu sprechen.“ Darauf drückte er Masato, welcher noch immer hinter ihm am Fenster stand, das zusammengerollte Plakat in die Hände und Otoya die bunten Hefter. Er selbst nahm die erste Zeitschrift, die auf seinem übrigen Stapel lag, zur Hand und präsentierte es mit einem breiten Lächeln der Gruppe. „Tadaah~!“ „Was ist das?“, wollte Tokiya wissen, während alle neugierig auf das Heft blickten und jene, die zu weit weg waren, um alles zu erkennen, traten näher, um besser sehen zu können. Auf dem bunten Cover war ein Bild ihrer Gruppe zu sehen mit einer dicken, blauen Überschrift, die jedem sofort ins Auge sprang. „Die Kritiken der Medien wurden veröffentlicht. Ihr wurdet von eurem letzten Konzert vor einer Woche in den höchsten Tönen gelobt“, flötete Ringo fröhlich und reichte das Heft an Natsuki weiter, damit es seine Runde machen konnte. Derweil griff er schon zu dem nächsten Magazin und schlug es an einer bestimmten, markierten Stelle auf. „Newcomer des Quartals. Chartsbreaker, der eisern seinen Rang verteidigt. Bereits über 50.000 verkaufte Platten der Hitsingle „Maji Love 1000%“ in ganz Japan und damit die Auszeichnung Silber. Außerdem bereits seit fünf Monaten in Folge in den Top Ten, davon sechs Wochen unangefochten an der Spitze. Meistbeliebteste Newcomer-Band verschiedener Altersgruppen. Haha, herzlichen Glückwunsch!“ „Wow!“, entkam es Otoya, der bei dieser Auflistung über die Schulter des ehemaligen Lehrers einen Blick in die Zeitschrift geworfen hatte. Tatsächlich ließen sich dort jene Statistiken zu ihnen finden, welche dieser soeben vorgelesen hatte. „Das ist ja der Wahnsinn!“ „Silber, hm? Da geht doch noch was“, kommentierte Ren von der Couch aus, konnte sich aber ein zufriedenes Schmunzeln nicht verkneifen. „Ah, das ist ja so aufregend! Ich wusste gar nicht, dass Starish schon so bekannt ist!“, freute sich Natsuki, wobei seine grünen Augen regelrecht strahlten, und er wandte sich fröhlich an seinen besten Freund. „Ist das nicht großartig, Syo-chan?“ „Ich habe nichts anderes erwarten. Es ist immerhin Starish“, kommentierte dieser und rieb sich stolz unter der Nase. Dann machte sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht breit, welches jeglichen Gram von zuvor komplett vertrieb. „Aber es ist wirklich cool, hehe.“ „Silber ist nicht sehr gut, oder?“, gab Cecil zu bedenken und wandte sich dabei fragend an Haruka neben ihm. Diese strahlte ihn an. „Für einen Newcomer ist das eine großartige Leistung! Ich hätte nicht gedacht, dass wir einen so großen Durchbruch in so kurzer Zeit schaffen würden.“ „Aber das gibt uns keinen Grund, uns auf diesen Lorbeeren auszuruhen.“ Masato trat von seinem Platz am Fenster weg und stellte sich an die andere Seite des ehemaligen Lehrers. Nach einem kurzen Blickaustausch unter ihnen, nahm er ihm das Magazin ab, um sich die Zahlen selbst noch einmal zu betrachten. „Genau so ist es, Ma-chan. Und deswegen bin ich hier“, fasste Ringo diesen letzten Kommentar auf, breitete die übrigen mitgebrachten Zeitschriften auf dem niedrigen Tisch vor ihm aus, ehe er betont die Hände in die Hüften stemmte. Mehrere goldene und buntverzierte Armreifen an seinen Handgelenken begleiteten diese Gestik mit einem leisen Klirren und unterstrichen sie somit noch. Sein Blick ging einmal aufmerksam durch die Runde, als er weitersprach: „Die Kritiken sind fürs Erste wirklich sehr gut und ihr habt damit schon einen großen Schritt nach vorn getan. Starish ist längst nicht mehr nur ein kleines Licht am Himmelszelt, sondern im Begriff, hell zu erstrahlen. Aber euch sollte allen bewusst sein, was dies mit sich bringt.“ „Was dies mit sich bringt?“, wiederholte Haruka leise die Worte des Idols, woraufhin Ringo zu ihr blickte. Sie sahen einander für mehrere Sekunden stumm an, bis er wieder von ihr wegblickte, woraufhin Haruka die Schultern nach vorn fallen ließ und ihren Blick zu Boden senkte. Ringo wandte sich derweil wieder an die Gruppe: „Euer Gesang ist gut. Eure Songs kommen sehr gut bei den Leuten an und eure Konzerte und Gastauftritte waren gut besucht. Auch die Fernsehsender, die über euch ausgestrahlt haben, haben uns berichtet, dass die Einschaltquoten deutlich in die Höhe gegangen sind, sobald über Starish berichtet wurde. Die Verkaufszahlen kennt ihr mittlerweile ebenfalls. Nach außen hin gibt es also kaum Kritik an euch zu üben, jedoch…“ An dieser Stelle machte er eine betonte Pause und sah mit strengem Blick von einem zum nächsten. Erst als er sichergestellt hatte, dass acht aufmerksame Augenpaare auf ihm ruhten, fuhr er fort. „Statistiken, Zahlen und Kritiken sind nicht alles. Als Saotome Agentur legen wir nicht nur Wert darauf, dass ihr und eure Musik in der Öffentlichkeit gut ankommt und Chancen auf ein langes Überleben im Showbusiness habt, sondern wir achten auch darauf, wie es um eure eigene Weiterentwicklung bestellt ist. Und was dieses Thema anbelangt, sehen wir uns vor einem großen Problem.“ „Wieso?“, platze es sogleich aus Otoya heraus, welchem die Bedeutung dieser Worte offensichtlich nicht ganz klar war. „Wir tun doch schon alles, was wir können. Wir üben viel und sind viel präsent… Du hast doch selbst gesagt, dass wir gut sind und unsere Songs gut bei den Leuten ankommen.“ „Du hast mir offensichtlich nicht richtig zugehört, Oto-chan.“ „Es geht nicht nur um Zahlen, Statistiken und Kritiken“, korrigierte Tokiya den Freund, ohne dabei die Stimme zu erheben. Sein Blick ruhte nachdenklich auf den verschiedenen Zeitschriften auf dem Tisch vor ihnen. „Ich weiß, was du meinst, Tsukimiya-san, aber ich muss Otoya in dem Punkt beipflichten, dass auch ich nicht ganz dahinterkomme, worauf du hinauswillst. Ich denke, du wirst mir zustimmen, dass wir uns durchaus mit der Zeit weiterentwickelt haben; sowohl als Starish als auch jeder für sich selbst. Aber du willst uns vermutlich sagen, dass uns noch immer etwas Bestimmtes fehlt, habe ich recht?“ Einen Moment lang schwieg das Idol. Erst nach einer quälenden Ewigkeit nickte er. „So ist es.“ „Was ist es? Sag es uns doch einfach“, forderte Ren im ruhigen und respektvollen Ton, obgleich ihm anzusehen war, dass ihm die Geduld auszugehen drohte. Wieder nickte Ringo bestätigend und verschränkte nun betont die Arme vor der Brust. „Wir haben das Gefühl, dass ihr in der letzten Zeit nicht mehr richtig bei der Sache seid. Und wie ihr wisst, ist es nicht das, was die Saotome Agentur vertritt und unterstützt. Wir fordern nicht nur 100% von euch, sondern 1000%, wie Shiny immer so schön zu sagen pflegt.“ „Nicht richtig bei der Sache?“, wiederholte Otoya die Worte überrascht, worauf Syo sofort anschloss. „Soll das heißen, wir seien nur halbherzig bei der Sache?!“ Haruka zuckte innerlich zusammen. Ihre Finger verkrampften sich in dem Saum ihrer weißen Bluse. Das war genau das, was der Direktor auch ihr vorgeworfen hatte, als er ihr letztes Musikstück gelesen hatte. Jene Worte erneut zu hören, schmerzte sie in ihrem Herzen. „So weit wollen wir uns nicht hinauslehnen“, versuchte Ringo die aufkeimenden Wellen zu beschwichtigen. Doch sein Blick blieb ernst. „Aber wir haben bemerkt, dass euch seit einiger Zeit etwas fehlt. ‚Jene gewisse Magie‘, könnte man sagen. Noch ist es nicht so, dass es sich offensichtlich auf eure Songs und eure Performance auswirkt, aber wenn dem nicht Einhalt geboten wird, wird sich das ganz schnell ändern.“ „Aber wieso…?“ Der Rotschopf senkte seinen Blick und ballte die Hände zu Fäusten. Seine roten Augen schienen nach einer Antwort auf dem Parkett zu suchen, doch eine wirkliche Erleuchtung ließ sich so nicht finden. „Ich verstehe es nicht…“ „Wir haben euch beobachtet“, ergriff der Vorsitzende wieder das Wort, um in seinen Ausführungen fortzufahren, „und sind zu dem Schluss gekommen, dass etwas innerhalb eurer Gruppe im Unklaren liegen muss. In diesem Fall können wir euch nicht unter die Arme greifen, sondern es liegt an euch selbst, den Grund für eure mangelnden Leistungen ausfindig zu machen und zu bereinigen.“ Nun war es an der Gruppe, fragende Blicke untereinander auszutauschen. Sie sahen einander an, als erhofften sie, von den anderen die gesuchte Antwort auf diesen schwerwiegenden Verdacht ablesen zu können. Doch ihre Blicke blieben ratlos, was nur dazu führte, dass jeder betreten von dem Rest wegblickte und sich starr auf einen willkürlichen Punkt im Raum fixierte, ohne dass auch nur einer von ihnen ein einziges Wort verlauten ließ. „Deswegen“, durchbrach Ringo die drückende Stille, die über allen waberte, klatschte dabei einmal in die Hände und legte ein breites, professionell-fröhliches Lächeln auf, „haben wir entschieden, euch eine Woche Urlaub einzuräumen. In dieser Zeit könnt ihr euch ein wenig von den Strapazen der letzten Zeit erholen, wieder zu euch finden und klären, was es offensichtlich unter euch zu klären gibt. Wir hoffen, dass sich damit die Steine auf eurem Weg beseitigen lassen und ihr anschließend wieder voll und ganz bei der Sache sein könnt. Wenn ihr in dieser Zeit irgendetwas braucht oder Fragen habt, stehen Ryuya und meine Person euch jederzeit zur Verfügung, um zu helfen.“   Nur wenig später war der ganze Aufruhr vorbei. Aber von einer entspannten Atmosphäre konnte kaum die Rede sein. Niemand zeigte auch nur den geringsten Ansatz, sich über den spontan gewährten Urlaub zu freuen, so wie sie es vielleicht sollten. Es war bereits eine halbe Stunde vergangen, seit Ringo seine Sachen zusammengepackt hatte und gegangen war. Seitdem hatte keiner gesprochen, kaum eine Regung war erfolgt. Jeder saß oder stand noch an demselben Platz wie zuvor. Lediglich Otoya hatte seine Position ein wenig verändert und lehnte nun mit hängendem Kopf über die Couch, auf welcher Tokiya seinen Platz hatte. „Also gut“, war es schließlich Ren, der das betretene Schweigen brach, und er lehnte sich auf der Couch gegenüber zurück. „Wer macht den Anfang?“ „Mit was?“, kam es von Syo zurück, der seinen Hut über seiner Faust kreisen ließ. Er warf dem Schönling einen flüchtigen Blick aus dem Augenwinkel zu. „Es gibt allem Anschein nach Klärungsbedarf in unserer Gruppe. Ehe wir uns den gesamten Urlaub verderben, sollten wir die Sache schnell auf den Tisch bringen, meint ihr nicht?“ „Das ist nichts, was auf Befehl geht“, bemerkte Masato von der Seite und schloss die Augen. Nur kurz schüttelte er den Kopf. „Wenn es etwas Offensichtliches wäre, was leicht gesagt und zu klären wäre, dann hätte längst schon einer von uns das Gespräch gesucht.“ „Da gebe ich Masa recht.“ Syo warf seinen Hut mit einem Überschlag vor sich in die Höhe, nur um ihn wieder geübt mit der Faust aufzufangen. Dies wiederholte er einige Male, wobei er zu überlegen schien, ob er dem noch etwas hinzufügen wollte. „Sonst sagen wir ja auch gleich, wenn uns etwas nicht passt. Mir jedenfalls fällt gerade nichts ein, was ich sagen sollte.“ „Ich verstehe noch immer nicht, was Rin-chan meint, dass uns etwas fehlt.“ Der Rotschopf stieß ein lautes Seufzen aus, ehe er sich noch etwas weiter auf die Couchlehne stützte. Sein Kopf lag auf seinen Armen und er wirkte selten missmutig, wie er so den Blick zu Ren und Masato herüberschweifen ließ. „Aber wenn es stimmt, dass die Gruppe etwas belastet… dann sollten wir offen zueinander sein und über alles reden, was uns bedrückt.“ „Das ist leichter gesagt als getan“, äußerte sich nun auch Tokiya, dessen Blick noch immer auf den bunten Magazinen haftete, welche Ringo der Gruppe dagelassen hatte. Seine Miene war regungslos, dennoch schien er die verschiedenen Fotos auf den Covern zu studieren, auf welchen Starish überzeugend den Betrachter anlächelte, strahlte und lachte, wie es sich für Profis gehörte. „Außerdem ist es wie Masato gesagt hat: So etwas geht nicht auf Befehl.“ „Wieso nicht?“, wollte Cecil wissen, der die ganze Zeit über stumm neben Haruka gestanden und den Bandmitgliedern aufmerksam zugehört hatte. Seine Frage war durchaus ernst gemeint, das konnte jeder heraushören. „Das hat etwas mit Gefühl zu tun“, erklärte Tokiya trocken und blickte über seine Schulter zu dem Prinzen hinter, „und mit Bewusstsein. Es gibt nichts zu sagen, wenn sich niemand darüber im Klaren ist, was er sagen möchte. Wir müssen abwarten, bis wir wissen, was es eigentlich ist, worüber wir miteinander sprechen sollten.“ „Mh.“ Dem Prinzen war nicht anzusehen, ob ihm diese Worte einleuchteten. Zumindest sagte er nichts mehr darauf und damit war das Thema für Tokiya abgeschlossen. Haruka bedrückte diese Konversation sehr. Sie wagte nicht zu den Jungs aufzusehen und hielt ihren Blick deswegen gesenkt. Gern hätte sie etwas beigetragen, doch ihr Kopf war wie leer gefegt. Nur einzelne Begriffe jagten einander, doch sie war nicht in der Lage, sie aufzufangen und irgendwohin einzusortieren. Selten hatte sie sich so nutzlos gefühlt wie in diesem Augenblick. „Aber so kann es doch auch nicht bleiben“, war es erneut Otoya, der seinen Unmut in einem Seufzen kundtat. Man hätte es dem Rotschopf nicht zugetraut, aber er schaffte es tatsächlich, sich noch kleiner zu machen und mit seinem hängenden Kopf ein Bild abzugeben wie das eines begossenen Pudels. „Wir kommen so nicht weiter.“ Mit diesen Worten begann Natsuki in der Innentasche seiner braun-gestreiften Weste zu kramen. Als er gefunden hatte, wonach er suchte, erhob er sich schließlich von seinem Platz auf dem Sessel und hielt ein bunt bedrucktes Flugblatt vor sich. Ein breites, herzliches Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit. „Wir haben doch Urlaub, nicht wahr? Das trifft sich gut! Heute ist der vorletzte Tag für das jährliche Sommerfest. Ich wollte schon die ganze Woche, seit es eröffnet hat, dorthin, aber jetzt können wir ja alle zusammen gehen und ein wenig Spaß haben.“ „Sommerfest? So was wie ein Rummel?“, hakte Syo nach, woraufhin der Freund nickte. „So mit Spiel- und Fressbuden? Attraktionen?“ „Ja“, strahlte der Ältere zurück und wirkte dabei wie ein Kind. „Es wurde viel aufgebaut und dort soll sehr viel los sein. Riesenrad, Achterbahn… es soll sogar eine Musikgruppe da sein und für Stimmung sorgen. Und Clowns, die Lamas spazieren führen und bunte Formluftballons an die Kinder verteilen!“ Der Kleinere zog skeptisch die Augenbrauen zusammen. „Schießbuden?“ „Ja.“ „Autoscooter?“ „Bestimmt!“ „Wasserbahn?“ – Bei dieser Frage zuckte Cecil unwillkürlich zusammen, was neben Haruka jedoch niemand weiter bemerkte. Natsuki legte nachdenklich einen Finger an die Lippen. „Das weiß ich nicht. Aber wenn es so groß ist wie es auf dem Flyer aussieht, kann es gut sein.“ „Alles klar“, damit erhob sich der Kleine, setzte sich seinen Hut auf den Kopf und zog ihn sich tief ins Gesicht. Kess grinste er in die Runde, ehe er den Arm in die Höhe streckte und über das ganze Gesicht strahlte. „Worauf warten wir dann noch!“ „So plötzlich?“, wunderte sich Otoya, der zumindest den Kopf wieder erhoben hatte und nun etwas planlos dreinblickte. Offensichtlich kam er mit dem unerwarteten Themenwechsel nicht ganz mit. „Das ist eine tolle Idee, Shinomiya-san!“, lobte Haruka und war sichtlich erleichtert, wie sich die Dinge nun dank Natsukis Vorschlag entwickelten. Auch ihr Gesicht zierte ein fröhliches Strahlen. „Lasst uns alle zusammen hingehen, als Gruppe!“ Tokiya und Masato erwiderten nichts darauf. Lediglich ihre bisher angespannten Gesichtszüge lockerten sich jetzt zu einem angedeuteten Schmunzeln. „Als Gruppe? Na, wenn es die Lady so wünscht“, kommentierte Ren in seiner typisch-schmeichelnden Art, wobei er dem Mädchen ein Zwinkern zuwarf. Daraufhin erhob er sich von seinem Platz, um ihren Aufbruch zu unterstreichen. „Im Ernst jetzt? Wir gehen wirklich?“, hakte der Rotschopf erneut nach. Erst als sich auch Tokiya und Masato in Bewegung setzten, schien er zu realisieren, dass dies nicht nur leeres Gerede war. Sofort kehrte das Leben in den jungen Gitarristen zurück, sein breites Grinsen strahlte mit den anderen um die Wette und er streckte sich einmal ausgiebig, als er sich aufrichtete. „Alle zusammen? Als Gruppe? Na dann los!“ „Wir haben lange nichts mehr zusammen unternommen“, bemerkte Haruka leise, woraufhin sich ein leichter Rotschimmer auf ihre Wangen legte. Ihr Herz klopfte wie wild in ihrer Brust und ihr war anzusehen, dass sie sich sehr über die bevorstehende, gemeinsame Zeit freute. „Wir sollten das genießen, so gut wir können. Wir alle, gemeinsam.“ Daraufhin brach ein lautes Gebrabbel in der Gruppe los, als rege Vorstellungen von dem Festplatz ausgetauscht und erste Unternehmungspläne geschmiedet wurden. Vergessen schien, was sie eben noch bedrückt hatte, und man freute sich nur noch auf die kommenden Stunden, die sie alle gemeinsam verbringen wollten. Endlich machte sich eine erste Urlaubsstimmung unter ihnen breit. Kurz darauf rüsteten sie sich und teilten sich auf ihre Zimmer auf, um sich entsprechend umzuziehen und schließlich in einer Stunde gemeinsam aufzubrechen. Nur einer von ihnen blieb in dem Gemeinschaftsraum zurück. Noch immer stand Cecil an seinem Fleck und starrte regungslos in die Richtung, in welche sich die Jungs auf den Jungenflügel verteilt hatten. Ihr Murmeln war leiser geworden, aber noch zu hören; insbesondere der kleine Syo war mit seiner erstaunlich lauten Stimme nicht zu verkennen. Doch Cecil machte keine Anstalten, ihnen zu folgen. Erst als die Stimmen gänzlich verstummt waren, wechselte er die Blickrichtung und sah nun den Flur hinab, der zum Mädchenflügel führte. Dem Flügel, in dem Haruka verschwunden war, um sich ebenfalls zurechtzumachen. „Haruka“, sprach er ihren Namen laut aus und sah weiterhin auf den Flur, als hoffte er, sie würde ihn hören und zu ihm zurückkommen. Natürlich hörte sie ihn nicht. Nach einigen Minuten senkte er seinen Blick, bis er zu dem Platz auf der Couch vor ihm sah, auf welchem Tokiya gesessen hatte. „Es gibt nichts zu sagen, wenn sich niemand darüber im Klaren ist, was er sagen möchte“, hatte er gesagt. Cecil sah den Schwarzhaarigen ganz genau vor sich; hörte seine Stimme deutlich, wie er diese Worte zu ihm gesprochen hatte. Tokiyas Blick war fest gewesen, seine Stimme ruhig, aber ernst. Es hatte keine versteckte Botschaft in diesen Worten gelegen. Nichts, was Cecil dahinter hätte erkennen können. Und doch… „Bewusstsein“, murmelte er leise und trichterte sich damit ein, was Tokiya ihm gesagt hatte. „Darüber im Klaren sein, was man sagen möchte… mh?“ Ein Kopfschütteln folgte. – Nein, das traf nicht auf ihn zu. Auf die anderen vielleicht, aber er wusste bereits, was ihn bedrückte. Doch das ging niemanden außer Haruka etwas an. Entschieden wandte er sich um und setzte sich in Bewegung. Folgte den Schritten, welche die anderen zuvor in Richtung ihrer Zimmer gegangen waren. Er hatte keine Lust auf dieses komische Fest zu gehen, auf das sich alle anderen so sehr freuten. Nicht, weil er es generell nicht wollte. Es war schon oft spaßig, mit den anderen unterwegs zu sein – meistens. Doch er hätte lieber etwas Zeit allein mit Haruka verbracht. Allein. Er konnte sich nicht vorstellen, was an einem Sommerfest so toll sein sollte. Einem „Rummel“, wie Syo es genannt hatte. Was war das überhaupt, ein „Rummel“? War das irgendetwas Besonderes? Nur Haruka zuliebe ging er mit. Weil sie sich so sehr darüber gefreut hatte, etwas mit ihnen zusammen zu unternehmen. Und weil er ihr diese Freude nicht nehmen wollte. Nur deswegen. ‚Ein Fest‘, überlegte er. Bevor die anderen gegangen waren, hatte Syo noch gesagt, dass sich alle „etwas Bequemes“ anziehen sollten, das „ruhig auch dreckig werden kann“. Was bedeutete das im Bezug auf ein japanisches Stadtfest? Mal schauen, vielleicht hatte er noch eine mittelwertig festliche Kurta, die diesen Anforderungen Genüge tun dürfte. Kapitel 3: Immer an deiner Seite -------------------------------- „Woah! Ist das groß!“ Die Gruppe war gerade erst auf dem Festgelände angekommen, welches von Schaulustigen zwischen den vielen Attraktionen und Vergnügungsständen nur so überfüllt war. Die jährliche Veranstaltung war gut besucht; so gut, dass an den Ausgängen zum Stadtgeschehen sogar Kassen aufgebaut worden waren, die Plaketten an geflochtenen Halsbändern, Werbeplakate und Programmheftchen an die Besucher verkauften. Auch sie waren nicht ohne eine Eintrittsplakette davongekommen, doch sie hatten Glück, dass die beiden Kassiererinnen die Jungs sofort erkannt und sich als Starish-Fans entpuppt hatten. So profitierten sie nicht nur von dem Gruppenrabatt, sondern auch gegen Autogramme von einem Preisnachlass plus kostenfreie Programmheftchen, wer denn so eines mitnehmen wollte. Und nun standen sie hier, vor einer Art riesiger Hollywoodschaukel, die über einer Wasserfontäne rotierte, sich mehrmals überschlug und die Insassen so zum Kreischen brachte. Die dazu eingespielte Pop-Musik ging in dem lauten Geschrei gnadenlos unter. Lautes Gemurmel von vorbeigehenden Gästen und begeisterten Zuschauern vermischten sich mit lauten Rufen von verschiedenen Händlern und Standleuten, die von allen Seiten zu kommen schienen. Kinder lachten und zerrten ungeduldig an den Armen ihrer Eltern, während diese alle Mühe hatten, für wenigstens einen Augenblick an einem Fleck verweilen zu dürfen. Die warme Luft war gefüllt von dem süßen Geruch eines Süßwarenstandes, der irgendwo ganz in ihrer Nähe sein musste. „Da weiß man ja gar nicht, was man zuerst machen soll“, sprach Otoya sein Erstaunen erneut laut aus, wobei er sich eine Hand schützend über die Augen hielt, um bei dem hellen Sonnenlicht mehr von der bunten Vielfalt erkennen zu können. Auch der Rest der Gruppe blickte sich neugierig um und schien unschlüssig, in welche Richtung sie als Erstes gehen sollten. Selbst die Map – ein großes Faltblatt, auf dem alle Attraktionen und andere interessante bis wichtige Anlaufstellen verzeichnet waren –, welche Haruka vor sich und den anderen hielt, machte die Entscheidung nicht gerade leichter. „Das ist ja fast wie im Hirapa*“, befand Syo. Wie auch Masato, Tokiya und Cecil inspizierte er neben Haruka die Karte und kratzte sich dabei nachdenklich am Nacken. „Nur nicht gaaanz so groß“, fügte er seinem Vergleich hinzu. „Warst du denn schon einmal im Hirapa, Syo-chan?“ Der Kleinere schüttelt auf die Frage des Freundes hin mit dem Kopf. „Nicht persönlich. Ich habe es nur schon einmal in einem Urlaubskatalog gesehen, als ich kleiner war. Und im Fernsehen. Ich wollte dort eigentlich immer mal als Kind hin, aber… wir sind stattdessen viel ans Meer gefahren.“ Aus diesen Worten drang eine gewisse Sehnsucht heraus, die von einem stummen Seufzen des Jungen begleitet wurde. Doch er sagte nichts weiter dazu. „Ich denke, da will jedes Kind einmal hin“, kommentierte Tokiya diese Aussage, ohne den Kleineren dabei anzusehen. Neben ihm nickte Haruka mit einem verträumten Lächeln. „Ja, das denke ich auch. Ich wäre dort auch gern einmal hingefahren, aber wir hatten nie das Geld für einen so teuren Urlaub“, erklärte sie. „Naja, dafür haben wir ja das hier“, beteiligte sich auch Ren an der Unterhaltung, wobei er eine überflüssige Geste auf den weiten Bereich vor ihnen machte. Schmunzelnd korrigierte er den Sitz der schmalen, braungetönten Sonnenbrille auf seiner Nase. „Das ist doch auch was. Und es ist sehr viel günstiger als ein Vergnügungspark. Also, was stehen wir hier eigentlich noch herum?“ „Ne, Syo-chan! Wollen wir das dort nicht auch einmal ausprobieren?“, wandte sich Natsuki an seinen Kindheitsfreund, deutete auf die sich überschlagende Hollywoodschaukel vor ihnen und strahlte über das ganze Gesicht, als hätte er ein harmloses Ponykarussell vor sich. Für einen Moment musterte Syo das längliche Gefährt, an welchem bunte Lämpchen in einem unrhythmischen Takt flimmerten. Gerade schoss eine neue Wasserfontäne unter den kopfüberhängenden Fahrgästen in die Höhe, woraufhin diese schrien, als hingen sie am Spieß. Sein Blick verdüsterte sich, als er skeptisch zu dem Freund aufsah. „Du jedenfalls wirst nicht mit diesem Ding fahren!“, machte er seine Ansage deutlich. Natsukis Lächeln wich einem entsetzten Ausdruck. „Eeeh? Aber wieso denn nicht?“ „Hast du schon einmal daran gedacht, was das ergeben soll, wenn du dabei deine Brille verlierst?!“, fuhr der Jüngere ihn an und machte dabei eine verdeutlichende Geste zu dem Gefährt, welches gerade einen Dreifachsalto schlug. Um die wahre Bedeutung hinter dieser Aussage nicht vor dem ahnungslosen Freund zu enthüllen, der ihn mit einem bohrend-fragenden Blick ansah, fügte er noch schnell eine alternative Erklärung hinzu: „Was denkst du, wer die da wieder herausholen soll? Und was ist, wenn sie bei dem Aufprall kaputtgeht? Willst du dann etwa blind herumlaufen?“ „Wie hoch ist seine Sehschwäche eigentlich?“, wollte Ren wissen, woraufhin ihm ein feindseliger Blick zugeworfen wurde. Eine eindeutige Warnung des Kleineren, die keiner weiteren Worte bedurfte. Sofort hob der Schönling in einer beschwichtigenden Geste die Hände vor sich in die Luft. „Klar soweit?“, wandte sich Syo wieder an seinen Freund, die Hände in die Hüften stemmend. Nachdenklich ließ Natsuki seinen Blick zu der Riesenschaukel schweifen. Eine Zeit lang beobachtete er die Insassen darin, welche gerade teils lachend, teils sichtlich erschöpft aus ihren Gurten entlassen wurden. „Aber“, versuchte er einen erneuten Anlauf, den Freund zu überreden, „andere scheinen damit auch keine Probleme zu haben. Schau doch, Syo-chan, da sind auch Brillenträger wie ich dabei.“ Er deutete auf ein junges Pärchen, welches gerade ausstieg. Beide trugen Brille und hatten sie allem Anschein nach die ganze Fahrt über getragen. „Die haben ja auch nicht dein unglaubliches Talent, ihre Brillen in den ungünstigsten Momenten zu verlieren. Du fährst nicht! Und damit basta!“ Damit war die Diskussion für ihn beendet. Ohne dem Freund auch nur die Gelegenheit zu lassen, noch etwas darauf zu erwidern, griff er ihn am Arm und zerrte ihn mit sich. Alle Proteste konnten den Jungen nicht erweichen. Sie waren bereits dabei, sich von der Gruppe zu entfernen, da drehte sich Syo noch einmal nach den anderen um: „Was ist? Kommt ihr nun, oder was?“   Das Festgelände war größer als von allen erwartet. Vielleicht kam es ihnen auch nur so vor, was den vielen Attraktionen zuzuschreiben wäre, die tatsächlich mehr das Gefühl vermittelten, sie befänden sich in einem Vergnügungspark. Von Achterbahn bis Kinderkarussell war scheinbar alles vertreten: Schaukelschiff, Highspeed Tassen, Dreh- und Wippkarussells, eine riesige Hüpfburg und auch Syos geliebter Autoscooter. Neben Schieß- und Losbuden waren selbst ein kleiner Streichelzoo mit Zirkustieren und Ponyreiten vertreten, worüber sich Natsuki sehr freute. Mittig des Schauplatzes war ein Riesenrad aufgebaut worden, so wie Natsuki angekündigt hatte, nur die gewünschten Wasserbahnen fehlten. Wirklich vermissen tat man sie jedoch nicht, dazu gab es auch gar keine Gelegenheit. Ein kleines Spiegelkabinett erregte Harukas Aufmerksamkeit und sie überredete die anderen, es sich gemeinsam anzusehen. Es war ein lustiges Unterfangen, mit einigen Schreckmomenten verbunden, und mit mehreren Personen zusammen machte es gleich viel mehr Spaß. Zwischen Süßwaren- und Eisständen versuchte die Gruppe eine kleine Verschnaufpause einzulegen, doch daraus wurde nichts. Die beiden Kassiererinnen am Eingang waren nicht die Einzigen, welche die Jungs sofort erkannt hatten, und so waren sie schnell von einigen Fans umzingelt, kaum dass sie zum Stehen kamen. Wie viele Autogramme sie in dieser Zeit geben und wo sie überall unterschreiben mussten, ließ sich kaum zählen, doch sie waren froh, dass sie es irgendwie schafften, die Fantrauben nach vielen Minuten wieder aufzulösen. Fluchtartig setzten sie sich in Bewegung, um nicht gänzlich in dem Trubel unterzugehen, den sie gar nicht für sich beabsichtigt hatten. „Vielleicht wäre es besser, solche Ausflüge künftig erst von jemandem organisieren zu lassen“, hatte Tokiya irgendwann eingeworfen, woraufhin ihm jeder zustimmte. Ihnen war hiermit bewiesen, dass sie anscheinend noch immer unterschätzten, wie bekannt sie mittlerweile waren. Als Stars war es schwer, normal unter Menschen zu gehen. Zumindest dann, wenn genug von ihnen an einem Fleck versammelt und ausreichend ausgelassen waren, um die Jungidole binnen Sekunden laut kreischend zu umkreisen. Folgend nutzten sie die Splitstrategie, um an Essen und Erfrischungen heranzukommen: Nur zwei von ihnen wagten sich ins Getümmel, während sich der Rest einigermaßen verborgen zurückhielt und auf die Bestellungen wartete. Gänzlich unbemerkt blieb das jeweilige Duo, welches sich stets abwechselte, zwar auch nicht, aber es war zumindest erträglicher und mit deutlich weniger Zeitaufwand verbunden. Weniger anstrengend war es, wenn sie für eine Attraktion anstanden, da niemand wagte, aus der Reihe zu tanzen und seinen Platz in der langen Warteschlange zu riskieren. So ließ sich ihr kleiner Gruppenausflug doch noch ganz gut genießen. „Haaa~, das hat Spaß gemacht!“, streckte sich Otoya genüsslich, nachdem die Gruppe die „Fliegenden Tassen“ – eine weite Plattform, auf der einige bunte Tassengestelle als Fahrzeuge dienten, die mit der Zeit immer schneller und wilder über die ganze Fläche im stetigen Wechsel um ihre eigene Achse rotierend drehten – erfolgreich überlebt hatte. Mehr oder minder zumindest, wenn man sich Masato betrachtete, der sich wehleidig den Kopf hielt und in seinem Gang schwankte. „Da habt ihr beiden echt was verpasst, ihr hättet mitfahren sollen! … Huh? Wo sind sie denn?“ Suchend blickte sich der Rotschopf um, doch von dem Mädchen und dem Prinzen, die sie vor dem Fahrgeschäft zurückgelassen hatten, fehlte jede Spur. Cecil hatte abgelehnt, mitzufahren, da er sich die vielen Drehungen nicht zugemutet hatte, und Haruka hatte ihn nicht zurücklassen wollen. Doch nun waren sie weg, alle beide. „Nanamiii! Ceciiil!“ „Wo sind sie? Sie wollten doch hier warten.“ Syo war ratlos. „Vielleicht hatten sie Durst und wollten sich etwas zu trinken holen oder mussten auf Toilette“, überlegte Natsuki neben ihm. Tokiya schüttelte entschieden den Kopf. „Nanami hätte deswegen nicht ihr Wort gebrochen. Sie hätte gewartet, bis wir alle wieder zusammen sind. Das ist ausgeschlossen.“ „Vielleicht ist unser kleines Lämmchen unter dem vielen Geschiebe und Gedränge verloren gegangen und Aijima wollte sie zurückholen“, gab Ren seine Vermutung ab, die schon eher nach dem tollpatschigen Mädchen klang. Wirklich amüsant war diese Vorstellung jedoch nicht; noch weniger, wenn man bedachte, wie schnell so etwas bei einem kleinen und zierlichen Mädchen passieren und wie schwierig es werden konnte, ein solch verlorenes Schäfchen in der großen, lebhaften Menschenmenge wiederzufinden. „Arme Haru-chan“, flüsterte Natsuki besorgt, was ihm einen Faustschlag gegen die Schulter von Syo einbrachte. „Mal nicht gleich den Teufel an die Wand, Idiot!“ Noch einmal versuchte es Otoya mit einem lauten Rufen, auch wenn allen klar war, dass es nichts nützte. „Nanamiii!“   Als hätte sie jemanden nach ihr rufen gehört, drehte Haruka den Kopf, doch hinter ihr war niemand Bekanntes zu sehen. Sie musste es sich wohl eingebildet haben. „Ist das wirklich okay? Vielleicht hätten wir besser auf die anderen warten sollen…“  Zum wiederholten Male suchte sie die vorbeiziehenden Menschen in der Nähe nach einem vertrauten Gesicht ab. Doch nichts, sie waren ihr alle fremd. „Sie werden sich bestimmt Sorgen machen, wenn sie merken, dass wir verschwunden sind“, ergänzte sie verunsichert. Neben ihr strauchelte Cecil, welchen sie an Brust und Rücken stützte, so gut sie konnte. Für einen Sekundenbruchteil setzte ihr Herzschlag aus vor Schreck, da sie dachte, er würde stürzen. Doch der Prinz fing sich ab, was sie erleichtert ausatmen ließ. „Tut mir leid, Haruka“, sprach er leise und schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln. „Ich hätte die letzte Fahrt vielleicht doch bleiben lassen sollen.“ Das Mädchen schüttelte mit dem Kopf. „Das ist schon okay. Immerhin haben wir dich dazu überredet, obwohl du gesagt hast, dass dir ein wenig schwindelig ist. Du bist solche Festveranstaltungen nicht gewöhnt, nicht wahr, Cecil-san?“ „Zugegeben… Als Natsuki etwas von „Fest“ sagte, habe ich mir etwas anderes vorgestellt“, gestand er. Daraufhin versuchte er sich an einem schiefen Grinsen, was jedoch eher wehleidig auf seinem, für seine Verhältnisse gesprochen, blassen Gesicht wirkte. „Zumindest weiß ich jetzt, wieso Syo wollte, dass ich mich noch einmal umziehe. Eine Kurta wäre keine gute Wahl für diese Art von „Fest“ gewesen, richtig?“ Seine Worte brachten sie zum Lachen. Nur kurz, aber von Herzen. „Ja, vermutlich.“ Vorsichtig gingen sie weiter über den holperigen Grund der Wiese, auf der sich neben ihnen noch viele weitere Festbesucher eingefunden hatten, um in den Schatten der hohen Bäume zu verschnaufen. Sie gaben Acht, dass sie niemanden anrempelten oder versehentlich auf Hand oder Fuß traten, während sie Ausschau nach einem freien Plätzchen hielten. Auf dem Veranstaltungsplatz hatten sie kein Glück bei ihrer Suche gehabt; sämtliche Bänke waren besetzt gewesen, ebenso wie sämtliche Stühle der näheren Cafés und Imbissbuden. Um nicht ganz in der unüberschaubaren Menschenmenge unterzugehen, hatte Cecil daher vorgeschlagen, es bei der Wiese direkt hinter den Buden zu versuchen. Dafür hatten sie außer Sichtweite der anderen gehen müssen, doch das war immer noch weniger riskant, sich gänzlich zu verlieren, als wenn sie weiter mit dem Strom gegangen wären. „Da!“, rief Haruka plötzlich aus und deutet auf einen breiten Kirschbaum nur wenige Meter vor ihnen. Zwar hatte sich auch dort schon eine Familie eingefunden, doch es gab noch genug Platz, dass sie sich auf der anderen Seite des breiten Stammes dazusetzen konnten, ohne diese Leute zu stören oder gar zu belästigen. „Lass uns dorthin gehen. Dann kannst du dich setzen und ein wenig ausruhen“, lächelte sie ermutigend zu Cecil hoch. Sie hatten wirklich Glück. Gesagt, getan. Mit wankenden Schritten gingen sie zu besagtem Baum hinüber, dessen weite, blütenlose Blätterkrone genug Schatten auf den Boden warf, und Haruka half dem Jungen, dass er sich setzen konnte. Etwas ungeschickt ließ er sich plumpsen, atmete sogleich tief durch, und auch Haruka kniete sich neben ihn in das einigermaßen kühle Gras. „Ist es so besser?“, wollte sie wissen, woraufhin sie ein bestätigendes „Mhm“ erhielt. Erleichtert lächelte sie, doch schon kehrte ihre Sorge zurück. Ihr schlechtes Gewissen erwies sich als sehr hartnäckig und erneut schweifte ihr Blick über das weite Grün, um nach bekannten Gesichtern Ausschau zu halten. Ein sanftes Kitzeln an ihren nackten Knien, über welche ihr kurzer Rock samt kurzer Leggins darunter nicht reichten, ließ sie aus ihren Gedanken hochschrecken. Es folgte, dass sich ein Gewicht über ihren Schoß ausbreitete, als Cecil seinen Kopf auf ihren Oberschenkeln bettete. Er hatte unbemerkt vom Sitzen in eine liegende Rückenlage gewechselt und nun stachen sanfte, türkisblaue Augen zu ihr hoch. „So ist es noch viel besser“, sprach er leise, und Haruka spürte, wie sich ihre Wangen erhitzten. Die Mittagssonne schenkte ihnen ohnehin schon einen sehr warmen Sommertag, doch hiermit hatte das wirklich nichts zu tun. „Haruka?“ Unmerklich und ohne zu wissen, wieso, zuckte sie zusammen, als er sie ansprach. „Du machst dir Sorgen um die anderen, nicht wahr?“ Sie fühlte sich ertappt. Zaghaft nickte sie. „Mh.“ Und nach einem kurzen Zögern fügte sie noch hinzu: „Ich bin mir sicher, sie machen sich ebenfalls Sorgen und suchen schon nach uns.“ Cecil antwortete nicht, doch ihm war anzusehen, dass er mit ihrer Antwort unzufrieden war. Ihre Gedanken waren nicht hier, bei ihm, sondern bei dem Rest ihrer Gruppe. Das gefiel ihm nicht. „Willst du zurück?“ Seine Frage klang ungewollt brummig. „Dir geht es nicht gut“, erklärte sie leise und bemühte sich um ein Lächeln, „und ich will dich nicht allein lassen. Ich bin mir sicher, wenn wir es den anderen später erklären, werden sie es verstehen.“ Erneut schwieg er. Auch das war nicht die Antwort gewesen, die er sich erhofft hatte. Dennoch widersprach er ihr nicht. Wieso auch? Immerhin hatte er sie gefragt und sie hätte Ja sagen können. Hatte sie aber nicht, und er wäre dumm, würde er diese seltene Gelegenheit nicht nutzen, sie für sich allein zu haben. Die anderen würden zudem ganz genauso handeln, wären sie an seiner Stelle, daran hatte er keinen Zweifel. Wenn es um Selbstlosigkeit ging, war Haruka vielleicht die Einzige, die anders als sie alle zusammen war. „Ich denke nicht, dass sie das werden“, sprach er seinen Gedanken etwas versetzt laut aus. Die Stimme gedämpft, doch in ihr klang eine Gewissheit heraus, welche Harukas Lächeln schwinden ließ. „Wieso sagst du das?“, wollte sie leise wissen. Es klang heraus, dass sie seinen Worten nicht glauben konnte. „Ich verstehe nicht“, überging er ihre Frage einfach und wandte seinen Blick von ihr ab, „wieso du dir immer so viele Gedanken um die anderen machst. Immer nur die anderen, nie denkst du erst an dich. … Weißt du, ich möchte es ja verstehen und ich versuche es wirklich, aber…“ Er verstummte, während er nach den richtigen Worten suchte. Nach nur wenigen Sekunden gab er dieses Unterfangen auf, schloss die Augen und wiederholte nur sein vorheriges „Ich verstehe es einfach nicht“. Daraufhin wurde es still zwischen ihnen. „Das stimmt so nicht“, flüsterte Haruka schließlich, nachdem sie für längere Zeit geschwiegen hatte. Cecil hob aufmerksam seinen Blick, doch sie bemerkte es nicht, da sie ihrerseits zur Seite wegschaute. „Ich bin nicht so selbstlos. Ich habe mich für die Saotome Academy beworben, aus dem einzigen Grund, weil ich Musik liebe. Vor langer Zeit hat mich jemand durch seine Musik gerettet, als ich verloren war. Ich wollte lernen, genau solche Musik machen zu können, um all das an andere weitergeben zu können, was ich selbst einmal erfahren durfte. … Ich lernte Tomo-chan, Ittoki-kun und die anderen kennen. Sie haben mir so viel gegeben und ich habe viel durch sie gelernt. Aber… ich hatte immer das Gefühl, dass ich das niemals an sie zurückgeben könnte.“ Für einen Moment verlor sie sich in ihren Gedanken, bis sie fortfuhr: „Als ich dann für das Abschlusssingen zwischen ihnen wählen sollte, wusste ich nicht, was ich tun sollte. Sie alle sind wundervolle Sänger und jeder ist auf seine Weise besonders. Und mir… hat jeder von ihnen viel bedeutet. Ich… konnte eine solche Wahl nicht treffen. Dann bin ich dir begegnet.“ Bei diesem Satz fand sie den Mut, ihn anzusehen, und ein zaghaftes Lächeln wagte sich auf ihre Lippen zurück. „Erst dank dir habe ich begriffen, dass ich das gar nicht muss. Dass es noch einen anderen Weg gibt, auf mein Herz zu hören. … Ohne dich gäbe es Starish heute nicht. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich nie den Mut gefunden, es wenigstens zu versuchen. Es ist allein dir zu verdanken. Du hast uns allen etwas wirklich Wundervolles geschenkt, Cecil-san, und dafür werde ich dir ewig dankbar sein.“ Nachdem sie geendet hatte, wurde es still zwischen ihnen. Auf Cecils Gesicht hatte sich eine dezente Röte geschlichen, was dem aufrichtigen Lächeln zu schulden war, welches Haruka ihm schenkte. In dem Moment fand er keine Worte, die er ihr erwidern könnte. Wenig später unterbrach sie den intensiven Blickkontakt, sah abermals zur Seite und zog die Schultern nach vorn. Nur leise, beinahe zögerlich, sprach sie: „Dennoch… Es war wohl ziemlich egoistisch von mir, Ittoki-kun und die anderen zu bitten, dass sie sich zu einer Gruppe zusammenschließen und statt allein, gemeinsam singen. Ich denke oft, dass das nicht fair von mir ihnen gegenüber war…“ Für einen weiteren, kurzen Moment schwieg er. Bis er schließlich nickte und ihr mit sanfter Stimme bestätigte: „Ja, das war bestimmt sehr egoistisch von dir.“ Sie wandte sich zu ihm, doch statt dass sie von seinen Worten verletzt war, strahlte sie über das ganze Gesicht. „Und doch… bin ich sehr glücklich darüber“, flüsterte sie genauso leise und sanft zurück, als sei es ein Geheimnis, welches nur sie beide untereinander teilten. Ihr munteres Lächeln übertrug sich auf ihn. Schweigend hob er seinen Arm und kurz darauf ruhte seine Hand warm auf ihrer Wange. Sie fühlte sich weich unter seinen Fingern an. Die schüchterne Röte, welche nun ihre Wangen zierte, brachte seine Augen regelrecht zum Leuchten. „Und ich bin sehr glücklich, wenn du glücklich bist, my Princess.“ Doch schon im nächsten Moment ermattete sein Lächeln schwindend. Machte erst einem Anflug von Traurigkeit Platz, bis es ernst wurde. „Jedoch“, begann er vorsichtig, die Stimme von Besorgnis getränkt. „Ich wünschte, ich könnte dir versprechen, dass es ewig so sein wird. … Aber ich fürchte, das kann ich nicht.“ Fragend legte sie den Kopf schief. Sie verstand nicht. – Natürlich nicht. Noch einmal ließ er seine Finger sanft über ihre Wange fahren, dann ließ er von ihr ab. Er senkte seinen Arm, schloss dann die Augen, um ihrem Blick auszuweichen. „Starish“, sprach er ruhig und beantwortete damit ihre stumme Frage. „Die anderen, ebenso wie du und ich.“ Eine kurze Pause folgte, bis er an ihrem anhaltenden Schweigen anknüpfte: „Hast du es noch nicht bemerkt, Haruka?“ „Was meinst du?“, fragte sie erneut, leiser und irgendwie vorsichtig. „Was habe ich noch nicht bemerkt? Sag es mir bitte, Cecil-san.“ Nur leicht öffnete er die Augen, ohne sie anzusehen. Obwohl er noch immer auf ihrem Schoß lag und ihr so nah war, war es, als wäre er ihr nie ferner gewesen. „Sie haben es anscheinend auch noch nicht bemerkt“, murmelte er vor sich hin und schien mehr mit sich selbst als mit Haruka zu sprechen. „Wer? Ichinose-san und die anderen? Wovon sprichst du?“ „Oder…“, fuhr er gedankenverloren fort. Er schien sie gar nicht zu hören. „… vielleicht haben sie es, aber es ist wie Tokiya sagte und sie sind sich dessen nur nicht bewusst.“ „Cecil-san?“ „Aber Shining Saotome hat es bemerkt…“ „Cecil-san!“ Erst als sie seinen Namen rief, blickte er zu ihr hoch. Ihm wurde just bewusst, dass er in seinen Gedanken abgedriftet war und sie mit seinen Worten zunehmend verwirrt hatte. Das hatte er nicht gewollt, und es tat ihm augenblicklich leid. Doch es war zu spät. Gesagtes war gesagt und er konnte jetzt keinen Rückzieher mehr machen. Sie flehte um Antworten, und die war er ihr schuldig, wenn er es nicht noch schlimmer machen wollte. Schon öffnete er den Mund, um etwas zu sagen, doch er wurde noch in seinem Atemzug unterbrochen, als Harukas Handy klingelte. „Entschuldige bitte“, gab sie gezwungen von sich, begann in ihrem kleinen, weißen Umhängetäschchen zu kramen und holte das Mobiltelefon hervor, bevor es aufhören konnte zu klingeln. Nur kurz prüfte sie das Display, ehe sie eilig abnahm. „Ja? … Ittoki-kun!“ Ja, natürlich! Wieso war sie nicht früher darauf gekommen, die anderen einfach anzurufen und ihnen so Bescheid zu geben, wo sie waren? Die Aufregung der Jungs am anderen Ende der Leitung war durchaus berechtigt. Selbst Cecil konnte Otoya und Syo deutlich heraushören, wie sie sich durch das Telefon überschlugen. „Ja… Nein, mir geht es gut. … Tut mir leid… Ja, Cecil-san ist bei mir. Ihm ging es nicht- … Auf der Wiese hinter den Buden gegenüber den Tassen, wo wir zuletzt waren. Es war nichts- … Ja… Tut mir leid, wirklich! … Ja, okay. Wir bleiben hier und warten. … Tut mir- … Ja… Ja, okay. Versprochen.“ – Klick. Sie seufzte einmal schwer und ließ die Schultern nach vorn fallen. Dann steckte sie das Handy behutsam in ihr Täschchen zurück, bevor sie sich wieder an Cecil wandte. „Tut mir leid, das waren die anderen. Sie kommen uns gleich abholen. … Ähm, du wolltest…?“ Besorgt verzog er die Augenbrauen. Kurz zögerte er, dann besann er sich aber darauf, dass er sie erlösen wollte. „Shining Saotome hat es eigentlich bereits gesagt. Und Ringo auch“, versuchte er es ein letztes Mal in der Hoffnung, dass sie noch von selbst darauf kommen würde, was er ihr zu erklären versuchte. Doch ihr zaghaftes Kopfschütteln symbolisierte ihm, dass sie ihm weiterhin nicht folgen konnte. Er seufzte einmal schwer, gab sich dann aber einen Ruck. „Der Direktor hat dein letztes Musikstück abgelehnt, nicht wahr?“ Sie nickte. Ein erstes Anzeichen, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Cecil senkte das Kinn, wodurch er sich von ihrem Blick löste. „Es war nicht die Melodie... Was Saotome kritisiert hat, war nicht das Lied gewesen.“ In einer kurzen Pause schien er seine nächsten Worte genau abzuwägen. Er atmete tief durch. „Das Lied ist gut, sehr gut sogar! … Aber das ist es auch nicht, was er gemeint hat.“ Haruka spürte, wie ihr das Herz schwer wurde. Die Erinnerungen an den gestrigen Tag kehrten zurück, setzten sich in ihrem Kopf fest, und sie konnte die Worte des Direktors wieder ganz genau hören, was er zu ihr gesagt hatte. „Halbherzig“, wisperte sie zittrig, und alles war wieder da:  Die Zweifel, die Ängste, ihre Selbstvorwürfe… und all die vielen Fragen. „Er sagte, es sei halbherzig.“ Cecil öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber wieder. Offenbar wusste er nicht, wie er sagen sollte, was ihm gerade durch den Kopf ging. Nach einem kurzen Hapern entschied er sich schließlich zu einem anderen Weg, schloss die Augen und atmete tief ein. Leise begann er jene Melodie zu summen, welche Haruka für sie komponiert hatte. Er kannte sie ebenso gut wie all die anderen Melodien, zu denen Starish schon gesungen hatte. Unzählige Male hatte er sie schon vor sich hin gesummt, wenn er allein gewesen war, und immer hatte es dieses gewisse Gefühl in ihm hervorgerufen, nach welchem er nun bewusst in seinem Inneren suchte. „Mhmmm mhh mhh, mhhh…“ Die Melodie war sanft, anfangs eher ruhig, wurde für die Strophen etwas heiterer und der Refrain hatte etwas Verspieltes. Cecils eher weiche Stimmlage war wie geschaffen dafür, sie vorzusummen, obgleich es ein Lied für sie alle war. Haruka schwieg und lauschte. Natürlich hätte sie genauso gut mit einstimmen können, schließlich kannte sie ihre Melodien. Doch sie konnte nicht. Es war beruhigend, entspannend, Cecil zuzuhören. Zugleich aber löste es Unbehagen in ihr aus, denn so gut die Melodie für sie auch klingen mochte, die Gewissheit blieb, dass der Direktor anderer Meinung gewesen war. Und es schmerzte. Dann, mitten in der zweiten Strophe, stoppte er plötzlich und verstummte. Beinahe konnte sie ihren Herzschlag hören, wie es heftig gegen ihre Brust hämmerte. Es war unerträglich, doch sie wartete, bis er etwas zu ihr sagen würde. „Es ist…“, setzte er an, überdachte die folgenden Worte einen Moment, bevor er seinen Erklärungsversuch wagte, „… ein Gefühl. Es ist schwer, zu beschreiben. … Das Lied an sich ist schön, sehr warm. Doch zugleich… stimmt es nicht. Es ist nicht richtig.“ ‚Nicht richtig?‘, wiederholt sie seine Worte in Gedanken. Ihre Stimme versagte ihr den Dienst, und sie konnte nur hoffen, dass er weitersprechen würde. Zum Glück tat er es. „Es ist anders als sonst. Wie soll ich sagen? Mh… Es… ‚stolpert‘. Das Herz in dem Lied ‚stolpert‘.“ Mit diesen Worten ging ein Ruck durch Harukas Körper. Sie war sich nicht sicher, ob sie seine Worte richtig verstanden hatte, aber sie lösten etwas in ihr aus. Irgendetwas, das sie nicht zu benennen wusste, doch es sorgte dafür, dass ihr Herz einen Schlag lang aussetzte. Geradeso, als wäre es bei etwas ertappt worden, von dem sie selbst nicht wusste, was es war. „Haruka.“ Schon wieder zuckte sie zusammen. Sie wagte kaum, ihn anzusehen. Doch das tiefe Blau seiner Augen bannte sie. „Es ist dein Herz. In jedem deiner Lieder steckt ein Stück deines Herzens. Deswegen ist deine Musik immer aufrichtig, berührt die Menschen und verbindet sie miteinander. Das Herz in deiner Musik lügt nicht. … Auch in diesem Lied lügt es nicht.“ Nach seinen Ausführungen verstummte er und richtete sich auf. Es war ein seltsames Gefühl, als sein Gewicht von ihren Schenkeln wich, doch sie sagte nichts. Cecil fand sich in einen halbaufgerichteten Schneidersitz, lehnte sich etwas vor und haftete seinen Blick auf das grüne Gras vor ihm. „Dein Herz ist verwirrt“, schloss er seine kleine Predigt, als sei das die Lösung auf all ihre Fragen. Für ihn war es das zumindest, allem Anschein nach. „Ich… verstehe nicht.“ Er schwieg. Erst sein schweres Seufzen, gefühlte Minuten später, brach diese Stille wieder. „Er muss es sich vorgestellt haben.“ „Wer?“ „Saotome.“ Kurz schien er zu überlegen. „Ich bin mir sicher, er hat es sich vorgestellt. Wie Starish zu dem Lied singt…“, doch er brach diese Überlegung ab, ließ sie offen im Raum stehen und driftete in seinen Gedanken ab. „Wie… wäre es denn, wenn Starish dazu singt?“, hakte sie vorsichtig nach. Sie war sich eigentlich nicht sicher, ob sie es wirklich wissen wollte,  doch irgendetwas sagte ihr, dass es wichtig für sie war. Sehr wichtig sogar, auch auf die Gefahr hin, dass sie es wieder nicht verstehen würde. „Es wäre nicht gut“, sprach er, ohne wirklich darüber nachzudenken, als würde er mit sich selbst sprechen. „Es würde gut klingen, ohne Zweifel. Aber… da wäre keine Harmonie. Harukas Herz und das der anderen, sie könnten sich nicht verbinden. Das ist… unmöglich. Auch die Herzen der anderen-“ Mitten in seinem Satz brach er ab, wobei er gleichzeitig aufschreckte, als habe er sich bereits verplappert. An dieser Stelle war eine Grenze erreicht, von der er intuitiv wusste, dass er sie nicht überschreiten durfte. Dazu hatte er kein Recht. Vorsichtig, vielmehr prüfend, schielte er zu Haruka hinüber, doch ihren fragenden Augen nach zu urteilen, ahnte sie nichts von der Bedeutung seiner letzten Worte. – Glück gehabt. „N-nicht so wichtig. Was rede ich denn da, haha! Mach dir keine Sorgen“, plauderte er etwas zu schnell darauf los, wedelte aufgeregt mit beiden Händen in der Luft herum, als wollte er das Thema vertreiben wie eine lästige Fliege. Dabei versuchte er sich an einem unbekümmerten Lachen. – Er war so ein schlechter Lügner, und das wusste er selbst. Schweigend senkte sie ihren Blick zu Boden. Ihr war anzusehen, dass sie einen inneren Konflikt mit sich austrug. Die Verwirrung nahm überhand, ließ nur weitere Zweifel aufkommen, und sie suchte sichtlich nach Antworten. „Haruka“, hörte sie Cecil leise ihren Namen flüstern, bevor sie seine Hand erneut auf ihrer Wange spürte. Warm, und irgendwie tröstend. Sie blickte auf. Cecil saß noch immer neben ihr, den Oberkörper ihr zugewandt und etwas vorgebeugt, sodass er unter Augenhöhe und somit imstande war, ihren Blick unausweichlich aufzufangen. Er selbst wirkte unsicher, als er sprach: „Es tut mir leid, Haruka. Ich wollte dich nicht traurig machen.“ Minimal schüttelte sie den Kopf, es war kaum zu sehen. „Nein“, flüsterte sie zurück, „das hast du nicht. Ich bin nicht… traurig.“ „Haruka…“ Für einen Moment schwieg er. Dann rückte er dichter an sie heran, bis sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. Ihr Atem schlug warm auf seine Lippen. „Hör mir bitte zu: Ich verspreche dir, was auch passieren mag, ich bin da. Ob du glücklich bist oder traurig, ich bin immer an deiner Seite.“ Seine Worte begleitete ein sanftes Lächeln. Zärtlich streichelte er ihre Wange, und leise flüsterte er seine kleine Zauberformel: „Ich liebe dich, Haruka, my Princess.“ Sie wurde sich der Intimität erst bewusst, als ihr das Herz aus der Brust zu springen drohte. Ihre Wangen fühlten sich heiß an, seine Finger brennend, als er ihr noch näher kam. Nur wenige Millimeter trennten ihre Lippen noch von den seinen. Er… er würde doch nicht? In dem Moment flog dem Prinzen etwas entgegen. Ein weißes, kleines Päckchen landete gezielt in seinem Gesicht, woraufhin er zurückwich und um ein Haar aufgesprungen wäre. Jemand hatte es auf ihn abgesehen! – Mit einer Eistüte. „Hey!“, hörten sie auch schon jemanden brüllen und Haruka erkannte die poltrige Stimme sofort. „Was glaubst du, was du da tust?! Lass deine Griffel von ihr! Wie oft muss man dir das noch sagen?!“ „Syo-kun?“ „Nanami!“ Otoya eilte auf sie zu. Sorge und Erleichterung zusammen blickten ihr aus seinen rubinroten Augen entgegen, als er die Hand nach ihr ausstreckte, um ihr aufzuhelfen. „Geht es dir gut? Wir haben uns so große Sorgen um dich gemacht!“ „J-ja, mir geht es gut“, stammelte sie schuldbewusst und ließ sich aufhelfen. „Wieso habt ihr niemandem Bescheid gegeben? Wir hätten euch in der Menge verlieren können“, machte ihr Tokiya zum Vorwurf, berechtigt. Unter dem Ernst seiner Stimme war Besorgnis herauszuhören, was bei ihm eher selten vorkam. „Tut mir leid… Cecil-san hat sich nicht gefühlt und wir haben nichts gefunden, wo er sich kurz hätte setzen und ausruhen können.“ „Raffiniert.“ Ren schmunzelte zwischen Syo und Natsuki. Ihn schien die Situation als Einzigen zu amüsieren. „Ein Leiden vorzutäuschen, um sich von der Gruppe lossagen zu können und mit dem Lämmchen allein zu sein. Nicht gerade die feine Art, aber-“ „Nein“, sah sich Haruka sofort in der Pflicht, den Prinzen zu verteidigen. „Er hat es nicht nur vorgetäuscht, Jinguji-san. Ihm ging es wirklich sehr schlecht!“ „Haru-chan“, klang auch der sonst eher fröhliche Natsuki besorgt, „wir hätten euch verlieren können.“ „Tut mir leid…“ Masato war der Einzige, der nichts sagte. Er trat lediglich auf Otoya und Haruka zu und nahm die Komponistin entgegen, um sie bei der Gruppe „in Sicherheit“ zu bringen. Sein Blick war vorwurfsvoll, als er zu Cecil zurücksah, welcher gerade das weiße Tütchen mit den rot-blauen Streifen inspizierte, dem er einen roten Abdruck auf der Wange zu verdanken hatte wie bei einer indirekten Ohrfeige. Der Übeltäter, dem dies zu schulden war, verschränkte gerade die Arme vor der Brust. „Ich habe doch gesagt, diesen Kerl mitzunehmen, ist keine gute Idee. Das wird ein Nachspiel haben, Cecil!“ „Syo-chan“, schnappte Natsuki nach Luft und ging um Ren herum, um seinem Freund die Hände auf die Schultern zu legen, „bitte beruhige dich, okay? Es ist ja nichts passiert. Wir haben sie gefunden und das wird bestimmt nicht mehr vorkommen. Nicht wahr, Cecil-kun?“ Erst jetzt blickte Angesprochener zu der Gruppe auf. Sieben Augenpaare lagen auf ihm und musterten ihn, teils fragend, aber überwiegend anklagend. Er zog einen Schmollmund, wandte seinen Blick von ihnen ab und machte sich stattdessen daran, das Tütchen zu öffnen. „Ich habe Haruka nichts getan“, murmelte er lediglich zu seiner Verteidigung, kaum hörbar. „Also behandelt mich nicht wie einen Schwerverbrecher…“   Sehr viel später waren sie wieder im Wohnheim angekommen. Der frühe Abend war bereits über sie hereingebrochen, als sie die Türen hinter sich geschlossen hatten. In einer nahezu peinlichen Stille hatte sich die Gruppe anschließend aufgeteilt, einige verzogen sich auf ihr Zimmer, ein paar andere verteilten sich anderweitig im Haus. Die Situation war unangenehm angespannt. Schwer seufzend ließ sich Haruka auf ihrer Bettkante sinken. Die letzten Stunden waren unsagbar anstrengend gewesen und sie hatte sich mies gegenüber den Jungs gefühlt, sehr mies. Obgleich sie ihr versichert hatten, dass alles wieder okay sei, doch es machte nicht den Anschein, ganz im Gegenteil. Den Rest des Nachmittages hatten die anderen Cecil überwiegend gemieden. Sogar Otoya und Natsuki hatten sich anfangs noch distanziert zu ihm verhalten, obwohl sie sonst stets friedfertig und auf Harmonie bedacht mit dem Rest waren. Es schien selbst dem Rotschopf Überwindung gekostet zu haben, das Schweigen mit dem Prinzen irgendwann zu brechen und ihn wieder mehr mit einzubeziehen. Cecil selbst hatte das ganz locker genommen, augenscheinlich zumindest.  Ohne zu murren oder sich zu beschweren, hatte er den Unmut der anderen ihm gegenüber akzeptiert, doch Haruka hatte ihm ansehen können, dass es ihn durchaus belastet hatte. Und nun? Nun waren sie wieder in diesem alten Trott der letzten Wochen, in denen jeder irgendwie gereizt und angespannt gewesen war. Dabei hatte Haruka gehofft, mit diesem gemeinsamen Ausflug würde sich das lockern und sie könnten in ihrem Urlaub wieder schönere Zeiten miteinander teilen. Sollte sie sich irren? Um sich von diesen Gedanken abzulenken, erhob sie sich schwerfällig und trottete hinüber zu ihrem Schreibtisch. Stumm starrte sie auf das leere Notenblatt, welches dort auf sie wartete. Als würde es ihr zuflüstern, klangen Cecils Worte in ihren Ohren wider: „Es ‚stolpert‘. Dein Herz ist verwirrt.“ – Ihr Herz… Erschrocken fuhr sie zusammen, als der Pianoklingelton ihres Handys durch die Stille brach. Es brauchte zwei Atemzüge, ehe sie zu ihrem Bett zurückeilte und in ihrer Handtasche nach dem Minitelefon kramte. Als sie es endlich erwischt hatte, prüfte sie das Display nach dem unerwarteten Anrufer. Tomo-chan. * „Hirapa“ ist die Kurzform von „Hirakata Park“, einem beliebten, verhältnismäßig kleinen Vergnügungspark in Japan/Hirakata. Zur Veranschaulichung der Parkgröße, siehe hier (http://www.hirakatapark.co.jp/guidemap/). Kapitel 4: Hast du nie darüber nachgedacht? ------------------------------------------- Warmer Sonnenschein zur Mittagszeit, fröhlich plaudernde Menschen um einen herum und ein schattiges Plätzchen unter einem bunten Sonnenschirm – was gab es Schöneres an einem Sommertag, wenn man nicht gerade das Meer vor sich oder zumindest einen Pool im Garten hatte? Dazu eine Tasse Latte Macchiato mit extra viel Schaum und zwei Tütchen Zucker, in freudiger Erwartung eines gemischten Früchteeisbechers, der jeden Moment serviert werden würde. „Haruka? Haruka!“ „Eh?“ Für einen Moment hatte sie das Gefühl, ihr würde der Henkel der roten Keramiktasse durch die Finger gleiten. Zum Glück hatte sie richtig eingehakt, so konnte sie ein Unglück vermeiden und entkam der Peinlichkeit, die heiße Flüssigkeit über ihrem weißen Kleid mit dem hellen Blumenmuster zu verschütten. Schnell versuchte sie sich an einem abmildernden Lächeln. „Entschuldige bitte, Tomo-chan, ich war wohl kurz in Gedanken.“ „Moah.“ Die rothaarige Freundin mit der getönten Sonnenbrille auf der Nase seufzte beleidigt. Indem sie die Arme vor dem blauen Top unter der schwarzen Weste verschränkte und ungläubig mit dem Kopf schüttelte, wodurch die zurückgebundenen Ziehlocken kurz wippten, lehnte sie sich in dem Flechtstuhl des Cafés zurück. „Also wirklich“, begann sie ihre Mahnrede, „da sehen wir uns schon nur noch so selten, und dann habe ich trotzdem nichts von dir. Etwas mehr Konzentration, wenn ich bitten darf!“ Haruka hob schuldbewusst die Schultern. „Tut mir leid…“ „Ah, gib mir nicht dieses ‚tut mir leid‘! Du weißt genau, dass ich dann schwach werde.“ Erneut seufzte Tomochika, bevor sie nach ihrer Sonnenbrille griff und sie sich ins Haar zurückschob. „Naja“, zuckte sie mit den Schultern, „was soll’s. Ich sollte es eigentlich mittlerweile gewohnt sein, dass du manchmal mit den Gedanken abdriftest und vor dich hin träumst. Und nach unserem Telefonat gestern kann ich es dir nicht einmal verübeln, denke ich.“ „Mh…“ Nachdenklich führte sich Haruka ihr Getränk an die Lippen und nahm einen zaghaften Schluck. Ja, gestern Abend hatte Tomochika sie noch unerwartet angerufen und schon anhand ihrer Begrüßung bemerkt, dass die Freundin etwas bedrückte. Natürlich hatte sie gleich wissen wollen, was los war, doch auch Haruka hatte heraushören können, dass Tomochika kaum fit genug gewesen war, um wirklich lange Seelsorgegespräche zu führen. So hatte sie ihr nur das Nötigste erzählt, an den Details gespart und es schließlich damit abgetan, dass es eigentlich gar nicht so schlimm sei und sie sich keine Sorgen zu machen brauche.  Doch das hatte der Sängerin gereicht, sie hatte den Redebedarf der Freundin wahrgenommen und so hatten sie sich schließlich für den Folgetag verabredet, um bei Kaffee und Kuchen – oder eben Eis – ausführlicher miteinander zu reden. Und hier waren sie nun, warteten auf ihre Bestellung, und obwohl sich Haruka sehr auf das Wiedersehen mit ihrer besten Freundin gefreut hatte, fühlte sie sich unwohl. Nicht nur, dass ihr der Grund ihres Treffens unangenehm war, Tomochika hatte sich allem Anschein nach auch extra wegen ihr freigenommen und sie dankte es ihr, indem sie nicht richtig bei der Sache war und sich ständig in Gedanken verlor. So hatte sie das nicht beabsichtigt. „Also“, leitete Tomochika ihr Gespräch ein und Haruka ahnte, was kommen würde, „dann erzähl doch nochmal von Anfang an. Gestern bist du ja nicht so wirklich aus dir herausgekommen. Ihr wart also alle zusammen auf dem Sommerfestival?“ „Mhm.“ Sie nickte verhalten. „Ja, und? Wie war’s?“ „Es war toll.“ Um nicht ganz unhöflich zu sein, stellte Haruka ihr Getränk zurück auf die Untertasse. Sie blickte anschließend zu der Rothaarigen herüber und bemühte sich um ein Lächeln. „Es war sehr groß und viele Besucher waren dort. Wir haben uns vieles gemeinsam angesehen und sind mit einigen der Attraktionen mitgefahren. Es war eigentlich sehr ausgelassen, alle waren froh und guter Dinge, obwohl es zugleich etwas stressig war wegen der Fans, die die Jungs erkannt haben. Aber alle hatten Spaß und es war fast wieder wie früher“, erzählte sie. „Mhm“, machte Tomochika und hob eine ihrer feingeschwungenen Augenbrauen. Dann lächelte sie. „Na das ist doch toll. Und das habt ihr euch auch redlich verdient nach all der harten Arbeit in der letzten Zeit. Es ist zwar etwas schade, dass ich nicht dabei war, aber ich freue mich wirklich von Herzen für euch.“ „Ich wusste nicht, ob du arbeiten musst“, erklärte Haruka leise, entschuldigend, „sonst hätte ich dich gefragt, ob du nicht mitkommen möchtest. Wir haben ewig nichts mehr zusammen unternommen.“ „Ist schon okay“, winkte sie ab, bevor sie betont die Arme über ihrem Kopf streckte. „Ich hätte ohnehin nicht gekonnt. Wir sind gestern erst von einer Convention wiedergekommen, bei der ich auftreten durfte. Nichts Großes, nur als Stimmungsmacher, aber es war dennoch lustig. Als ich dich angerufen hatte, war ich gerade erst aus der Dusche raus und wollte anschließend nur noch tot ins Bett fallen.“ „Es scheint nicht einfach zu sein als Solistin. Du arbeitest wirklich hart, Tomo-chan.“ „Ihr doch auch“, entgegnete diese und zwinkerte der Komponistin zu. „Und ich will euch in nichts nachstehen. Immerhin haben wir einmal dieselbe Künstlerschule und Klasse besucht. Es geht gar nicht klar, dass ihr mir jetzt vorauseilt. Das kann ich unmöglich zulassen!“ Ein leises Kichern stahl sich aus Haruka heraus, wurde zu einem Lachen, in das die Freundin mit einstimmte. In dem Moment war alles wieder ganz genauso wie früher, als sie noch zusammen die Saotome Academy besucht und ein Zimmer gemeinsam bezogen hatten, und all der Kummer, mit dem die Komponistin zu diesem Treffen gegangen war, war vergessen. Die ersten Gäste schauten schon zu ihnen herüber, und als Tomochika dies bemerkte, gab sie der Jüngeren einen Wink, dass sie sich wieder beruhigen sollten. So schwer es ihnen auch fiel, aber sie wollten schließlich nicht dem Café verwiesen werden, bevor sie überhaupt ihr Eis bekommen hatten. „Es ist schön, dich wieder einmal lachen zu sehen“, lächelte Tomochika zu Haruka herüber und streckte ihren Arm über die runde Tischplatte nach der Freundin aus, um ihr die Hand auf die ihre zu legen. Schnell wischte sich Haruka noch die Lachtränen aus den Augenwinkeln, ehe sie das Lächeln erwiderte. „Mhm, es tut auch gut, wieder mit dir lachen zu können. Ich habe das sehr vermisst.“ „Ja, ich auch“, bestätigte Tomochika und drückte einmal die Hand der Freundin, um damit zu unterstreichen, dass sie es ehrlich meinte. Dann zog sie sich zurück, verschränkte die Arme auf der Tischplatte und beugte sich nach vorn. „Also, dann wieder zurück zum Thema. Ihr wart also auf diesem Fest und es war toll. Schön, schön. Aber gestern hast du nicht so geklungen, als wäre es der schönste Tag deines Leben gewesen?“ Betreten wandte Haruka ihren Blick ab. Erst nach einigen Sekunden des Schweigens nickte sie zaghaft. „Ist etwas vorgefallen?“, blieb ihre Freundin beharrlich. „Nun erzähl schon, dafür bin ich doch hier.“ „Ich… weiß es nicht genau“, begann sie daraufhin zögerlich. Kurz pausierte sie, um den letzten Tag in ihren Gedanken Revue passieren zu lassen, ehe sie sich ermutigte, fortzufahren: „Es war wirklich toll gewesen. Alle waren so fröhlich und hatten so gute Laune gehabt. Aber… ich glaube, ich habe dann einen Fehler gemacht, der das alles kippen ließ.“ „Einen Fehler?“ In dem Moment trat eine Kellnerin an ihren Tisch heran und brachte ihre Bestellungen. Tomochika musste sich zurücklehnen, damit die junge Frau den großen Kiwieisbecher in dem schlanken Glas mit breitem Mund und Bauch vor ihr abstellen konnte. Flüchtig hob sie ihre Hand in einer dankenden Geste, griff auch schon nach dem langen Löffel und beobachtete, wie auch Haruka ihren bestellten Mischobstbecher in einem eher kleineren, dafür breiteren Glas serviert bekam. Sie nahm das Gespräch wieder auf. „Was kann schon so schlimm sein? Ich glaube, es gibt nicht viel, was dir die Jungs nicht früher oder später verzeihen würden.“ „Es ging dabei auch weniger um mich“, erklärte sie, bedankte sich höflich bei der Kellnerin, welche sich daraufhin knapp verbeugte und sich auch schon abwandte, um die nächsten Gäste zu bedienen. Haruka tat es der Freundin gleich, nahm den bereitliegenden Löffel zur Hand und bemühte sich, eine dünne Apfelscheibe darauf zu balancieren. „Es ist wegen Cecil-san. Ihm wurden die Fahrten irgendwann zu viel und es ging ihm nicht gut, also bin ich bei ihm geblieben, damit ihm nichts zustößt. Er bat dann, sich setzen zu dürfen, weil ihm schwindlig war, aber wir haben nichts in der Nähe gefunden. Also haben wir uns von der Gruppe getrennt, damit er sich in den Schatten setzen konnte.“ „Ich verstehe nicht“, entgegnete Tomochika und schob sich ein Kiwistück in den Mund. „Ich meine“, sprach sie unbeachtet dessen weiter, „was ist Schlimmes daran? Du warst eben um ihn besorgt, das ist doch ganz normal.“ „Schon“, bestätigte Haruka leise. „Aber wir haben keinem Bescheid gesagt. Wir sind einfach gegangen, während die anderen noch in einer Fahrt waren.“ „Ah, jetzt verstehe ich.“ Ein Löffel Eis mit Sahnehaube fand den Weg zwischen ihre rotgeschminkten Lippen. „Und als die anderen dann damit fertig waren, wart ihr verschwunden und sie haben sich Sorgen gemacht.“ Ein stummes Nicken von der Komponistin folgte, was Tomochika mit einem gemurmelten „Das ist natürlich blöd“ kommentierte. „Ich bin in dem Moment auch gar nicht auf die Idee gekommen, einen von ihnen anzurufen oder zumindest eine SMS zu schicken“, erklärte Haruka weiterhin, hörbar ihrer Schuld bewusst. „Als sie uns dann später fanden, waren sie natürlich sauer. Ich kann ihnen das auch nicht verübeln, aber… es war, als würden sie Cecil-san die Schuld daran geben, obwohl er doch gar nichts dafür konnte. Ich habe auch versucht, es ihnen so zu sagen, aber ich hatte das Gefühl, sie würden mir gar nicht zuhören.“ Daraufhin verstummte sie und es wurde bedrückend still zwischen den beiden Freundinnen, nur hin und wieder klirrte es leise, wenn eine ihren Löffel versehentlich gegen das Glas kommen ließ. Tomochika wusste anscheinend keinen angemessenen Kommentar darauf oder sie hielt ihn bewusst zurück, doch ihr leises „Hm“ ermunterte Haruka dennoch, weiterzusprechen. „Sie waren den Rest des Tages so angespannt und distanziert zu Cecil-san gewesen… Das ist es eigentlich, was mich so traurig macht. Es fing so gut an, wir hatten nach so langer Zeit endlich wieder einen schönen Tag zusammen gehabt, und dann überlege ich einmal nicht richtig und mache alles kaputt. Es war wieder wie in den Wochen zuvor gewesen, dabei hatte ich gehofft, wir könnten den Urlaub dafür nutzen, uns alle wieder ein wenig anzunähern. Aber… ich habe das Gefühl, es ist nicht mehr wie damals. Irgendwie.“ Aufmerksam hob Tomochika ihren Blick und musterte die Freundin, die in dem Moment einen Eindruck wie sieben Tage Regenwetter machte. Haruka stocherte lustlos zwischen den Obststückchen herum, war anscheinend in Erinnerungen an bessere Zeiten versunken und ihre Augen wirkten so traurig wie lange nicht mehr. Es tat ihr leid, die junge Komponistin so zu sehen, aber was konnte sie ihr sagen, um sie aufzumuntern? Wortlos schob sie sich ein weiteres Kiwistückchen in den Mund und kaute darauf herum, während sie überlegte. Schließlich legte sie ihren Löffel entschieden beiseite. „Du hast recht“, sprach sie ruhig und fing den fragenden Blick der Freundin auf, als jene zu ihr aufsah. „Es ist nicht mehr wie damals. Viele Dinge haben sich verändert und ich denke, das ist auch normal so. Ich meine, vergleiche doch nur, wo wir vor einem Jahr standen und wo wir heute stehen. Was wir seitdem erreicht und erlebt haben. Damals war natürlich alles anders und auch ohne Frage einfacher, aber ist es nicht genau das, was uns irgendwo ausmacht? Wo stünden wir denn, wenn wir uns nicht weiterentwickeln und dadurch stetig verändern würden?“ Es war mehr eine rhetorische Frage, dennoch öffnete Haruka die Lippen, um etwas zu sagen. Als sie einsah, dass sie keine richtige Antwort darauf wusste, schloss sie diese wieder und senkte ebenfalls den Löffel neben ihren Becher. Eigentlich war es nicht Tomochikas Absicht gewesen, den Kummer ihrer besten Freundin noch schlimmer zu machen, aber anscheinend hatte sie genau das mit ihren Worten getan. Schnell schüttelte sie den Kopf. „Ich meine nur, dass es normal ist, dass sich Menschen verändern. Ich denke nicht, dass es eure Freundschaft betrifft, aber die Jungs… Überleg doch mal, wie lange seid ihr jetzt schon so zusammen? Und wie viel hat sich seitdem verändert? Weißt du, vielleicht ist es auch einfach so, dass ihr alle einen Schritt weitergegangen seid, ohne es bemerkt zu haben, und glaubt, noch immer am selben Fleck wie damals zu stehen. Und nun klammert ihr euch am Damals fest, weil ihr nicht wollt, dass sich etwas verändern könnte. Dabei…“, ein sanftes Lächeln legte sich über ihre Lippen, „… ist es doch gar nichts Schlimmes, wenn man sich weiterentwickelt und einfach mit dem Leben mitgeht.“ Daraufhin sagte Haruka nichts, sie sah ihre Freundin nur schweigend an. Tomochika nahm derweil einen Schluck von ihrem Milchkaffee, griff anschließend wieder zu ihrem Löffel und schaufelte sich eine weitere Portion Eis mit Kiwi in den Mund. Ihr schien daraufhin etwas einzufallen, denn sie wackelte ungeduldig mit dem Besteck in der Luft herum, bis sie geschluckt hatte. „Jedenfalls, was die Jungs anbelangt“, begann sie und spielte ein amüsiertes Grinsen auf. „Wenn du mich fragst, ist da Eifersucht mit im Spiel.“ „Eifersucht?“, wiederholte Haruka ihre Vermutung und blinzelte ungläubig. Die Rothaarige nickte. „Das ist das Naheliegendste, wenn sie beleidigt waren, dass du dich mit Cecil abgekapselt hast und mit ihm allein warst. Ich meine, wäre es nur Sorge gewesen, hätte doch alles wieder okay sein müssen, nachdem ihr euch wiedergefunden hattet? Aber wenn du sagst, sie waren trotzdem noch sauer und haben sich abweisend ihm gegenüber verhalten… Das spricht für mich eine ganz eindeutige Sprache.“ „Aber…“ Eine Pause entstand, als sie den Kopf schüttelte. „Das verstehe ich nicht. Ich bin doch öfter mit einem von ihnen allein, und bisher hat nie jemand den Eindruck gemacht, als würde es ihn stören oder so. Wir sind doch eine Gruppe und ich bevorzuge auch niemanden von ihnen. Wieso sollten sie jetzt auf einmal eifersüchtig aufeinander reagieren?“ „Wie ich schon sagte“, erinnerte Tomochika und hob mahnend den Löffel anstelle ihres Fingers in die Luft, „vielleicht sind die Jungs mittlerweile einen Schritt weitergegangen? Bewusst oder unbewusst, das kann ich nicht sagen, aber weißt du mit Gewissheit, dass sie das genauso sehen wie du?“ „Wie meinst du das, Tomo-chan?“ „Naja, ich meine…“ Kurz überlegte sie, wie sie es am besten formulieren sollte. „Ich meine, ihr seid jetzt schon so lange zusammen. Und du als einziges Mädchen unter so vielen Jungs. Könnte man es ihnen vorwerfen, wenn sie einen Narren an dir gefressen haben und jetzt an einem Punkt angelangt sind, wo sie gern mehr wollen würden?“ „M-mehr?“ Ungewollt errötete sie, sehr zum Vergnügen der Solistin. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht malte Tomochika ein Herz in die Luft. „Looove“, flötete sie vielsagend, mehr brauchte es auch nicht als Erklärung. Haruka verstand den Wink, und sichtlich zufrieden über diese Tatsache schaufelte sich die Sängerin weiteres Eis in den Mund. Als die Komponistin unruhig auf ihrem Stuhl herumzurutschen begann, konnte sie sich ein Auflachen nicht verkneifen. „Wie süß, du wirst ja richtig verlegen, Haruka!“ Und das zu Recht. Auf einmal spielten sich ihr die Bilder des gestrigen Tages wieder auf, in denen sich Cecil zu ihr gebeugt hatte und im Begriff gewesen war, sie zu küssen. Seine Worte, es war eine Liebeserklärung gewesen, nicht wahr? Aber auf der anderen Seite war es auch nicht das erste Mal gewesen, dass er ihr diese Dinge gesagt und eine so intime Annäherung versucht hatte. Eigentlich hatte sie gedacht, dass es „normal“ wäre – für Cecils Verhältnisse gesprochen zumindest, denen sie einräumte, dass der fremdländische Prinz nicht mit den japanischen Sitten vertraut war – und es einfach zu seiner Art gehörte, Sympathie auszudrücken. Aber… steckte da vielleicht doch mehr dahinter und er tat diese Dinge bewusst, um ihre Bedeutung wissend? „D-das glaube ich nicht…“ „Hm?“ „C-Cecil-san hat…“, stammelte sie und senkte den Kopf tiefer zwischen ihre Schultern. Mittlerweile glich ihr Gesicht einer Tomate und vermutlich, würde man Eis auf ihre Wangen legen, würde es davonschmelzen. Dieser Zustand blieb auch Tomochika nicht verborgen. „Oho, jetzt wird’s interessant!“, griente sie schelmisch, wobei sie sich weiter nach vorn beugte, als wollte sie der Freundin ein Geheimnis entlocken. „Jaha, ich bin ganz Ohr? Was ist mit dem guten Cecil? Hat er dir etwa…? Oho! Klingt nach einem Love Interest!“ „A-aber das“, rang sie nach eine plausiblen Erklärung. „D-das hat er bestimmt nicht so gemeint.“ Tomochika zuckte mit den Schultern. „Wer weiß“, entgegnete sie scheinheilig. „Wieso nicht? Was ist so abwegig daran? Vielleicht solltest du anfangen, die Jungs auch als Jungs zu betrachten.“ Auf einen weiteren Löffel Eis überlegte sie kurz. Dann fiel es ihr wohl wie Schuppen von den Augen und sie riss die Augen auf, als sie zu der Freundin herüberblickte und unbeabsichtigt auf der Tischplatte aufschlug. „Eeeh? Jetzt sag mir nicht, du hast wirklich noch nie über diese Möglichkeit nachgedacht!?“ „W-welche?“, wollte Haruka eingeschüchtert wissen. Zur Folge stöhnte die Rothaarige gedehnt auf. „Ich glaube es nicht! Du bist rund um die Uhr von gleich sieben attraktiven Herren umgeben und hast noch nie darüber nachgedacht, ob nicht einer von ihnen für dich in Frage kommen könnte, mehr für dich zu sein als nur ein Gesangspartner? Unfassbar! Weißt du, was andere dafür geben würden, an deiner Stelle zu sein?“ „Ich… habe nie darüber nachgedacht“, gestand sie leise und wandte den Blick betreten ab. ‚Nicht bewusst, glaube ich‘, fügte sie in Gedanken hinzu, was dazu führte, dass sie genau das jetzt tat. In einem Punkt hatte Tomochika ohne Zweifel recht: Die Jungs waren in der Tat gutaussehend. Und dass sie beliebt waren, war selbst ihr anhand der massiven Fanpost nicht entgangen, die jeder Einzelne von ihnen erhielt. Natürlich, sie waren Idole und entsprechend begehrt, aber für sie waren sie nicht nur das, sie waren Freunde. So hatte alles begonnen und so war es bis heute. Das bedeutete ihr sehr viel, warum also hätte sie etwas daran ändern sollen? „Und?“, holte sie Tomochika aus ihrer Gedankenwelt zurück, woraufhin sie kurz zusammenzuckte. „Was ist nun? Gibt es einen unter ihnen, den du etwas mehr als die anderen magst?“, zwinkerte ihr die Freundin vielsagend zu. „Ä-ähm, also… ich…“, stammelte sie erneut, bis ihr ein Gedanke kam, der sie schlagartig ausbremste. Abwehrend schüttelte sie den Kopf. „Und selbst wenn, was ist mit der Regel, die Liebe und Romantik strengstens verbietet? Ich kann die Jungs doch nicht deswegen in Schwierigkeiten bringen.“ „Regel?“ Tomochika blinzelte ungläubig. „Also, eigentlich“, kratzte sie sich nachdenklich am Kopf, „galt diese Regelung nur für die Zeit an der Akademie, streng genommen. Zumindest müsste es der Direktor verpasst haben, mich erneut daran zu erinnern, als ich unter Vertrag genommen wurde. Und sollte der Fehler bei mir liegen…“ Plötzlich legte sich ein Rotschimmer über die Wangen der Solistin. Sie hustete sich räuspernd in die Faust, ehe sie verlegen auflachte. „Naja, also… dann hätte ich wohl ein Problem, schätze ich, haha.“ „Eh?“ Die Solistin zwinkerte geheimnistuerisch. „Hast du meine neue Single noch gar nicht gehört?“ „Eh? Doch, klar!“, beteuerte Haruka. In einer entsinnenden Überlegung legte sie sich die Finger an die Lippen. „Mh… „Kimi To Happy Lucky“ heißt es, richtig?“ „Mhm.“ Kaum merklich seufzte sie, dann stützte sie die Ellenbogen auf den Tisch, bettete den Kopf verträumt auf ihren ineinander verschränkten Fingern und begann leise zu singen: „Kokoro wo kikoeru, shinjitsu wa, kimi wa subete ga soko ni iru*. … Es ist ein Liebeslied“, erklärte sie anschließend und lächelte verlegen zu der Freundin hinüber. „Und zwar an eine bestimmte Person. Derjenige weiß auch, dass er gemeint ist. Das wusstest du nicht, hm?“ Verneinend schüttelte Haruka den Kopf. „Ich wusste, dass der Song erfolgreich ist, und ich höre ihn in letzter Zeit oft im Radio. Aber dass es so persönlich ist, habe ich nicht gewusst.“ „Mir wurde einmal gesagt, dass der Song so erfolgreich sei, weil er ehrlich ist und von Herzen kommt“, überlegte Tomochika. Ungeachtet dessen zuckte sie mit den Schultern. „Naja, wie dem auch sei. Es ist mein größter Erfolg bisher und hat sogar meinen Debütsong übertroffen von den Zahlen her. Aber worauf es wirklich ankommt, sind nicht die Verkaufszahlen, sondern das, was wir aus unserem Herzen wiedergeben, richtig?“ Sie lachte. „Wenn das der Direktor spitz kriegt, schmeißt er mich bestimmt aus der Agentur. Es ist eigentlich Selbstironie, findest du nicht? Dass wir uns ausgerechnet von dem, was doch die größte Rolle in unserer Musik spielt, fernhalten sollen. Es macht eigentlich keinen Sinn, wenn man so darüber nachdenkt, und ist irgendwie heuchlerisch.“ ‚Heuchlerisch‘, wiederholte Haruka in Gedanken und dachte einen Augenblick darüber nach. Ja, irgendwo machte es tatsächlich keinen Sinn, aber sie hatte sich nie daran gestört. Sie hatte dennoch Melodien geschrieben, die ihr Herz ihr vorgegeben hatte, und es war ihr nie falsch vorgekommen. Doch nun… irgendetwas lösten diese Worte ihrer besten Freundin in ihr aus, das sie nicht benennen konnte. „Wenn wir gerade dabei sind“, holte sie Tomochika aus ihren Gedanken, „was macht deine Musik so? Arbeitest du derzeit an einem neuen Song für Starish?“ Sie schob die Schultern vor. „Im Moment nicht“, gab sie kleinlaut zu. „Irgendwie… habe ich Probleme, ein neues Stück zu schreiben.“ „Ein Krea-Tief?“, wunderte sich die Freundin. Ihr war anzusehen, dass sie sich das bei der Komponistin nicht vorstellen konnte. „Mh, nun gut, das kann ja jeden einmal treffen. Ist sicherlich nur halb so wild, das geht wieder vorbei“, bemühte sie sich um Beschwichtigung und winkte das Problem in einer Geste zur Seite. Dabei kam ihr ein Gedanke, der sie stutzen ließ: „Aber sag mal, hattest du mir nicht noch neulich gesagt, du hättest bereits ein neues Stück fertig und wolltest es dem Direktor vorstellen?“ „Ja…“, bestätigte Haruka leise, woraufhin sie betreten den Blick senkte. „Es war nicht gut genug. Er hat es abgelehnt.“ „Oh.“ Das war der Solistin sichtlich unangenehm. Sie kannte es selbst zu gut, wie es sich anfühlte, wenn eine Arbeit als „ungenügend“ abgetan wurde, und sie konnte sich gut vorstellen, wie Shining Saotome in seiner typisch-überdrehten Art der Komponistin zugesetzt haben musste. Es brauchte nicht viel, um zu wissen, dass Haruka ihre Sorgen deswegen kleiner redete als sie wirklich für sie waren. „Ach was“, versuchte Tomochika die bedrückende Stimmung zu unterbinden, „das ist doch halb so wild. Jeder hat mal einen schlechten Lauf, das ist ganz normal. Lass dich davon nicht unterkriegen, ja? Du packst das schon, keine Sorge!“ „Mh.“ Wirklich überzeugt klang das nicht. Zumindest nahm Haruka aber wieder ihren Löffel auf, um an ihrem Eisbecher weiterzuessen. Tomochika nutzte ihre Chance und stibitzte von der Freundin eine Orangenscheibe. Als sie dadurch die Aufmerksamkeit der Freundin auf sich gelenkt hatte, zwinkerte sie ihr aufmunternd zu. „Kopf hoch, Haruka. Ich bin mir sicher, wenn du einfach du selbst bleibst, dann wird dein nächster Song großartig werden. Und wenn dir etwas auf der Seele liegt, sind die Jungs und ich immer für dich da, hörst du? Wir lieben dich, so wie du bist. Vielleicht lässt du dich einfach von dieser Liebe inspirieren?“   Am Ende hatten die beiden Mädchen eine Stunde in dem Café verbracht, ehe sie aufbrachen, um noch eine Runde shoppen zu gehen. Die Zeit mit Tomochika war genau das gewesen, was Haruka gebraucht hatte, um auf andere Gedanken zu kommen, und sie genoss ihre gemeinsame Zeit in vollen Zügen. Es war eine angenehme Gesellschaft, auch wenn die Solistin mit den unmöglichsten Ideen aufwartete, Haruka in neue Outfits und Kleiderkombinationen zu stecken. Gelegentlich war es der Komponistin peinlich, doch Tomochika schaffte es, sie so oft zu überraschen und zum Lachen zu bringen mit ihren kreativen Modeideen, dass sie nicht abstreiten konnte, trotz allem Spaß zu haben. Letztendlich ließ sie sich sogar noch dazu überreden, ein neues, hellblaues Kleid mit dünnen Spaghettiträgern und Rüschenbesatz zu kaufen. Es war erst kurz nach vier, als schließlich Tomochikas Handy klingelte und sie sich daraufhin entschuldigte, noch etwas erledigen zu müssen. Eigentlich hatten sie noch ins Kino gehen wollen, doch daraus wurde nun nichts mehr. „Ist schon okay“, winkte Haruka mit einem Lächeln ab, woraufhin Tomochika entschuldigend die Hände vor dem Gesicht faltete. „Tut mir wirklich leid“, entschuldigte sie sich bereits zum dritten Mal. „Wir holen das nach, versprochen! Und du kommst wirklich allein zurecht?“ „Klar! Ich muss doch nur die Straße runter, in den richtigen Bus einsteigen und dann ist es nicht mehr weit.“ Optimistisch hob sie die Arme in eine Siegerhaltung. „Das schaffe ich schon, nur keine Sorge!“ Skeptisch verzog die Solistin die Augenbrauen. Nie war sie einem orientierungsloseren Menschen als Haruka begegnet, dies rief sie sich in Erinnerung, doch auf der anderen Seite hatte sie wirklich keine Zeit, die Freundin noch bis zum Wohnheim zu begleiten, und ihr Weg führte sie in eine ganz andere Richtung als Haruka. „Hoffentlich hast du recht“, murrte sie zweifelnd, pattete dem Mädchen ermutigend den Kopf, ehe sie sie in eine herzliche Umarmung zog. „Wir telefonieren die Tage wieder. Bis dahin, pass gut auf dich auf, ja?“ „Mhm, mache ich. Du auch auf dich. Und, Tomo-chan?“ Nachdem sie die Umarmung erwidert hatte, drängte sie sich aus ihr zurück, um die Freundin anzusehen. Ein ehrliches Lächeln legte sich über ihr Gesicht. „Hab vielen Dank für alles. Ich hatte wirklich sehr viel Spaß.“ Eine sanfte Kopfnuss war die Antwort, dann verabschiedete sich Tomochika winkend von ihr und machte sich auch schon schnellen Schrittes davon. Bewaffnet mit ihrer weißen Einkaufstüte folgte Haruka ihrem Beispiel und drehte sich ebenfalls um, um die zehn Minuten entfernte Bushaltestelle anzusteuern. Es war unmöglich, sich auf dieser Strecke entlang der Straßengeschäfte zu verlaufen, und als Haruka – dennoch von einem erleichterten Aufseufzen begleitet – wenig später angekommen war und den Fahrplan nach der nächsten Abfahrt überprüfte, hatte sie sogar noch fünf Minuten Zeit. Der Bus war pünktlich und während Haruka aus dem Fenster schaute, die Bilder nur so an sich vorbeirauschen ließ, bedauerte sie es fast, schon wieder zurück zu müssen. Sie hätte wirklich gern noch etwas mehr Zeit mit ihrer besten Freundin verbracht, immerhin wusste sie nie vorher, wann sie sie das nächste Mal wiedersehen würde. Nun aber würde sie sich wieder mit ihren ursprünglichen Problemen auseinandersetzen müssen und fast hoffte sie, keinen der Jungs über den Weg zu laufen, bis sie auf ihrem Zimmer wäre. Sie hatte viel zu überdenken, wollte sich noch einmal in aller Ruhe mit den Worten ihrer Freundin auseinandersetzen, vielleicht käme sie dann der Lösung einen Schritt näher. „Eifersucht“, so hatte Tomochika das gereizte Verhalten der Jungs erklärt. „Love Interest“ war ihre Bezeichnung für Cecil gewesen. Und sie hatte ihr geraten, ihre Sichtweise zu den Jungs zu verändern. War das überhaupt möglich? Sie hatte wirklich noch nie darüber nachgedacht. Aber was, wenn Tomochika einfach zu viel in das Ganze hineininterpretierte und sie aus einem Irrglauben heraus anstachelte? Dass ihre Freundin eine hoffnungslose Romantikerin tief in ihrem Herzen war, wusste Haruka, aber sie selbst war nicht- „Ah! Meine Haltestelle!“, bemerkte sie noch im letzten Moment, gerade als die Ansage verklang und das Fahrzeug bereits zur Seite lenkte, und schnappte sich Täschchen und Tüte, um ihren Ausstieg nicht zu verpassen. Um ein Haar wäre sie zu weit gefahren und dann hätte sie ein großes Problem gehabt. Sie hätte wirklich nicht so in Gedanken versinken dürfen. Erleichtert atmete sie auf, als sie festen Boden unter den Füßen hatte, und sie blickte dem Bus noch nach, wie er gerade wieder losfuhr und der leeren Straße folgte. Wenn sie Tomochika später erzählen würde, dass sie beinahe ihre Haltestelle verschlafen hatte, würde sie sie bestimmt auslachen. „Ich bin eben doch unverbesserlich“, gestand sie sich ein, konnte sich aber ein Kichern nicht verkneifen. Es war eine Wahrheit, die sie sich mittlerweile eingestanden hatte. Aber immerhin: „Sie hat sich vollkommen umsonst Sorgen gemacht. Hier bin ich richtig und jetzt muss ich nur-“ Als sie sich umdrehte und ihren Blick auf die Haltestellentafel heftete, schlug die Erkenntnis ein wie ein Blitz. Mitten im Satz verschlug es ihr die Sprache. Binnen einer Sekunde verlor sie sämtliche Farbe aus dem Gesicht und bekam das leise Poltern kaum mit, als sie Tasche und Tüte aus den Händen verlor. Mit offenstehendem Mund und weit aufgerissenen Augen las sie die Schriftzeichen, die ihr verkündeten: „Naturreservat“. – Sie war zu früh ausgestiegen. Es kostete sie viel Selbstbeherrschung, zu schlucken und ihren Blick durch ihre Umgebung schweifen zu lassen. Hier stand sie also, an einer Bushaltestelle, die nur aus einem Haltestellenschild samt Fahrplantafel bestand, vor ihr eine leere Straße und sonst nichts außer Bäume, Bäume und noch mehr Bäume. Am Rande der Straße führte ein schmaler Weg entlang, dem sie folgen könnte, sonst gab es nur noch einen weiteren Pfad, der in diesen Irrgarten aus Grün hineinführte. Wie konnte ihr das nur passieren? „Was mache ich jetzt nur?“, flüsterte sie eingeschüchtert und hob sich die Hände an die Brust. Eigentlich hatte sie nur zwei Möglichkeiten: Entweder wartete sie auf den nächsten Bus, der laut Fahrplan in einer halben Stunde kommen würde, oder sie versuchte ihr Glück, von selbst zum Wohnheim zurückzufinden. Sie war sich sicher, dass es nicht weit weg war; es grenzte tatsächlich ein Naturreservat an das Grundstück, so viel wusste sie. Vermutlich war sie nur eine Station zu früh ausgestiegen, da sie es nicht mehr gewohnt war, allein mit dem Bus statt mit den anderen in einem Transporter zu fahren. Das konnte passieren, das war noch lange kein Weltuntergang. „Ich schaffe das!“, sprach sie sich selbst Mut zu, hob ihr verlorenes Hab wieder auf und drehte sich in Richtung Straße, die ihr den Weg weisen würde. Erneut schluckte sie, das Herz raste in ihrer Brust. „Ich muss nur der Straße folgen, richtig? Dann kann ich mich nicht verlaufen. Das schaffe ich, das schaffe ich!“ … So waren zumindest ihre Worte, doch ihre Gedanken riefen ganz eindeutig: „Ich bin verirrt. Das wird eine Katastrophe!“     *Lyrikübersetzung, sinngemäß: „Wenn ich meinem Herzen lausche, ist die Wahrheit, Du bist alles, was es gibt.“ (Aus dem Englischen: “When I listen to my heart, the truth is, you are everything there is.”) Kapitel 5: Alles wie damals, nein --------------------------------- Es war nicht schlimm, es war doch gar nicht so schlimm. Immer wieder und wieder redete sie sich diese Worte ein, wie ein heilendes Mantra, um ihre Unsicherheit zu bekämpfen. Solange sie nur dem Weg der Straße folgte, konnte sie sich nicht verlaufen. Selbst für jemanden wie sie, der sich schon verlief, sobald er um die Ecke eines Wohnblocks auf eine renovierte Seitenstraße bog, war das unmöglich. Ruhig bleiben und immer schön einen Schritt nach dem anderen setzen, ganz gleich, wie lang ihr die Straße auch vorkommen mochte. Immer länger und länger mit jeder Sekunde, die verging. Sie wusste nicht, wie lange sie schon lief. Seit sie losgegangen war, war kein einziges Auto an ihr vorbeigefahren. Keine Menschenseele kam ihr entgegen, kein Fahrradfahrer ließ sich blicken. Die Gegend wirkte wie ausgestorben, frei von Menschen und lediglich bewohnt von den Vögeln, die in den Bäumen fröhlich zwitscherten und ihr das Gefühl gaben, sie würden sie beobachten. Es war irgendwie unheimlich, sie selbst konnte die Tiere nicht ausmachen, aber sie waren da. Sie waren das Einzige, was sie neben ihren eigenen Schritten begleitete und die klackenden Laute ihrer Absatzsandalen nur noch deutlicher machte. ‚Es ist alles gut‘, redete sie sich ein und kämpfte gegen das heftige Herzklopfen in ihrer Brust an. ‚Es ist nur eine Station. Wenn ich die nächste Haltestelle sehe, weiß ich auch wieder, wo ich bin. Dann müsste ich das Wohnheim schon sehen können und es ist nicht mehr weit. Alles wird gut, nur halb so wild. Ich muss ruhig bleiben.‘ – Oh, das war so viel leichter gesagt als getan. Sie fürchtete, jeden Moment die Nerven zu verlieren. Alles wirkte so groß, weit und fremd, und niemand, absolut niemand, war hier, den sie nach dem Weg fragen könnte, nur um sich zu vergewissern. Aber ruhig bleiben! Ihre Angst, sich bereits verirrt zu haben, malte ihr das Ganze nur schlimmer aus als es wirklich war. Tief durchatmen, nicht so viel nachdenken und nicht zurückblicken. Weitere Minuten verstrichen, in denen sie stur geradeaus lief. Sie setzte viele Schritte und hatte doch das Gefühl, sie würde sich kein Stück vorwärts bewegen. ‚Es ist zu weit‘, holten sie die Zweifel ein. ‚So weit war es doch gar nicht? Der Bus braucht doch nur wenige Minuten bis zur nächsten Haltestelle. Kann es sein…? Aber ich habe doch nichts verpasst?‘ Verunsichert blieb sie stehen und blickte prüfend hinter sich. Doch da war nichts, keine Haltestelle war zu sehen und auch keine Abzweigung, die sie verpasst haben könnte. Nur derselbe endloswirkende Teerweg, die breite Straße und Bäume, Bäume, Bäume. Nein, unmöglich, sie konnte sich nicht geirrt haben. Oder gar verlaufen. „Ich verstehe das nicht“, sprach sie leise zu sich selbst und wandte sich wieder nach vorn. Der Anblick war genau derselbe wie hinter ihr. „Müsste ich nicht langsam da sein? Die beiden Haltestellen liegen doch gar nicht so weit auseinander. … Glaube ich.“ Sie zögerte noch einen Moment, schüttelte dann aber entschieden mit dem Kopf und ermutigte sich, dass es gar nichts brachte, nur herumzustehen und in Zweifeln zu versinken. Wenn sie irgendwann einmal irgendwo ankommen wollte, dann musste sie weitergehen. Einen anderen Weg gab es nicht. Weitere zögerliche Schritte folgten, bis sie ein Geräusch hinter sich vernahm. Erst war es noch weit entfernt, nur ein leises Rauschen, doch es kam näher. – Ein Auto! Sie erkannte ihre Chance, blieb stehen und drehte sich um. Und tatsächlich hatte sie sich nicht geirrt, dort kam ein gelber Wagen die Straße entlang. Mit etwas Glück würde der Fahrer kurz anhalten, damit sie ihn nach dem Weg fragen konnte. Vielleicht würde man sie sogar mitnehmen? Das war zwar riskant, das wusste sie, aber dennoch… Ermutigt hob sie den Arm, hoffend, und ließ den Wagen nicht aus den Augen, während dieser immer näher kam. Näher, näher … und an ihr vorbeifuhr. Es brauchte eine Weile bis Haruka realisierte, dass ihre Hoffnung an ihr vorbeigerauscht war. Dass niemand angehalten hatte, auch nicht wenige Meter später, und sie immer noch allein an Ort und Stelle stand. Naiv und mit einem bedrückenden Gefühl in der Bauchgegend, das ihr unverhohlen bewusst machte, dass sie ihre Zweifel und Verirrungsängste nur noch schlimmer gemacht hatte. ‚Reiß dich zusammen!‘, ermahnte sie sich selbst und schüttelte den Kopf. ‚Geh weiter! Du hast dich nicht verlaufen, geh einfach weiter!‘ Damit trieb sie sich an, sich nicht beirren zu lassen, und wollte ihren Weg wieder aufnehmen, als sie auf etwas am Wegesrand aufmerksam wurde. Nur wenige Schritte weiter führte ein Seitenpfad in das Naturreservat hinein, wie sie es auch schon an der Haltestelle gesehen hatte, an der sie ausgestiegen war. Sie zögerte. War sie nicht damals auch immer durch ein Stück Wald auf dem Weg zum Wohnheim gegangen? Damals, bevor sie und die Jungs nur noch zu ihren Terminen chauffiert worden waren oder sich ein Taxi für ihre Ausflüge gerufen hatten. Vielleicht lag es ja daran, dass ihr der Weg so lang vorkam. Vielleicht lief sie um ihr Ziel herum, statt dem direkten Weg zu folgen, den sie zuvor nicht wahrgenommen hatte oder nur nicht wahrnehmen wollte vor lauter Angst. Ratlos stand sie da und versuchte sich zu erinnern. Versuchte sich auszumalen, wo sie sich im Augenblick befand und wo das große Haus, in dem sie nun schon so lange lebten, stehen müsste. Dann schluckte sie, straffte entschieden die Schultern und wich auf den Pfad aus, der sie ins Grüne führte. Die ersten Schritte lösten noch kein scheues Gefühl in ihr aus. Natürlich war es irgendwie unheimlich, obgleich es helllichter Tag war und ihr der fröhliche Vogelgesang in den hohen, tänzelnden Baumkronen Zuspruch gab. Doch je tiefer sie ging, umso unsicherer wurde sie, bis sie ihre Entscheidung gänzlich anzweifelte und stehen blieb. Prüfend blickte sie hinter sich, doch sie war bereits so tief in das Reservat vorgedrungen, dass sie nicht einmal mehr die Straße sehen konnte. Wie weit war sie schon gegangen? Sollte sie lieber zurück und doch weiterhin der Buslinie folgen, oder war sie richtig und musste nur weitergehen? ‚Ich habe die Orientierung verloren‘, wurde ihr bewusst und diese Erkenntnis brachte ihr Herz zum Rasen. Mit einem Mal fühlten sich ihre Knie weich wie Pudding an, alles kam ihr noch größer und dichter vor und obwohl sie am liebsten rennen wollte, hatte sie das Gefühl, an Ort und Stelle festgewachsen zu sein. ‚Was mache ich? Was mache ich denn hier?‘, bebten ihre Lippen, bis sie wimmernd hervorbrachten: „Was mache ich jetzt nur?“ „…miii!“ – Was war das? Woher kam es? „…namiii!“ – Da, hinter ihr! Jemand rief. Leise zwar, aber es war lauter gewesen als zuvor. Hatte sie…? Konnte es sein, dass sie ihren Namen zwischen dem Blätterrauschen über ihr herausgehört hatte? „Nanamiii!“ – Kein Zweifel, jemand rief nach ihr! Gott sei Dank, jemand hatte sie gefunden. „Ittoki-kun?“ Sie war sich nicht sicher, ob es seine Stimme gewesen war, entsprechend zögerlich war ihre Antwort. Aber etwas sagte ihr, dass sie sich nicht getäuscht hatte, und sie machte auf den Absatz kehrt.  Ihre Selbstbeherrschung war zu ihr zurückgekehrt, so folgte sie dem Weg, welchen sie eben erst gekommen war, einige hastende Schritte zurück. „Ittoki-kun?“, rief sie noch einmal in jene Richtung, aus der sie die Stimme vernommen hatte, in der Hoffnung, sie würde ihr antworten. Meter vor ihr wurde eine Person sichtbar. Der rote Haarschopf hob sich deutlich von der schummerigen Umgebung ab wie ein Rettungssignal, das man einfach nicht übersehen konnte. Es war sogar, zuschulden des vereinzelten Lichteinfalls durch die hohen Baumkronen, als würde das Rubin seiner Augen zu ihr herüberleuchten. „Nanami?“ „Ittoki-kun!“ Sie rannte. Erleichterung machte sich in ihr breit, als sie den Freund sicher erkannt hatte und wahrnahm, wie auch dieser auf sie zukam. Er hielt etwas in seinen Armen, das wie eine Einkaufstüte aussah, deswegen rannte er wohl nicht, da sie sein Sicht- und Bewegungsfeld beeinträchtigen musste. „Was machst du denn hier?“, riefen sie wie aus einem Munde, als sie beieinander angekommen waren, und dieser unbeabsichtigten Synchronizität folgte ein verdutzter Blickaustausch. Im nächsten Moment mussten beide darüber lachen. „Ich habe dich aus dem Fenster gesehen“, erklärte er schließlich und legte ein schiefes Grinsen auf. „Ich dachte erst, ich hätte eine Fata Morgana gesehen oder so. Nanami mitten im Nirgendwo? Aber dann… Hast du dich etwa wieder verlaufen?“ „I-ich“, stammelte sie ertappt und spürte, wie ihr die Schamesröte auf die Wangen kroch. Leugnen war zwecklos, das wusste sie selbst, also senkte sie nur betreten den Blick, ehe sie in eine tiefe Verbeugung vorfiel. „Tut mir leid“, stieß sie hervor, „ich habe nicht richtig aufgepasst und bin zu früh aus dem Bus ausgestiegen. Ich dachte, es wäre nicht so weit bis zum Wohnheim und dass ich das Stück auch laufen könnte, bis der nächste Bus käme.“ „Vielleicht hättest du besser gewartet“, kam es zweifelnd zurück und als sich Haruka wieder aufrichtete, hatte Otoya seinen Kopf seitlich gelegt. Sein besorgter Blick ruhte auf ihr, was Grund gewesen wäre, verlegen zu werden, wäre sie es nicht bereits gewesen. „Vermutlich hast du recht“, gestand sie ihre Schuld mit einem scheuen Lächeln. Dann machte sie auf die Papiertüte in seinen Armen aufmerksam, welche bis zum Rand gefüllt zu sein schien, und eigentlich zusammen mit der ebenso gefüllten rot-weißen Tüte, die zusätzlich an seinem rechten Handgelenk baumelte, ihre Frage erübrigte: „Bist du einkaufen gewesen?“ „Mhm.“ Er nickte. „Heute war ich dran. Ich musste sogar bis in die Stadt, weil Masa irgendwelches Papier wollte, was es im Konsum nicht gibt. Für seine Kalligraphie, glaube ich.“ Daraufhin kramte er mit einer Hand in der Tüte herum und erwischte einen schmalen Folienumschlag mit schwarzer Banderole darum. Skeptisch musterte er ihn, drehte ihn zu allen Seiten herum, bis er mit fraglich hochgezogenen Augenbrauen mit den Schultern zuckte. „Ich weiß nicht, was so besonders daran sein soll. Für mich sieht es wie ganz normales Papier aus, nur dass es zu Wucherpreisen verkauft wird. Aber Masa hat darauf bestanden, dass ich ihm dieses mitbringe und kein anderes“, erklärte er. „Dann muss ich Hijirikawa-san wohl Danke sagen“, lächelte Haruka und schmunzelte kurz hinter vorgehaltener Hand. „Hätte er dich nicht wegen des Papiers in die Stadt gebeten, hättest du mich nicht finden können und ich wäre immer noch verloren.“ Kurz stutzte er, dann stimmte er in ihr leises Lachen mit ein. „Da hast du wohl recht. Sagen wir ihm nachher Danke, ja? Das wird ihn bestimmt verwirren, hehe.“ „Ja“, strahlte sie zurück. Sie blinzelte, als ihr Blick wieder auf die beiden Einkaufstüten in den Armen des Gitarristen fiel. Sie mussten schwer sein, vermutete sie. „Ähm“, wies sie entsprechend auf das Gepäck hin, „soll ich dir vielleicht tragen helfen?“ „Hm? Ach das. Nein, nein, das geht schon“, beteuerte er mit einem Grinsen, wobei er die Papiertüte in eine bequemere Haltung hochrückte. Es klapperte in ihr drin, klang nach Dosen. „Aber wir sollten uns auf den Rückweg machen, bevor mir die Arme taub werden, haha.“ „Bist du mit dem Bus gekommen, Ittoki-kun?“ Allein der Gedanke rief in ihr ein schlechtes Gewissen hervor. „Mit dem Bus?“ Ein Kopfschütteln folgte. „Nein, ich habe mir ein Taxi hin und zurück genommen. Ging schneller, damit ich pünktlich vorm Abendessen zurück bin.“ „Ah!“ Sie erinnerte sich. Das gelbe Auto vorhin, welches sie gesehen hatte, das musste er wohl meinen. Also war sie doch nicht unbemerkt geblieben und er hatte sie von dort aus gesehen. „Gott sei Dank“, seufzte sie erleichtert. Otoya schien ihre Gedanken lesen zu können, denn er grinste über das ganze Gesicht. „Das kannst du laut sagen! Hätte ich meinen Augen nicht getraut, dann wäre ich einfach an dir vorbeigefahren. Aber zum Glück habe ich auf mein ungutes Gefühl gehört und den Fahrer überreden können, anzuhalten und mich rauszulassen.“ „Ja“, lachte sie verlegen. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. „Das war wirklich großartig von dir! Vielen Dank.“ „Keine Ursache“, stimmte er in ihr Lachen ein. „Also, gehen wir zurück?“ Haruka nickte eifrig, woraufhin sie sich umwandten und dem Waldpfad zurück in Richtung Straße folgten. Nun, zumindest war das der Plan gewesen, stattdessen schafften sie nur wenige Schritte, bevor Otoya ruckartig stehen blieb und sein „Ah!“ verkündete, dass ihm etwas zu diesem Vorhaben eingefallen sein musste. „Ittoki-kun?“  Fragend blickte Haruka zu ihm auf. Dem Freund waren mit einem Mal die Gesichtszüge entglitten, seine Augen weit aufgerissen. „Das Taxi!“, keuchte er und ließ diese Aussage für einen Moment offen im Raum stehen, als habe es ihm die Sprache verschlagen. Kurz darauf sackte sein Kopf nach vorn und er wimmerte nur ein weiteres „Das Taxi…“. „Ittoki-kun?“, sprach sie ihn erneut vorsichtig an. „Ich bin ausgestiegen“, begann er zu erzählen und hob den Kopf nur so weit, dass er nicht mehr auf dem eingekauften Gemüse wog. Sein Blick ging ins Leere. „Ich… habe gar nicht darüber nachgedacht. Habe mir das Zeugs geschnappt und bin ausgestiegen. Ich habe mich nicht einmal gewundert, dass der Fahrer schon das Geld haben wollte… ich dachte, es wäre eine Art Sicherheitsmaßnahme oder so.“ „Du meinst…?“ „Es tut mir leid, Nanami“, bedauerte er seinen Fehler und sah zu ihr herüber. „Ich glaube, das Taxi ist weg. Vielleicht hätte ich dem Fahrer sagen sollen, dass er kurz warten soll, nicht wahr?“ „Mh“, schüttelte sie den Kopf. Sein trauriger Hundeblick war kaum zu ertragen, sie musste ihn einfach trösten. „Das ist nicht schlimm, wirklich! Das kann doch jedem einmal passieren. Du wolltest ja nur helfen und hättest du dir nicht so große Sorgen um mich gemacht, wäre dir so etwas auch nicht passiert.“ „Dennoch…“ „Wir haben ja noch den Bus“, erinnerte sie, woraufhin sie sich wieder in Bewegung setzten, um auf diese einzige Alternative zurückzugreifen, sofern sie nicht wirklich laufen wollten. Sie beeilten sich, so gut sie konnten, doch das Unglück langte zur Perfektion, als sie gerade aus dem Wald herausgetreten waren und just in diesem Augenblick ihre Mitfahrgelegenheit an ihren Nasen vorbeirauschte. Das brummende Geräusch wurde schnell in der Entfernung leiser, bog um die Kurve, bis es verschwunden war. „Das war der Bus“, kommentierte Otoya nach einiger Zeit des gemeinsamen Schweigens genauso unnötig wie Haruka daraufhin nickte. Noch immer standen sie beide regungslos am Straßenrand und gaben ein Bild ab wie nicht abgeholtes Gepäck am Flughafen. „Und das Taxi ist weg.“ „Wir… könnten zur Bushaltestelle zurückgehen und auf den nächsten Bus warten“, schlug sie vor. „Wie spät ist es?“ Folglich hob Haruka ihr Handgelenk, um einen Blick auf ihre Armbanduhr zu werfen. „Viertel nach fünf.“ „Das ist schlecht.“ „Wieso?“ Fragend sah sie zu ihm hoch. „Ich erinnere mich, dass ich schon einmal in so einer Situation war, nur umgekehrt.“ Nachdenklich kräuselte Otoya die Augenbrauen. „Mir fiel ein, dass ich noch etwas abholen sollte, aber zu um sechs abends fährt kein Bus. Der letzte fährt zu 19 Uhr.“ „Eeeh? Aber… aber das sind ja“, kurz überschlug sie in ihrem Kopf, wann der nächste Bus entsprechend abfahren müsste, „eineinhalb Stunden?!“ Otoya neben ihr lachte unbeholfen auf. „Da können wir auch gleich laufen. Ich habe mein Handy nicht dabei, ich kann uns also leider kein neues Taxi rufen.“ „Ah, aber ich habe meins dabei!“, erinnerte sie sich und begann sofort, in ihrem Täschchen zu kramen. Das kleine rosafarbene Mobiltelefon mit den kleinen Anhängern daran war schnell gefunden. Nach einem prüfenden Blick jedoch… „Es ist aus? Ah, ist der Akku etwa leer?“ „Also doch laufen“, schlussfolgerte Otoya lachend. Sein Gemüt konnte anscheinend nichts trüben, ganz im Gegensatz zu Haruka, welche geknickt die Schultern nach vorn fallen ließ und sich erneut entschuldigte. Dafür, dass sie sich in der Haltestelle geirrt hatte, dass sie ihr Handy nicht aufgeladen hatte, dass sie nur deswegen jetzt in dieser Situation waren – sie hätte noch etliche Gründe mehr gefunden, hätte Otoya sie nicht unterbrochen und ihr irgendwie glaubhaft versichern können, dass alles nur halb so wild war. Immerhin, so versuchte er sie aufzumuntern, war es genauso ihm zuzuschreiben, dass er es verpatzt hatte, das Taxi nicht wegfahren zu lassen. „Es gibt eine Abkürzung durch das Reservat“, erklärte er und wandte sich, ganz entgegen Harukas Erwartung, nicht dem Straßenverlauf zu, sondern zurück in Richtung Wald. „Die Straße macht einen großen Bogen um das Reservat herum und ab der Haltestelle müssten wir nochmal etwa zehn Minuten laufen. Wenn wir aber hier durchgehen, brauchen wir vielleicht eine halbe Stunde und sind direkt da.“ „Aber…“ Sie zögerte. „Ist das auch sicher?“ „Nur keine Sorge, Nanami! Ich weiß in etwa, wo wir sind und wo wir hin müssen. Cecil hat mir erzählt, dass er viel im Reservat unterwegs ist, und hat mich einmal sogar auf einen Erkundungsspaziergang mitgenommen. Die Bäume sind markiert, weißt du? Wenn wir uns an diesen Markierungen halten, finden wir uns schon zurecht, versprochen!“ Sie glaubte ihm. Zwar wusste sie selbst nicht genau, wieso, aber sie vertraute ihm. Sie hatte keinen Zweifel, dass Otoya sie richtig navigieren würde. An seiner Seite fühlte sie sich sicher. Schon damals an der Saotome Academy war immer alles gut geworden, wann immer er bei ihr gewesen war.  Sie wusste nicht, wie er das immer wieder geschafft hatte, aber er hatte eine gewisse Art an sich, die ihr das Gefühl gab, selbst an den trübsten Regentagen würde noch die Sonne scheinen. – Ja, und genau so war es auch jetzt, irgendwie. Sie fühlte sich nicht mehr verloren und sie hatte auch keine Angst, denn sie hatte Otoya an ihrer Seite.   Tatsächlich wurde ihr Vertrauen in den Rotschopf nicht enttäuscht. Sobald sie an der ersten Pfadkreuzung den richtigen Baum mit jener grünen Dreiecksmarkierung, welche Cecil ihm damals gezeigt hatte, entdeckt hatten, zeigte Otoya Zuversicht und führte sie sicher voran. Ihr kleiner unfreiwilliger Spaziergang dauerte seine Zeit und beim zweiten Mal nahm Otoya doch Harukas Angebot an und überließ ihr die rot-weiße Einkaufstüte, die ihm allmählich zu schwer wurde. Sie nutzten die Zeit für einen Plausch und Haruka berichtete von ihrem Treffen mit Tomochika. Natürlich ließ sie die Details aus, welche ihr viel zu unangenehm gewesen wären, doch Otoya erwies sich auch in dieser Hinsicht als unkompliziert und so kamen sie damit aus, dass sie sich ganz belanglos über die gemeinsame Freundin und ehemalige Klassenkameradin unterhielten. Die Zeit verstrich und ehe sie es sich versahen, lichtete sich der Wald um sie herum und schon wurde das weite Internatsgrundstück vor ihnen sichtbar. Erleichterung machte sich in ihnen breit und beschleunigte ihre Schritte, bis sie endlich vor der Doppeltür angekommen waren. Nur knapp entging Otoya einem schmerzlichen Zusammenprall, als gerade, kaum dass er nach dem Türknauf greifen wollte, die Tür auch schon nach außen aufgestoßen wurde und ein nicht minder verdutzter Tokiya vor ihnen stand. „Du bist spät“, bemerkte er in Richtung seines Zimmermitbewohners und ließ den Blick zu dessen Begleitung schweifen. Er deutete ein zurückheißendes Nicken, woraufhin sich Haruka beeilte, sich unnötigerweise zu verbeugen. Derweil hatte Otoya irgendwelche Erklärungen und Entschuldigungen gebrabbelt, doch Tokiya überging diese einfach, indem er erklärte: „Shinomiya-san ist noch mit Syo unterwegs. Wir machen heute etwas später Abendessen, wenn sie zurück sind.“ Dann ging er an ihnen vorbei und entfernte sich, gänzlich ohne irgendwelche Utensilien bewaffnet, in Richtung des grundstückeigenen Sees. Haruka folgte ihm mit ihrem Blick. Seltsam, er war ganz ruhig und entspannt gewesen. Nichts hatte darauf hingewiesen, dass er ihr oder Otoya wütend sein könnte, dass sie allein gewesen waren. Gestern, bei Cecil, war es anders gewesen, glaubte sie, oder trübten sich bereits ihre Erinnerungen? Gerade jedenfalls hatte sie nichts an ihm bemerken können. Tomo-chan musste sich mit ihrer Vermutung geirrt haben. „Nanami“, vernahm sie Otoyas Stimme neben ihr, schüttelte ihre Überlegungen beiseite und sputete an dem Freund vorbei, der ihr zuvorkommend die Tür mit seinem Rücken offenhielt. Auf dem Weg durch das große Haus zu der gemeinsamen Küche trafen sie auf niemanden weiter. Für Otoya war es eine sichtliche Erleichterung, als er endlich die randvoll gefüllte Papiertüte auf der grau-blau gesprenkelten Küchentheke abstellen konnte. „Geschafft“, seufzte er und wischte sich mit dem Handrücken über die verschwitzte Stirn. Neben ihm tat es ihm Haruka gleich und hievte die Plastiktüte auf die Ablage. „Tut mir leid, dass ich dich das tragen lassen habe. War’s sehr schwer?“, erkundigte er sich mit einem schlechten Gewissen. Haruka sah ohne Frage müde aus, dennoch versuchte sie es zu überspielen und lächelte zu dem Freund hoch. „Nein, war es nicht“, beteuerte sie mit einem Kopfschütteln. „Und du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Es war schließlich meine Schuld, dass du auf einmal mitten im Wald standest mit den schweren Tüten. Nur um mir zu helfen.“ „Schon“, murmelte er leise, wobei er sich verlegen die Wange kratzte, doch Haruka überhörte ihn. „Ich helfe dir noch eben mit dem Einräumen.“ „Willst du dich nicht kurz ausruhen? Ich kann das auch allein machen.“ „Das ist schon okay“, lächelte sie. „Vier Hände arbeiten schneller als zwei, richtig?“ Gesagt, getan. Gemeinsam machten sie sich daran, das Eingekaufte auszupacken und auf der Theke auszubreiten. Die Sonderbestellungen der Jungs legte Otoya separat zur Seite, um sie später zu verteilen, dann teilten sie die Einsortierung untereinander auf. Otoya übernahm alles, was in die Schränke sortiert werden musste, und Haruka nahm sich der frischen Lebensmittel an, um sie im Kühlschrank unterzubringen. Sie kamen schnell voran. „Hm“, überlegte Haruka, während sie ratlos den Kühlschrank inspizierte. „Hier ist kein Platz mehr, aber die Milch muss kühl gelagert werden. Was machen wir jetzt? Ittoki-kun, wohin soll ich-“ Noch im Sprechen erhob sie sich aus ihrer Hocke und drehte sich um, um nach dem Freund zu sehen. Als dieser jedoch bereits hinter ihr stand, wohl um ihr über die Schulter zu schauen, erschrak sie so unerwartet, dass sie den Halt um die Milchpackung verlor und diese mit einem lauten klatschenden Geräusch zu Boden fiel und aufplatzte. Die weiße Flüssigkeit verteilte sich schwappend über dem hellen Fliesenboden. „Ah, tut mir leid!“, sprachen beide wie aus einem Munde und bückten sich gleichzeitig, um sich um das Missgeschick zu kümmern. In ihrer Eile prallten ihre Köpfe gegeneinander, woraufhin beide schmerzhaft aufstöhnten, ein weiteres „Tut mir leid“ simultan ausstießen und sich die Stirn rieben, ehe sich ihre Blicke trafen und sie herzhaft loslachten. So unglücklich ihre Situation auch gerade war, sie war auch einfach zu komisch. „Man könnte meinen, wir seien ein altes Ehepaar“, brachte Otoya zwischen seinem Lachen heraus und grinste, was Haruka augenblicklich erröten ließ. Zwar wusste sie, wie es gemeint war – oder zumindest glaubte sie das –, dennoch sorgte es in diesem Moment dafür, dass sich ihr Herz für ein oder zwei Schläge überschlug. Um sich selbst zu beruhigen und ihre plötzliche Verlegenheit zu überspielen, nickte sie lächelnd. „Wir sind ein eingespieltes Team“, bestätigte sie, seine Formulierung dadurch abmildernd. Otoya schien ihre Intention dahinter nicht zu bemerken, stattdessen streckte er sich nur in Richtung Theke und suchte blind nach der Packung Küchentücher, welche er glaubte, dort irgendwo abgestellt zu haben. Glücklicherweise fand er, wonach er suchte, und verteilte ein paar der Papierblätter an Haruka und sich selbst. „Weißt du noch, was Natsuki gestern beim Frühstück gesagt hat?“, fragte er wie beiläufig, während sie die Milch aufwischten. Als Haruka zu ihm aufblickte, lag ein verträumtes Lächeln auf seinem Gesicht. „Ich denke genauso. Irgendwie sind wir wie eine große Familie. Wenn wir alle zusammen singen, trainieren, frühstücken oder einfach nur zusammen sind, dann habe ich das Gefühl, ich sei zu Hause. Also so wirklich zu Hause, weißt du?“ „Mhm.“ Sie nickte. „Ich weiß, was du meinst. Mir geht es genauso.“ „Unglaublich, oder? Wenn man so überdenkt, wie viel Zeit seit damals vergangen ist. Wie lange wir jetzt schon so zusammen sind und wie gut wir uns jetzt alle verstehen. Hättest du das damals gedacht?“ „Hm…“ Sie gestattete dieser Frage eine Überlegung. Als sie noch auf der Akademie gewesen waren, waren sie bereits befreundet gewesen. Nicht so eng wie heute, ohne Frage, und vielleicht war nicht jeder mit jedem wirklich „befreundet“ gewesen, aber sie hatten einander gekannt. Allerdings, als sie ihre Entscheidung getroffen hatte, mit den Jungs eine Gruppe zu formen, hatte sie nie so weit überlegt, ob sich alle auf die Dauer verstehen würden. Und noch weniger hatte sie je darüber nachgedacht, ob ein enges Zusammenleben gut gehen würde. Wie hätte sie auch ahnen können, dass es einmal so weit kommen würde? „Ich weiß nicht“, gestand sie schließlich, „aber ich bin froh, dass es ist wie es ist. Alle verstehen sich und haben Spaß an der gemeinsamen Musik. Das macht mich sehr glücklich.“ „Ja“, lachte Otoya zurück und Haruka dachte, dass er noch etwas hinzufügen würde, doch sein Lachen verstummte nur wenig später. Als sie es bemerkte und daraufhin zu ihm sah, lag keinerlei Frohsinn auf den Gesichtszügen des Freundes. Sein Blick haftete auf den Fliesen und er wirkte auf einmal sehr nachdenklich. „Ittoki-kun?“, sprach sie ihn zögerlich an, doch zu ihrer eigenen Verwunderung reagierte er nicht darauf. Das war seltsam, gänzlich unüblich für ihn, und es bereitete ihr Sorgen. „Ittoki-kun?“ „Ah, entschuldige“, fuhr er aus seinen Gedanken hoch, nachdem er ihr zweites Rufen endlich wahrgenommen hatte, und legte sich entschuldigend eine Hand in den Nacken. „Ich dachte nur… naja, das kommt vielleicht etwas plötzlich“, stammelte er weiterhin. Da sie nicht verstand, worauf er hinaus wollte, legte Haruka den Kopf fragend zur Seite. „Was denn?“ „Naja“, zögerte er, „also ich dachte… Es ist viel Zeit vergangen und wir kennen uns jetzt schon so lange. Seit unserem ersten Tag an der Akademie, weißt du noch? Wir waren beide unerfahren mit er Musik und haben unsere ersten Schritte gemeinsam gemacht. Wir sind eigentlich so was wie…“ Während er damit haperte, diesen Satz zu beenden, schlich sich auf seine Wangen eine dezente Röte, die Haruka nicht verborgen blieb. Er rieb sich verlegen den Nacken. „Ich meine, wir waren Partner. Und wir sind Freunde. Also wir stehen uns doch eigentlich… nahe?“ Ihr schoss die Hitze in die Wangen. Abrupt schreckte sie zurück und sah den Freund mit weit aufgerissenen Augen an, als sei er ein Geist, der eben erst aus dem Nichts vor ihr aufgetaucht war. Ihr verwirrtes „Eh?“ verließ vielleicht etwas zu hoch ihre Lippen. „N-nicht so w-wie du jetzt vielleicht denkst! Das ha-habe ich jetzt nicht so gemeint“, plapperte Otoya sofort los und wedelte abwehrend mit den Händen in der Luft herum. Seine Wangen schienen zu glühen. „M-mir schwirrt das nur jetzt schon so lange im Kopf herum“, erklärte er abmildernd, atmete einmal tief durch und fasste sich wieder. „Nanami… Ich, also… Nach all der langen Zeit, würde es dir etwas ausmachen, mich beim Vornamen zu nennen?“ Jetzt war es raus. Ein schweres Gewicht fiel von Otoya ab. Doch damit war es noch nicht getan, das wusste er. Er musste erst ihre Antwort abwarten, und das erwies sich als fast noch schwerer als seine Gedanken so lange mit sich herumzutragen. Mühsam hielt er den Blickkontakt zu Haruka aufrecht, versuchte sein wildes Herzklopfen und das Kribbeln in seinen Handflächen zu ignorieren und die Sekunden nicht mitzuzählen, in denen sie einander nur anstarrten und sie ihn auf eine harte Geduldsprobe stellte. „Das… das kommt so plötzlich“, sprach sie schließlich leise, fast flüsternd, und wandte ihren Blick von ihm ab. Ihr war anzusehen, dass seine Bitte sie in Verlegenheit gebracht hatte, doch Otoya war sich seiner Chance bewusst, die er sich mutig erkämpft hatte. Wenn er jetzt abließ, das wusste er, dann würde er kein zweites Mal den Mut aufbringen. „Ich wollte dich schon lange fragen“, gestand er mit gefestigter Stimme. Er stützte beide Hände auf dem feuchten Boden ab und lehnte sich etwas vor, um ihr näher zu sein. „Ich mag dich, Nanami. Ich mag dich sehr. Ich will dir immer ein guter Freund sein und ich will weiterhin deine Lieder singen. Außerdem glaube ich, dass ich dir am nächsten von allen stehe. Du kennst meine Familie, du kennst mich.“ „Ja, aber-“ „Du nennst Syo doch auch beim Vornamen, oder nicht? Es ist also gar nicht schlimm.“ Ermutigend lächelte er. „Aber bei Syo-kun…“ Sie schüttelte den Kopf, doch es half nichts. Er fühlte sich überladen, obgleich sie selbst nicht verstand, weswegen ihr das Thema so zu schaffen machte. Es war keine schlimme Bitte, er verlangte nicht zu viel von ihr und seine Argumente stimmten, auch wenn sie überflüssig erschienen. Und dennoch… „I-ich hole Wischzeug“, schwenkte sie schnell im Thema um und startete im nächsten Moment einen Versuch, aufzustehen. Sie fand sich auf ihre Beine, doch der milchige Boden unter ihren Absätzen war tückisch glatt und so strauchelte sie in ihrer Aufregung, als sie einen zu hastigen Schritt zur Seite machte und dabei ausrutschte. Haruka rechnete bereits mit ihrer unglücklichen Landung, stieß einen Schrecklaut aus … doch der Fall blieb aus. Otoya hatte schnell reagiert. Noch im Aufrichten fing er das Mädchen auf und stützte sie zurück auf die Beine. Haltspendend drängte er sie gegen den Kühlschrank und fixierte ihren Körper mit seinem, damit sie nicht erneut rutschen konnte. „Sei vorsichtig“, folgte sein verspäteter Kommentar und stellte den Blickkontakt zwischen ihnen wieder her. „Es ist verdammt rutschig.“ Und da war sie wieder, diese peinliche Stille, in der zwei aufgeregte Herzen um die Wette schlugen. Haruka sagte nichts, gerade so als habe es ihr wörtlich die Sprache verschlagen, und Otoya wurde sich viel zu spät bewusst, welche Intimität seine reflexartige Rettungsaktion herbeigeführt hatte. Es wurde hitzig im Raum. „Ah, entschul-“, setzte er schon wie gewohnt an, doch er stoppte sich. Nein, nicht dieses Mal! Das war seine Chance, und er hatte sich geschworen, sie nicht noch einmal an sich vorbeiziehen zu lassen. Wenn er herausfinden wollte, was das zwischen ihnen war, das sich immer mehr und mehr aufgestaut hatte, dann ging das nur jetzt. Höchstwahrscheinlich. Ihm war heiß. Er fühlte sich angespannt und zittrig zugleich. Dennoch schluckte er all seinen Unmut hinunter und hielt sich vor Augen, was er wollte. Dass er es wissen musste. So trat er noch einen weiteren Schritt näher an sie heran, beugte sich langsam zu ihr herunter und als er ihr nahe genug war, schloss er die Augen. … Einen Moment später spürte er einen Druck gegen seinen Brustkorb. Ihre Hände, wie sie ihn zurückhielten und versuchten, ihn zurückzudrängen. Sie zitterten. Irritiert öffnete er die Augen und ihm fuhr sogleich ein Schmerz durch die Brust, als er Harukas Blick begegnete. Noch immer lag die glühende Röte auf ihren Wangen, doch er konnte in ihren Augen lesen, dass sie überfordert war. Sie wollte das nicht, er war zu weit gegangen. „Es tut mir leid“, sprach sie so leise und mit solch brüchiger Stimme, dass es Otoyas unwohles Gefühl bestätigte, etwas Falsches getan zu haben. Es fühlte sich falsch an, dass sie es war, die sich entschuldigte. „Ich…“, wollte sie eine Erklärung für ihr Verhalten ansetzen, doch wieder fand sie keine Worte. Und als es letztlich zu viel für sie wurde, machte sie auf dem Absatz kehrt und stürmte davon. Otoya wollte sie noch aufhalten – aus Furcht, sie könnte erneut stürzen, so sein erster Gedanke –, doch etwas in seinem Inneren hielt ihn zurück. Es tat weh, doch er sah zu, wie sie floh. Vor ihm. Kaum bei der Tür angelangt, die aus der Küche hinausführte, wurde diese plötzlich von außen aufgeschoben. Im letzten Moment bemerkte es Haruka und bremste sich gerade rechtzeitig, bevor sie mit der Person zusammenprallen konnte, die gerade eintrat. Kurz strauchelte sie, wurde an den Schultern abgefangen, doch sie drängte sich an den beiden Jungs vorbei, welche sie nur verschwommen aus den tränenbesetzten Augenwinkeln erkennen konnte. Sie drehte sich nicht noch einmal nach ihnen um. Zwei Augenpaare folgten ihr. Ob sie noch hörte, wie Cecil ihr nachrief, war nicht zu sagen, doch der Prinz wurde von seiner Begleitung davon abgehalten, ihr zu folgen. Masato neben ihm schwieg. Er sah Haruka noch nach, bis sie um eine Ecke verschwunden und nicht mehr auszumachen war. Erst dann senkte er seinen Arm wieder, mit welchem er Cecil den Weg versperrt hatte, und drehte sich zur Küche um. Im hinteren Kochbereich erkannte er Otoya, der mit gesenktem Kopf zu Boden blickte und sich auf die Unterlippe biss, jedoch keinen Ton von sich gab. Und da wurde ihm klar, dass etwas zwischen ihm und Haruka vorgefallen sein musste. „Shinomiya und Kurusu sind zurück“, sprach er ruhig und gefasst wie üblich, ohne sich seine Besorgnis um den Vorfall, der sich hier ereignet haben musste, anmerken zu lassen. „Wir bereiten das Abendessen vor.“ Kapitel 6: Konsequenzen und Entwicklungen ----------------------------------------- Als es draußen allmählich hell wurde, lag Haruka bereits wach in ihrem Bett. Schon lange lauschte sie dem leisen, fröhlichen Gesang der Lerchen und hatte es vermieden, zu dem Wecker auf ihrem Nachttisch zu blicken. Das letzte Mal, als sie es getan hatte, hatten die Zahlen 4:07 Uhr gezeigt. Sie war sich nicht sicher, ob sie die Nacht überhaupt geschlafen hatte. Vielleicht war sie hin und wieder kurz eingedöst, doch immer, wenn sie wenig später aufgewacht war, waren laut der Weckeranzeige nur wenige Minuten vergangen. Und genauso fühlte sie sich: unausgeschlafen, unruhig und alles andere als motiviert. Am liebsten würde sie sich die Decke über den Kopf ziehen und den ganzen Tag in ihrem Bett bleiben, doch was würde das nützen? Seit einer Stunde lag sie nun schon wach und regungslos da und wartete nur darauf, dass so irgendwie genügend Zeit verstrich, damit sie aufstehen und irgendetwas machen könnte. Sie hob das Kinn ein Stück und sah hinüber zu ihrem Nachttisch. Neben dem eingerahmten Gruppenfoto von ihr und den Jungs, welches sie nach ihrem zweiten Debütkonzert als neues Starish zusammen mit Cecil aufgenommen hatten, zeigte die kleine Stehuhr 5:14 Uhr an. Noch immer war es viel zu früh zum Aufstehen, aber sie wollte nicht länger liegen bleiben. Schlafen lohnte sich nun ohnehin nicht mehr und eine Stunde würde sie gewiss auch anderweitig herumkriegen. Alles war besser als zwangsweise gegen die vielen rumorenden Gedanken und Fragen anzukämpfen, welche sie um die Nacht gebracht hatten. Mühselig schlug sie die Bettdecke zurück und richtete sich auf. Ihr Kopf fühlte sich schwer an. Etwas ungeschickt schlüpfte sie in ihre Hausschuhe hinein, erhob sich anschließend und schnappte im Vorbeigehen nach ihrem Morgenmantel, den sie wie immer über die Lehne ihres Schreibtischstuhls gelegt hatte. Nur flüchtig schielte sie auf das beschriftete Notenblatt, welches auf dem blauen Hefter mit ihren damaligen Notenübungen und Erstlingskompositionen auflag, und streifte den Titel. „Brand New Melody“ zeigte ihre dünne Handschrift und darunter in kleinerer, aber kräftigerer Schrift war hinzugefügt „Musik: Nanami Haruka – Lyrik: Ittoki Otoya“ und ein lächelnder Smiley direkt dahinter. Otoyas Handschrift. Haruka schüttelte den Kopf und zwang sich wegzublicken. Mit blinden Handgriffen schob sie das Blatt zurück in den Hefter, wonach sie sich abwandte und mit eiligen Schritten im Badezimmer verschwand.   Wenig später hatte sie sich angezogen und war komplett hergerichtet. Sie war der festen Überzeugung, sich ausreichend Zeit damit gelassen zu haben, doch als sie ihre Armbanduhr anlegte, stellte sie fest, dass gerade einmal eine viertel Stunde verstrichen war. Noch immer hatte sie über eine Stunde zu überbrücken bis zum gemeinsamen Frühstück um sieben. Sie seufzte schwer. Vielleicht hätte sie das Abendessen nicht ausfallen lassen sollen. Aus Scham, Otoya nach dem gestrigen Vorfall noch einmal unter die Augen zu treten, hatte sie Syo – der in Begleitung von Natsuki gewesen war, um sie abzuholen – gesagt, sie sei erschöpft von ihrem Ausflug mit Tomo-chan und wolle sich hinlegen. Gänzlich gelogen war das immerhin nicht, sie war tatsächlich müde gewesen, doch zur Ruhe war sie nicht gekommen. Doch jetzt bereute sie ihre Absage. Ihr Magen knurrte, was das Warten nur umso erschwerte. Dem zum Trotz fühlte sie sich zugleich unwohl bei dem Gedanken, dass sie die Stunde der Wahrheit entgegensehnte und sich früher oder später dem stellen musste, wovor sie gestern davongelaufen war. „Wovor hast du denn Angst?“, sprach sie sich leise selbst Mut zu und griff nach ihrer blassgelben Strickjacke. Auf dem Weg zur Tür zog sie sich diese über. „Er ist dein Freund. Es ist nicht fair ihm gegenüber, vor ihm davonzulaufen. Du musst mit ihm darüber reden. Genau, ihr seid immerhin erwachsen und könnt miteinander reden. Das lässt sich klären. Es gibt keinen Grund, davor wegzulaufen und seine Gefühle weiterhin unnötig zu verletzen.“ Bei den Worten wurde ihr das Herz schwer und sie schluckte schwer. Einmal noch atmete sie tief durch, sammelte sich, bevor sie nach der Türklinke griff und ihr Zimmer verließ. Draußen auf dem Flur war es ruhig. Natürlich war es das, schließlich war sie das einzige Mädchen auf dem Mädchenflügel und es war noch viel zu früh am Morgen, als dass schon viel Leben sein konnte. Ausnahmsweise hatte die Stille etwas Beruhigendes. Haruka ging den langen Flur entlang und steuerte als Erstes in Richtung Gemeinschaftsraum, wo sich die Jungs sonst immer aufhielten. Die Stille hielt sich, auch als sie den Gemeinschaftsbereich erreicht hatte. Wie erwartet. Sie entschied sich kurzerhand, den Übungsraum aufzusuchen. Zu dieser Uhrzeit würde niemand dort sein und sie könnte sich ans Piano setzen, bis die anderen wach waren. Es würde ihr sicherlich gut tun, noch ein wenig für sich zu sein und ein paar ihrer Lieblingslieder zu spielen, die ihr schon damals immer wieder Freude und Mut gespendet hatten. Vielleicht würde es ihr sogar gelingen, ein wenig zu komponieren; immerhin durfte sie nicht vergessen, dass der Direktor eine neue Melodie von ihr erwartete. Etwas, das gut war. Etwas, das ihn wieder von ihr überzeugen und die Menschen erfreuen würde. Etwas, worüber sich die Jungs freuen würden, dazu singen zu dürfen. – Ihr blieb dafür nicht mehr viel Zeit. Auf ihrem Weg begegnete ihr niemand. Alles war ruhig. Nur wenig später hatte sie den Musiksaal erreicht, in welchem sie und die Jungs sonst gemeinsam trainierten. Doch seit sie so viel unterwegs waren, waren die gemeinsamen Stunden in diesem Raum weniger geworden. Wie sehr sie das bedauerte, wurde ihr in jenem Moment bewusst, als sie die Tür wieder hinter sich geschlossen und die ersten Schritte in den Raum hineingetan hatte. Alles hier war wie immer. Das Piano war heruntergeklappt und stand frei zur Verfügung. In der rechten Ecke dahinter lehnte noch immer Otoyas Gitarre, die er dort irgendwann belassen hatte, um sie nicht jedes Mal von seinem Zimmer bis hierher herübertragen zu müssen. Sie war sein Geschenk vom Direktor gewesen, nachdem Starish ihr erstes Debütkonzert vor großem Publikum bestanden hatte. Die dunkelblaue Tasche mit dem Wappen der Saotome Academy, in welcher die Gitarre vorbildlich eingepackt war, um keinen Schaden zu nehmen, erinnerte daran. Von einem leisen Seufzen begleitet, ging Haruka über den spiegelnden Parkettboden hinüber zum Piano. Ihr fiel auf, dass eines der großen Fenster mit zurückgezogenen Vorhängen offen stand. Vermutlich hatte eine der Reinigungskräfte das Fenster geöffnet, damit der Raum etwas frische Luft bekam. Dafür war Haruka dankbar, denn die sanfte Brise, die durch das Zimmer strich, fühlte sich angenehm erquickend an. Sie würde das Fenster schließen, bevor sie gehen müsste. Im Augenblick störte es sie nicht. Behutsam öffnete sie den Klaviaturdeckel und klappte ihn zurück. Wie in Routine ging sie anschließend um das Instrument herum, um mit gewohnten Handgriffen den Flügel aufzurichten. Damit waren die Vorbereitungen erfüllt und sie trat wieder vor das Klaviaturbrett. Einen Moment lang stand sie nur da, sah gedankenverloren auf die makellosen Tasten, bevor sie probehalber eine davon hinunterdrückte. Das betätigte C klang klar und perfekt gestimmt. Sie tat weitere Stichproben, ließ die Töne im Raum erklingen, bis sie zufrieden feststellte, dass alles ordnungsgemäß vorbereitet war. Auf einmal war ein Poltern von draußen zu hören, das sie aus ihren Gedanken hochschrecken ließ. Ein lautes Rascheln folgte, es kam zweifelsohne aus Richtung des Fensters. Ängstlich stolperte sie die wenigen Schritte zurück, bis sie die unnachgiebige Wand in ihrem Rücken spürte. Ihre Augen wie gebannt auf das offenstehende Fenster gerichtet. Was war das eben gewesen? Der nächste Schrecken ließ nicht lange auf sich warten. Erst glaubte Haruka nur einen dunklen Schatten zu sehen, der plötzlich vom Himmel gefallen war. Sie stieß bereits einen Angstschrei aus, als sie in der Schreckgestalt eine wohlbekannte Person erkannte. Das dunkle Haar, den braunen Teint und nicht zuletzt das intensive Türbisblau des Augenpaares, das zu ihr herüberstrahlte. „Ah, Haruka. Guten Morgen!“ „C-C-Cecil-san?“, brachte sie stotternd den Namen des Jungen hervor, der kopfüber wie eine Fledermaus vor dem Fenster hinabhing und den Anschein erweckte, es sei das Normalste der Welt. Nun, für sie war es das jedenfalls nicht. „W-was machst du denn da? Du könntest runterfallen!“ Auf ihren Kommentar hin wich das breite Grinsen des Prinzen einem verwunderten Ausdruck. Prüfend, als wäre ihm dieser Gedanke selbst noch nie gekommen, blickte er an sich hinab – oder aus dieser Perspektive betrachtet wohl eher „hinauf“ –, bevor er lachte. „Machst du dir Sorgen um mich?“ „J-ja. Komm da runter!“ Das musste sie ihm nicht zweimal sagen. Scheinbar mühelos beugte sich Cecil nach oben und verschwand für einen Moment aus Harukas Sichtfeld, als er nach dem Ast griff, an welchem er hing. Nur einen Sekundenbruchteil später schwang er sich herunter, geschickt wie ein geübter Athlet, der täglich seine Übungen am Reck verrichtete, und sprang anschließend von der Fensterbank in den Raum hinein. Ausgestattet mit der besten Laune, und als sei nichts Besonderes gewesen, lief er zu Haruka herüber. „Das war gefährlich“, seufzte sie und tat einen tiefen Atemzug, um ihren Herzschlag zu beruhigen. In ihrer Angst hatte sie sich die Hände gegen die Brust gepresst, unter der es heftig wummerte. „Ich bin ein guter Kletterer“, erklärte Cecil fröhlich. „In Agnapolis wachsen die Bäume sehr viel höher als hier in Japan. Als Kind war mir aber kein Baum zu hoch.“ Erst da fiel ihm Harukas verkrampfte Haltung auf, was ihn verwundert blinzeln ließ. Es dauerte etwas, bis die Erkenntnis bei ihm eintraf. „Habe ich dich erschreckt?“, hinterfragte er unsicher. Ertappt zuckte sie zusammen, erkannte jedoch noch im selben Moment, dass dazu kein Anlass bestand. Es war wohl kaum zu übersehen, also lockerte sie ihre Haltung und entspannte sich. „Ja, ein wenig“, gestand sie und lächelte verlegen zu ihm hoch. „Oh, das tut mir leid.“ „Schon okay. Was hast du denn dort draußen gemacht?“ „Ich war auf dem Dach.“ „Auf dem Dach?!“ Ihre Stimme überschlug sich fast vor Schreck. „Wa-was machst du denn auf dem Dach?“ „Ich habe gesungen.“ „Eh? So früh am Morgen?“ „Es ist nie zu früh oder spät dafür. Die Muse lehrt uns, dass es für die Musik niemals die falsche Zeit ist“, sprach er sanft und ließ ein Lächeln folgen. „Außerdem liebe ich es, Harukas Lieder zu singen. Hoshi no Fantasia. Es trägt so viele schöne Erinnerungen in meinem Herzen.“ „Ja“, gab sie genauso sanft zur Antwort und erwiderte das Lächeln. Ja, es lagen wirklich schöne Erinnerungen in diesem Lied. Sie erinnerte sich noch genau, wie sie daran geschrieben hatte, um es ihm zum Geschenk zu machen. Und niemals würde sie vergessen, wie es gewesen war, als sie durch eben jenes Lied zum allerersten Mal alle sieben Jungs zusammen und im absolut harmonischen Einklang singen hören hatte. Es waren schöne Erinnerungen, und besonders wertvoll. „Bist du oft auf dem Dach?“, kam sie auf das Thema zurück. Cecil nickte. „Man kann von dort oben viel sehen und alles auf dem Gelände hören. Und man ist für sich, weil dort niemand nach dir suchen kommt.“ „Das glaube ich“, gab Haruka kichernd zurück. „Niemand erwartet jemanden auf einem Dach.“ So sehr sie dieser Gedanke amüsierte, wurde sich Haruka des Schweigens erst gar nicht bewusst, das von Cecil ausging. Erst als sie wieder zu ihm aufblickte, bemerkte sie, dass er sie nachdenklich betrachtete. Er wirkte abwesend, irgendwie… traurig? „Cecil-san?“ Er zögerte, so glaubte Haruka zumindest. Doch dann veränderte sich seine Haltung und er wurde ernst. „Haruka, gestern…“ Allein dieses eine Wort ließ einen Ruck durch ihren Körper fahren. „Ist… ist etwas vorgefallen? Zwischen dir und Otoya, meine ich.“ Betreten senkte sie den Kopf und faltete die Hände vor ihrem Schoß. Gestern. Sie fühlte sich nicht, als wollte sie mit irgendjemandem darüber reden. „Du hast geweint, nicht wahr?“, hakte er weiter nach. Er sprach ruhig, doch in seinen Worten schwang unverkennbar eine gewisse Aufregung mit. „Ich habe es gesehen. Habt ihr gestritten? Hat er etwas Schlimmes zu dir gesagt?“ „Nein.“ „Wenn er dir wehtut-“ Wieder nur ein „Nein“, doch es genügte, dass Cecil aufhörte, nachzubohren. Das Schweigen war fast noch schlimmer, sein besorgter Blick wog schwer auf ihr, aber sie wusste, dass sie auf gar keinen Fall zu ihm aufblicken durfte. Nicht, dass sie wirklich glaubte, dazu in der Lage zu sein, aber sie wollte vermeiden, dass er in ihr las. „Ich… mir ging es nicht gut“, log sie ganz offensichtlich, weswegen sie den Blick zur Seite abwandte. Etwas leiser fügte sie hinzu: „Bitte entschuldige, dass ich dir Sorgen bereitet habe.“ „Haruka…“ Nichts, Haruka schwieg. Es gab nichts, was sie ihm in diesem Augenblick noch erzählen wollte, soweit erkannte es auch Cecil. Und es bedrückte ihn. So kannte er sie nicht. Er war hin und her gerissen. Einerseits wollte er wissen, was sie bedrückte, andererseits machte sie deutlich genug, dass sie nicht darüber reden wollte, dass selbst er es verstehen konnte. Cecil erinnerte sich, wie Ren einmal hatte gesagt, dass ein Gentleman eine Lady niemals zu etwas zwang, und tatsächlich fühlte es sich falsch an, sie drängen zu wollen, dass sie mit ihm über ihren Kummer sprach. Ohne noch ein Wort zu sagen, drehte er sich schließlich um und ging hinüber zu dem offenstehenden Fenster. Er sprang auf die Fensterbank und tat einen tiefen Atemzug. „Es ist ein schöner Morgen“, sprach er dann und warf einen Blick über seine Schulter zu Haruka. Er lächelte, als er zu seiner Erleichterung feststellte, dass sie bereits zu ihm schaute. „Ich habe vorhin Syo und Natsuki auf dem Hof gehört. Wusstest du, dass sie jeden Morgen früh aufstehen und joggen gehen? Gehen wir sie suchen!“   Cecils Vorschlag war wie ein Rettungsreif, den er Haruka zugeworfen hatte. Natürlich hatte sie keinen Moment gezögert und begleitete ihn nun auf dem kurzen Spaziergang zum Vorderhof, wo Syo und Natsuki ihre Runden drehen sollten. Doch als sie dort ankamen, war von den beiden Freunden weit und breit nichts zu sehen. „Vielleicht sind sie schon fertig“, vermutete Haruka, nachdem sie den gesamten Platz mit ihren Augen abgesucht hatte. Ohne Erfolg. „Wie spät ist es?“ „Ähm…“ Sie hob ihr Handgelenk, um die Uhrzeit zu prüfen. „Etwa zehn nach sechs.“ Statt ihr zu antworten, setzte sich Cecil in Bewegung und steuerte auf die Mitte des Platzes zu. Haruka beeilte sich, ihm zu dem Springbrunnen zu folgen. „Du meinst, sie sind noch unterwegs?“, schlussfolgerte sie, als er sich auf die niedrige Steinmauer niederließ. „Sie sind heute früher losgegangen“, erklärte er ihr. „Das bedeutet, sie laufen heute die großen Runden. In dieser Hinsicht ist auf Syo Verlass. Man kann die Uhr nach ihm stellen.“ Ein gedehntes Gliederstrecken folgte, ehe er sich zurückstützte und die Beine lang machte. Während sich Haruka neben ihn setzte, ließ er den Blick ziellos durch die reichlich begrünte Gegend streifen. „Für mich wäre das nichts. Ich bin froh, dass Camus mit den anderen weg ist und ich meine Ruhe habe. Er hat mich nie ausschlafen lassen. Für mich ist das wie Urlaub. Aber Syo und Natsuki tun gerade so, als sei ihr Senpai noch da.“ „Syo-kun sagte neulich, dass es sich bei ihm eingebrannt hat, so früh aufstehen zu müssen, weil Mikaze-san ihn nie länger schlafen lassen hat. Ich glaube, er ist mittlerweile so sehr daran gewöhnt, dass er es nicht mehr abstellen kann.“ „Der Master Course war wirklich hart. Die Senpais sind sehr streng.“ Er seufzte aufgetragen. „Ich beneide Tokiya und Otoya. Reiji scheint nicht so streng zu sein.“ Haruka neben ihm kicherte. „Manchmal glaube ich, dass ihr sie vermisst.“ Von Cecils Seite aus blieb es still. Da er ihre Aussage nicht weiter kommentierte, warf Haruka einen verstohlenen Blick zu ihm herüber. Seine Gesichtszüge waren entspannt, er sah etwas gedankenverloren gen Himmel. – Das war alles, was sie für eine Antwort benötigte. Sie lächelte. „Es ist sehr ruhig ohne sie, seit sie wieder Konzerte geben“, bemerkte sie und schaute ebenfalls zu den wenigen Wolkenpaaren auf, welche den sonst blauen Himmel kaum trübten. „Das ist schön und ich freue mich für sie. Aber, hm, man merkt, dass sie nicht da sind. Obwohl das Haus so groß ist, merkt man irgendwie sofort, wenn jemand fehlt.“ Wieder kam keine Antwort. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie er sich nach vorn beugte und etwas zwischen den Steinplatten herauspflückte. Er hielt einen zentimeterbreiten Grashalm zwischen den Fingern, drehte und betrachtete ihn einige Zeit, bevor er ihn zwischen die Daumen klemmte, die Hände wie in Gebetsform aneinandergelegt. Während sie sich noch fragte, was er vorhatte, hob er die Hände an sein Gesicht, legte die Lippen über die Daumenknöchel und blies. Ein hoher, etwas flatternder Ton erklang. „Eh?“ „Kennst du das?“, fragte er, ohne sie anzusehen. Ein verträumtes Lächeln lag auf seinen Lippen. „Als ich noch ein Kind war, hat meine Mutter mir das beigebracht. Es hat nicht sehr viel mit wahrer Musik zu tun, aber…“ Erneut legte er die Lippen an den Grashalm zwischen seinen Daumen und wiederholte, was er zuvor schon getan hatte. Wieder ertönte der flattrige Laut, es klang erst etwas schrill, doch Cecil variierte in Blaskraft und -länge auf den Halm, sodass daraus eine Art Melodie entstand. Flatternd, etwas schief, aber irgendwie fröhlich. Still lauschte sie ihm und beobachtete, wie er sich seinem kleinen Grashalmlied hingab. Sie wartete, bis er fertig war, bevor sie sprach. „So etwas habe ich noch nie gesehen. Ist das ein Lied aus deiner Heimat?“ „Nein.“ Er ließ die Hände sinken und betrachtete das schmale Blatt zwischen seinen Daumen. „Nur etwas, das mir meine Mutter gezeigt hat.“ „Das ist toll“, lächelte sie fröhlich. „Sie ist bestimmt eine wundervolle Person. Vermisst du sie nicht manchmal, wenn du auf dem Grashalm spielst?“ Es war nicht mehr als ein wenig Smalltalk, eigentlich. Haruka hatte sich nichts Besonderes dabei gedacht, als sie ihre Gedanken laut ausgesprochen hatte. Doch als sich Cecils Schweigen zusehends in die Länge zog, wurde ihr klar, dass etwas nicht stimmte. „Cecil-san?“ Er hatte sie gehört, dennoch blieb er stumm. Erst Momente später regte er sich und tat einen gedehnten Seufzer, ehe er in seiner vorgebeugten Haltung zu ihr hochsah. „Haruka“, sprach er mit gefasster Stimme, doch sie glaubte, etwas Trauriges daraus herauszuhören, „meine Mutter… meine Mutter ist-“ „Ah, sind das nicht Haruka-chan und Cecil-kun?“, wurde Cecil abrupt in seinem Satz unterbrochen, als Natsukis hellauf fröhliche Stimme über den Platz drang. Es wurde begleitet von Syos nicht minder lautem Gemecker. „Es besteht kein Grund, jetzt zu rennen! Hey, mach langsamer, Natsuki, hörst du?!“ „Schau, Haruka, da sind Natsuki und Syo.“ Gerade so, als habe er tatsächlich vergessen, worüber sie eben noch gesprochen hatten und was er hatte sagen wollen, richtete Cecil seine Aufmerksamkeit auf die beiden Rückkehrenden. Die trübe Stimmung, die Haruka eben noch an ihm vermutet hatte, war auf einmal wie weggeblasen und hatte einem munteren Lächeln Platz gemacht. Schon sprang er auf die Beine und winkte eifrig zu den beiden Freunden herüber. „Heeey! Natsuki, Syo, guten Morgen!“ Sie hatte keine Wahl, oder? Es würde komisch aussehen, wenn sie sitzen bliebe und darauf wartete, dass Cecil beenden würde, was er ihr hatte sagen wollen. Das würde er wohl nicht mehr tun, jetzt, da sie Gesellschaft bekommen hatten. Also tat sie es ihm gleich und erhob sich mit einem leisen Seufzen. „Haru-chan, einen wunderschönen guten Morgen“, flötete Natsuki in bester Laune zu ihr herüber, kaum dass er bei ihnen angekommen war. Es war ungewohnt, ihn in einem Jogginganzug zu sehen – einem richtigen blau-weißen Jogginganzug samt weißen Schweißbändern um Stirn und Handgelenken –, aber es schmeichelte dem hochgewachsenen jungen Mann. Wenn auch die quietschgelben Turnschuhe nicht so recht dazu passen wollten. „Und Cecil-kun, welch eine Freude! Schon so früh auf?“ „‘s sieht dir gar nicht ähnlich“, kommentierte auch Syo, als er nur wenig später zu den Freunden aufgeholt hatte und endlich zum Stehen kam. Erschöpft von dem etwas unfreiwilligen Tempoanzug zum Ende ging er in die Beuge, stützte sich auf den Knien ab und schnappte angestrengt nach Luft. Er gönnte sich nur eine kurze Verschnaufpause, ehe er sich wieder aufrichtete und Cecil misstrauisch beäugte. „Sonst verpennst du sogar das Frühstück und tauchst erst sehr viel später auf. Wie kommt’s? … Hey, es hat doch nichts mit Nanami zu tun?!“ „N-nein“, verteidigte Haruka sofort und hob beschwichtigend die Hände, um einen erneuten Streit zwischen den beiden zu verhindern. „Wir sind uns zufällig über den Weg gelaufen und haben ein wenig Zeit zusammen verbracht, während wir auf euch gewartet haben.“ „Was ist schlimm daran?“, wollte Cecil wissen. „Tz, man kann dich nicht mir ihr allein lassen, ohne dass du ihr zu dicht auf die Pelle rückst. Du bist schlimmer als Ren und Natsuki zusammen.“ „Eh?“ Natsuki tat einen überraschten Laut und sah fragend zu dem Kleineren. „Wie meinst du das, Syo-chan?“ „Er bedrängt mich nicht“, versicherte Haruka, mutig gegen ihre Verlegenheit ankämpfend. „Dann soll er mir mal erklären, wie man das sonst neuerdings bezeichnet.“ Syo schnaufte verächtlich. „Ich traue dem Typen nicht weiter als ich schauen kann.“ Während des gesamten Wortaustausches war Cecil still geblieben und auch jetzt dauerte sein Schweigen noch an, was sich unangenehm auf die Gruppe ausweitete. Syo versuchte es wohl zu unterspielen, indem er sich die Hände an seiner Shorts abklopfte und unnötigerweise den Sitz seines Sporthemdes korrigierte. Er vermied peinlich jeglichen Blickkontakt mit dem Prinzen. Nach nur wenigen, zäh wirkenden Sekunden brach Cecil das Schweigen in der Runde und wandte sich offen Syo zu. „Wieso bist du so gemein zu mir, sobald es um Haruka geht? Ich habe ihr nie etwas getan und werde es auch nie. Bist du möglicherweise eifersüchtig?“ Seine Worte trafen mitten ins Schwarze. Das war zumindest anzunehmen, denn Syos Gesicht gewann mächtig an Farbe, was er nicht hätte verbergen können, und er versteifte sich kurzweilig, bevor er nur umso nervöser wurde. „W-was sagst du da? Eifersüchtig, ich? W-wie kommst du…? N-niemals würde ich…!“ „Hegst du Gefühle für sie?“ ‚Was?‘ Diese direkte Frage verschaffte auch Haruka glühend rote Wangen. Ihre Augen hefteten sich ungläubig auf Syo, der den Eindruck erweckte, ihn habe soeben der Blitz getroffen. „W-WAS?!“ Sämtliches Blut schien sich in dem Kopf des Kleinsten gesammelt zu haben. Nur ob vor Scham oder Zorn, das ließ sich nicht ganz bestimmen. „Da-das ist doch lächerlich! Mit dir führe ich ganz bestimmt nicht solche Gespräche!“ Damit und mit einem „Natsuki, wir gehen!“ wandte er sich um und stapfte wütend in Richtung Wohngebäude. Er ließ nicht nur Haruka und Cecil, sondern insbesondere Natsuki in Überraschung zurück, welcher im ersten Moment nicht zu wissen schien, wie er reagieren sollte. Unentschlossen schaute er seinem besten Freund nach, wechselte zurück zu Haruka und schließlich zu Cecil, welcher den Blickkontakt erwiderte. Noch einmal schweifte er hinüber zu Haruka und machte für kurz den Anschein, als wollte er etwas sagen, doch stattdessen seufzte er nur leise, bevor er mit einem lauten „Syo-chan, warte doch“ dem Freund nacheilte. „Cecil-san“, sprach Haruka leise und blickte scheu zu ihm auf, „hast… hast du das eben ernst gemeint?“ Daraufhin drehte sich Cecil zu ihr, schwieg jedoch für einen Moment, in welchem er sie nur ansah. In einer unerwarteten Wandlung lächelte er dann. „Es war ein Scherz.“ „Eh?“ – Stimmte das wirklich oder war es nur eine Fassade? Sie war verwirrt. „Gehen wir auch“, schlug er vor, von Niedergeschlagenheit keine Spur. „Heute fehle ich nicht beim gemeinsamen Frühstück. Das wird bestimmt toll mit allen zusammen!“ Sie entschied sich, es nicht weiter zu hinterfragen. Es war bekannt, dass sich Syo und Cecil oft wegen Kleinigkeiten in die Haare kriegten. Die beiden waren wie Feuer und Wasser, was ihr jeweiliges Temperament nur noch mehr anstachelte. Vermutlich handelte es sich nur um eine weitere Neckerei, wie sie eben zwischen ihnen üblich war. Mit diesem Gedanken folgte sie Cecil in Richtung Wohnheim. Syo und Natsuki waren längst außer Sichtweite und auch als sie den langen Korridor betraten, hörte man sie nicht. Es war lange Zeit still, bis sie sich dem Gemeinschaftsraum näherten, wo sich üblicherweise alle versammelten. Das Erste, was sie von dort aus hörte, war Otoyas Stimme: „Es ist nur für ein paar Tage, versprochen. Vor Ende des Urlaubs bin ich wieder da.“ … Was? Harukas Herzschlag beschleunigte sich in einer bösen Vorahnung. Noch ehe sie es sich versah, war sie die letzten Schritte auch schon losgerannt, Cecil neben ihr ganz außer Acht lassend. In ihrer Aufregung wäre sie beinahe gestolpert, als sie endlich die Runde erreichte, wo sich jeder außer ihr und Cecil versammelt hatte. Syo und Natsuki mussten hier auf ihrem Weg zum gemeinsamen Zimmer Halt gemacht, schlussfolgerte sie. Kurzerhand gesellte sie sich an ihre Seite. „Was ist…?“ Fünf Augenpaare richteten sich auf sie. Das war es jedoch nicht, was sie in diesem Moment beunruhigte, sondern vielmehr das, was sie vor sich sah: eine gepackte Reisetasche, darauf eine etwas vergriffene Gitarrentasche und nebendran an dem ganzen Gepäck der Besitzer. Otoya selbst. Fertig angezogen in blauer Jeans, bedrucktem T-Shirt, Turnschuhen und orangener Weste; alles in einem: aufbruchbereit. „Was ist los?“, vervollständigte sie ihre Frage genau in dem Moment, als auch Cecil neben ihr eintraf, und richtete ihren Blick an den Rotschopf. Eigentlich, das wusste sie, war ihre Frage wohl überflüssig, aber sie musste es von ihm selbst hören. „Unser Kleiner will für ein paar Tage ausfliegen“, antwortete ihr stattdessen Ren, der seinen üblichen Platz auf der blauen Couch eingenommen hatte. Es lag keinerlei Gefühlszuordnung in seiner Stimme, aber seine abwehrende Haltung mit den überschlagenen Beinen und verschränkten Armen auf dem Schoß sprach für sich. „Sieht so aus, als wollte er keine Zeit mit uns verbringen.“ „So ist das nicht!“, warf Otoya sofort ein, was aufgrund dessen, dass er seine Stimme etwas zu sehr hob, wie ein Misch aus Selbstverteidigung und Verzweiflung klang. „Ehrlich, das stimmt nicht. Ich würde gern Zeit mit euch allen verbringen.“ „Wieso?“, war Harukas nächste Frage, womit sie vielmehr „Wieso dann?“ meinte. Sie war leiser geworden, da sie die Antwort bereits vermutete. Otoya wandte seinen Blick daraufhin in ihre Richtung. Einen Moment lang schwieg er, dann setzte er ein vorsichtiges Lächeln auf, welches in Harukas Augen traurig wirkte. „Ich möchte meine Familie besuchen“, sprach er belegt. „Nur für ein paar Tage, dann bin ich wieder da.“ „Deine Familie?“ Seine Familie im Waisenhaus, erinnerte sie sich. Sie schaute zu Boden. „Ach so…“ „Aber wieso so plötzlich?“, ergriff nun Natsuki das Wort. „Das ist aber wirklich ungünstig, wo du doch gestern erst für uns einkaufen warst. Ich wollte heute für uns alle backen. Ich habe neue Rezepte gefunden, die ich uuunbedingt ausprobieren möchte, und die Motive sind sooo niedlich.“ Er seufzte zutiefst bedrückt. „Davon einmal ganz abgesehen“, warf Syo seinen Hut in den Ring und richtete sich damit an den letzten Freund in der Runde, der mucksmäuschenstill auf einem der roten Sesselstühle saß. „Tokiya, hast du davon gewusst? Ihr seid doch Zimmermitbewohner.“ „Auch erst seit heute Morgen“, erklärte dieser ruhig, wobei er erst von Haruka zu Syo neben ihr, dann zu Otoya blickte. Er zuckte beiläufig mit den Schultern. „Ich habe ihn darauf angesprochen, als er zu früher Stunde seine Taschen gepackt hat. Es scheint eine Spontanentscheidung gewesen zu sein, sonst hättest du mir schon früher davon erzählt, oder, Otoya?“ „Es war… recht spontan, ja. Sonst hätte ich euch schon früher darüber informiert, das stimmt.“ ‚Wegen mir?‘, schoss es Haruka durch den Kopf, aber diese Frage konnte sie nicht vor all den anderen aussprechen. Vermutlich waren sie und der Vorfall von gestern der Grund für diese Entscheidung, sie hatte so ein Gefühl. Aber wenn das stimmte, was bedeutete es dann? „Sollten wir nicht lieber etwas zusammen unternehmen?“, war es wieder Natsuki, der sprach. Hoffnung schwang in seiner Stimme mit. „Wir haben nicht oft die Möglichkeit dazu. Wir sind doch auch so etwas wie eine Familie. Nicht wahr, Otoya-kun? Du denkst doch genauso?“ Otoya wich den Blicken der Freunde aus und sah zu Boden. Jeder konnte sehen, dass er einen inneren Konflikt mit sich ausfocht. „Ja“, sprach er dann leise, bemüht, überhaupt etwas zu sagen. „Ja, ich sehe euch auch als Familie. Aber…“ Seine Stimme brach weg. Sekunden später fiel er in eine tiefe Verbeugung vor. „Tut mir leid. Es tut mir wirklich leid, aber…“ Als er sich wieder aufrichtete, suchten seine Augen bestimmt nach Haruka. Sie konnte offen in ihnen lesen, während er weitersprach, als seien die folgenden Worte nur an sie gerichtet: „Ich möchte sie gern sehen.“ Die Botschaft verstehend, spürte Haruka einen Stich in ihrem Herzen. Sie konnte nicht sagen, dass sie es ihm verübeln konnte, dennoch tat es weh. Die Traurigkeit in seinen Augen und das Wissen, dass sie Schuld daran trug. Dass sie es war, weswegen er diesen Schritt gewählt hatte. „Ittoki-kun…“ Nur schwer brachte sie seinen Namen über ihre Lippen. Erst im Nachhinein bemerkte sie ihren Fehler und hob sich schnell ihre Hände an den Mund. Das war falsch gewesen, nicht wahr? Hatte sie es soeben schlimmer gemacht, ohne dass sie es gewollt hatte? Otoyas Mimik veränderte sich. Seine Gesichtszüge hellten sich auf. „Ist schon okay“, beruhigte er sie in ihrer Geheimsprache, deren Hintergrund nur sie beide verstanden. Dennoch, verborgen blieb es in diesem Raum niemandem, und entsprechend ruhten die Blicke der anderen auf ihnen. „Ich bin nur ein paar Tage weg. Ich melde mich auch, versprochen“, beschwor er noch einmal, dieses Mal an die gesamte Runde gewandt. Er brachte sein ehrlichstes Lächeln hervor, das er in dieser Situation aufbringen konnte. „Was ist mit der Agentur?“, warf Tokiya weitblickend ein. „Wissen Shining Saotome und die anderen über dein Vorhaben Bescheid?“ Otoya nickte. „Ja, ich habe mit ihnen telefoniert. Es ist alles abgesprochen und abgesegnet.“ „Gut organisiert, der Junge. Alle Achtung“, kommentierte Ren gespielt beeindruckt, aber auch das klang vielmehr wie ein Seitenhieb. „Otoya-kun…“ „Lass gut sein, Natsuki“, ging Syo seinem Freund dazwischen. Haruka bemerkte, dass er sie noch immer von der Seite musterte, und sie wurde das Gefühl nicht los, dass er einen Verdacht geschöpft hatte, dass etwas zwischen ihr und Otoya in der Luft lag, was niemand aus der Gruppe mitbekommen sollte. Gerade wollte sie etwas weiter in ihm forschen, da brach er den Blickkontakt ab, verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust und wandte sich Otoya zu. Er war ohne Frage verstimmt, mehr noch als zuvor auf dem Hofplatz. „Soll er doch gehen, wenn er unbedingt will. Wir sind in der nächsten Zeit nicht aufeinander angewiesen, also soll er doch.“ „Syo…“ Otoya war hörbar verletzt von den Worten des Freundes, doch er sagte nichts, sondern ließ nur bedrückt die Schultern nach vorn fallen. „Otoya geht also wirklich weg?“, vergewisserte sich Cecil der Entwicklung, was Haruka einen weiteren Hieb versetzte. Nicht besser machten es Tokiyas anschließende Worte, die klangen, als würden sie es besiegeln: „Pass auf dich auf und komm wohlbehalten zurück.“ „Mhm. Ich melde mich bei euch.“   Nur eine halbe Stunde später saßen sie alle am Frühstückstisch. Alle, bis auf Otoya. Es war seltsam. Heute war es nicht der Platz am rechten Ende des Tisches, der frei blieb, sondern der von Haruka rechts gegenüber. Er hatte sich nur um eine Position entgegen des Uhrzeigersinns verschoben, und doch fiel der freie Stuhl an Natsukis Seite fiel sofort auf. Kam ihr das nur so vor? Bis sie die Küche betreten und ihre üblichen Plätze eingenommen hatten, war Haruka gar nicht aufgefallen, dass Masato gar nicht bei ihnen im Gemeinschaftsbereich gewesen war. Seine Frage nach Otoya, der sich nur selten zum Essen verspätete, hatte sie im ersten Moment entsprechend überrascht. Die anderen hatten es für sie übernommen, den Freund über Otoyas spontane Abreise aufzuklären, doch entgegen ihrer Erwartung hatte Masato nicht sehr überschwänglich darauf reagiert. Keine Fragen, keine Eigenvermutungen oder gar Einwände – geradeso als hatte er eine solche Entwicklung bereits vermutet oder gar erwartet. Sie fragte sich, was wirklich dahintersteckte. Das Frühstück verlief ruhig, verhältnismäßig still. Einer aus ihrer Gruppe fehlte, und das merkte man nur zu deutlich. Es war fast schon erschreckend. „Mach dir keine Sorgen“, waren seine letzten Worte an sie gewesen, bevor er mit seinen geschulterten Taschen vor die Tür getreten war. Sein entschuldigendes Lächeln machte ihr noch immer das Herz schwer. „Ich verspreche dir, dass ich zurückkommen werde. Ehrenwort.“ – Versprochen. Er hatte es ihr versprochen. Er würde sich auch daran halten, nicht wahr? Kapitel 7: Bleib du selbst -------------------------- Die Atmosphäre war gedrückt. Niemand sprach bis auf das Nötigste. Hier und da war das leise Klappern von Geschirr zu hören, sonst nichts. Genauso war es auch während des gemeinsamen Frühstücks gewesen. Von einem schweren Seufzen begleitet, stapelte Haruka die leeren Teller aufeinander. Ihr auf den Fersen war Natsuki, der das Besteck einsammelte. Syo ihnen gegenüber schnappte sich die drei leeren Kannen vom Tisch und ging mit ihnen voran, um sie hinüber zur Küche zu bringen. Auf der Durchreiche fand alles seinen Platz und wurde von Masato entgegengenommen, der mit rauschendem Wasser den Abwasch bediente. Keiner von ihnen sprach nur ein einziges Wort. Das Aufräumen der Küche übernahmen Tokiya und Cecil. Wenigstens die beiden brachen gelegentlich das Schweigen, wann immer Tokiya Cecils Fragen beantwortete, wohin er etwas zu räumen hatte. Sie wirkten heiter im Vergleich, während sie die Reste verpackten und im Kühlschrank verstauten, herumstehende Behälter ordneten und in den Schränken einsortierten. Der Geschirrspüler war Rens Part. Alles, was von Hand zu aufwendig gewesen wäre, fand darin Platz. Indem er im Anschluss das bereits saubere Geschirr abtrocknete und sogleich im Schrank einsortierte, half er Masatos einige Zeit aus. Als die Arbeit am Waschbecken abnahm, legte er das Geschirrtuch beiseite und übernahm den Müll, ohne dass es einer Aufforderung bedurfte. Sein auffallend stilles Verhalten an der Seite seines Zimmermitbewohners war gänzlich untypisch für ihn, doch niemand aus der Gruppe kommentierte es. Sie hatten genug mit sich selbst zu tun. „Ich bin fertig“, verkündete Haruka, als sie vom Essbereich in die eigentliche Küche zurückkehrte. Sie war mit dem Abwischen des Tisches fertig und brachte den Lappen zurück, den sie sich dafür geliehen hatte. Masato warf ihr einen flüchtigen Blick über die Schulter zu. „Gut.“ „Soll ich dir noch bei etwas helfen? Die anderen sind schon gegangen.“ „Ich bin gerade fertig geworden“, erklärte er und ließ im selben Moment das Abwaschwasser ablaufen. „Sofern du nichts mehr findest, was die anderen übersehen haben, kannst du ruhig gehen. Ich mache noch den Rest sauber, dabei brauche ich keine Hilfe.“ „Mhm.“ Sie nickte und ließ ihren Blick durch die Küche schweifen. Alles sah soweit ordentlich aus, die Jungs hatten nichts vergessen. Im Essbereich wusste sie, dass alles ab- und aufgeräumt war, dessen hatte sie sich bereits vergewissert. Demzufolge gab es nichts mehr, was sie tun könnte. „Gut, dann gehe ich jetzt ebenfalls. Gute Arbeit.“ Sie tat eine höfliche Verbeugung, anschließend wandte sie sich ab. „Nanami.“ Fragend drehte sie sich herum. „Ja?“ Masato stand mit dem Rücken zu ihr und war dem Anschein nach damit beschäftigt, das Waschbecken und die Arbeitsplatten darum zu reinigen. Er machte keinerlei Anstalten, sich ebenfalls nach ihr umzuwenden. „Triff dich bitte in einer Stunde im Übungsraum mit mir. Ich werde dort auf dich warten.“   Das leise Klacken ihrer Schritte begleitete Haruka durch den weiten, hohen Korridor auf dem Weg zum Übungssaal. Sie fühlte sich unbehaglich, und das war ihr deutlich anzusehen. Was könnte Masato von ihr wollen? Seit sie die Küche verlassen hatte, hatte sie sich diese Frage gestellt. Wieder und wieder. Und ihr kam ein Verdacht, der sie fast dazu veranlasst hätte, sich in ihrem Zimmer zu verschließen und Masatos Bitte feige auszuschlagen. Wenn es das war, was sie vermutete, dann wollte sie nicht gehen. Dann wollte sie ihm nicht gegenübertreten und Rede und Antwort stehen, wie er es wohl von ihr erwarten würde. Sie war sich nicht sicher, aber sie glaubte, dass er es gewesen war, den sie gestern um ein Haar umgerannt hatte, als sie panisch aus der Küche gestürzt war. Als sie vor der Situation geflohen war, die sich zwischen ihr und Otoya ergeben und mit der sie sich überfordert gefühlt hatte. Sie hatte nicht bemerkt, dass jemand hinzugekommen war und nur am Rande den karierten Wollpullover erkannt, der sich einzig Masato zuordnen ließ. Wenn dem so war, dann hatte er alles mitbekommen, was zwischen ihnen vorgefallen war. Und nun würde er sie zur Rede stellen und in Erfahrung bringen wollen, was die Szene zu bedeuten hatte. – Was sollte sie ihm nur darauf antworten? In ihren Kopf rumorte es. Sie wollte nicht darüber reden. Nicht mit Masato und auch sonst mit niemandem. Nicht, bevor sie die Gelegenheit gehabt hätte, mit Otoya zu reden und das, was nun zwischen ihnen lag, zu klären. Aber schaffte sie es, die anderen deswegen zurückzuweisen? Sie machten sich doch nur Sorgen um sie und meinten es gut. Das wusste sie, und dennoch … Aber vielleicht irrte sie sich und es ging um etwas ganz anderes. Das zumindest versuchte sie sich einzureden. Wiederholt schüttelte sie den Kopf, um sich von diesen trüben Gedanken zu lösen. Sie interpretierte zu voreilig. Vielleicht, möglicherweise, war der Grund ein ganz anderer, dass er sie treffen wollte. Allein. Auch, wenn ihr im Moment keiner einfallen wollte. Sie kam vor der großen Doppeltür zum Stehen. Ein letztes Mal atmete sie tief durch in dem Versuch, ihren Kopf frei zu bekommen und sich zu beruhigen. Ihr wilder Herzschlag schien zu protestieren, doch sie gab sich einen Ruck. Mutig langte sie nach dem vergoldeten Griff, um die Tür vorsichtig aufzuschieben. „Ich bin da“, sprach sie leise in den großen Saal hinein. Mit den Augen suchte sie nach ihrer Verabredung, bis sie beim Piano fündig wurde. Dort stand er, den Rücken in ihre Richtung gewandt, und doch schien es, als hätte er auf sie gewartet. Als er ihre Stimme vernahm, die zögerlich an ihn herangedrungen war, drehte sich Masato nach ihr um. Kaum dass er sie entdeckt hatte, entspannte er seine gerade Haltung und schenkte ihr ein dünnes Lächeln. „Ah, Nanami. Gut, dass du gekommen bist.“ Haruka ließ die Tür hinter sich ins Schloss zurückfallen. Langsamen Schrittes durchquerte sie den Raum, bemüht, sich ihre Anspannung nicht anmerken zu lassen. Es war niemand sonst außer ihnen hier, was sie auf seltsame Weise nervös stimmte. „Wieso wolltest du mich treffen?“ Auf einen Meter Abstand blieb sie stehen und sah unverwandt zu ihm auf. Es erstaunte sie selbst, wie ruhig sie diese Frage über ihre Lippen bekommen hatte, obgleich sie das Gefühl hatte, ihr Herz könne ihr jeden Moment aus der Brust springen. Masato sah sie an. Für mehrere Sekunden sagte er nichts, während er in ihren Augen zu forschen schien. Ihm war nicht anzumerken, ob er auf etwas wartete; etwa, dass sie den Anfang machte und irgendetwas Bestimmtes sagte oder tat. Einige Zeit später wandte er den Blick von ihr ab und deutete mit einem Nicken neben sich in Richtung Piano. „Das hast du vergessen.“ Irritiert folgte sie seiner Weisung zur Sitzbank. Auf ihr befand sich eine Tüte, deren blauer Schriftzug auf pinken Untergrund ihr wohlbekannt war. Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen: ihre Einkaufstüte von gestern mit dem neu erworbenes Kleid, zu welchem Tomochika ihr bei ihrem Stadtbummel geraten hatte. Schnell eilte sie nach vorn, um das Gut an sich zu nehmen. Sie musste es gestern in der Küche zurückgelassen haben, als sie ihre panische Flucht angetreten war. Ihr wurde erst jetzt bewusst, dass sie es nicht vermisst hatte. Keinen einzigen Gedanken hatte sie an das Kleid verschwendet. „Danke“, sprach sie erleichtert, die raschelnde Tüte in ihren Armen. Als sie sich nach Masato umdrehte, begegnete sie seinem Blick, der aufmerksam auf ihr ruhte und jedes Tun von ihr beobachtete. Sofort fühlte sie sich unbehaglich. Er stand einfach nur da, prüfte sie eingehend aus seinen tiefblauen Augen und sprach kein einziges Wort. „Ähm“, zögerte sie mit einem zweiten Anlauf. „Also … danke, dass du sie für mich gefunden und darauf Acht gegeben hast. Ich habe sie wohl … vergessen.“ Sein Schweigen war kaum zu ertragen. Lange Sekunden, die sie mit zunehmender Unsicherheit straften. „Nicht der Rede wert.“ Einfache Worte, die einen schwerwiegenden Bann zu brechen vermochten. Haruka spürte, wie die Befangenheit von ihr abfiel, als er den Blickkontakt zu ihr löste. „Eigentlich hatte ich sie dir schon früher zurückgeben wollen, doch als ich heute Morgen von deiner Tür stand, hast du nicht auf mein Klopfen reagiert. Du warst vermutlich nicht mehr auf deinem Zimmer gewesen, nehme ich an.“ „Mh“, bestätigte sie mit einem Nicken. „Ich war heute schon sehr zeitig wach und habe früh das Zimmer verlassen. Im Übungsraum habe ich Cecil-san getroffen. Wir sind rausgegangen und haben uns ein wenig unterhalten, während wir auf Syo-kun und Shinomiya-san gewartet haben, die noch Joggen gewesen waren.“ Sie pausierte. Wieso erzählte sie ihm das eigentlich alles? Ungeachtet dessen fuhr sie fort: „Anschließend sind wir alle zusammen reingegangen und haben den Rest getroffen. Und Ittoki –“ Sie brach ab. Die Erinnerung an das, was im Anschluss passiert war, versetzte ihr einen Stich. Unwillkürlich presste sie sich die Plastiktüte fester an ihre Brust. „Verstehe.“ Masato klang wie immer ruhig und gefasst, als er das Schweigen durchbrach, welches sich neu zwischen ihnen festgesetzt hatte. „Deswegen also habe ich dich nirgendwo finden können. Ich war immer zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.“ Sie wollte nicken, konnte es jedoch nicht. Ihr Körper fühlte sich schwer an, wie gelähmt. In ihrem Kopf arbeitete es, doch seine Worte drangen nur langsam zu ihr durch. „Hijirikawa-san, du hast …?“ Die plötzliche Erkenntnis ließ ihren Blick zu ihm hochfahren. Er hatte nach ihr gesucht? Er war bei ihrem Zimmer gewesen, das hatte er gesagt, und im Anschluss? Und das alles, um ihr ihre Einkaufstüte zurückzubringen? „Hast du dich deswegen …?“ Ihre Stimme wurde leiser. War das möglicherweise der Grund für sein verspätetes Erscheinen beim Frühstück gewesen? Der Gedanke rief Schuldgefühle in ihr hervor. „Wie ich schon sagte, es ist nicht der Rede wert“, betonte er ruhig. Beiläufig und wohl ohne dass er es selbst bemerkte, strich seine Hand über die glatte Oberfläche des schwarzen Pianoflügels. „Tut mir leid.“ „Du brauchst dich dafür nicht zu entschuldigen.“ „Dennoch …“ – Dennoch, ihr war danach. Sie hatte das dringende Bedürfnis, es zu tun. Und wenn schon nicht für die Umstände, die er ihr zuliebe auf sich genommen hatte, dann zumindest … Stille kehrte zwischen ihnen ein. So sicher und richtig Masato an seinem Platz neben dem Piano wirkte, so verloren und fehl fühlte sich Haruka ihm gegenüber. Sie hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, um die Barrikade zwischen ihnen zu durchbrechen. Doch sie wusste nicht, was und wie. Allein, hier zu sein, kostete sie bereits alles an Kraft und Wille. „Nanami.“ Sie zuckte unwillkürlich zusammen. „Was ich dich fragen wollte …“ Ihre Haltung versteifte sich. Jetzt war es also soweit. Sie wusste nicht, ob sie schon bereit dafür war, aber sie nahm sich fest vor, standhaft zu bleiben und nicht vor seiner Frage zurückzuweichen. Tapfer hob sie ihren Blick, in Erwartung. Masato verstummte für einen Moment, ehe er seine Frage vervollständigte: „Wie kommst du voran?“ „Eh?“ „Mit dem Song“, half er ihr auf die Sprünge. „Du arbeitest derzeit an einem neuen Stück für uns, richtig?“ „Ähm … ja.“ Betreten senkte sie das Kinn und sah zu Boden. „So eigentlich“, ergänzte sie leise flüsternd. „Hast du Schwierigkeiten?“ „Ich … also …“ Wie sollte sie das nur erklären? „Es ist … ich fühle mich in letzter Zeit irgendwie überfordert. Also nicht in dem Sinne, dass … Es ist vielmehr so, ähm … es fühlt sich so an, als sei ich von meinem Weg abgekommen. Irgendwann, irgendwie. … Um ehrlich zu sein, ich habe noch nicht wirklich etwas zusammenbekommen, das für ein neues Lied tauglich wäre.“ „Hm.“ Er überdachte ihre Worte für einen Moment. „Belastet dich etwas?“ Sie schwieg. „Möchtest du darüber reden?“ Die Art, wie sie die Arme fester um ihre Tüte schloss und die Schultern kaum auffällig hob, war ihm Antwort genug. Wenn es etwas in ihm auslöste, dann ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Ohne ein weiteres Wort, ohne weiter nachzubohren, löste er sich von seinem Platz. Indem er hinter Haruka vorüberzog, trat er an das Piano und klappte den Klaviaturdeckel hoch. Ein leises Klicken war zu hören, als er es fixierte. „Spiel es mir vor.“ Fragend sah sie zu ihm herüber. „Das Lied, das der Direktor neulich abgelehnt hat.“ „Jetzt?“ Sie zögerte. „Aber ich habe meine Noten nicht dabei.“ „Die sind nicht wichtig“, beschwichtigte er. „Du kennst deine Musik, die du geschrieben hast. Ich bin mir sicher, du weißt auch, wie dieses Stück gespielt wird. Die Noten dienen nur als Hilfsmittel zur Führung, aber du brauchst sie nicht, um deine Musik jederzeit spielen zu können, wenn du es möchtest.“ Das stimmte. Zaghaft nickte sie und bestätigte dadurch, was er gesagt hatte. Wirklich wohl war ihr dabei jedoch nicht. Sie hatte für diesen Song eine solch niederschmetternde Kritik kassiert, doch welch andere Wahl hatte sie, wenn er sie darum bat? Es war das Mindeste, was sie tun konnte, um ihn nicht gänzlich von sich zu enttäuschen. Zögerliche trat sie an seine Seite. Ihr Blick ruhte abschätzend auf der makellosen Klaviatur, auf der sie schon so oft gespielt hatte. Nur das Betrachten der schwarz-weißen Tasten weckte Erinnerungen in ihr, die ihr ein Gefühl von Geborgenheit und Wärme gaben. Erinnerungen, die sie verträumt lächeln ließen, jedoch eine Schwere auf ihrem Herzen auslösten. Entschieden stellte sie die Einkaufstüte auf dem Boden neben dem Instrument ab und nahm Platz auf der schmalen Bank. Masato tat es ihr gleich und setzte sich mit etwas Abstand neben sie. Sie spürte das Gewicht, das er dabei auf die Bank ausübte, beachtete es aber nicht weiter und legte die Hände an die Klaviatur. „Spiel einfach, woran du dich erinnern kannst“, sprach er ihr sanft von der Seite Mut zu. „Wenn du Passagen aussetzen musst, weil du unsicher bist, tu es einfach und überspring sie. Ich werde bis zum Ende zuhören.“ „In Ordnung.“ Einige Momente vergingen, in denen sich Haruka sammelte. Sie atmete noch einmal tief durch, schon legten sich ihre Finger an die richtigen Tasten und sie begann zu spielen. Jene Melodie, an der sie zuletzt so lange und so voller Hingabe gearbeitet hatte. Jene, in die sie so viel Arbeit und Liebe investiert hatte, und die doch nicht gut genug war, dass irgendjemand jemals zu ihr singen würde. Niemand außer ihr und ihren Nahestehenden würden sie jemals zu hören bekommen. Masato neben ihr blieb stumm. Wie er es versprochen hatte, war er einfach nur an ihrer Seite und lauschte der Melodie, die Haruka ihm aus sanft-fröhlichen Pianonoten präsentierte. Er störte sich nicht daran, dass sie zwei Mal ins Straucheln kam und falsche Töne erwischte, die nicht in das Stück passen konnten. Sie übersprang jene Sätze, was er in aller Duldsamkeit hinnahm, ohne die leiseste Regung zu zeigen. Nach fünf Minuten war das Schauspiel vorüber und Haruka beendete ihre Präsentation, indem sie die letzte Fis-Note ausklingen ließ. Warm fand die Melodie ihren Abschluss und hinterließ ein Gefühl von Frohsinn. Überschattet von Schwermut, die Haruka in ihrem Herzen fühlte, jetzt, da das Musikstück ihr vermutlich letztes Ende gefunden hatte. „Der Direktor meinte, es sei zu viel und zugleich zu wenig“, erklärte sie mit gepresster Stimme, nachdem Masato auch nach einer Minute noch nichts gesagt hatte. „Er sagte, dass es halbherzig sei. Ich verstehe nur nicht, was er damit gemeint hat.“ „Hm“, gab Masato nachdenklichen von sich. Er schien zu überlegen. „Nun, es klingt sehr optimistisch und fröhlich.“ „Ist das schlecht?“, wandte sie sich fragend an ihn. Normal hätte sie eine solche Aussage als Kompliment genommen, da es genau das war, was sie durch ihre Melodien erreichen wollte. Doch die Art, wie er es gesagt hatte, rief Unsicherheit in ihr hervor. Masatos Gesicht war eben. Es ließ sich nicht darin lesen. Seine dunkelblauen Augen waren auf das Piano gerichtet und schienen doch ins Nichts zu blicken. Es war unmöglich, zu vermuten, woran er in diesem Moment wohl denken mochte. „Und?“, fand er sich nach einer langen Zeit ins Hier und Jetzt zurück. Ruhig, beherrscht wie immer. „Was hast du nun vor? Wie willst du weitermachen?“ „Ich … also …“ Entmutigt wandte sie den Blick von ihm ab und verkrampfte die Hände in ihrem Schoß. „Ich bin mir … nicht ganz sicher. Erst dachte ich, dass ich nur einzelne Noten umschreibe und die grundliegende Melodieführung beibehalte. Aber es gibt Momente, in denen ich mir unschlüssig bin, ob das genügen würde oder ob ich besser ganz von vorn mit einem neuen Stück beginne. Doch immer, wenn ich darüber nachdenke, was ich schreiben will …“ „Hm.“ In seiner entspannten Körperhaltung streckte er den rechten Arm nach vorn und legte Hand an die Klaviatur. Seine Finger spielten einige der Töne aus dem Stück, welches Haruka ihm vorgetragen hatte und die ihm im Gedächtnis geblieben waren. Es waren frohe Töne überwiegend im Dur der dritten und vierten Oktave. Nach dieser achttaktigen Periode ließ er wieder von der Tastatur ab und stieß ein stummes Seufzen aus. Haruka verlangte es, ihn nach seinen Gedanken zu fragen, ließ jedoch von diesem Vorhaben ab. Sie wusste, dass Masato eine überlegte Person war. Wenn er Zeit brauchte, um seine Gedanken in Worte zu fassen, dann war es besser, sie ihm zu geben. So schwer es ihr auch fallen mochte. „Was hast du bisher versucht?“ „Nun …“ Kurz überlegte sie. „Nun, um ehrlich zu sein … sonderlich viel habe ich noch nicht getan. Ich habe oft darüber nachgedacht und versucht, mir eine neue Melodie zu überlegen. Aber ich habe nichts davon niedergeschrieben. Es erschien mir nie das Richtige zu sein, irgendwie.“ „Verstehe.“ Einen Moment lang schloss er die Augen, um ihre Worte auf sich wirken zu lassen. Als er sie das nächste Mal aufschlug, besah er Haruka von der Seite. „Möglicherweise behinderst du dich selbst, indem du zu viel darüber nachdenkst und krampfhaft versuchst, etwas zu komponieren, das jeden zufriedenstellen wird. Beteiligt oder nicht.“ „Ich möchte nicht“, sprach sie nur zögerlich, „dass das nächste Stück ebenfalls abgelehnt wird. Ich möchte nicht, dass der Direktor seinen Glauben in mich verliert und er mir verbietet, weiterhin für Starish zu komponieren. Das wäre … Wenn … wenn ich nicht mehr für euch –“ Ihre Stimme brach und ließ diesen letzten Satz unvollendet. Der Gedanke hatte einen Kloß in ihrer Kehle geformt, der es ihr unmöglich machte, nur ein einziges Wort mehr zu sprechen. „Starish würde zu keiner anderen Musik singen als zu der, die du für uns geschrieben hast“, erklärte Masato entschieden, um ihre Sorgen zu besänftigen. Zu sehen, wie das Mädchen mit den Tränen kämpfte, machte es ihm schwer, seine übliche Fassung zu wahren. „Darin ist sich die gesamte Gruppe einig, wenigstens in dieser einen Sache. Starish besteht aus acht Personen. Du gehörst genauso dazu wie jeder andere von uns. Du bist unsere Komponistin, Nanami, und niemand sonst. Wir alle haben sehr großes Vertrauen in dich.“ Hoffnung keimte in Haruka auf. Sie spürte, wie ihr Herz an Mut und Kraft gewann. So viele Gedanken und Emotionen wurden in ihr wach, doch sie fand keine Worte, um nur einen Teil davon angemessen zum Ausdruck zu bringen. „Danke.“ Es war nur ein einziges, einfaches Wort. Nur ein Wort und ein Lächeln, das so aufrichtig und voller Wärme war, dass Masato für einen Moment alles um sich herum vergaß. Es waren genau diese flüchtigen Momente. Diese kleinen Gesten, die eine gewisse Intimität zwischen ihnen schufen. Sie waren besonders, das wurde ihm just deutlich. Ein kurzes Räuspern in die Faust war die Folge, als ihm bewusst wurde, wie sich sein Herzschlag beschleunigte hatte. Seine Ohrspitzen fühlten sich unangenehm heiß an, was ein eindeutiges Zeichen war. Er versuchte, sich von alledem nichts anmerken zu lassen, indem er den Kopf zur Seite drehte und die Augen schloss. „Auf jeden Fall“, wechselte er galant das Thema, „was deine Musik anbelangt: Ich denke, das Wichtigste ist, dass du dabei du selbst bleibst.“ „Ich selbst?“ Er warf ihr einen vorsichtigen Seitenblick zu. „Deine Musik ist besonders“, versuchte er zu erklären. „Du gibst jedem Lied etwas von dir selbst mit. Deine Melodien sind ehrlich, klar und aufrichtig. Das ist der Grund, warum sie in der Lage sind, die Menschen zu berühren. Und warum es uns möglich ist, ebenso aufrichtige Texte dazu zu verfassen und frei heraus zu singen. Deine Musik macht eine Harmonie zwischen den Menschen möglich. Deswegen ist es wichtig, dass du in erster Linie für deine Musik ehrlich zu dir selbst bist.“ „Ehrlich zu mir selbst …“ Das kam ihr seltsam vertraut vor. Was war es gleich noch gewesen, das Cecil ihr vor wenigen Tagen gesagt hatte? Damals auf der Wiese beim Sommerfest? „Es ist nicht richtig.“ „Hm?“ „Ah!“ Erschrocken fuhr Haruka aus ihren Gedanken hoch. Ihr war nicht aufgefallen, dass sie diese Worte laut ausgesprochen hatte. Sofort hob sie die Hände abwehrend vor sich. „Das … das hat mir Cecil-san gesagt. Neulich, auf dem Sommerfestival“, erklärte sie eilig. „Er sagte, dass sich das Lied nicht ‚richtig‘ anfühle und … Er hat etwas Ähnliches zu meiner Musik gesagt wie du eben.“ Eine verlegene Röte legte sich über ihr Gesicht. Kaum, dass Cecils Name gefallen war, zogen sich Masatos Augenbrauen tiefer. Abermals wandte er den Blick von ihr ab, um zu vermeiden, dass sie sein Missfallen bemerkte. Er konnte jedoch nicht verhindern, dass seine Stimmlage tiefer als gewöhnlich klang, als er sprach: „Ihr beide verbringt neuerdings wirklich viel Zeit miteinander.“ „Hm?“ „Nichts. Schon gut.“ Er gab ein leises Seufzen frei. „Hijirikawa-san?“ „Wenn wir schon einmal hier sind“, lenkte er im Thema um, „wie wäre es, wenn du es einfach versuchst?“ „Eh?“ „Eine Melodie zu komponieren. Ganz spontan, was dir gerade in den Sinn kommt. Du hast lange nicht mehr frei gespielt, habe ich recht? Und für den Fall, dass dir etwas einfällt, das du gern verwenden möchtest, hast du hier auch die Möglichkeit, dir entsprechende Notizen zu machen.“ Dabei deutete er auf den Stapel bereitliegender Notenblätter, die auf der Partiturablage unter einer breiten Klammer gehalten wurden. „Aber … ich weiß nicht, ob mir so spontan etwas einfällt“, gab sie zögerlich zu bedenken. „Versuch es.“ Sie wagte keine Widerworte. Folgsam rückte sie sich auf ihrem Platz zurecht und legte die Hände abermals an die Klaviatur. … Wo sie verweilten, ohne die geringste Regung, eine Note anzuspielen. Ihr Blick haftete starr auf den Tasten, während sie in ihrem Inneren krampfhaft nach einer Melodie suchte, die sie spielen könnte. Nach mehreren Minuten, die tonlos verstrichen waren, gab sie das hoffnungslose Unterfangen auf. Langsam zog sie die Hände zurück, um sie auf ihrem Schoß zu platzieren. „Tut mir leid“, flüsterte sie leise, voll tiefstem Bedauern. „Du musst dich nicht entschuldigen.“ Ein weiteres Mal wurde es still zwischen ihnen. Unangenehm still, bedrückend. „Ich“, ergriff Haruka hauchzart das Wort, „würde gern auf mein Zimmer zurückkehren. Es gibt da ein paar Dinge, über die ich gern nachdenken möchte.“ Sie erhob sich, ohne ihn anzusehen. Neben der Bank hob sie die kleine Einkaufstüte vom Boden und umschloss sie mit beiden Armen. Anschließend wandte sie sich nach Masato um. „Hab vielen Dank für alles“, sagte sie, wobei sie ein aufrichtiges Lächeln trug. „Dafür, dass du auf meine Sachen aufgepasst und sie mir wohlbehalten zurückgegeben hast. Und auch für das Gespräch und deine Hilfe. Ich weiß das alles wirklich sehr zu schätzen, auch wenn es vielleicht nicht so herübergekommen ist. Es hat mir wirklich sehr geholfen.“ Sie fiel in eine höfliche Verbeugung vor. „Nein, das … das ist schon in Ordnung. Kein Grund, so förmlich zu werden.“ „Es hat gut getan, mit dir zu reden“, sprach sie sanft weiter, während sich Masato ebenfalls erhob und daran machte, den Klavierdeckel ordentlich herunterzuklappen. „Ich werde über deine Worte nachdenken und mich mehr bemühen, bald ein neues Lied fertigzustellen, zu dem Starish singen kann. Ich verspreche, nicht aufzugeben und weiterhin mein Bestes zu geben.“ „Ja.“ Auf seinen Lippen spielte ein mildes Lächeln, als er sich ihr im Anschluss zudrehte. Indem er um die Bank herumging, trat er auf sie zu und hob die Hand, um sie ihr zärtlich auf die Wange zu legen. „Ja, ich weiß, dass du das wirst. Und wenn du über irgendetwas reden willst, kannst du jederzeit zu mir kommen.“ Der dezente Rotschimmer auf ihren Wangen betonte das frohe Leuchten ihrer Augen, die ihm unverwandt entgegenblickten. Ihr vorsichtiges Nicken bedeutete Masato, dass sie seine Geste verstanden hatte und er zog in einer Erwiderung seine Hand zurück. „Ich gehe dann jetzt“, flüsterte sie leise. Erneut verneigte sie sich, schon drehte sie sich herum, um den Übungsraum zu verlassen. Regungslos verharrte Masato an seiner Stelle. Harukas Schritte hallten durch den Raum, als sie sich entfernte. Er sah ihr nicht nach, seine Aufmerksamkeit lag auf der Innenfläche seiner Hand, die er offen neben sich hielt. In einem kurzen Moment der Schwäche hatte er die Beherrschung verloren. Hatte er diesem stillen Bedürfnis nachgegeben, sie zu berühren. Ihr Gesicht hatte sich perfekt in seine Hand geschmiegt, ihre Haut so weich. Wenn er sie nur etwas länger auf die Art spüren könnte … „Nanami!“ Bei der Tür, die Hand bereits am Griff, blieb sie stehen. „Ja?“ „Ich …“ Wenn er ihr nur sagen könnte … „Hm?“ Ihr offener Blick, wie sie fragend den Kopf zur Seite legte, sprach so viel. Krampfend ballte er die Hand zur Faust, ihre Wärme noch immer spürend. Zwecklos. „Ich begleite dich noch ein Stück.“   Haruka war kaum durch die Tür nach draußen getreten, als sie eine Stimme vernahm: „Sieh an. Der Tag ist kaum ein paar Stunden alt, und schon geht die Sonne noch ein zweites Mal für mich auf, sobald ich die Lady sehe.“ Überrascht drehte sich Haruka nach rechts, wo sie Ren erkannte, der lässigen Schrittes auf sie zukam. Die Hände entspannt in den Hosentaschen seiner schwarzen Jeans vergraben, aus der das weiße Hemd fahrlässig auf einer Seite heraushing, wirkte er wie auf einem ziellosen Spaziergang durch die Flure des Wohnheims. Er hatte sich das lange, honigblonde Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, aus welchem einzelne Strähnen dem Zwang widerstrebten. Sie rahmten sein Gesicht, als sei es so gewollt, und zierten das charmante Lächeln, das zeigte, dass er inzwischen besserer Laune war als beim Frühstück. „Jinguji-san!“ „Ist die Lady heute ganz allein unterwegs?“ „Nein, ist sie nicht.“ Haruka trat höflich zur Seite, um Platz zu machen, als Masato hinter ihr aus dem Übungsraum hinaustrat. Er warf Ren einen durchdringenden Blick zu, während er die Tür hinter sich zuzog. Sein Lächeln wich einer ernsten Miene. Für einen Moment schien er die Situation abzuwägen, bis er zu einem scherzbehafteten Schmunzeln zurückfand. „Oho, heute in seltener Begleitung. Ich sehe schon. Deswegen also warst du nicht auf dem Zimmer. Ich habe mich schon gewundert, wo du wohl abgeblieben bist, Hijirikawa.“ „Mach dich nicht lächerlich“, konterte Masato missbilligend. „Als ob du dich ernsthaft um meine Abwesenheit sorgen würdest.“ „Zumindest habe ich mich gefragt, wie es der Lady wohl gehen mag und was sie in diesem Augenblick tut. Sorgen habe ich mir also durchaus gemacht.“ „Mir geht es gut. Hijirikawa-san hat mir ein wenig Gesellschaft geleistet“, erklärte Haruka, wobei ihr bezeugendes Lächeln Masato zu ihrer Seite galt. „So? Ich wünschte, ich könnte deswegen beruhigt sein.“ „Wie meinst du das?“ Masatos Stimme klang reserviert, aber gefährlich. Sein Blick verdüsterte sich. Diese Reaktion schien ihm zu gefallen. Er löste seine Haltung, schloss die Augen und ging auf die beiden zu, wobei er sprach: „Eine junge Lady sollte sich niemals in der Gesellschaft eines Mannes sicher fühlen. Auch unter einem Schafspelz kann sich ein hungriger Wolf verborgen halten. Selbst“, dabei machte er eine betonte Pause und sah mit einem umspielten Grinsen zu Masato auf, „wenn sein Pelz noch so dick erscheint.“ „Wie bitte?“ Sein Flüstern glich mehr einem Zischen. Irgendwo zwischen Entsetzen und Empörung straffte er die Schultern, seine Haltung gespannt. „Auf der anderen Seite“, winkte Ren seine letzte Bemerkung einfach zur Seite, „dürften wir, was das anbelangt, bei dir unbesorgt sein. Selbst dem Hungertod nahe würdest du keine Fänge entblößen. Ist es nicht so, Hijirikawa?“ „Du …!“ Der abfällige Laut, den Masato ausstieß, rang Ren nur ein müdes Lächeln ab. „Bei einem Mann wie mir wiederum“, fuhr er in seiner kleinen Spielerei fort, wobei er sich zu Haruka herunterbeugte, „wäre ich mir nicht ganz so sicher. Wenn so ein kleines, scheues Lämmchen vor mir steht, kann es gut sein, dass ich zum bösen Wolf werde.“ Bevor er ihr Gesicht berühren konnte, wurde seine Hand kraftvoll zur Seite geschlagen. Jeder Anflug von Scherzhaftigkeit wich aus Rens gestrafften Gesichtszügen, als er den Blick hob und auf die frostigen Augen Masatos traf. Binnen eines Herzschlags war der Spaß vorbei. „Geh nicht zu weit“, warnte Masato eindringlich. Seine sonst so ruhige Stimme war von einer Härte gezeichnet, die unüblich für ihn war. Das und seine Worte bauten eine Spannung zwischen ihnen auf, von solch Intensität, dass sie greifbar erschien.  „Wo-wovon redet ihr beiden da eigentlich?“ Längst hatte Haruka ihrer unterschwelligen Konversation nicht mehr folgen können. Wie verloren stand sie zwischen den Fronten und blickte unsicher zwischen den beiden Männern hin und her. „Wir haben uns nur unterhalten, Hijirikawa-san und ich.“ „Deine Sorge ist unbegründet“, entgegnete Ren an Masato gewandt, wobei er Haruka überging. Noch immer hielt er seinen Blick, seine Worte ruhig und gewogen. „Wenn ich wirklich solche Absichten ihr gegenüber hätte, wäre ich längst in die Offensive gegangen.“ „Das interessiert mich nicht“, warf Masato zurück. Daraus wurde deutlich, dass er kein Interesse verspürte, in seinem Standpunkt zurückzuweichen. „Es interessiert mich genauso wenig, was du mit anderen Mädchen in deiner Freizeit tust. Aber bei Nanami hältst du dich besser zurück.“ „Oh? Sonst was, Hijirikawa? Lass hören, ich bin neugierig.“ „Eine Fortführung dieser Unterhaltung ist sinnlos.“ Damit war das Gespräch für ihn beendet. Verdeutlichend drehte er sich ab. „Ich begleite Nanami noch zu ihrem Zimmer.“ „Hat die Lady etwas gegen zwei Eskorten einzuwenden? Wir haben dieselbe Richtung.“ „Sehr gern!“ Ein geschlagenes Seufzen war Masatos einzige Antwort.   „Oh, Haru-chan!“ Auf ihrem Weg zum Wohnflügel passierte das Dreiergespann den Gemeinschaftsraum. Dort trafen sie auf ein weiteres Mitglied ihrer Gruppe, das hinter einem Berg von Töpfen, Schüsseln und Zutaten – gefährlich schwankend auf einem Paar von kräftigen Armen – kaum zu erkennen war. „Shinomiya-san? Was …?“ Keinem von ihnen war klar, welche Verrenkung Natsuki wohl vollbringen musste, um den Kopf an dem Geschirrberg auf seinen Armen vorbeizubringen. Wie immer zeigte sein Gesicht ein auftuendes Lächeln, das keinerlei Anzeichen davon zeigte, ob er der geringsten Anstrengung unterlag. Weniger verwunderlich war sein Aufzug: in weißer Rüschenschürze, zugehöriger Haube und weiten Kochhandschuhen mit Piyo-Bedruck blieb er seinem Motto treu, dass die Definition von »süß« auch auf den Mann zutreffen durfte. – Obgleich sich in diesem Punkt die Geschmäcker scheiden konnten. Ren stieß ein anerkennendes Pfeifen aus. „Wird das ein Bankett?“ „Was hast du vor, Shinomiya?“, schloss sich Masato ihm an. „Ich habe doch erzählt, dass ich neue Rezepte gefunden habe, die ich uuunbedingt ausprobieren möchte“, zeigte Natsuki sein sonnigstes Strahlen. Die Vorfreude war in seinen leuchtenden Augen nicht zu übersehen. „Zitronenfalterkuchen, Walnusskekse, Blätterteigtaschen mit Apfelfüllung und etwas, das in Europa sehr beliebt ist: Tiramisu traditionell. Ich hoffe, dass ich alle Zutaten dafür habe, um sie auszuprobieren.“ „Das klingt toll, Shinomiya-san! Und das willst du alles heute machen?“ „Sofern ich es zeitlich schaffe. Einiges davon benötigt eine lange Vorbereitungszeit“, erklärte er fröhlich. Kurz geriet er in Gedanken, was seine Mundwinkel herabsinken ließ. „Es ist wirklich schade, dass Otoya-kun nun nicht mehr da ist. Er hatte mir eigentlich versprochen, mir zu helfen, wenn ich Neues ausprobieren möchte und Syo-chan keine Zeit hat. Blödes Timing, dass er ausgerechnet heute wegfahren musste.“ Die Worte trafen Haruka mitten ins Herz. Betreten senkte sie den Blick. Ihr wurde just in dem Moment bewusst, dass Otoyas plötzliche Abwesenheit mehr Einfluss auf ihr aller Zusammenleben haben würde, als sie bisher bedacht hatte. „Womit ist Ochibi-chan denn verhindert, wenn man fragen darf?“ „Er ist vorhin in die Stadt gefahren. Ich glaube, er wollte shoppen gehen. Ich hatte ihm angeboten, ihn zu begleiten und ihm bei schwierigen Entscheidungen zu helfen, aber er meinte, dass er allein gehen will.“ „Vermutlich braucht er einfach etwas Zeit für sich“, schlussfolgerte Masato. „Mach dir darüber keine Gedanken.“ „Hm, schon. Es ist dennoch schade.“ In einer Pause ließ er den Kopf sinken. Als ihm kurz darauf eine Idee kam, wandte er sich voller Enthusiasmus an Haruka. „Ah, aber vielleicht magst du mir ja helfen, Haru-chan? Backen macht so viel Spaß! Und zu zweit geht es sehr viel schneller von der Hand. Na, was meinst du? Ich kann dir alles erklären, was du tun musst. Das wird bestimmt lustig!“ Erschrocken wich sie einen Schritt zurück. Es war weniger Natsukis plötzliche Nähe als das verdächtige Klirren des Geschirrberges auf seinen Armen, das sie um ihre Sicherheit bangen ließ. „Tut mir leid, Shinomiya-san”, sprach sie leise, wobei sie sich um ein vorsichtiges Lächeln bemühte. „Ich würde dir schon ganz gern helfen, aber im Moment … möchte ich gern ein wenig für mich sein und versuchen, an Starishs neuen Song weiterzuschreiben.“ „Ach so. … Ich verstehe.“ Die Enttäuschung klang deutlich aus seinen Worten heraus. Jeglicher Frohsinn fiel von ihm ab, als er mit gesenkten Schultern einen Schritt zurücktrat und den Blick traurig zu Boden richtete. „Aber ich freue mich schon sehr darauf, was du für uns zubereiten wirst“, sagte sie schnell, um ihn zu versöhnen. „Shinomiya“, ergriff Masato das Wort. „Sofern du es möchtest, kann ich mich dir gleich anschließen. Ich bin frei und habe im Moment nichts vor.“ „Mh.“ Nach einem kurzen Zögern nickte er zustimmend, wobei sich sein Gesicht neu erhellte. „Sehr gern. Es wird zwar nicht dasselbe sein wie mit Haru-chan oder Syo-chan, aber mit Masato-kun zusammen macht es sicher auch sehr viel Spaß.“ „Gib mir nur eben noch zehn Minuten. Ich muss mich zuvor umziehen.“ „In Ordnung. Ich werde in der Küche auf dich warten.“ Masato nickte. Darauf setzte sich die Gruppe wieder in Bewegung, um ihren Weg in Richtung Wohnflügel fortzusetzen. Stumm blickte Natsuki ihnen nach. Hinter den dünnen Gläsern seiner Brille spielte eine tiefe Schwermut, die jedes Lächeln aus seinen freundlich-grünen Augen verdrängte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)