Masquerade, Masquerade von UrrSharrador (Ahh!! It’s Halloween …) ================================================================================ Kapitel 7: You’ll be missing the day ------------------------------------ Davis kannte sich nicht allzu gut im Westend-Viertel aus, aber nachdem ihm Mimi per Anruf mitgeteilt hatte, wo in etwa er Ken und Izzy suchen musste, hatte er immerhin eine ungefähre Vorstellung davon, welche Route ihn am schnellsten zu ihnen führte. Nur wurde eben diese Route von nichts Geringerem blockiert als der Polizei. Zwei Wagen mit eingeschaltetem Blaulicht versperrten halb den Weg in die breite Gasse, die er sich zum Ziel genommen hatte, und als sich Davis nichtsdestotrotz daran vorbeizwängen wollte, wurde er von einem dicken Polizisten abgefangen. „He, Junge“, rief er. „Hier kein Durchgang.“ Davis hatte keine Lust, sich mit sowas herumzuschlagen. „Wieso? Wegen der Schießerei?“ Sicherlich hatte man die Gasse deswegen abgesperrt. Wenn das auch auf andere mögliche Wege zur Hauptstraße zutraf, kam er nie bei seinen Freunden an. Der Beamte warf einen unglücklichen Blick hinter sich, wo seine Kollegen am Werk waren und mit hellen Lampen etwas untersuchten, das am Boden lag. „Besser, du gehst nachhause, Junge.“ „Tut mir ja leid, aber ich muss da durch! Ich suche meine Freunde!“ Plötzlich wurde der Blick des Polizisten mitleidig – Davis‘ Herz schlug schneller. Was sollte das bedeuten? „Geh nachhause“, wiederholte er. „Am besten sofort ins Bett. Hier auf den Straßen ist es momentan nicht sicher.“ „Was ist dort hinten, verdammt?“, rief Davis, dem der Schweiß ausbrach. Ihm schien, der Beamte wollte ihn vor irgendetwas schonen – und das gefiel ihm in dieser chaotischen Nacht ganz und gar nicht! „Haben Sie meine Freunde gefunden? Ist was mit ihnen?“ Eine Mischung aus Seufzen und Brummen deutete an, dass sein Gegenüber kapitulierte. „Wer sind deine Freunde? Wie sehen sie aus?“ „Es sind ein Junge in meinem Alter mit schwarzen Haaren und ein etwas älterer mit roten Haaren und einer Zombiemaske!“, sagte Davis eifrig. Jede Gefühlsregung war überdeutlich auf dem Gesicht des Polizisten abzulesen – vielleicht weil er die erste Person seit langem war, die Davis ohne Maske oder Schminke im Gesicht sah. Der Mann war eindeutig erleichtert. „Dann hat es nichts mit deinen Freunden zu tun. Lass uns jetzt unsere Arbeit tun, Junge.“ Das ewige Junge hing ihm bereits zum Hals raus. Nun wieder mutiger, knurrte er trotzig: „Und mit wem hat es dann zu tun?“ „Das geht dich nichts an.“ „Ich will aber hier durch! Sie bekommen mich erst weg, wenn Sie mir sagen, warum ich da nicht lang darf!“ Hätte er auf die Schnelle eine Alternativroute parat, hätte er keine Zeit verloren – aber die verlassene Straße, auf der er stand, wand sich regelrecht durch die Häuserschluchten, und die nächste Gelegenheit, näher an Ken und Izzy heranzukommen, war mindestens zwei Blocks entfernt. Das hier wäre die perfekte Abkürzung, wäre dieser dicke Polizist nicht! „Hör zu, ich habe momentan wirklich nicht die Nerven, um zu diskutieren“, brummte der Mann übellaunig. „Dann sagen Sie’s mir doch!“ „Na schön“, schnaubte er. „Wir haben in der Gasse zwei Frauenleichen gefunden.“ „Zwei Leichen?“, entfuhr es Davis. „Mutter und Tochter, wie es aussieht. Ganz sicher sind wir uns noch nicht, weil sie beide verkleidet und geschminkt sind und keine Ausweise dabeihaben. Jemand hat sie ziemlich übel zugerichtet – reicht dir das als Grund, nicht unseren Tatort zu stürmen?“ Davis schluckte. „Ich, es … tut mir leid.“ Sein Hals war ganz trocken. Ein Bild blitzte vor seinem inneren Auge auf, von Polizeiautos und Absperrbändern. Und sie hatten noch Scherze darüber gemacht … „So was ist doch heute schon mal passiert, oder?“ Der Polizist nickte. „Allerdings. Das ist der dritte Fall in zwei Stunden. Die Kollegen haben erst vor ein paar Minuten noch eine Leiche entdeckt. Stranguliert mit der eigenen Perücke – ziemlich stabil, diese Kunsthaare. Das Mädel hatte silbernes Glitzerzeug am ganzen Hals, sah angeblich richtig komisch aus. Willst du noch mehr Einzelheiten oder verschwindest du jetzt endlich, Junge?“ „Ich … danke, ich geh ja schon“, nuschelte Davis und wandte sich um auf der Suche nach dem Weg, den er nun nehmen sollte. „Ist besser so. Und beeil dich. Mittlerweile sind wir uns sicher, dass hier ein Serienkiller herumläuft. Und dann hat es auch noch diese Schießerei gegeben. Die Party ist aus, Junge, die Kollegen sind gerade dabei, die Hauptstraße zu räumen. Also geh wirklich nachhause, das ist gesünder für dich.“ Davis hörte ihm kaum mehr zu. Er rannte los, so schnell seine Beine ihn trugen. Ein Serienkiller hier im Westend-Viertel, ein paar schießwütige Irre, ein LadyDevimon auf der Hauptstraße … und seine Freunde saßen schutzlos irgendwo in dem Gassenlabyrinth des Viertels fest!   „Wizardmon“, murmelte Izzy. „Du kennst es?“, fragte Ken. Wizardmon – oder eher, der Geist, der einmal das lebendige Wizardmon gewesen war – zeigte kaum eine Regung, während es sprach. „Es ist gut, dass ich nun endlich mit euch sprechen kann, DigiRitter. Ich habe es den ganzen Abend lang versucht.“ „Heißt das, du warst das alles?“, fragte Izzy verwirrt. „Der ganze Hokuspokus in meiner Wohnung und die Kerzen? Du hast uns echt einen Heidenschreck eingejagt.“ Wizardmon schlug die Augen nieder. „Tut mir leid. Es war nicht einfach, mich bemerkbar zu machen. Ich musste den Ort verlassen, an dem ich gestorben bin, um einen von euch zu finden. Das warst du mit deinen vielen Geräten, die sich in dieser Welt am ehesten noch nach der DigiWelt anfühlen. Doch ich war schwach und konnte nicht bewusst Kontakt zu dir aufnehmen. Allein dass ich hier vor dir stehe, verdanke ich der Tatsache, dass meine Kräfte langsam zurückkehren. Dennoch bleibt mir nicht viel Zeit.“ „Also hatten diese Blitze gerade eben mit deinen Fähigkeiten als Digimon zu tun, richtig? Warum die Kerzen? Was hat es damit auf sich?“ Bei dem Gedanken an die Geschehnisse in seiner Wohnung bekam er immer noch eine Gänsehaut. „Das kann ich dir nicht beantworten“, erwiderte der Geist. „Wie ich bereits sagte, ich konnte nicht bewusst mit dieser Welt interagieren.“ „Candlemon“, sagte Ken plötzlich und wie aus dem Zusammenhang gerissen. „Eine Vorstufe zu Wizardmon ist Candlemon, und das ist im Grunde nichts anderes als eine Kerze mit Gesicht und Armen. Vielleicht sind deswegen Kerzenflammen aufgetaucht, als Wizardmons Kräfte noch schwach waren.“ „Das wäre eine Erklärung“, sagte Wizardmon. „Das letzte Mal, dass du dich uns gezeigt hast, war am Jahrestag deines Todes im Fernsehturm“, erinnerte sich Izzy. „Ich kann mir irgendwie vorstellen, dass ein Geist so etwas tun könnte – aber warum erscheinst du uns gerade jetzt wieder? Hat es damit zu tun, dass Halloween ist?“ Seine Angst flaute nach und nach ab, langsamer als erwartet, aber vor Wizardmon brauchten sie sich nicht zu fürchten. Nun verlangte der Wissensdurst in ihm Antworten, ob seine Theorien von vorhin stimmten. „Das hat es“, sagte Wizardmon. „Dieser Tage sind die Grenzen zwischen eurer Welt und der DigiWelt kaum mehr zu spüren, und auch ich als Geist kann meine Präsenz hier stärker ausbauen als üblich. Alle Welten sind näher zusammengerückt, und das hat ein Problem geschaffen, das die Menschen in Gefahr bringt.“ Also wirklich! „Wenn ich das richtig verstehe, dann gibt es also so etwas wie eine eigene Geisterwelt für Digimon?“, fragte Izzy. „Vielleicht kann man es so nennen. Es ist die Ebene, auf der ich noch existiere.“ „Du hast gesagt, du wolltest mit uns Kontakt aufnehmen“, sagte Ken. „Warum?“ Nun bedachte Wizardmon ihn mit seinem beunruhigenden Blick. Damals hatte es ihnen einen Tipp gegeben, wie Ken als DigimonKaiser zu besiegen wäre. Falls es nun wusste, wen es vor sich hatte, so ließ es sich nichts anmerken. „Eure Welt ist erneut in Gefahr, und vielleicht habt ihr es auch schon selbst gemerkt“, sagte es fast feierlich. „Die Digimon, die hier aufgetaucht sind“, murmelte Ken düster. „Trotz des versiegelten Tores.“ Wizardmon nickte. „Die Grenzen zwischen den Welten sind momentan so dünn, dass sie kaum mehr vorhanden sind. Etwas hat nach den Digimon gerufen, und allein das hat ausgereicht, um sie in diese Welt zu holen.“ „Etwas? Was ist dieses Etwas?“, fragte Izzy. „Wer oder was hat das getan?“ „Ist es ein Digimon?“, fragte Ken. Wizardmon schüttelte den Kopf, langsam und bedächtig. „Das stimmt nicht ganz. Dieses Wesen ist etwas wie ich selbst. Ein Geist, der irgendwo zwischen den Welten lebt. Auf dieser Ebene, die du vielleicht Geisterwelt nennen könntest.“ „Etwas wie du? War es denn auch früher mal ein Digimon?“, fragte Izzy. Wieder verneinte Wizardmon, wenn auch nach kurzem Zögern. „Es ist schwierig für mich, es zu erklären, aber auch das ist nicht ganz richtig.“ „Was heißt das, es ist schwierig? Wie sieht das Wesen denn aus?“, wollte Ken wissen. „Ich kann es nicht sagen. Tut mir leid. In meinem gegenwärtigen Zustand besitze ich andere Sinne als Digimon oder Menschen. Ich spüre es nur. Ich weiß, dass es in der Nähe ist, und dass es seine Präsenz schon wesentlich stärker ausgebaut hat als ich meine. Ich glaube, starke Gefühle treiben es an, aber ich habe es noch nicht gesehen.“ „Verstehe“, murmelte Izzy, obwohl er kaum etwas verstand. „Ich habe jedoch noch etwas für euch, DigiRitter“, sagte Wizardmon. „Eine neue Prophezeiung, die euch helfen könnte. Ich habe gemeinsam mit der anderen von ihr erfahren, aber bis heute wusste ich nicht, wann und warum sie von Bedeutung sein könnte.“ Die beiden Jungen waren ganz Ohr. Izzy bedeutete dem Digimon-Geist, fortzufahren. „Die Saat des ersten Mannes ist es, die den Schleier zerreißt“, sagte Wizardmon. Izzy wartete vergeblich darauf, dass es weitersprach. „Das ist alles? Die Saat des ersten Mannes zerreißt den Schleier?“ „Ich bin mir sicher, dass der Schleier zwischen den Welten damit gemeint ist, den das Wesen zerstört hat“, sagte Wizardmon. „So weit ist es ja recht einfach“, murmelte Ken. „Aber was soll das sein? Die Saat es ersten Mannes?“ „Auch das kann ich euch leider nicht sagen“, erwiderte Wizardmon bedauernd. „Aber ich denke, die Antwort auf diese Frage führt euch zur Identität des Wesens, das für die Vorkommnisse heute Nacht verantwortlich ist.“ Es seufzte. „Das ist alles, was ich tun kann, um euch zu helfen. Es ist anstrengend, diese Form anzunehmen. Ich werde mich bald wieder auf den Weg machen müssen.“ Erst jetzt wurde Izzy bewusst, dass es während ihres ganzen Gesprächs immer durchscheinender geworden war. Nun war es so blass, dass es fast mit der Wand hinter ihm verschmolz. „Danke, Wizardmon. Wir werden an deine Worte denken.“ Wizardmons Blick wurde mit einem Mal weich. „Bevor ich gehe, sagt mir bitte: Wie geht es Kari und Gatomon?“ Izzy zögerte. „Gut … denke ich.“ Tatsache war, dass er Kari heute Abend noch nicht gesehen, ja noch nicht mal von ihr gehört hatte. „Die Digimon und wir haben uns lange nicht gesehen, aber wir DigiRitter unternehmen immer noch viel miteinander.“ „Das freut mich zu hören“, sagte Wizardmon. „Ich finde es schade, dass Kari nicht auch bei euch war und mit mir sprechen konnte. Richtet ihr bitte Grüße aus.“ Die beiden nickten. „Werden wir.“ „Ich wünsche euch viel Erfolg, was auch immer ihr nun zu tun gedenkt.“ Damit löste sich Wizardmon endgültig in Nichts auf. Der Spuk war nun vorbei, und das Absurde war, dass er Izzys Meinung nach plötzlich ruhig länger hätte dauern können. „Die Saat des ersten Mannes also? Was hat das zu bedeuten?“, überlegte Ken laut. „Ich habe keine Ahnung“, murmelte Izzy. „Aber es ist sicher wichtig.“ „Vielleicht hat es mit Adam und Eva zu tun? Oder mit der Saat der Finsternis?“ „Wenn es Adam und Eva sind, könnten mit ihrer Saat vielleicht ihre Kinder gemeint sein?“ Izzy bereute einmal mehr, ohne seinen Laptop außer Haus gegangen zu sein und sein Handy nicht weiter aufgeladen zu haben. Zu gern hätte er nun nach den Sprösslingen der biblischen ersten Menschen gegoogelt. „Das sind dann Kain und Abel, glaube ich“, sagte Ken. „Aber wie soll uns das weiterhelfen?“ Izzy schüttelte langsam den Kopf. „Keine Ahnung. Vielleicht ist es auch etwas völlig anderes.“ „Hat euch Wizardmon schon mal so eine Prophezeiung gegeben? Irgendwie hat es sich danach angehört.“ Er sah Ken überrascht an. „Hat dir das noch niemand erzählt?“ „Nein. Was denn?“ „Damals, also du weißt schon, als du der DigimonKaiser warst, da ist uns Wizardmon im Fernsehsender erschienen, ungefähr dort, wo es von Myotismon umgebracht worden war. Freundlichkeit entsendet goldenes Licht, hat es gesagt. Wir wussten damals auch nicht wirklich, was das bedeutet, aber letztlich hat es auf dein Wappen angespielt, das zu einem goldenen DigiArmorEi geworden war.“ „Und mit dem habt ihr den DigimonKaiser letztendlich besiegt“, sagte Ken. „Verstehe. Aber ihr habt damals nichts Besonderes getan, um die Prophezeiung wahr werden zu lassen, oder? Vielleicht renkt sich heute auch alles wieder ein – von allein, quasi.“ „Ich hoffe es“, murmelte Izzy. „Es sei denn, uns streift noch ein Geistesblitz und wir finden diesmal vorher heraus, was Wizardmon gemeint hat.“ Sie entschieden, dass es oberste Priorität hatte, sich mit den anderen zu treffen. Sie folgten der Gasse von vorhin und stießen auf der nächsten Straße regelrecht mit Davis zusammen, der mit hochrotem Kopf und in seinem Perchtenfell furchtbar schwitzend erleichtert aufatmete. Für Izzy war ihn wiederzusehen das Erfreulichste, was seit Einbruch der Dunkelheit passiert war. „Endlich hab ich euch“, seufzte Davis. „Was habt ihr gemacht – euch da drin versteckt? Wolltet ihr mir nicht entgegenlaufen?“ „Wir wurden aufgehalten“, sagte Izzy zögerlich. „Von einem alten Bekannten.“ „Ist ja auch egal, kommt. Hier ist überall die Hölle los. Ich hab da eben ein paar ziemlich ungemütliche Sachen gehört.“ „Wir auch“, murmelte Ken.   Tai hatte die Fäuste geballt und wandte ihnen den Rücken zu. Matt sah nur, dass er den Kopf gesenkt hatte wie ein angriffslustiger Stier. Seine Schultern bebten, aber Matt kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er nicht weinte, sondern vor Wut überkochte. Sora war nur ein paar Sekunden ohnmächtig gewesen. Nun lag sie in seinen Armen und starrte mit leerem Blick überallhin, nur nicht auf Takumis Kopf, der seine Maske verloren hatte und die DigiRitter vorwurfsvoll anzustarren schien. T.K. hockte an Matts anderer Seite, Kari im Rücken, da er allein wahrscheinlich wieder umgefallen wäre. Sora und T.K. sahen beide völlig zerstört aus … und Tai hatte nicht einmal einen Blick für sie übrig. „Ich krieg sie“, zischte er. „Ich kriege dieses verdammte Biest!“ „Lass es“, sagte Matt leise. „Komm lieber her und …“ „Nein!“ Tais Faust knallte gegen den Türrahmen, so heftig, dass seine Knöchel aufplatzten. „Dieses verdammte LadyDevimon! Ich finde es, ich schwör’s euch, ich jage dieses Monster meinetwegen durch ganz Japan, und dann schlag ich ihm den Schädel sein!“ „Du solltest dich mal reden hören“, höhnte Matt, vergewisserte sich, dass sich Sora von selbst aufsetzen konnte, und stand auf. „Du, allein gegen ein Ultra-Digimon?“ „Es ist mir scheißegal, ob es ein Digimon ist!“, knurrte Tai. „Von mir aus kann es auf dem Mega-Level sein, ich dreh ihm den Hals um!“ „Tai, lass es gut sein.“ Er legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. Tai schüttelte sie wütend ab. Als er zu Matt herumfuhr, sah der blanken Hass in seinen Augen funkeln. Von seinem Mumienkostüm waren nach seiner Rutschpartie über die rauen Bodenfliesen nur noch Fetzen übrig. Tai hatte plötzlich nichts Lächerliches mehr an sich – eher etwas Wildes und Gefährliches. „Es ist nicht gut!“, presste Tai durch die Zähne. „Dieses Ungeheuer hat Takumi umgebracht und es hat es genossen!“ „Ich weiß“, murmelte Matt, der sich zwang, vernünftig zu bleiben. Zu behaupten, dass ihm der Tod des jungen Mannes nicht naheging, wäre eine haarsträubende Lüge gewesen. „Es gibt Digimon, die sich am Leid anderer ergötzen. Wir wissen, dass LadyDevimon nicht gerade …“ „Halt doch den Mund“, fiel Tai ihm ins Wort. „Soll das heißen, es ist okay, weil es ein böses Digimon war? Ich hab mir diese Horror-Nacht lange genug von der Verliererseite gegeben. Wird Zeit, dass ich auch mal austeile!“ „Welche Chancen rechnest du dir denn aus?“ Matt schaffte es nicht mehr, ruhig zu sprechen. „Dieses Ding bringt dich genauso um, wie es Takumi umgebracht hat!“ „Ist mir egal“, schnaubte Tai und wandte sich schon zum Gehen, „ich drücke ihm meine Faust ins Gesicht, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.“ „Jetzt mach aber mal ‘nen Punkt!“ Matt riss ihn zu sich herum und brüllte ihm ins Gesicht. „Willst du wirklich sterben? Willst du das? Denkst du überhaupt ein kleines bisschen nach? Glaubst du, uns ist es egal, was mit dir passiert? Glaubst du, wir sind nicht auch entsetzt?“ „Tja, ihr tut den ganzen Tag schon nichts anderes, als entsetzt zu sein“, hatte Tai die Dreistigkeit zu erwidern. „Ich lasse das jetzt hinter mir. Ich schlage zurück!“ „Hört doch bitte auf zu streiten“, seufzte Sora schwach. „Sie hat recht. Ihr beruhigt euch wieder und dann denken wir vernünftig darüber nach.“ Kari versuchte sie zu trennen, aber Matt sah, wie ihre Augen feucht schimmerten. Auch sie war zu Tode erschrocken. Sie zwang sich, stark zu sein, für ihren Bruder und dessen wahnwitzige Ideen. Das brachte Matt zur Weißglut. „Wenn du nicht freiwillig bei uns bleibst, finde ich irgendein verdammtes Seil und binde dich hier am Dach fest. Das meine ich ernst. Merkst du nicht, dass du hier alle noch ganz verrückt machst?“ „Das Dach, gute Idee!“, rief Tai aus. „Willst du dich nicht auch lieber hier verstecken? Ich seh’s dir an, du hast Schiss vor diesem LadyDevimon!“ „Ja, vielleicht hab ich Schiss“, knurrte Matt. „Du bist ja anscheinend zu blöd dazu! Dieses Digimon zerreißt dich in der Luft, wenn du ihm allein zu nahe kommst!“ „Werden wir ja sehen“, gab Tai unbeeindruckt zurück. „Dieses Biest wird sich noch wundern!“ „Verdammt, du bist völlig daneben!“ Matt fürchtete einen Moment lang tatsächlich, sein Freund könnte ob des konstanten Schreckens dieser Nacht den Verstand verloren haben. „Komm mal wieder runter und denk nach!“ „Ich habe schon nachgedacht. Ich bring dieses Weib um und lass es dabei noch in Takumis Augen sehen!“ Matt konnte sich nicht mehr halten. Seine Faust ballte sich wie von allein, sein Arm fuhr herab. Eigentlich hatten sie diese gewalttätige Phase hinter sich gelassen, doch vielleicht war es wieder mal notwendig, dass sie sich prügelten. Das hatte Tai schließlich schon mehr als einmal zur Vernunft gebracht. Doch Tai fing seinen Kinnhaken mit der flachen Hand auf. „Diesmal nicht“, zischte er Matt mit vor Wut glühenden Augen zu. Dann grub sich seine eigene Faust in Matts Magengegend und ließ ihn stöhnend rückwärtstaumeln. „Matt!“ Sora war sofort bei ihm. Kari starrte ihn entgeistert an, dann stellte sie sich zwischen ihn und seinen Bruder. „Hast du völlig den Verstand verloren?“, schrie sie. „Bleibt doch alle schön beisammen und dreht Däumchen, während ich Takumi räche“, knurrte Tai. Dann, kurz, wurde sein Blick leidend, verzweifelt. Dennoch wirbelte er herum und verschwand im Dunkel des Treppenhauses. „Verdammt“, ächzte Matt und kniff ein Auge zusammen. Tais Schlag hatte gesessen. „Der Kerl hat echt ein Rad ab. Der bringt sich noch um.“ „Er ist einfach schrecklich aufgebracht über … ihr wisst schon“, murmelte Kari. „Er hat einfach einen Schock bekommen … Er wird sich schon wieder einkriegen.“ „Trotzdem … Glaubt er denn, wir verstehen ihn nicht?“ Gerade seine Freunde verstanden am besten, was in ihm vorging. Jeder ging mit dem Schrecken anders um, aber dass Tai plötzlich einen auf Einzelgänger machen wollte, verletzte sie mehr, als er vielleicht glaubte. Matt warf T.K. einen Blick zu. Er schien nicht viel von seiner Umgebung mitzubekommen, aber er war wach. „Wir sollten uns beeilen und ihm folgen.“ Er deutete auf den Laptop, der noch am Boden herumlag. „Und den werden wir uns wohl zur Sicherheit noch ein bisschen länger ausleihen.“   Yolei und Mimi hockten am Rand des Denkmalbrunnens, der leise plätschernde Wasserfontänen versprühte, und versuchten jede für sich mit der Nervosität fertigzuwerden. Yolei hatte begonnen, auf ihren Handschuhen herumzukauen; Mimi tippte ungeduldig mit ihren Absätzen auf den Boden. In der Ferne sah man Blaulicht wetterleuchten; ab und zu wehten sogar Rufe oder Sirenen zu ihnen herüber. Hier auf dem Denkmalplatz war es geradezu abartig ruhig, zahlreiche Laternen rund um den Brunnen tauchten alles in bleiches Licht, aber die Stille verschlimmerte die Situation nur. „Verdammt, ich halt’s nicht mehr aus!“ Yolei sprang auf und begann auf und ab zu gehen wie eine Tigerin im Käfig. „Da sind irgendwelche Psychos mit Waffen unterwegs und ein LadyDevimon auch noch und unsere Freunde laufen durch irgendwelche Gassen und finden nicht zu uns!“ „Sicher finden sie zu uns – Davis weiß, wo wir warten“, sagte Mimi gereizt. Sie konnte auch kaum noch stillsitzen, aber Yoleis Zappeligkeit war nicht auszuhalten. „Ruf Izzy nochmal an und frag ihn, wo sie sind“, drängte Yolei. Das hatte Mimi in den letzten paar Minuten bereits mehrmals versucht, aber es war sofort die Mailbox rangegangen. Was den Grund dafür betraf … Sie zwang sich, sich keinen Horrorfantasien hinzugeben. „Er würde eh nur sagen, dass sie irgendwo in den Straßen unterwegs sind“, sagte sie. Yolei schien ihr gar nicht zugehört zu haben. „Mir reicht’s, ich rufe Ken an!“ Energisch tippte sie auf ihrem Handy herum. „Und das fällt dir erst jetzt ein?“, zickte Mimi herum. „Ich hab’s vorhin schon mal probiert, da bin ich nicht durchgekommen.“ Mimi verdrehte die Augen. „Ah ja. Hauptsache, du sagst mir alle zwei Minuten, ich soll Izzy anrufen.“ „Ken hat sein Handy meistens auf lautlos gestellt. Ich hab erwartet, dass er mich zurückruft, wenn er merkt, dass ich ihn angerufen habe“, verteidigte sich Yolei, ihr Mobiltelefon schon am Ohr. Plötzlich hellte sich ihre Miene auf. „Ken? Na endlich, wo seid ihr? Was? Ja, wir sind noch immer bei dem Brunnen.“ „Wo sind sie?“, zischte Mimi neugierig. „Psst!“, zischte Yolei. „Ich wusste es! Okay, wir sind vorsichtig. Ja, wir warten. Okay. Kommt schnell, wir … Ich … Ach, beeilt euch einfach!“ Sie sah aus, als hätte sie eigentlich etwas anderes sagen wollen, legte dann aber resolut auf und sah plötzlich wieder zornig aus, als hätte der Anruf sie irgendwie aus der Reserve gelockt. „Die haben vielleicht Nerven! Trödeln rum, während hier Digimon Amok laufen.“ „Heißt das, sie haben noch andere Digimon gesehen?“, fragte Mimi besorgt. Sie hatte keine Lust, dass sich das Theater von bösen Digimon und von Welten, die in Gefahr waren, wiederholte. Auch wenn sie ahnte, dass genau das der Fall war. Yolei atmete tief durch. „Eines. Und Wizardmon.“ „Wizardmon?“ „Mehr hat Ken nicht gesagt. Aber sie sind in ein paar Minuten hier.“ Nun etwas ruhiger, schlenderte Yolei wieder zum Brunnenrand und setzte sich hin. „Und wir sollen vorsichtig sein.“ „Klar.“ „Ken hat gemeint, deine Verkleidung könnte die Digimon auf dich aufmerksam machen.“ „Stell dir vor, daran hab ich auch schon gedacht“, sagte Mimi spitz. In dem Moment klingelte ihr eigenes Handy. Es war T.K.s Nummer, aber als sie abhob, hörte sie Matt. „Hey, ich bin’s. Wo seid ihr?“ „Ähm …“ Sie blickte noch einmal auf das Schild, das den Platz betitelte, und nannte ihm die Adresse. „Yolei und ich sind beim Brunnen. Die anderen sind auf dem Weg hierher.“ Ein tiefer Seufzer. „Okay, das ist nicht allzu weit weg. Wir werden versuchen, irgendwie in eure Richtung zu kommen.“ „Was soll das heißen, irgendwie?“ „Passt auf euch auf, versteckt euch am besten irgendwo, von wo ihr schnell fliehen könnt. Es sind Digimon in der Stadt.“ „Wissen wir. Sag mal, ist alles in Ordnung? Du klingst so … seltsam.“ Es war mehr ein Gefühl, aber Matts Stimme hatte einen gehetzten, bitteren Unterton angenommen. „Alles klar“, sagte er, und die Art, wie er es sagte, ließ sie die Lüge sofort durchschauen. „Gebt einfach auf euch acht. Versucht, an einen Laptop ranzukommen, damit könnt ihr die Digimon zurückschicken, wenn ihr auf welche trefft.“ Damit legte er auf. „Irgendwas Schlimmes muss passiert sein“, murmelte Mimi. Yolei schwieg. Irritiert warf sie ihrer Freundin einen Blick zu und sah, wie diese den Mund aufgerissen hatte und in eine der vier engen Straßen deutete, die zu dem Gedenkplatz führten. Ein roter Schatten stand dort und sah zu ihnen herüber. Hinter ihm lag eine dunkle Gestalt an die Wand gelehnt, die irgendwie … seltsam aussah. Das rote LadyDevimon kam näher und Mimi sah im Licht der Laternen, wie es sich über blutige Lippen leckte.   Davis, Izzy und Ken waren in Joggingtempo verfallen und hatten sich gegenseitig auf den neusten Stand gebracht. Die Dinge standen echt nicht gut für sie: Sie waren in mindestens drei Gruppen getrennt, während Digimon durch das Westendviertel streunten, schießwütige Irre frei herumliefen, ein psychopathischer Killer Frauen ermordete und irgendein unheimliches Wesen offenbar eine Art Tor zwischen Menschen- und DigiWelt öffnen konnte. Und auch Davis hatte keine Ahnung gehabt, was die Saat des ersten Mannes sein könnte. Immerhin waren sie nur noch ein paar Gassen von Mimi und Yolei entfernt. Durch die Häuserschluchten sahen sie zu einer belebteren Straße, wo Menschentrauben in bunten Kostümen beisammenstanden. Ein Polizeiwagen mit Blaulicht fuhr soeben an ihnen vorbei – zum Glück in die andere Richtung. Ob die Gewalttaten auf der Hauptstraße schon beigelegt waren? Das Viertel schien von Sekunde zu Sekunde mehr im Chaos zu versinken. Die drei beschleunigten ihre Schritte, je näher sie dem Gedenkplatz kamen, als könnte ihnen etwas die beiden Mädchen vor der Nase wegschnappen. Selbst Davis, der recht gut in Form war, bekam gegen Ende vor lauter Aufregung Seitenstechen. Seine Lungen brannten von der kalten Nachtluft. Dennoch waren sie nicht schnell genug. Als sie den Platz erreichten, an dem der Brunnen fröhlich vor sich hin sprudelte, war er verwaist. Nichts deutete darauf hin, dass hier vor kurzem jemand gewartet haben sollte … „Ist es hier?“, keuchte Ken, als sie ratlos vor dem Brunnen stehen blieben. „Ich bin mir sicher“, murmelte Davis und formte die Hände zu einem Trichter. „Yolei! Mimi!“ Die anderen sahen sich um, aber von den beiden Mädchen fehlte jede Spur. „Na, da scheine ich wohl ein wenig zu spät zu kommen“, sagte plötzlich eine Stimme. Eine hochgewachsene Gestalt schlenderte aus der Gasse, die im rechten Winkel zu der lag, aus der sie selbst gekommen waren. Breitbeinig stieg sie über eine leblose Gestalt am Boden, die Davis erst jetzt bemerkte. Ihr schien der Kopf zu fehlen. Plötzlich wurde ihm speiübel, doch er schluckte die bitter Galle hinunter, die sich auf seiner Zunge sammelte. „Wer bist du? Was hast du mit Yolei und Mimi gemacht?“, rief er. „Wer soll das sein? Ich bin nach euch hier angekommen.“ Der Mann – zumindest sah er nach einem Mann aus – trug einen edlen Nadelstreifenanzug. Aus seinem Rücken sprossen violette Dämonenflügel. Und unter der Wolfsmaske, die bis über seine Nase reichte, grinste er hämisch. „Den habe ich heute schon mal gesehen“, murmelte Izzy, während sie instinktiv zurückwichen. „Das hätte ich fast vergessen … Er  war bei Witchmon, als Mimi und ich nach euch gesucht haben. Er ist sicher auch ein Digimon.“ „Das ist ein Astamon“, sagte Ken tonlos, der in seiner Zeit als DigimonKaiser ziemlich viele verschiedene Digimon gesehen hatte. „Korrekt, Kleiner“, sagte Astamon und zog unter seinem Sakko ein altmodisches Gewehr hervor, wie Davis es aus amerikanischen Mafia-Filmen kannte. „Scheiße“, entfuhr es ihm, als er in die Mündung der Waffe blickte. Steckte dieses Digimon vielleicht hinter der Schießerei auf der Hauptstraße? „Hier waren zwei Freundinnen von uns! Was hast du mit ihnen gemacht?“ „Ich hab doch schon gesagt, ich weiß nichts von irgendwelchen Freundinnen“, knurrte das Digimon. Davis wagte wieder zu hoffen. Vielleicht hatten Mimi und Yolei die Leiche in der Gasse entdeckt und waren davongelaufen. Oder sie hatten dieses Digimon schon aus der Ferne gesehen. „Izzy, schnell“, murmelte Ken und sagte dann laut: „Wir haben keinen Streit mit dir. Und wir wollen auch nicht gegen dich kämpfen.“ „Macht nichts. Ich will nur einen Blick in euer Inneres werfen.“ Astamon lachte. „Das wollte Witchmon auch, und es ist ihm nicht gut bekommen“, sagte Ken. Astamon stutzte kurz, und Izzy nutzte den Moment, um sein Handy aus der Tasche zu nesteln. Er warf einen Blick darauf und wurde kreidebleich. „Mist! Kein Akku mehr! Das Ding ist leer!“ Davis fühlte sich, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Das Tor in Izzys Handy war ihre letzte Chance gewesen. Astamon trat weiter auf sie zu und grinste wieder schief. „Soso, ich habe mich schon gefragt, wo Witchmon so lange bleibt. Dann hat es also noch eine Rechnung mit euch offen, ja? Gefällt mir.“ Das Gewehr schwang herum und richtete sich erneut auf die drei hilflosen DigiRitter. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)