Masquerade, Masquerade von UrrSharrador (Ahh!! It’s Halloween …) ================================================================================ Kapitel 1: Grab your mask and don’t be late! -------------------------------------------- So schrill und laut kreischte die Türklingel für gewöhnlich nicht. Es war ein Kreischen, das durch Mark und Bein fuhr, jede Faser seines Körpers vibrieren ließ und seine Zähne zum Jucken brachte. Obwohl er das Geräusch erwartet hatte. Obwohl er vorbereitet war. Und obwohl er das hier eigentlich nur schnell hinter sich bringen wollte. Wieder kreischte es, ein atemloser, mechanischer, gequälter Ruf, der nicht eher nachgeben würde, ehe er Antwort erhielt. Für gewöhnlich kreischte die Türklingel nicht so schrill. Für gewöhnlich läuteten aber auch keine kleinen Geister Sturm. Er gab ihrem Drängen nach und drückte die kühle Klinke nach unten. Drei halb gefüllte Körbe sprangen ihm entgegen. „Süßes oder Saures!“ „Ich hätte lieber Süßes, aber ich nehm‘ gern beides“, sagte Tai grinsend. Die drei Kinder waren verdutzt über diese Antwort. Ohne etwas zu erwidern, streckten sie ihm nur drängend ihre Süßigkeitenkörbe entgegen. Eines steckte in einem putzigen Ganzkörper-Wolfskostüm, das zweite hatte einen Kürbiskopf und das dritte versuchte unter einem bleichen Laken einen Geist zu imitieren. „Darf ich mir aussuchen, was ich davon haben will?“, fragte Tai. „Nein“, quietschte der Geist. Ein Mädchen, vermutete er. „Du musst uns was geben!“ „Was Saures?“ „Was Süßes!“ Die anderen gaben zustimmendes Gemurmel von sich. Tai erkannte, dass er genug herumgespielt hatte. „Hier“, meinte er gutmütig und verteilte eine Handvoll Karamellbonbons auf die Körbe. Die drei bedankten sich und huschten zur nächsten Tür. Eigentlich war dieser Brauch ja ganz niedlich. Sein Handy blinkte, als er ins Wohnzimmer zurückging. Eine SMS von Matt. Zehn Minuten. Zeit, das Kostüm anzulegen. Als es erneut an der Tür klingelte – besonnener diesmal – starrte Tai ein aufgedunsenes, mit Klopapier umwickeltes Gesicht aus dem Spiegel entgegen. Eine billige Verkleidung, aber aus der Ferne sah sie nicht schlecht aus. Er wickelte die Bandagen um seinen Oberkörper und befestigte sie am Gürtel. „Ich mach auf!“ Kari hatte natürlich viel länger gebraucht, um sich fertig zu machen, darum war es an ihm hängen geblieben, die Halloweengeschenke zu verteilen. Als er zur Tür kam, hörte er bereits ihr helles Lachen. Wieder standen drei Personen vor der Tür. Das Licht aus dem Flur pustete ihnen die Schatten aus dem Gesicht, die sich hinter ihnen in stockdunkler Nacht sammelten. Ein Werwolf, ein Vampir, ein Mensch … woran erinnerte ihn das nur? Am gruseligsten sah Sora aus. Im fahlen Licht schimmerte ihre Haut weiß. Tiefe Ringe zogen sich unter ihren Augen, denen rote Kontaktlinsen einen blutigen Glanz verliehen. Die Lippen waren ebenso rot, und eine Blutspur lief aus ihrem Mundwinkel zu ihrem Kinn, wo sie in einem täuschend echt aussehenden Tropfen endete. Ihre Kleidung bestand vornehmlich aus schwarzen Fetzen und einem langen, schwarzroten Cape mit hohem Kragen. Einzig das Lächeln, das sie Tai schenkte, passte nicht zu dem blutrünstigen Ungeheuer, das sie darstellen wollte. T.K. war der Werwolf. Ein zotteliger, schmutzig brauner Pelz überzog seinen Körper und verströmte muffigen Geruch. Eine Kapuze rahmte seinen blonden Haarschopf ein, der Oberkiefer des Wolfes ragte über seine Nase. Zähne aus Plastik senkten sich vor seine Augen, unter einer knubbeligen, schwarzen Nase. Und dann war da noch sein Bruder. „Woah, Matt“, stieß Tai hervor. „Hast du mich erschreckt. Deine Verkleidung ist die furchterregendste, die ich heute gesehen habe.“ „Halt die Luft an“, murrte Matt. „Wenn ihr euch unbedingt zum Affen machen wollt, bitte, aber ohne mich.“ Er trug kein Kostüm, war einfach er selbst; schwarze Jacke, schwarze Hose, beides aus Leder, dazu sportliche Sneakers. Ein einzelner, diamantförmiger Ohrring wurde sichtbar, als ein Windstoß sein schulterlanges Haar zerwühlte. „Musst du so langweilig sein?“, maulte Tai. „Hör auf, Tai“, mischte sich Kari ein und lächelte Matt an. „Danke, dass du trotzdem mitkommen willst.“ Matt brummte irgendwas und Tai sah sich die Verkleidung seiner Schwester an. Sie war ohne Zweifel die kunstvollste von allen. Kari trug hochgeschlossene Stiefel und über ihren Leggins einen bunten, ausgefransten Rock, der nur bis knapp über die Knie reichte. Ein zerfledderter Mantel umklammerte ihre Schultern und auf ihrem Kopf thronte ein gewaltiger Hexenhut mit krummer Spitze und breiter Krempe, um den eine braune Lederschnalle geschlossen war. Sogar einen Besen hielt sie in der Hand, alt und zerkratzt und mit mystischen Runen verziert. Neben ihr kam sich Tai in seinem behelfsmäßigen Mumienkostüm schäbig vor. „Können wir dann?“, fragte T.K. ungeduldig. „Klar.“ Die Geschwister nickten, Tai schloss die Tür ab. Heute würden keine Geister mehr Süßigkeiten von ihnen bekommen. Von jetzt an waren sie die Geister. Die fünf glitten in der Dunkelheit davon, in eine Nacht, die nach Streichen und Geheimnissen, Angst und Spaß, mottenzerfressenen Verkleidungen und Oktoberkälte duftete.   Halloween zu feiern war in Japan eigentlich kaum üblich. Der Tanz der Geister, Hexen und Ungeheuer umklammerte den Westen mit seiner Magie, nach Tokio hatte er seine Klauen aber noch nicht ausgestreckt – und wenn, dann nur den kleinen Finger. Wie um das zu ändern, wurde heute erstmals eine Kostümparty nie dagewesenen Ausmaßes gefeiert – schaurige Gestalten drängten sich von einem Kuriositätenstand zum nächsten, besuchten Wahrsagerzelte, Geisterbahnen, Exorzismusschauspiele und Monsterparaden. Die Stadtverwaltung hatte keine Kosten und Mühen gescheut, diese Attraktionen, anderthalb Kilometer langes Halloweenvergnügen, zu inszenieren, und Werbung dafür hatte man schon zum Ende des Sommers an Plakatwänden prangen oder im Fernsehen aufblitzen sehen. Und welcher Ort wäre wohl passender für ein Spektakel, das die Grenzen der Wirklichkeit mit dem Geisterhaften verschwimmen ließ, als das Westend-Viertel? Fast war es, als versuchte man die Monster, die vor Jahren hier aufgetaucht waren, durch das Antanzen anderer, längst nicht so erschreckender, dafür weit zahlreicherer Monster davon abzuhalten, jemals zurückzukehren. „Wann darf man eigentlich mit Davis und den anderen rechnen?“, fragte Tai, als sie nach einer U-Bahnfahrt inmitten kichernder Geister und genervter Angestellter auf dem Heimweg von ihren Überstunden den Anfang der Halloween-Meile erreicht hatten. Die Straße war ein einziger, quietschbunter Teppich, wenn auch schattenhafte Farben vorherrschten. Es war kurz nach zehn; die kleineren, kindlichen Gestalten wurden bereits weniger. Dafür boomten die Stände, die Glühwein und Punsch verkauften. Schnatternde Gestalten hielten dampfende Plastikbecher in den Händen, viele wussten nicht, wie sie mit ihren Masken trinken sollten. Die Straße war für die heutige Nacht gesperrt worden, und man hatte Feuerkörbe und verrußte Kohleöfen hergeschafft, an denen die Geister Zuflucht vor der schneidenden Nachtluft suchen konnten. „Yoleis Kostüm ist nicht rechtzeitig fertig geworden“, sagte T.K. mit einiger Verspätung. Er hatte beobachtet, wie jemand mit sich bauschendem Umhang lachend an ihnen vorbeigerauscht war, verfolgt von einem Zombie, der gurgelnde Schreie ausstieß. „Sobald die letzten Fäden drin sind, kommen sie nach.“ „Ich bin schon gespannt, wie sie aussehen wird“, meinte Kari. „Sie hat sich so viel Mühe gegeben, und niemand darf das Kostüm sehen, ehe es fertig ist, hat sie gesagt.“ „Seht mal, dort drüben! Die haben ja echt einen Heidenaufwand getrieben!“ Tais Finger deutete auf eine Seitengasse – zumindest war sie vermutlich mal eine Gasse gewesen. Jetzt war dort nur ein riesiges Maul aus karmesinrotem Stoff zu sehen, mit wirklich gut gemachten, geifernden Zähnen. Zwei Stränge eiserner Schienen verschwanden darin, und auf der Hauswand daneben prangte über einem Pfeil die Neonschrift: Highway to Hell. Etwas unpassend für ein riesiges Maul, in dem hin und wieder kleine Waggons verschwanden, die aussahen, als hätte man zu klein geratene Draisinen mit Papp- und Holzwänden aufpeppen wollen. Ein halbes Dutzend verkleideter Gestalten standen sich vor dem Maul die Beine in den Bauch. „Eine ganze Gasse als Geisterbahn“, sagte Kari staunend. „Wahrscheinlich hätten sie anderswo den Ständen den Platz weggenommen“, kommentierte Matt trocken. Tai war schon auf halbem Weg zu der Menschenschlange. „Wie sieht’s aus, fahren wir eine Runde?“ „Das Ding ist mehr schlecht als recht zusammengebastelt. Wie gruselig kann das schon sein?“, fragte Matt und deutete auf das Preisschild. „Dafür sind mir tausend Yen echt zu schade.“ „Spaßbremse“, murrte Tai. „Sora, du fährst mit, oder?“ „Ich … ich weiß nicht so recht“, murmelte die frischgebackene Vampirin. „Ach, komm schon, das wird ein Heidenspaß! Und man kann zu zweit fahren. Das ist der erste Halloween-Umzug im Westendviertel, also habt euch nicht so.“ „Du bist wie ein kleines Kind“, schnaubte Matt. „Wenn du mit der Geisterbahn fahren willst, dann irgendwo in einer richtigen in einem Vergnügungspark.“ Da sie mit Tai Schritt halten mussten, hatten sie das hintere Ende der Schlange erreicht. Ein bärtiger Mann, dessen Verkleidung ihn wohl zu Frankensteins Monster machen sollte, nahm eben von einem jungen Pärchen Geld entgegen, hieß sie in den nächsten Wagen einsteigen und sah zu, wie sie in dem finsteren Monstermaul verschwanden, das mit schwarzen Stoffstreifen verhängt war. Wenige Sekunden später kam ein leerer Wagen auf dem anderen Schienenstrang wieder heraus. Der Anblick hatte tatsächlich etwas Unheimliches, fand T.K. In einer gewöhnlichen Geisterbahn sah man normalerweise, wie die Leute wohlbehalten zurückkamen. „Als ob es sie wirklich gefressen hat“, murmelte Sora. Es klang ein wenig unbehaglich. „Keine Sorge, was soll dir schon passieren?“, fragte Tai großspurig. „Du hast gegen Apocalymon und Myotismon gekämpft – eigentlich müsstest du abgehärtet sein.“ „Umso mehr überrascht es mich, dass du für solche Kindereien zu haben bist“, sagte Matt. Tai funkelte ihn an. „Nur weil Mister Ich-bin-zu-cool-um-Spaß-zu-haben nicht mal an einem Tag wie heute den Stock aus dem Arsch kriegt, heißt das nicht, dass ich …“ T.K. hörte nicht, was er noch sagte. Aus einer vorbeischlendernden Menschentraube drang Lachen an sein Ohr, dann wurde er plötzlich von jemandem so heftig angerempelt, dass er fast das Gleichgewicht verlor. Er machte einen raschen Schritt und drehte sich leicht verärgert um – und starrte in eine Maske, die nicht so recht zu Halloween passen wollte. Der andere war ebenfalls getaumelt, seiner Körperhaltung nach. Er rückte sich das mattgoldene Fuchsgesicht zurecht, das ein wenig verrutscht war. „Oh“, sagte er. „‘tschuldige, Mann.“ Der Stimme nach steckte unter der Maske ein junger Mann, und er überragte T.K. um einen guten Kopf. Seine Kleidung war so schwarz wie Matts, aber über und über mit silbernen Kettchen behangen. Seine Stiefel klangen schwer auf dem Asphalt. „Schon okay“, erwiderte T.K. mit einiger Verspätung, die Stirn noch immer gerunzelt. Der Blick aus den schmalen Fuchsaugen hatte sich aber bereits von seinem Wolfskostüm gelöst und glitt über die anderen. An Matt blieb er hängen. „Hey, bist du nicht der Sänger der Wolves?“ Er schob sich an T.K. vorbei und trat auf seinen Bruder zu. „Krass. Ich bin dein größter Fan, Mann.“ „Das höre ich öfters“, sagte Matt nüchtern. Er war heute wohl wirklich nicht bester Stimmung. Wahrscheinlich bereute er es gerade, sich nicht doch verkleidet zu haben. „Ja? Kann ich mir vorstellen.“ Der andere lachte gackernd. „Ich bin Takumi. Freut mich, dich mal live zu sehen. Also ich meine, live, von Angesicht zu Angesicht.“ „Eher von Angesicht zu Maske“, entgegnete Matt. Takumi lachte nur wieder, machte aber keine Anstalten, der versteckten Aufforderung nachzukommen. Das Fuchsgesicht blieb, wo es war. „So kann man’s auch sagen. Steht ihr hier etwa beim Highway to Hell an? Der ist echt krass.“ „Theoretisch ja“, mischte sich Tai missmutig ein. „Nur kann ein gewisser Rocksänger scheinbar keine tausend Yen dafür aufbringen.“ „Hm“, machte Takumi. Offenbar wusste er nicht, ob er sich auf die Seite seines Idols schlagen oder Werbung für diese ach so krasse Geisterbahn machen sollte. „Die ist länger, als sie aussieht. Führt nicht nur diese Gasse da entlang, sondern macht drinnen noch eine Schleife auf einem Innenhof. Aber ganz ehrlich, tausend zu blechen ist schon ein bisschen viel. Aber wartet mal ‘ne Minute.“ Er winkte dem dicken Frankenstein bei den Schienen zu. „Hey, Ikki! Die Typen da gehören zu mir! Mach ihnen ‘nen netten Preis, ja?“ Als er sich wieder umdrehte, grinste er unüberhörbar. „Alles geklärt. Ihr könnt gratis fahren.“ „Du kennst den Mann?“, fragte Sora. „Einer meiner besten Kumpels.“ „Klasse, danke.“ Tai knuffte Takumi freundschaftlich gegen den Arm. „Nichts zu danken.“ „Ich denke trotzdem nicht, dass ich mitfahre“, entschied Matt und vergrub die Hände in den Hosentaschen. Tai rollte die Augen. „Ich würde fahren.“ Kari sah T.K. fragend an. Dieser zuckte mit den Schultern. „Wenn’s wirklich gratis ist …“ „Dann fahre ich eben alleine im Wagen“, seufzte Tai. Dabei glitt sein Blick erwartungsvoll zu Sora, die schließlich auch seufzte. „Okay. Ich bin auch dabei.“ „Ihr werdet’s nicht bereuen. Viel Spaß“, sagte Takumi. „Fährst du etwa selbst nicht mit?“, fragte Matt leicht genervt. Der Fuchskopf winkte ab. „Ich war vor zwei Stunden schon mal drin. Ein zweites Mal ist irgendwie witzlos, meint ihr nicht? Aber ich weiß, wo die Wagen wieder rauskommen. Wir können ja ganz gemütlich dorthin schlendern und auf euch warten.“ Bei diesen Worten sah er Matt an und T.K. kam Takumi plötzlich wie einer von Matts Groupies vor. „Unterwegs können wir über Musik reden, was meinst du? Ich spiel übrigens auch in einer Band.“ Matt zuckte mit den Schultern. „Von mir aus. Dann muss ich sie wenigstens nicht suchen.“ „Also dann.“ Takumi machte irgendeine nicht zu identifizierende Geste in T.K.s, Soras, Karis und Tais Richtung und marschierte dann los. Matt folgte ihm. „Bis dann, und viel Spaß!“, rief Tai ihm sarkastisch hinterher. T.K. wusste nicht, warum, aber als sein Bruder und der andere in der Menschenmenge untertauchten, hatte er irgendwie ein mieses Gefühl dabei.   Der Mann, den Takumi vorhin Ikki genannt hatte, verlangte tatsächlich kein Geld von ihnen, wirkte aber sichtlich unglücklich dabei. Sie waren vorerst die Letzten in der Schlange, und vielleicht lief die behelfsmäßige Geisterbahn zwischen all den anderen bunten Ständen auch gar nicht so gut, wie man meinen könnte. Dabei musste es eine Menge Geld gekostet haben, sie hier aufzubauen. Die Wagen waren allesamt fest mit den Gleisen verbunden und wurden wohl elektrisch angetrieben. Und hinter dem gierigen Maul war eine dunkle Röhre aus Stoff zu sehen, die die Gasse völlig ausfüllte. Sora setzte sich neben Tai in den Wagen. Ein zweiter kam eben zurück; so würden T.K. und Kari kurz nach ihnen starten können. Sora wollte es nicht zugeben, aber ein wenig flau war ihr schon im Bauch. Tai scherzte indessen bereits über den Zustand der Gleise und Wagen und das Grinsen in seinem von Klopapier umwickelten Gesicht wirkte etwas gezwungen. Mit einem Ruck, der ruhig sanfter hätte sein können, setzte sich ihr Waggon in Bewegung und Soras Herz machte im selben Moment einen Satz. Sie hasste Geisterbahnen. Ob sie es bereuen würde, Tai eine Freude machen zu wollen? Tai johlte, als sie langsam auf das Maul zufuhren. Die Stoffstreifen glitten rau über Soras Gesicht, dann fanden sie sich in fast völliger Schwärze wieder. Sie wünschte sich, ihr Freund würde weiterlachen, doch er verstummte – als wäre er plötzlich verschwunden und sie allein in einer fremden Dimension gefangen. Dass sie aus Erfahrung wusste, dass andere Dimensionen existierten, trug nicht gerade zu ihrer Beruhigung bei. Der Waggon bewegte sich vollkommen lautlos. Fast war es, als stünde er still … Wie ein Wagen auf der höchsten Spitze einer Achterbahn, kurz bevor er sich ins Tal stürzte. Soras Hände umklammerten den Rahmen des Waggons fester. Sie hätte bei Matt und Takumi bleiben sollen! Ein Kreischen rechts von ihr ließ sie zusammenfahren. Plötzlich war dort ein blutroter Lichttropfen, hinter einem vergitterten Fenster … gehörte das schon zur Geisterbahn? Oder war das ein ganz normales Fenster von einem der Gebäude hier in der Gasse und jemand hatte eine Kerze oder etwas anderes dahinter angezündet? Richtig, sie war in einer Gasse. In einer ganz normalen Seitengasse im Westend-Viertel. Hier irgendwo in der Nähe hatten sie mal gegen ein Mammothmon gekämpft und waren da gerade mal elf Jahre alt gewesen – warum hatte sie dann nur solches Herzrasen? Das Leuchten verglomm hinter ihr. Also bewegten sie sich tatsächlich langsam die Gasse entlang. Ein zweites Irrlicht erschien auf der linken Seite. Als ihr Blick wie magisch davon angezogen wurde, streifte er auch ein halb im Schatten liegendes … Etwas. Es wirkte wie eine dunkle, in Fetzen gehüllte Puppe, die jemand an die Wand genagelt hatte … Wahrscheinlich war es genau das. Dann bewegte sich das Ding plötzlich. Etwas wie ein dürrer Arm deutete auf Sora. Sie spürte, wie Tai neben ihr zusammenzuckte. Gegen ihren Willen musste sie lächeln. Er war also noch da. Natürlich. Er hatte sie nicht alleingelassen. Ihre Fantasie drohte nur gerade mit ihr durchzugehen, nichts weiter. Vorsichtig griff sie nach seiner Hand, die wie ihre die metallene Brüstung umklammerte. Sie fühlte Kälte unter ihren Fingern, aber es war ja schließlich Ende Oktober. „Wenn wir weiter so dahinkriechen, dauert es ja ewig, bis wir drüben sind“, murmelte er. Hauptsache, wir kommen überhaupt an … Sora schüttelte energisch den Kopf. Wo kam dieser Gedanke her? Sie machte sich doch lächerlich! Doch der Wagen kroch tatsächlich so langsam über die Schienen, als müsste er gegen zähen Schleim ankämpfen, der den Boden bedeckte … einen Sumpf, unter dem alles Mögliche lauern konnte … und hatten die eisernen Räder nicht gerade so geruckelt, als wären sie über etwas Weiches gefahren? Völlige Finsternis, ein leichter Luftzug. Sora hörte nur das Blut in ihren Ohren rauschen. Wo war der Lärm des Halloween-Umzugs? Ganz in der Nähe fand doch eine Party statt! Als hätte sie tatsächlich ein Monster geschluckt … Plötzlich hielt sie es nicht mehr aus. Die Stille, die Finsternis – sie konnte nicht mal mehr Tais Gesicht sehen, und die Hand unter ihren Fingern wirkte nach wie vor so kalt und leblos, als gehörte sie gar nicht ihm … Nein, sie musste sich umdrehen, nach den rötlichen Irrlichtern sehen, die ihr wenigstens die Gewissheit gaben, dass noch irgendetwas in dieser Gasse existierte außer der harten Sitzbank unter ihr … Sie verrenkte sich fast den Nacken, als sie mit dem Blick hinter sich stocherte. Im nächsten Moment wünschte sie sich, es nicht getan zu haben. Sie sah tatsächlich noch eines der Irrlichter, aber gleich daneben … Aus einer Nische glühte noch etwas anderes, Grünes, das verdächtig nach glotzenden, verdrehten Augen aussah. Sora lief ein weiterer Schauer über ihr Rückgrat. So sehr sie sich vorher über die plötzliche Bewegung der Puppe erschrocken hatte, so unheimlich war ihr die absolute Reglosigkeit der Kreatur in der Nische. Ein beängstigender Gedanke drängte sich ihr auf. Wenn doch die Puppen in einer Geisterbahn für gewöhnlich heulten und zappelten und wackelten, was machte dann ein Wesen hier, das augenscheinlich auf etwas lauerte? Noch dazu in einer Falte in dem schwarzen Stoff, mit dem die Gasse tapeziert war, sodass man es gar nicht sah, es sei denn, man drehte sich um? Das Ding dort konnte doch gar nicht zur Geisterbahn gehören, oder? Es war hinter ihnen, als würde es sich langsam an die zäh dahinrollenden Wagen anpirschen, als hätte Sora es dabei ertappt, und als würde es sich auf sie stürzen, sobald sie es aus den Augen ließ … Reiß dich mal zusammen, schalt sie sich. Die Leute, die die Geisterbahn hier gebaut haben, waren einfach schlau. Sie wussten, dass man sich in dieser Dunkelheit umsehen würde, darum ist das Ding hinter uns. Sora zwang sich, wieder nach vorn zu schauen. Ein blutroter Lichtschimmer glomm dort eben auf. „Tai?“, wisperte sie. Es kam keine Antwort. Die Hand unter ihren Fingern war eiskalt und leblos. „Tai?“, fragte sie lauter. Ihre Stimme klang hoch und heiser. Er regte sich nicht. Unter den Rädern ruckte es und sie spürte, wie die Schienenstrecke nach rechts führte. Das Licht kam näher; bald sollte sie wieder Tais Umrisse erkennen können. Was würde sie sehen …? Nichts. Einfach nur Tai, wie er die Geister anstarrt, redete sie sich ein – aber es war die Stimme der Vernunft, die das sagte. Und Vernunft hatte noch in keinem Horrorfilm geholfen, und erst recht half ihr Vernunft nicht in einer abgekapselten Dimension, in der womöglich andere Gesetze galten als in der Realität. Etwas Kaltes tropfte auf ihre Schulter, wie ein Stich von einem Eiskristall. Sora zuckte zusammen und stieß einen kleinen Schrei aus. Etwas saugte sich in den Stoff ihres Capes, nass und eklig. Tai fuhr neben ihr zusammen. „Boah, spinnst du?“, zischte er. „Kannst du mir mal verraten, warum du plötzlich kreischst?“ „Da ist was auf mich runtergetropft“, verteidigte sie sich gereizt, war aber heilfroh, ihn wieder neben sich zu wissen. Selbst seine Hand schien wieder wärmer zu sein als noch vor einer Sekunde. „Warum hast du vorhin nicht geantwortet?“ Sie hörte ihn schnauben. „Wozu? Du klammerst dich ja eh an mich.“ Sie setzte zu einer scharfen Erwiderung an, doch der Wagen fuhr um eine Ecke und die Worte blieben ihr im Hals stecken. Das hier musste der Innenhof sein, von dem dieser Takumi gesprochen hatte. Die Gleise beschrieben eine Schleife nach rechts, und hier war wohl das Highlight der Geisterbahn zu bestaunen. Das rote Licht kam von einem unangenehm organisch aussehenden, pulsierenden Klumpen, der an einer Hauswand klebte … als würde dort ein schlagendes Herz vor sich hin pumpen. Daneben strömte grünlicher Rauch direkt aus den Gleisen, und dahinter war eine riesige Dämonenfratze zu sehen, die die Schienen verschlang, noch viel elaborierter als das Maul am Eingang. Es musste sich um eine Konstruktion aus Holz und Eisenstangen handeln. Von gelben Zähnen tropfte zäher Speichel. Der grüne Nebel hüllte sie ein. Er war kalt und roch auch so; Sora spürte ihre Gänsehaut wieder. Sie zogen die Köpfe ein, als das Dämonenmaul auf sie herab geiferte. „Die haben sich das echt was kosten lassen“, murmelte Tai. „Ich meine, die müssen den Sabber ja auch wieder nach oben pumpen.“ Sora war dankbar, dass er die Situation so gelassen und vor allem realistisch analysierte. Nach dem Maul neigten sich die Schienen wieder nach links und führten dicht an der Hausmauer vorbei. Dort zeigte sich, nun von Nebel befreit und von blutigem Licht erhellt, das wohl grausigste Schauspiel, das die Geisterbahn zu bieten hatte. „Oh mein Gott“, hauchte Sora, als ihr Blick die Wand streifte. Ihr wurde übel, doch irgendwie schaffte sie es nicht, den Blick abzuwenden. Etwas Ziehendes klammerte sich von innen an ihre Kehle, glitt hoch in ihre Nase und ließ ihre Augen tränen, als sie mehr und mehr von dieser Schrecklichkeit in sich aufsaugten. „Scheiße“, murmelte Tai. „Das sieht verdammt echt aus …“ Sora brachte kein Wort mehr heraus. Ihre Hand krallte sich wie von alleine in seinen Oberarm und sie drückte sich an ihn, als der Waggon nahe an dem grässlichen Muster vorbeiglitt, das das herablaufende Blut auf die Mauer malte. Glänzendes, nasses Rot fraß sich in die Ritzen der Hauswand und sickerte durch das poröse Mauerwerk, und es sah fast so aus, als würde das Haus selbst bluten, als pumpte das monströse Herz von vorhin seinen Lebenssaft ins Leere. Allerdings kamen die Rinnsale eindeutig von oben, hatten ihren Ursprung in dem menschlich erscheinenden Körper, der mitten in einem gigantischen Spinnennetz hing, etwa vier Meter über dem Boden. Kopfüber hing die Puppe da, totenbleich in einem blauen Overall, klebte fest auf knochenweißen, fast armdicken Strängen. Arme und Beine waren zum Teil in Spinnenfäden eingewickelt – teilweise in einigem Abstand zum Körper. Sora hatte im ersten Moment geglaubt, sie würde sich täuschen, doch leider war dem nicht so. Ein Arm des Körpers war knapp über dem Ellbogen abgetrennt; ein Bein baumelte, nur von ein paar dünnen Fäden gehalten, direkt über ihnen und sah aus, als würde der kleinste Windstoß es herunterreißen … Je länger Sora diesen Albtraum betrachtete, desto mehr schreckliche Details machte sie aus. Die Wundränder der abgerissenen Gliedmaßen wirkten zermatscht, ausgefranst, als hätte jemand daran geknabbert, das gigantische Maul vielleicht, durch das sie vorhin gefahren waren, vielleicht hatte einer der vorherigen Gäste der Geisterbahn Pech gehabt und der Dämon hatte sich entschieden, auf ihm herumzukauen … Auch die Hüfte der Puppe machte den Eindruck, als fehlte einfach ein Stück, rohes Fleisch lag in dem infernalischen Licht blank, die letzten Rippenbogen blitzten knöchern und rotverschmiert auf … Tai hatte recht. Was auch immer diese Geisterbahn gekostet haben mochte, dieser Teil hier war so detailliert – von Leuten mit grausamem Geschmack – gebastelt worden, dass man sicher ein Vermögen dafür hatte ausgeben müssen. Der Waggon wurde scheinbar noch langsamer, als sie direkt unter dem Spinnennetz waren. Was, wenn er ganz anhielt? Sora konnte den Anblick nicht mehr ertragen … und dennoch wurde ihr Blick davon angezogen wie die Zunge von einer Zahnlücke. Auch Tai starrte immer noch nach oben. „Als könnte er im nächsten Moment die Augen aufschlagen“, flüsterte er. „Sag so was nicht!“, sagte sie inbrünstig, und noch ehe sie ausgeredet hatte, tat die Puppe genau das. Ein Ruck ging durch den Körper, die Lider öffneten sich. Gelbe, blutunterlaufene Augen starrten in ihre Richtung, blank wie Glasperlen. Das Gurgeln, das folgte, würde sie bis in ihre Träume begleiten. Die Puppe würgte einen schmalen Faden Blut aus, der ihr aus dem Mundwinkel lief und ihre Wange verunzierte. Sora stieß einen Schrei aus und kauerte sich auf die Sitzbank, machte sich so klein wie nur irgend möglich. Sie umklammerte ihren Kopf mit den Händen, lauschte dem Blut, das durch ihre Ohren rauschte, und kämpfte gegen das immer stärker werdende Gefühl der Übelkeit an. Bittere Galle breitete sich auf ihrer Zunge aus. Warum bin ich nur mitgefahren?, dachte sie. Ich hätte bei Matt bleiben sollen! Soll Tai sich doch allein zu Tode gruseln, wenn ihn das glücklich macht! Sie hatte das Gefühl, dass sie nie wieder würde schlafen können. Selbst wenn sie die Lider aufeinander presste, erschien der schreckliche, groteske Anblick der Spinnennetzpuppe vor ihrem inneren Auge. „Sora! Hey, Sora!“ Sie hörte Tais Stimme kaum. Erst als er sie an der Schulter rüttelte, begriff sie, dass sie gemeint war. Zögerlich nahm sie die Arme vor ihrem Gesicht weg und hob den Kopf, um ihn anzusehen. Tais Gesicht hing in Fetzen. Seine Augen waren groß, die Pupillen riesig; seine Wangen eine Kraterlandschaft aus nässenden Wunden und rohem Fleisch und der Mund nichts als ein dunkles Loch … Soras Schrei klirrte in ihren eigenen Ohren, sie zuckte vor ihm zurück, prallte mit den Rippen schmerzhaft gegen den Haltegriff. Der Waggon wippte bedrohlich, aber wäre sie plötzlich aus dieser Bahn gestürzt, wäre ihr das ganz recht gewesen. Alles war besser, als weiterhin in diesem Albtraum herumzufahren. Aber ihr Wunsch wurde ihr nicht erfüllt. Stattdessen griffen kalte Hände nach ihren Handgelenken, hielten sie fest, zwangen sie, ruhig zu sein … Wann hatte sie begonnen, um sich zu schlagen? „Sora! Verdammt, Sora!“ Das pulsierende Licht des schlagenden Herzens erlosch für eine halbe Sekunde, flammte wieder auf, erlosch wieder. Die grässlichen Verunstaltungen in Tais Gesicht wurden wieder zu dem, was sie waren: ein sinnesverwirrendes Spiel zwischen Schatten und blutigem Licht. Die Hautfetzen verwandelten sich in lose hängende Mumienbandagen, im Loch in seinem Kiefer waren wieder Zähne zu erkennen, die Wundränder wurden wieder zu Lippen – das ganz normale Öffnen seines Mundes, als er wiederholt ihren Namen rief. Erst jetzt merkte sie, dass sie immer noch wie am Spieß brüllte. Beschämt sank sie in sich zusammen. „Tut … tut mir leid …“, sagte sie heiser. „Für einen Moment …“ Sie brach ab. Er sah sie fragend an, drang aber nicht weiter in sie. Sie waren die Schleife zu Ende gefahren und passierten die Herzattrappe eben ein zweites Mal. Ein anderer Wagen kam von links, gerade als sich ihrer nach rechts drehte. Darin saßen ein Werwolf und eine Hexe. T.K. und Kari winkten ihnen zu, ehe auch sie in den Innenhof fuhren. „Viel Spaß da drin!“, rief Tai. „Macht besser die Augen zu!“ Sora hörte ihn kaum, und auch die Antwort konnte sie nicht verstehen. Sie fühlte sich seltsam apathisch … als wäre ein Teil von ihr dort drin in diesem Schlachthaus von Innenhof zurückgeblieben. Der Rest der Fahrt glitt an ihr vorbei wie das leise plätschernde, schwarze Wasser eines nächtlichen Baches. Sie bekam kaum mit, wie ihr Wagen abermals über etwas Ekliges rumpelte und ein geisterhafter Fetzen über ihre Köpfe hinweghuschte. Selbst als beim Ausgang feuchte Stofftentakel über ihr Gesicht peitschten und Tai heftig davon zusammenzuckte, rang ihr das kaum noch eine Emotion ab. Sie wusste nur, dass sie nie wieder mit einer Geisterbahn fahren würde. 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