Huans von Nagisa_Tsubaragi ================================================================================ Kapitel 20: Rätselhafte Zeiten ------------------------------ Am folgenden Tag mussten sich alle Huans zum Krankenzimmer begeben, um sich dort dem zweiwöchentlichen Untersuchungen zu unterziehen. Es war wirklich nichts weltbewegendes: Körpergröße, Gewicht, Blutabnahme, Reflextest, Ausdauertest, ... Die Ruler wurden dazu nicht benötigt und so war es an dem Morgen im Klassenzimmer still wie in einem Grab und manchmal bildete man sich sogar ein, dass die Stimme des Lehrers an den Wänden widerhallte. Allgemein war die Stimmung mehr als gelangweilt. Bis sie Frau Wood in der 2. Stunde hatten. „Aufgewacht, ihr Penner!“, fauchte sie die Klasse an, wobei sich ihre Stimme wie eine Giftspritze anhörte. Irgendeine tödliche Würge- oder Giftschlange hätte eher als Huan zu ihr gepasst als eine Eule. „Auch wenn unsere „heiß und innig geliebten“ Huans nicht da sind, heißt das noch lange nicht, dass ihr euch auf die faule Haut legen könnt!“, keifte die Lehrerin angesichts des noch nicht vollends erwachten Schülerverbandes. „Zum Beweis schreiben wir - pardon: Ihr jetzt eine Extemporale!“ Als alle sie fragend und desinteressiert anglotzten, brüllte sie: „Eine EX, ihr Hornochsen! Meine Güte, mit eurem IQ könnt ihr ja unterm Teppich Fallschirm springen!“ Nia war mitten ihm Gähnen versteinert. Eine Ex? Jetzt?!! Sie hatte kein Stück gelernt oder gar geübt! Ihr neuer Degen war viel spannender gewesen als Schönschrift zu pauken! Das Mädchen kam sich wirklich albern vor, schließlich hatte Frau Wood sie noch am Anfang des Schuljahres davor gewarnt, ihr Fach nicht zu unterschätzen. Und nun hatte Nia es doch getan ... Selten ging es ihr so schlecht in einer Ex wie in dieser – in Mathe hatte sie zumindest immer etwas hingeschrieben! Aber nun waren ihr fast wortwörtlich die Hände gebunden. Zwar erging es den anderen nicht besser als ihr, doch das war nur ein schwacher Trost. Egal, wie sehr sich Nia auf den Stift vor sich konzentrierte, alles, was dabei herauskam waren Kopfschmerzen und Schweißperlen auf der Stirn, sodass sie schlussendlich ein leeres Blatt Papier abgab. Sie war enttäuscht von sich selbst und ihrer Naivität, zu glauben, dass sie Schönschrift schon beherrschte. Kaputt von der Konzentration, die sie viel Kraft gekostet hatte, ging sie zu ihrem Schließfach, um die Bücher für die nächste Stunden zu holen. Kaum war ihr Spind offen, erinnerte sie sich an die Karteikartenflut, die ihr so sehr geholfen hatte, dass sie inzwischen nur noch Vierer und Dreier in Mathe schrieb. Trotzdem vermisste sie die Aufgaben und besonders die gut gemeinten Ratschläge ihrer besten Freundin sehr. Obwohl Nia nun auch in „Katjas Welt“ war, hatte sie diese noch kein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Waren die Trennungsregeln der Jahrgänge wirklich so strikt, dass sie sich noch nicht hatten treffen können? Wo war Katja jetzt? Ging es ihr gut? Vermisste Katja Nia genauso wie sie Katja? Tausend wirre Gedanken und Fragen schossen dem armen Mädchen durch den Kopf, auf die es keine Antworten gab. Zumindest jetzt noch nicht ... ___________________________________________________________________________ Scheinbar ruhig und gefasst stand eine große, schlanke Gestalt vor der verschlossenen Tür von der Lehrerin E. Wood. Ihre hellbraunen, nicht einmal schulterlangen dünnen Haare waren zu einem Zopf hochgesteckt. Ihr sonst so fröhliches, unbekümmertes Gemüt war einer Mine tiefer Entschlossenheit und großem Ernst gewichen. Nervös nestelte Katja an ihrem braunen Pulli herum, um sich die schweißnassen Finger abzuwischen. Es hatte sie viel Mühe gekostet, hierher zu kommen, denn sie wollte diese Frau nie wieder unter vier Augen sprechen – dafür gab es viele Gründe. Katja schüttelte entnervt den Kopf. Nicht jetzt! Es ging gerade um wichtigeres als um die Vergangenheit! Fest entschlossen klopfte sie schnell zwei Mal laut und deutlich an die Tür, bevor sie doch noch kalte Füße bekam und umkehrte. Von drinnen ertönte ein tiefes, festes „Herein“ und Katja tat wie ihr geheißen. Seit sie diesen Raum das erste Mal gesehen hatte, hatte sich nichts verändert: Das ganze Zimmer, dessen Decke unglaublich hoch war, war an jeder Wand mit Bücherregalen zugestellt, die bis oben hin mit Lektüren aller Art gefüllt waren – Romane, Lexika, Krimis, Naturführer, Schulbücher und unendlich vielen mehr. Auch der Boden war bedeckt mit alten Schinken, die keinen Platz mehr in den Schränken gehabt hatten. Man konnte gar nicht glauben, wenn man es nicht wusste, dass dies keine Bibliothek, sondern der Wohnbereich von Frau Wood war. Es gab sonst auch keine Stühle, Tische oder gar Lampen, nur einen Teppich in einer Ecke des Raumes, auf dem ein dicker Ast stand, zeigte, wo die Lehrerin, die Eule, in der Dunkelheit nächtigte. Die vielen Bücher zeigten, dass sie tatsächlich weise und wissbegierig war und nicht, wie viele annahmen, eine Schlange verkörperte, die viel eher zu ihrem reizbaren Temperament gepasst hätte. „Was gibt’s?“, fragte Frau Wood ungeduldig, ohne von einem fetten Wälzer aufzublicken. „Frau Wood ...“, begann Katja mit einer nervösen, hohen Stimme, die scheinbar nicht ihre eigene war. „Wir sind unter uns, Katja!“, unterbrach die Lehrerin sie unwirsch, legte das Buch mit dem Titel „Einsteins Relativitätstheorie – die Folgen für unseren Alltag“ zur Seite, stand auf, ging auf ihre Schülerin zu und berührte sanft ihre Wange, sodass Katja angeekelt zurückzuckte. Es kostete sie all ihre Überwindung, das folgende Wort auszusprechen: „Mama ... Mama, ich ...“, Frau Eunice Wood lächelte ihre leibliche Tochter an und gurrte: „Ja, mein kleiner Schatz? Was kann ich für dich tun?“ Katja holte tief Luft und sprach wieder mit einer halbwegs sicheren Stimme: „Mama, ich suche jemanden. Einen Mann. Ich glaube, du weißt ganz genau, wen ich meine ...“ ___________________________________________________________________________ Als Nia wieder in ihrem Zimmer war, fiel ihr Blick aus dem Fenster. Zwar schien die Sonne, doch es kam einem so vor, als wäre es kalt wie in Sibirien. Es war Ende Oktober und der kräftige Wind zerrte und zottelte an den relativ vielen, kunterbunten Blättern der Bäume. Der Boden war schon ein scheinbares Meer aus roten, sonnengelben, schokobraunen und mintgrünen Laub. Der Herbst war gekommen. Und damit Nias verhassteste Jahreszeit, wobei ... Der Herbst an sich war eigentlich schön, gäbe es nicht diesen einen einzigen Tag: Halloween! Wie sehr sie dieses „Fest“ verabscheute! Und das schlimmste war auch noch, dass es an diesem Internat ein echter Kult geworden war! Egal, wie sehr sie sich in den vergangenen Jahren angestrengt hatte, sich zu verstecken, war sie bislang immer gefunden und dadurch natürlich noch mehr gepiesackt worden. Es war einfach ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen und für dieses Jahr hatte sie sich vorgenommen, sich ihrer Angst zu stellen und sich mitten ins Getümmel zu stürzen! Ein Kostüm war auch schon fertig: Sie würde als „kleines Schlossgespenst“ gehen! Das war einfach, unkompliziert und zudem würde sie so keiner erkennen. Sie war auf jeden Fall für den heutigen Abend gerüstet! ___________________________________________________________________________ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)