Huans von Nagisa_Tsubaragi ================================================================================ Kapitel 16: Schönschrift ------------------------ Am darauffolgenden Tag hatten sie zum ersten mal Schönschrift. "Nun kommen wir also endlich zu dem Fach, das ich unterrichte.", begann Frau Wood und freute sich diebisch, "Wer auch immer sein erbsengroßes Hirn nicht von der Sonne hat verbrutzeln lassen oder sich weggetanzt hat, kann sich noch daran erinnern, dass es den atemberaubenden Ausdruck "Schönschrift" hält. Anfangs wird dieses Fach von den Schülern belächelt und kaum einer tut etwas dafür. Aber wenn dann die Schulaufgabe rausgegeben wird, sind sie am Boden zerstört, wenn mindestens die Hälfte der Klasse ihre F's (= 6) kassiert. "Schönschrift" ... Die Schüler der 10D mussten schlucken. Was konnte das schwieriges wohl sein? ""Schönschrift" ist die "Kunst" mit einem Füller, Feder, Kugelschreiber oder was auch immer zu schreiben ohne diesen Stift zu berühren. Man lässt ihn quasi lebendig werden und die Gedanken von einem aufschreiben ohne dass man an die Beschäftigung des Schreibens gebunden zu sein. Es ist äußerst praktisch, wenn man sich z.B. Kochrezepte aus dem Radio damit aufschreibt. Man wiederholt im Geist schnell die Zutaten - und schwupps - stehen sie auf dem Blatt, ohne sich schwarz darüber zu ärgern, dass man nicht mit dem Schreiben mitgekommen ist. Da ihr alle wie der ungläubige Thomas dreinschaut, werde ich es euch demonstrieren." Frau Wood hatte recht - es gab zwar kein aufgeregtes Gemurmel wie sonst, aber alle schauten sie an, als hätte sie irgendetwas genommen, was ihr nicht gut tat. Doch nun erhob sich wie von Geisterhand der Füller, der drei Meter weiter weg auf ihrem Pult lag und kritzelte etwas auf ein Blatt. Gleichzeitig erhob sich die Kreide und schrieb in fein säuberlicher Schrift: "Schaut mich nicht an wie eine Kuh wenn's donnert - an so etwas "ungewöhnliches" werdet ihr euch in Zukunft gewöhnen müssen!" Füller und Kreide legten sich selbstständig wieder an ihren angestammten Platz. Der gesamten Klasse stand der Mund vor lauter staunen offen. Niemand wagte es, das infrage zu stellen, was er soeben gesehen hatte, denn es war unglaublich - aber Realität! "Ihr werdet in einem bestimmten Zeitraum dann eure Tests über verschiedene Schriftarten schreiben. Seien es nun Hieroglyphen, Runen oder Steinzeitmalerei, alles kommt dran und neben dem - selbstverständlichen - Verbot des Spickens gilt auch, dass ihr ohne Hände, Füße, Mund oder mit was ihr sonst auch immer schreibt, den Test bearbeiten müsst. Euer gesamter Körper darf weder Kontakt mit dem Schreibgerät noch zum Blatt haben." Nun wussten sie also, was sich hinter dem Kunstwort "Schönschrift" verbarg, was niemanden sonderlich erfreute. Alle stellten es sich schwierig vor - aber keiner hatte auch nur die leiseste Ahnung, dass es noch viel, viel schwerer werden würde als in ihren kühnsten Träumen. Nun teilte Frau Wood lässig Stifte und Papier aus - sie schien sich schon auf die verzweifelten Gesichter ihrer Schüler zu freuen. "Um dieses Fach zu meistern muss man klar geordnete Gedankengänge haben. Wer nicht zwei unterschiedliche Dinge auf einmal denken kann, beschränkt sich auf eines. Profis - wie ich - können etwas schreiben, zugleich reden und noch an die Einkäufe am Nachmittag denken, ohne dass dies in dem Geschriebenen erscheint. Man muss sich auf den Füller - oder was auch immer - konzentrieren und sich vorstellen, man nehme ihn mit der Hand auf. So als hinge er an unsichtbaren Marionettenfäden. Falls ihr das schaffen solltet, werdet ihr erstaunt sein, wie viel Kraft euch das abverlangen wird - Ein Schüler hat das einmal sehr treffend mit der Erklimmung des Mount Everest verglichen, denn genau so kommt es einem am Anfang vor. Aber genug gelabert - fangt an!", schloss die Lehrerin und beobachtete amüsiert die angestrengten Gesichter ihrer Schützlinge: Manche hatten ihre Stirn so in Falten gelegt, als hätte man sie umgepflügt, andere lief schon der Schweiß über die Stirn und wieder andere schienen den Stift mit ihren Blicken eher töten zu wollen. Nur Cedric und Salvatore schafften es auf anhieb - beide stammten aus alten Familien, wo "Schönschrift" geläufiger war als das Schreiben per Hand. Nia starrte ihren Stift mit einer Mine grimmiger Entschlossenheit an, aber man konnte deutlich erkennen, dass sie ihn am liebsten entzwei brechen würde und gegen die Wand schleudern wolle. Nach fünf Minuten bösartige Blicke bewegte er sich. Ihr Gesicht hellte sich sofort auf - sie hatte es geschafft! Und von wegen "Erklimmung des Mount Everest" - sie spürte gar nichts! "Oh, Entschuldigung. Ich bin gegen deinen Tisch gestoßen.", unterbrach ein Klassenkamerad Nias innerlichen Triumph. Damit war ihr Stolz gebrochen. So ein verdammter Mist! "Stell dir vor, deine ganze Energie fließt in den Stift - du bist der Stift.", half der blendend aussehende Salvatore ihr weiter und eine erneut ehrgeizige Nia machte sich ans Werk. Angestrengt konzentrierte sie sich auf das Schreibutensil vor ihr. Kraft fließen lassen ... Kraft fließen lassen ... ... Plötzlich fühlte es sich so an, als würde alle Lebensenergie aus ihr herausströmen. Arme und Beine wurden taub und ihr Kopf fühlte sich seltsam leer an. In ihren Ohren hörte sie das Rauschen ihres eigenen Blutes. Durch eine Art Nebelschleier nahm sie wahr, dass der Stift sich wie von Geisterhand aufstellte - danach wurde alles schwarz um sie. ___________________________________________________________________________ "Du könntest schön langsam Stammgast hier werden.", tönte die Stimme von Cedric an ihr Ohr, als sie aufwachte und sich im Krankenzimmer wiederfand, "Möchtest du eine Mitgliedskarte?" Obwohl ihr immer noch schlecht und schwindlig war, ignorierte sie Cedrics Sticheleien und fragte: "Wo ist Salvatore?" Entnervt antwortete Cedric: "Bei der Wahl." "Hä? Welche Wahl?", fragte Nia wie benommen. Die Lippen des Blondschopfs kräuselten sich. "Na welche wohl: Es gibt nur die eine! Zum First und Second - du weißt doch ...!" Nia schaute ihn mit tellergroßen Augen an. "First? Second? Was ist das denn?" Cedric seufzte schwer. "Die Wahl vom First und Second wird gemacht, damit jeder Huan einen festen Prozentsatz an Kraft und Magie bekommt. Das machen die Huans unter sich aus; jeder kriegt was von den 100%; wenn der First - der immer mehr als 50% bekommt - bestimmt ist, geht er zur allgemeinen Wahl und kriegt seinen neuen Titel. Es wird dann eingetragen und ändert sich bist zur nächsten Wahl nicht mehr.", erläuterte er. Nia verstand. Aber ... "Was ist bei 50%? Und was bringt das ganze überhaupt?", wollte sie wissen. Wer hätte gedacht, dass die Welt der Huans so vielschichtig ist! Nia war direkt verblüfft - es gab sogar Titel! "50% hat es in der Geschichte der Huans noch nie gegeben. Das würde nämlich bedeuten, dass der Ruler beide Huans genau gleich gern hat. Das ist quasi unmöglich - eine Schwankung von 10%-15% ist normal.", erläuterte Cedric während er immer wieder von einem knackig grünen Apfel abbiss. "Um deiner nächsten Frage gleich entgegen zu kommen:", kaute der junge Mann, "Es gibt auch Fälle, da hat der First 100% und der Second 0% - allerdings stirbt dann der Second; ab 4% oder weniger wird's mehr als kritisch!" Nia sog erschrocken die Luft ein. Auf einmal war ihr schlecht, ja - speiübel. Konnte es sein, ...?! Cedric schaute sie mit einer ruhigen Entschlossenheit an, "Wie ich an deinen Augen ablesen kann, hast du's schon erkannt: Jepp, die "verbotenen Worte" bringen einen der beiden Huans ein großes Stück in Richtung 0% - den definitiven Tod also.", meinte er lässig und fuchtelte locker mit dem Apfel in der Luft herum, als würde er gerade die Wetterlage für morgen verkünden. Tränen schossen Nia in die Augen. Soeben stellte sie sich vor, dass Cedric - der behinderte Idiot - unter die gefährliche 4%-Marke fiel ... Obwohl sie ihn verabscheute ... Obwohl er sich immer wieder in ihre Angelegenheiten mischte ... Obwohl er ihr so viel schon versaut hatte ... Obwohl er immer gemein zu ihr war ... Das durfte auf keinen Fall geschehen! Ihre Augen brannten, heiße Tränen kullerten Nias Wangen hinunter und ein dicker, fetter Kloß hatt sich in ihrem Hals gebildet, bevor sie sich auch nur versah. Angesichts ihrer Tränen wurde Cedric rot. "Hey ... Du wirst doch nicht etwa weinen?", fragte er überflüssigerweise und fühlte sich unbehaglich. Vorsichtig wischte er mit seinem Ärmel eine Träne aus ihrem Gesicht. "Oh Cedric - ich ...", krächzte Nia hilflos, brachte den Satz aber nicht zu Ende, weil sie ein heftiger Weinkrampf schüttelte. Sie erkannte, wie furchtbar der Verlust des "behinderten Idioten" für sie wäre. Noch mehr Tränen kullerten aus ihren Augen. "'ey! Jetz mach mal'n Punkt!", knurrte Cedric verzweifelt, als er sah, dass der Tränenfluss nicht gestoppt worden war. Seine Stimme war ganz rau, aber weich. Zärtlich streichelte er über ihre Wange - wie ein Scheibenwischer wischte er eine Träne nach der anderen weg. "Hör auf, sonst muss ich dich ..", nuschelte er, hob zärtlich ihr Kinn und beugte sich behutsam zu ihr runter. Nia wehrte sich nicht, sondern spürte ein Kribbeln im Bauch. Doch dieser Moment war ihm nicht vergönnt - die Tür flog auf und Cedric zuckte zurück als hätte er einen Elektroschock bekommen und fiel glatt vom Stuhl. Mächtig, männlich, majestätisch: Salvatore stand wie ein strahlender Ritter in der Tür und betrachtete den Schauplatz: Eine weinende Nia und ein Arschloch, der eben so schnell zurückgezuckt war, als hätte er etwas mit seiner Nia angestellt ...! "Hast du sie zum Weinen gebracht?!", giftete Salvatore den Blonden an und stürzte sich auf ihn. "Hey! Ich .. nein ... na ja ... doch ...", stammelte Cedric, doch Nia funkte dazwischen: "Er hat mir nichts getan, Salvatore - es ist nichts passiert!", beteuerte sie und der Frauenschwarm ließ auf Geheiß seiner Prinzessin Cedric los. "W ... Wie war die Wahl?", wollte das junge Mädchen wissen und schluckte. Wann starb ein Huan mit weniger als 4%? Nach der Wahl oder erst, wenn er es mit eigenen Ohren gehört hatte? Oder spürte er das einfach? "95-5", antwortete Salvatore knapp und Nia bildete sich ein, eine Spur Bitterkeit darin gehört zu haben, oder etwa nicht? Nein, das war bestimmt nur Einbildung gewesen! Ihr und vor allem Cedric, der vor lauter Anspannung sogar die Luft angehalten hatte, fiel ein Stein in der Größenordnung des Mount Everest vom Herzen. 1% vorbei! Um ein Haar hätte es ihn erwischt, aber wie durch ein Wunder hatte er es überstanden! Natürlich hielt dieser Zustand nicht für immer und ewig, aber fürs erste hatte er sein Schäfchen ins Trockene gebracht! Der blonde Hüne wischte sich den Schweiß von der Stirn und rappelte sich auf. Salvatore hatte sich inzwischen auf Nias Bettrand gesetzt und ihre Tränen getrocknet. Nia war froh, dass Cedric nun doch nicht starb - jetzt konnte sie ihre Aufmerksamkeit ja wieder voll und ganz ihrem Schwarm zuwenden. "Was hältst du davon, wenn wir in die Stadt shoppen gehen? Heute war ein anstrengender Schultag für uns beide gewesen - Schönschrift, Wahl ... Du hast dir eine Erholung mehr als verdient, findest du nicht?", flüsterte Nias Flamme beruhigend, zärtlich und liebevoll. Noch bevor sie antworten konnte, mischte Cedric sich ein: "Ich komm mit!" Die beiden Turteltauben drehten erschrocken ihren Kopf zu ihm, fast so, als hätten sie völlig vergessen, dass es ihn auch noch gab. "Warum solltest du?!", fragte Salvatore barsch und seine sonst so warmen, freundlichen Augen schauten seinen Erzfeind herablassend, kalt und vernichtend an. "Warum?", wiederholte Cedric stupide, "Na weil wir eine Gruppe sind: Ein Ruler, zwei Huans! Das sind nach Adam Riese drei Personen und nicht zwei!" "Und wer sagt dir, dass wir das als Gruppe machen und nicht nur wir zwei?! Vielleicht wollen wir dich gar nicht dabeihaben!", schnarrte der Frauenschwarm wütend. Nia wurde rot vor Verlegenheit. Das würde ja - wieder mal- ein Date sein! Auf keinen Fall sollte da der behinderte Idiot dabei sein! Doch gerade als Nia ihren Mund aufmachte, öffnete sich erneut die Tür und den Mädchen verschlug es die Sprache: Ein Mann mit absoluten Top-Model-Maßen, etwas längeren, schokobraunen Haaren, bernsteinfarbenen Augen und einem Lächeln, das ansteckend war, betrat den Raum. Sein langer, weißer Arztkittel stand ihm ausgezeichnet. "Ich möchte euch ja nicht unterbrechen ... Aber es ist eine Grundregel, dass der Ruler nie allein mit einem Huan, sondern immer mit beiden unterwegs sein muss. Has du das etwa nicht gewusst, Salvatore?", fragte der Arzt und sein Blick bohrte sich in die Augen des Frauenschwarms, der trotzig und vor allem wütend zurückstarrte, da sein geplantes Date soeben wie eine Seifenblase geplatzt war. Geladene Stille entstand zwischen den beiden, die Nia schließlich etwas unpassend brach: "Ähm ... Wie hießen Sie doch gleich wieder, Herr ...?" Der Unbekannte lachte und zeigte eine Reihe strahlend weißer Zähne. "Ich bin kein Arzt - ich bin so alt wie du - ich bin nur beim freiwilligen Rettungsdienst!" Er musste wieder lachen. "Mein Name ist Miguel Sorro. Freut mich, dich kennen zu lernen, Nia.", sagte er galant und hauchte ihr einen Kuss auf die Hand. "Miguel ...", wiederholte Nia gedankenverloren und errötete leicht, "Woher kennen Sie ... äh ... kennst du meinen Namen?" "Na ja ... Jemand, der so oft im Krankenflügel liegt und außerdem noch DIE ist, die zwei offensive Huans - Salvatore, der Frauenschwarm und Cedric, den Außenseiter - hat ..." Beide jungen Männer schnaubten, doch Miguel fuhr unbeirrt fort: " ... die muss man doch kennen, oder?" Miguel schaute zwischen den drei hin und her. "Wenn ihr heute noch eure Shoppintour machen wollt ...", überbrückte der Neue die wiederaufkommende, unangenehme Stille, "Dann würde ich mich langsam auf die Socken machen, bevor ihr hier noch Wurzeln schlagt!" ___________________________________________________________________________ Kaum war Nia und ihre Huans aus dem Raum gewesen, trat Frau Wood ein und fragte Miguel interessiert: "Und? Was hältst du von ihr?" Der junge Mann lachte in sich hinein. "Du hattest Recht, Eunice. Man kann die "sagenumwobene" Nia lesen wie ein offenes Buch." Er schritt zum Fenster und zog den Vorhang mit einem seiner langen, wohlgeformten Fingern zurück. Keine Minute später flitzte Nia über den Hof. "Wie ein offenes Buch ...", nuschelte er mehr zu sich als zu Frau Wood. ___________________________________________________________________________ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)