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Eien 永遠

Der Samurai und der Fremde
von

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Reue

20. Kapitel: Reue
 

[Mein finsterer Traum ...

Reue, Einsamkeit und Schmerz.

Wirre Gefühle …]
 

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„Lebewohl Bruder!“

Wie ein unendliches Echo durchdrangen jene Worte wieder und wieder die bedrückende Stille. Ein tiefes Lachen folgte ihnen, bevor es wie auf einer springenden Schallplatte wieder von vorn losging.

Panisch rannte er durch die weiße karge Landschaft, als würde diese Stimme ihn verfolgen. Hinter ihm verschwanden seine Fußspuren im Nichts, während eine eisige Kälte seinen Körper umhüllte und in sein Inneres drang. Er lief und lief und trotzdem kam er nicht voran.

Die Umgebung färbte sich blutig rot und die knochigen Äste der riesigen Bäume schienen auf ihn hinabzustürzen.

Er ließ sich, die Arme schützend über den Kopf gelegt, mit geschlossenen Augen auf die Knie fallen und schrie, weil er glaubte erschlagen zu werden.

Doch es passierte nicht.

Es blieb still.

Nur der rote Boden, auf dem er kniete, fing plötzlich an, hohe Wellen zu schlagen. Sofort tauchte er in den See aus dickflüssigem Blut, in dem er zu ertrinken drohte.

Seine hilflosen Schreie waren dünn und gingen im tiefen Gelächter ungehört unter.

Bis plötzlich eine leuchtend weiße Gestalt erschien.

Sie schwebte dicht neben ihm und strahlte eine unglaublich wohltuende Wärme aus, die ihn sofort beruhigte.

Das ebenso weiße Haar tanzte schwerelos um den Körper und verdeckte vollkommen das Gesicht.

Eine weiße Hand streckte sich ihm entgegen und er griff nach ihr. Doch statt sich aus dem blutigen See ziehen zulassen, riss er die engelsgleiche Gestalt mit sich in die unendliche Tiefe.

Sie sanken tiefer und tiefer.

Der Engel verlor sein leuchtendes Weiß und wurde zu einem verletzbaren Menschen. Ein Mensch, der hier mit ihm sterben würde.

Wie aus einem Reflex heraus nahm er ihn beschützend in seine Arme. Er wollte ihn vor dem Ertrinken retten, obwohl er selbst um sein Leben kämpfen musste.

Doch um alles in dieser Welt wollte er diesen Engel, der wegen ihm seine Unsterblichkeit verloren hatte, nicht sterben lassen.

Er drückte ihn an seine Brust, als wäre allein seine Umarmung die Rettung.

Während Tränen über seine Wangen liefen, bat er immer wieder um Vergebung. Doch das Herz hatte aufgehört zu schlagen.

Er war tot. Und es war seine Schuld gewesen.

Tief bekümmert strich er ihm über die kalten Wangen und blickte in das weiße von Blut überströmte Gesicht.
 

In Schweiß gebadet wachte Hyde auf.

„Schon wieder ... dieser Traum“, murmelte er atemlos und fuhr sich über die nasse Stirn.

Das gelbe Licht der Straßenlaterne schien in sein Krankenzimmer, trotzdem suchte er mit zitternden Händen nach dem Schalter der Lampe über seinem Bett.

Seit drei Nächten plagte ihn dieser Albtraum. Seit er aus dem Koma erwacht war.

Immer wieder träumte er von diesem Engel, den er mit sich in die Dunkelheit zog und tötete. Nie hatte er sein Gesicht sehen können.

Immer wenn er kurz davor war, wachte er im Schweiß seiner Angst auf. Selbst jetzt noch schlug sein Herz so wild, als wäre all dies wirklich geschehen. Als hätte er tatsächlich jemanden umgebracht.

„Warum immer derselbe Traum?“, fragte der Sänger flüsternd sich selbst, während er zum Fenster sah.

Die Vorhänge hatte er offen gelassen. Er fürchtete sich, wenn es zu dunkel war. Er fürchtete sich vor dieser Angst, die er jede Nacht aufs neue spürte. Die Angst vor diesem Traum und was er bedeuten könnte.

Warum war er ins Koma gefallen? Was war passiert? Warum fühlte er sich so alleingelassen und hilflos?

In wenigen Stunden sollte er entlassen werden. Der Grund für seinen Schwächeanfall aber blieb ungeklärt. Er konnte sich nicht erklären, was an diesem Tag mit ihm geschehen war. Warum er sich so sehr aufgeregt hatte. Was überhaupt in seinem Kopf vorgegangen war.

Er konnte sich nur vage an diese Geschichte erinnern, die ihm Tayama erzählt hatte.

Sie hatte ihn schrecklich aufgewühlt. So sehr, dass er die Besinnung verloren hatte.

Aber was war genau passiert?

Er würde Tayama selbst fragen müssen.

Er wollte Antworten. Antworten auf diese unerklärlich Angst. Es führte kein Weg daran vorbei.

Obwohl er sich auch vor der Wahrheit fürchtete.

Was, wenn er wieder zusammenbrach? Was, wenn er wieder in dieses Koma fiel und sein Albtraum wahr werden würde?

Mit besorgtem Blick hatte seine Mutter ihn darum gebeten, diesen Tayama nie wieder aufzusuchen. Sie hatte Angst um ihren Sohn und ihre Bedenken waren vielleicht nicht unbegründet.

Trotzdem ließ es ihm einfach keine Ruhe. Es gab da eine große Lücke in seinem Inneren.

Ein Loch, ein leeres Gefühl.

Seit diesem Vorfall existierte es, also musste es da eine Verbindung zu dieser Geschichte geben. Es war ein irrsinniger Gedanke und trotzdem konnte Hyde sich keine andere Erklärung zusammenreimen.

Nervös zog er sich die Decke bis zum Hals. Er begann zu zittern, wie jede Nacht nach diesem Traum.

Es war immer dieselbe Qual. Als würde sich die Angst durch seinen Körper fressen.

Er drehte sich zur Seite und starrte aus dem Fenster. Weit in der Ferne konnte er den farbigen Streifen der Morgendämmerung sehen.

Irgendwie beruhigte es ihn.
 

*
 

Kein Auge hatte er mehr zumachen können, seit er sich Tayamas Besuch in den Kopf gesetzt hatte.

Stundenlang hatte er überlegt, was er sagen sollte. Warum er überhaupt gekommen war, was er eigentlich wissen wollte.

Und nun stand er schon geschlagene fünf Minuten vor seiner Wohnungstür und starrte wie versteinert auf das Namensschild neben der Klingel.

Warum zögerte er wirklich? War es tatsächlich die Angst, dass ihm wieder etwas derartiges wie im Fernsehsender passieren könnte?

Oder hatte er vielleicht Bedenken, weil er sich für seinen Zusammenbruch schämte, für das Chaos, welches er damit verursacht hatte?

Er wusste also nicht zu hundert Prozent, woran es tatsächlich lag, dass seine Finger zitterten, als er schließlich auf den Klingelknopf drückte und wartete.

„Vielleicht bin ich zu früh. Es scheint noch niemand da zu sein“, murmelte Hyde nervös und wollte schon gehen. Er war erleichtert. Doch das Schicksal tat ihm diesen Gefallen nicht.

Die Tür öffnete sich und ein kleiner dicklicher Mann schaute um die Ecke.

„Hyde-san?!“, wunderte sich dieser.

Der Blonde zögerte. Nun gab es kein Zurück mehr.

„Es tut mir Leid, wenn ich Sie störe ... und dass ich so unangekündigt vorbeikomme, aber hätten Sie vielleicht einen Moment Zeit?“

Tayama blickte ihn fragend an, nickte aber sofort und ließ den Sänger in seine Wohnung.

„Erst einmal wollte ich mich für mein Verhalten an diesem Tag entschuldigen. Ich weiß wirklich nicht, was mit mir los war. Ich habe Ihnen Ärger bereitet. Das tut mir Leid“, sagte Hyde, nachdem er seine Schuhe ausgezogen und in das kleine Wohnzimmer getreten war, in das der Ältere ihn geführt hatte.

Tayama schüttelte den Kopf.

„Nein, nein. Sie müssen sich dafür wirklich nicht entschuldigen.“

Er deutete auf den Sessel gegenüber des tiefen Tisches.

„Möchten Sie etwas trinken? Einen Tee oder Kaffee?“

„Nein, machen Sie sich keine Umstände.“

Der Blonde setzte sich auf den weißen Sessel und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen.

Es war die kleine aber ordentliche Wohnung eines alleinstehenden Mannes. Die Einrichtung war schlicht, aber mit Stil. Ganz anders, als es sich Hyde vorgestellt hätte.

Auf dem Wohnzimmertisch lagen Ordner und Stapel beschriebenes Papier. Auf einem dieser Blätter stand der Titel des Werbespots, für den der Blonde eine Rolle spielen sollte.

„Was ist aus dem Spot geworden? Ich hörte, er wurde an jemand anderen weitergegeben“, fragte Hyde. Tayama setzte sich räuspernd auf die kleine Couch gegenüber des Sängers.

„Ja, er ist abgedreht und wird in zwei Monaten ausgestrahlt. Wir konnten Kitamura Kazuki für den Spot gewinnen.“

Der Blonde setzte ein gespieltes Lächeln auf und nickte.

„Das ist gut. Ihm steht der Kimono sicherlich auch viel besser als mir.“

„Na ja ...“

Tayama runzelte die Stirn. Er schien besorgt zu sein.

„Eigentlich wurde dieser Spot mit einem anderen Kimono gedreht.“

„Ein anderer? Weshalb?“

Fragend schaute Hyde den etwas älteren Mann an. Dieser fuhr sich nervös durch das kurze Haar und räusperte ein weiteres Mal.

„Weil er ... verschwunden ist“, antwortete er nach einer kurzen Pause zögerlich.

„Verschwunden?!“, fragte Hyde.

Tayama nickte, während er den Augen des Blonden auswich.

„Ich habe im Krankenhaus um den Kimono gebeten, aber die konnten ihn nicht mehr finden. Ich hatte deswegen großen Ärger mit dem Besitzer, Nishiyama gehabt.“

Hyde blickte nachdenklich auf den Tisch.

„Verstehe. Das ist wohl meine Schuld“, murmelte er. Er sah Tayamas Kopfschütteln sich spiegelnd im Glastisch.

„Nein, nein, ist es nicht. Es war meine alleinige Verantwortung“, wollte dieser den Sänger beruhigen.

Doch Hyde bemerkte sehr wohl, wie unangenehm ihm diese ganze Sache war.

Das alles war seine Schuld. Er war zusammengebrochen und hatte damit ein Chaos verursacht. Und nur, weil er sich irgendwie zu sehr in diesen Irrsinn hineingesteigert und den Bezug zur Realität verloren hatte.

„Hören Sie, ich könnte mit diesem Nishiyama red...“, fing der Blonde an. Tayama jedoch schüttelte sofort den Kopf und unterbrach den Sänger.

„Aber wissen Sie, was mir die Schwester im Krankenhaus erzählte?“

Aufgeregt faltete er seine Finger ineinander und fing an zu flüstern, während Hyde seine Skepsis nicht verbergen konnte. Er starrte ihn stirnrunzelnd an und schüttelte auf Tayamas Frage hin zögerlich den Kopf.

„Eigentlich sollte ich darüber nicht sprechen. Sie werden wahrscheinlich glauben, ich wäre verrückt.“

Er beugte sich über den Tisch, näher an den Blonden heran.

„Der Kimono hätte sich kurz, nachdem Sie im Krankenhaus angekommen waren, in Luft aufgelöst.“

„Bitte?“, warf Hyde ungläubig in den Raum.

„Einfach so“, murmelte der Ältere leise.

Tayamas Gesichtsausdruck beunruhigte den Blonden. Was dieser Mann erzählte grenzte buchstäblich an Wahnsinn. Doch im Angesicht der seltsamen Dinge, die in letzter Zeit um ihn herum passiert waren, konnte er es Tayama nicht übel nehmen.

„Ist dieser Nishiyama, von dem Sie den Kimono hatten, eigentlich ein Nachfahre von diesem Kagegaku?“

Der Sänger entschied sich, nicht weiter darauf einzugehen und das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

„Nein, nein ... Er hatte keine Nachfahren. Keine Kinder, weder eigene noch adoptierte. Nishiyama stammt von seinem Bruder Kagemura ab. Dieser hatte einen Sohn.“

„Verstehe.“

Hyde wunderte sich, weshalb er überhaupt danach gefragt hatte. Und warum ihn die Antwort darauf plötzlich so enttäuscht hatte.

Diese Geschichte war äußerst merkwürdig. Genau dasselbe hatte er auch schon an jenem Tag gedacht, als Tayama ihn das erste Mal davon erzählt hatte.

Aber er kam einfach nicht dahinter, was genau es war, was ihn so beschäftigte. Warum es ihn überhaupt beschäftigte.

Hatte sein Albtraum wirklich etwas damit zu tun oder war das alles etwa doch völlig aus der Luft gegriffen?
 

„Was ich Sie eigentlich fragen wollte ...“, fing Hyde an, als ihm der Grund seines Besuches wieder in den Sinn kam.

„Was ist da passiert? Warum bin ich zusammengebrochen?“

Tayama blickte ihn überrascht an.

„Sie können sich nicht erinnern?“, hakte er skeptisch nach.

Hyde schüttelte kurz den Kopf.

„Nur ganz schwer. Ich erinnere mich an diese Geschichte, aber ...“

„Sie wissen auch nicht, woher Sie diese mir zum Teil unbekannten Fakten kannten? Woher Sie Nishiyamas Vornamen wussten, obwohl ich den vorher nicht genannt hatte und … und den Namen seines Freundes?“

Wieder schüttelte der Sänger den Kopf.

„Ich habe keine Ahnung. Manchmal erinnere ich mich, dass ich so etwas gesagt habe, aber mir ist schleierhaft, wie ich darauf gekommen bin.“

Tayama strich sich nachdenklich über das Kinn.

„Merkwürdig.“

„Würden Sie mir noch einmal von dieser Geschichte erzählen? Vielleicht verstehe ich dann, was mit mir los war“, bat der Sänger, der seine Verzweiflung nicht mehr überspielen konnte. Es machte ihn wahnsinnig. Dieses Gefühl, als wäre er in einem unsichtbaren Käfig gefangen, aus dem er sich erst befreien konnte, wenn er den Grund für seine Angst kennengelernt hatte.

„Natürlich, aber sind Sie sicher? Sie scheinen diese Geschichte sehr ernst zu nehmen. Ich weiß nicht, ob das so gut ist. Ich meine ... Sie lagen schließlich im Koma.“

Hyde nickte entschlossen. Es gab keine andere Möglichkeit. Nur diese.

„Bitte, Sie müssen mir helfen“, flehte der Blonde.

Tayama zögerte noch einen Augenblick, bevor er sich zurück in die Couch lehnte und seufzte.

„Also gut“, murmelte er. Unsicher musterte er den blonden Sänger bevor er zu sprechen begann.

„Man sagte, der Fremde mit dem goldenen Haar hätte sich umgebracht. Als der Samurai davon erfahren hatte und er gleichzeitig auch von Kenshin wegen Hochverrats angeklagt worden war, war er zusammen mit seinem vertrauten Berater geflüchtet. Aber weit waren sie wohl nicht gekommen. Einige Monate später wurde Nishiyamas Freund getötet. Und das tragische Ende des beliebten Samurais erfolgte ein Jahr später. Es hieß, dass es ebenso Selbstmord war. Sein eigener Bruder habe ihn verblutet im Schnee gefunden. Aber da er ein geächteter Verräter war, gestattete man ihm keine gebührende Beerdigung. Man ließ ihn einfach liegen.

Heute ist er der romantische Held einer kaum bekannten Sage. Ob es alles wirklich so war, kann ich aber nicht garantieren. Ich vermute, dass sich im Laufe der Zeit viele Fakten mit erfundenen Erzählungen vermischt haben.“
 

Hyde starrte nachdenklich auf die cremefarbene Wand des Wohnzimmers und seufzte.

Was war los? Warum fühlte er sich so anders? Warum war es nicht genauso wie an dem Tag, als er das erste Mal davon gehört hatte? Was hatten damals diese Gefühle in ihm ausgelöst? War es letztendlich doch nicht die Geschichte gewesen?

„Und haben Sie eine Antwort gefunden?“, fragte Tayama neugierig, nachdem er den Blonden skeptisch angesehen hatte.

Der Sänger schüttelte enttäuscht den Kopf

„Nein, irgendwie ist da nichts. Nichts außer einer merkwürdigen Distanz.“

„Distanz? Was meinen Sie damit?“

Hyde schwieg. Er wusste selbst nicht, was er damit meinte. Es war ein Gefühl, welches er nur mit diesem Wort beschreiben konnte. Das vollkommene Gegenteil der Empfindungen, die er vor drei Wochen gespürt hatte.

Damals war es ein eigenartiger Schmerz in seinem Herzen gewesen. Eine Traurigkeit, eine Leere, tiefe Verzweiflung. Als wäre diese Geschichte Teil seines eigenen Lebens gewesen.

Doch nun war es nur diese unendliche Distanz.

Aber zu was oder wem?

Der Blonde wurde nervös. Wieder war er nicht Herr seiner eigenen Gefühle. Wieder verwirrten sie ihn. Wieder wusste er sich nicht zu helfen.

Er faltete seine leicht zittrigen Finger ineinander und blickte Tayama verzweifelt an.

„Wissen Sie noch etwas? Irgendetwas?“

Der Ältere schüttelte den Kopf.

„Tut mir Leid. Viele Briefe von damals wurden zerstört. Es gibt kaum noch Beweise für irgendwelche privaten Geschehnisse.“

„Verstehe.“

Der Sänger senkte seinen Kopf und fuhr sich mit den Händen durch das Haar.

Es war zwecklos, dieser Geschichte hinterherzuhetzen. Sie war verworren und viel zu lange her und was sollte sie auch mit seinen Albträumen und seltsamen Gefühlen zu tun haben können?

Vielleicht sollte er es einfach dabei beruhen lassen.

Seufzend stand Hyde auf und verneigte sich höflich vor dem älteren Mann.

„Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben. Und entschuldigen Sie die Stö...“

Plötzlich fing Tayama an im Blätterberg auf dem Tisch zu wühlen. Er warf ungeduldig die Ordner auf den Boden und schob einzelne Blätter von der Tischplatte.

„Doch da fällt mir ein, dass ich vor Monaten mal einen Brief von diesem Nishiyama bekommen habe. Es ist natürlich nur eine Kopie, aber vielleicht möchten Sie ihn lesen?“

Hyde ließ sich sofort von Tayamas Unruhe anstecken. Er nickte aufgeregt mit dem Kopf, obwohl er sich insgeheim nur wenig von einem Brief erhoffte.

„Ja, ja natürlich. Wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

Der Blonde setzte sich zurück in den Sessel und nahm das Blatt, welches der Ältere ihm mit einem breiten Grinsen auf den Lippen reichte, entgegen.

„Es ist ein Brief von Kagegaku. Höchstwahrscheinlich an den Fremden. Man könnte es einen Liebesbrief nennen. Ich finde, ein sehr interessantes Schriftstück. Auf jeden Fall anders, als ich es von einen furchtlosen Krieger von damals erwartet hätte.“

„Ein Liebesbrief“, flüsterte Hyde sofort ergriffen von den ersten Worten, die er gelesen hatte.

Aber sollte er ihn wirklich lesen? Einen so intimen Brief, der doch nur für die Augen dieses einen wichtigen Menschen bestimmt gewesen war.

Nur für diesen einen Menschen, der von dem Samurai so geliebt wurde.

Doch für Zweifel oder Skrupel war es schon zu spät.

Er war bereits gefangen. Gefangen zwischen den Zeilen, die er regelrecht verschlang. Er konnte nicht aufhören. Die Worte drangen fast wie von selbst in sein Herz.

Er las den Brief flüsternd vor, aber in seinem Kopf hörte er eine klare und tiefe Stimme. Nicht seine eigene, sondern eine fremde. Er liebte ihren Klang und hatte plötzlich das Gefühl, sie schon einmal gehört zu haben.

Es war völlig verrückt. Als wäre er auf einmal in eine ganz andere Welt getaucht. In eine vertraute und doch unbekannte Welt. Eine Welt, in der er grenzenlos geliebt hatte und bedingungslos geliebt wurde. Sein Herz pochte bei diesem Gedanken.

Er fühlte sich angesprochen. Alles, was in diesem Brief stand, bezog er auf sich. War er nun vollkommen wahnsinnig geworden?
 

*~Es tut mir Leid.

Ich weiß, du hast darauf gewartet, dass ich etwas sage. Doch statt ehrlich zu dir zu sein, bin ich an diesem Abend einfach gegangen.

Es war wohl eher eine mutlose Flucht. Ich war feige.

Ich habe gesehen, wie du auf dem Boden saßt. Du blicktest verzweifelt vor dich hin.

Ich hätte zurückgehen sollen. Ich wollte es, weil ich plötzlich so eine Sorge gespürt hatte.

Ehrlich gesagt mache ich mir immer noch Sorgen. Ich mache mir darüber Gedanken, wie du jetzt über mich denken magst. Glaubst du vielleicht, dass mir dein Kuss nichts bedeutet hat?

Genau das habe ich mir die ganze Zeit hier auf Kasugayama auch eingeredet.

Es bedeutet mir nichts. Du bist mir egal. Das habe ich mir ständig gesagt, doch ...

Doch so ist es ganz und gar nicht.

Ich kann einfach nicht aufhören, an dich zu denken. Ich stelle mir jeden Tag deine Stimme vor, sehe dein Gesicht hinter mir im Spiegel und wenn ich die Augen schließe, dann spüre ich noch deine Berührung. Deine unglaublich warmen Hände ...

Und dann wünsche ich mir sofort, bei dir zu sein. All dies zurückzulassen und nur noch dich zu sehen. Das sind genau jene Momente, in denen mir sogar das Leben meines Herrn egal ist. Alles ist mir dann gleich ... nur du nicht.

Es ist das erste Mal, dass ich so durcheinander bin.

Überrascht dich das?

In Wahrheit bin ich wohl der unerfahrenste Mann in ganz Echigo, wenn es um Dinge wie Gefühle geht.

Ja, genauso ist es. Auch wenn es der ein oder andere für völlig unmöglich halten mag.

Es überrascht mich selbst, dass ich so ehrlich bin und dir diese peinlichen Dinge gestehe.

Es ist mir unangenehm, aber da ich diesen Fehler begangen habe, muss ich auch etwas bieten können, um es wieder gutzumachen.

Ich biete dir meine Ehrlichkeit.

Ich frage dich, so unerfahren und dumm wie ich bin, warum fühle ich mich in deiner Gegenwart so wohl?

Warum war ich so aufgeregt, als du mich geküsst hast?

Warum muss ich immer wieder daran denken?

Warum hat es mich so rasend gemacht, als mein Bruder dich angefasst hat?

Warum habe ich keine Worte für dich gefunden und war so ein Trottel gewesen?

Und was soll ich jetzt tun? Ich will nicht, dass dieses Gefühl aufhört. Aber ich habe Angst, dass es sterben könnte, wenn ich dir all das nicht sage. Ich habe schreckliche Angst, dass du mich hassen könntest.

Bitte tu das nicht. Es würde mich umbringen.
 

Habe ich mich in dich verliebt? Ist es das, was mit mir geschehen ist? Ist es das, was du mit mir gemacht hast? Oder hat mich dein goldenes Haar von Anfang an so sehr geblendet, dass ich vollkommen den Überblick verloren habe?

Sag, hast du darauf Antworten?

Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät. Aber selbst wenn du meine Gefühle nicht verstehen oder gar teilen kannst, möchte ich, dass du bei mir bleibst. Auf meinem Anwesen, in meiner Nähe.

Für immer ...

Ja ... für alle Ewigkeit!

Nenne es Egoismus, aber ich will nie wieder auch nur eine Sekunde ohne dich leben.
 

Nishiyama Kagegaku~*
 

Noch völlig in diesem Brief versunken, presste Hyde seine Lippen fest aufeinander. Eine Träne tropfte auf das Papier. Genau auf den Namen des Schreibers. Er weinte, dabei hatte er nicht einmal bemerkt, wie sich seine Augen mit Tränen gefüllt hatten.

„Was ist los mit mir?“, fragte der Blonde flüsternd sich selbst. Er fuhr sich über die Augen, aber konnte den Blick nicht von diesem Brief lassen. Er las ihn noch einmal und dann noch einmal. Und immer wieder spürte er dieses Gefühl von Reue.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Tayama schließlich, als der Sänger den Brief an seine Brust drückte und den Kopf schüttelte.

„Ja ... es ist alles ... in Ordnung“, versicherte Hyde. Seine brüchige Stimme aber leistete nur wenig Überzeugungsarbeit.

„Vielleicht war es doch keine gute Idee ...“

„Nein, nein, nein. Mir geht es wirklich gut“, warf der Blonde kopfschüttelnd ein. Er stand auf und verbeugte sich vor dem älteren Mann.

„Dürfte ich diesen Brief behalten?“, bat er mit entschlossener Stimme und senkte sein Haupt tiefer. Tayama stand ebenso auf und fing nervös an zu stottern.

„Bitte! ... Sie müssen ... sich nicht ... verbeugen. Sie können ihn haben. Es ist sowieso nur eine Kopie und ich habe den Scann noch auf meinem ... Rechner.“

Hyde blickte den älteren Mann abwesend an, faltete das Papier zwei Mal und steckte es in seine Jackentasche.

„Vielen Dank. Ich danke Ihnen, für Ihre Hilfe“, murmelte er.

„Konnte ich Ihnen denn wirklich helfen?“

Tayama tat skeptisch, doch Hyde nickte nur, ging auf den schmalen Flur und zog sich die Schuhe an. Ohne dem Mann noch Beachtung zu schenken, öffnete er selbst die Tür, verbeugte sich noch knapp zum Abschied und verließ die Wohnung.

Er rannte das Stück zu seinem Auto, schlug die Tür viel zu fest hinter sich zu und lehnte sich atemlos in den Sitz zurück.

„Was ist das nur für ein Brief?“, flüsterte er, während er ihn wieder aus seiner Jacke zog und auseinander faltete. Wieder las er ihn, als könne er zwischen den Zeilen lesen, was seine Gefühle zu bedeuten hatten.

„Oh mein Gott. Was ist denn nur los mit mir?“

Er schluchzte. Aber weinte er denn, weil ihn dieser Brief so bewegte, oder hatte er in Wirklichkeit nur Panik davor, langsam verrückt zu werden?

Es hatte doch rein gar nichts gebracht. Keine einzige Antwort, stattdessen nur noch viel mehr Fragen. Er war schlichtweg einfach nur verwirrt und fühlte sich verloren.

„Verdammt“, fluchte er laut, beugte sich nach vorn, berührte mit der Stirn das Lenkrad und ließ seinen Tränen freien Lauf.

Hatte er sein Leben noch im Griff?

Wusste er eigentlich was er hier tat? Warum er weinte?

Stürzte er in die Tiefe, so wie in seinem Traum?

Es gab keinen Engel, der ihn dann retten würde. Sie existierten nicht.

Aber vielleicht war es auch gut so.

Denn dieser Engel würde ja mit ihm sterben. Zusammen in dieser Finsternis ertrinken.

Dafür wollte er sich nicht verantwortlich machen.

Vielleicht war es auch besser, wenn er nicht erfuhr, was das alles zu bedeuten hatte.

Je mehr er sich darin vergrub, desto schwieriger wurde es ihm, wieder herauszufinden. Dieses Labyrinth hatte keinen Ausgang. Er dürfe sich nicht tiefer hineinbegeben. Er war schon viel zu weit gegangen.

„Davon komme ich nie wieder los“, murmelte Hyde, fuhr mit den Fingern über den Brief und schloss seine Augen.

Es war schon zu spät.
 

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Da ist er nun endlich. Der Brief, den einige schon vermisst haben. Natürlich habe ich ihn nicht vergessen. XD

Wäre alles anders gekommen, hätte Hyde den Brief schon damals gelesen? Wer weiß... *seufz*
 

Wie dem auch sei.. ich wünsche euch allen ein guten Rutsch ins neue Jahr. Und danke, dass ihr ein Jahr lang so fleißig mitgelesen habt. XDD

Haltet noch eine Weile durch. Es ist wirklich nicht mehr viel.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  SummerRiver
2012-01-23T17:50:54+00:00 23.01.2012 18:50
ooaaahhh
was eine geile Story
ernsthaft..ich bin total mitgerissen!! <3
Erinnert mich son bisschen an Romeo und Julia ;-;
Gott~ ist das traurig.. ich hab das auf der Arbeit gelesen.. aber psst~
Ich musste echt aufpassen nicht in Tränen auszubrechen..

Ich freue mich schon auf ein neues Kapitel! ^^
Auf das die Story noch ein Happy End findet

Beste Grüße
Shinda <3
Von:  Vampire-Mad-Hatter
2012-01-01T16:28:24+00:00 01.01.2012 17:28
Noch ein tolles Kapitel im alten Jahr^^ aber wieder so was von traurig. Q_Q
Der Brief... oh man, hätte ihn Hyde bekommen, wäre wohl alles anders
verlaufen. Vielleicht wären sie Glücklich geworden. Aber es musste leider der traurige Weg sein. :/
Wie sehr Hyde darunter leidet. =(
Ich bin mehr und mehr gespannt wie das alles blos ausgehen wird! *_*
Von: abgemeldet
2011-12-31T16:16:21+00:00 31.12.2011 17:16
Dankeschön für den Upload zu Silvester! ^-^

>__<
Hyde tut mir wirklich leid
und der Brief... ;_;
>_< bitte, bitte lieber Engel komm und hilf ihm... >_<


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