Eien 永遠 von Tenshis (Der Samurai und der Fremde) ================================================================================ Kapitel 19: Bestimmung ---------------------- 19. Kapitel: Bestimmung [Dein Körper ist kalt und starr. Schnee vermischt mit Blut. Und mein Traum wird doch real ... ] ---------------------------------------- In einsamen Gedanken versunken blickte der Samurai in das klare Wasser des Baches. Er beobachtete schweigend, wie dicke Schneeflocken sich mit dem plätschernden Wasser vereinten und an ihm vorbeirauschten. Sie entkamen seinen Augen so schnell, wie sie aufgetaucht waren und erinnerten ihn an all die Dinge, die ihm während der letzten Jahre aus seinen unfähigen Händen geglitten waren. Er dachte an seinen verlorenen Status, seine weggeworfene Ehre als Samurai, seine zurückgelassene Familie, an Hidetori und Fukushima. Alles hatte er verloren. Ein Jahr war inzwischen vergangen. Ein Jahr nach Fukushimas Opfer. Er hatte seinen Gesichtsausdruck noch klar vor Augen. Als sich dieser tapfere Krieger todesmutig auf die Angreifer gestürzt hatte, um seinem Herrn die Flucht zu ermöglichen. Kagegaku hatte sich dagegen gewehrt, den Freund kampflos zurückzulassen. Lieber wäre er mit ihm gestorben, doch Fukushima war so dickköpfig gewesen, dass er seinem Herrn keine andere Wahl gelassen hatte Als er kurze Zeit später zurückgekommen war, lag Fukushima bereits im Sterben. Ein Wunder, dass er noch in der Lage gewesen war, zu sprechen. Seine Gedanken an den Freund und seine letzten Worte waren immer noch schmerzerfüllt. Selbst nach so langer Zeit, nach so vielen einsamen Tagen, konnte Kagegaku seine Tränen nicht zurückhalten. Wie er all diese Monate überlebt hatte, war ihm schleierhaft. Sie waren genauso schnell an ihm vorbeigezogen, wie die Schneeflocken im Bachwasser. Jeder Tag in dieser Einsamkeit war schmerzlich, erschreckend kurz und doch so unendlich lang gewesen, wie das Flimmern der Blitze während einer gewittrigen Nacht. Und doch hatte er jeden Tag an Fukushimas letzten Wunsch gedacht. Er solle niemals aufgeben, egal, was sich ihm in den Weg stellen würde. Er sollte auf sein Leben achten, für das Hidetori selbstlos sein eigenes gegeben hatte. Fukushimas Worte hatten ihn all die Monate am Leben gehalten. Obwohl er sich bis zum heutigen Tag nur auf der Flucht befunden hatte, obwohl es schon viel zu oft fast zu spät gewesen war. Irgendwie war er immer noch am Leben. Irgendwie hatte er es immer wieder geschafft. Obwohl es alles andere als leicht gewesen war. Selbst hier in Iwami, weit weg von Echigo, folgten herrenlose Samurai dem Befehl seines Bruders. Egal ob Freund oder Feind seines Klans, auf den Kopf des verräterischen Strategen stand ein hohes Preisgeld. Verarmte Ronin jagten ihn. Sie durchforsteten Wälder, Tempel und verlassen Häuser. Praktisch gab es keinen sicheren Ort für ihn. Keinen Tag, an dem er sich mit seinem selbstgeschnitzten Stock nicht wachsam neben die hölzerne Tür seiner kleinen Hütte setzen und jedem Geräusch lauschen musste. Er lebte von der Welt isoliert und allein. Und dies würde kein Ende nehmen, solange er lebte. Sein Katana hatte er bereits im letzten Winter verkaufen müssen. Mit ihm war schließlich auch seine kämpferische Seele verschwunden. Für dieses sinnlose Dasein hatte er einfach nicht mehr die Kraft. Er hatte nicht mehr den Willen, es mit allen Mitteln zu beschützen. Er war müde und ausgelaugt. Die Sehnsucht nach dem Tod hatte seinen starken Lebenswillen ausgelöscht. Sie war so groß geworden, dass sie bereits all seine Gedanken, all seine Wünsche beinhaltete. In dem Moment, als Fukushima gestorben war, hatte sein Leben schließlich komplett an Wert verloren. Er hatte die letzte Entscheidung nur immer wieder vor sich hergeschoben. Vielleicht, weil er nie diese dumme Hoffnung auf ein Wunder aufgeben konnte. Aber dieses Wunder würde nie eintreffen, das war Kagegaku am heutigen Morgen, als er hinausgegangen war und in den verschneiten Himmel gesehen hatte, klar geworden. Er spürte, dass es so nie ein Ende nehmen würde. Dem Rauschen des Wassers lauschend schloss Kagegaku die Augen und ließ den Schnee in sein Gesicht rieseln. Er genoss schweigend den wohl letzten friedlichen Moment seines Lebens, bis er urplötzlich aus diesen herausgerissen wurde. „Ich bin beeindruckt. Da hast du dir ja ein schönes Zuhause gesucht.“ Die Stimme seines Bruders vermischte sich mit dem Plätschern des Baches. „Kagemura“, murmelte Kagegaku, als er hörte, wie der Schnee unter seinen näherkommenden Schritten knirschte. Über das Auftauchen seines Bruders war er kaum überrascht. Nein, es war eher Erleichterung, was er fühlte, als er Kagemuras Gegenwart nur wenige Meter hinter sich spürte. Es wäre sowieso irgendwann dazu gekommen, dachte der Stratege, während er sich umdrehte und ausdruckslos in die kalten Augen seines Halbbruders blickte. Eines Tages wäre es so oder so zu diesem letzten Treffen gekommen. Kagemura lachte. „Ich weiß schon lange, dass du dich hier aufhältst. Aber ich dachte, ich statte dir erst einen Besuch ab, wenn ich dir etwas mitbringen kann. Schließlich ist es ein langer Weg und …“ „Was willst du?“, unterbrach ihn Kagegaku desinteressiert. Kagemura schnaubte verächtlich, bevor er wieder zu grinsen begann und dem Strategen einen Umschlag vor die Füße warf. „Das hier hast du vergessen, als du wie ein Feigling geflohen bist.“ Skeptisch kniete sich Kagegaku nieder und nahm das Papier in seine Hand. Er faltete es auseinander und stockte, als schwarze Haarsträhnen herausrutschten und sofort vom Wind fortgetragen wurden. „Was ... ?“, flüsterte er verwirrt. Als wäre dies sein Zeichen gewesen, lachte Kagemura spöttisch auf und kniete sich hinab zu seinem Bruder. „Das arme Ding. Sie hat es einfach nicht mehr ausgehalten“, flüsterte Kagemura. Sofort wusste Kagegaku, von wem hier die Rede war. Die Prinzessin. Die Prinzessin, die er zurückgelassen und somit direkt in die Arme seines teuflischen Bruders gestoßen hatte. Fest umklammerte er mit seinen Fingern das Papier mit den restlichen Strähnen und biss sich auf die kalte Unterlippe. Bedeutete dieses Haar, dass sie tot war? Bedeutete dies, dass er einen weiteren Fehler begannen hatte? Kagemuras Augen spielten ihm Mitleid vor, doch Kagegaku wusste, dass dieser Mann nie so ein barmherziges Gefühl für einen anderen Menschen empfinden könnte. Es war tiefer Hohn, der über die Augen und die Lippen seines Bruders kam. Und er vertiefte ihn, als er merkte, wie es Kagegaku ins Herz traf. Wie es ihn verletzte und wütend machte. „Jede Nacht hat sie mir wegen dir die Ohren vollgejammert. Dabei habe ich ihr besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt. Die vergessene Geliebte meines Bruders war unbestreitbar die schönste Frau weit und breit. Sie in irgendwelche anderen Hände zu geben, wäre reine Verschwendung gewesen.“ Der Stratege blickte bestürzt zu Boden und schüttelte über seine eigene Machtlosigkeit den Kopf. Nicht einmal die Prinzessin hatte er beschützen können. Selbst sie hatte für ihn sterben müssen. Sie, die gar nichts damit zu tun gehabt hatte. Grinsend klopfte Kagemura seinem älteren Bruder auf die Schulter, bevor er aufstand und grübelnd die Stirn runzelte. „Wirklich seltsam ... Über alles hat sie dich geliebt, obwohl sie von dir und Hidetori gewusst hatte, obwohl du ihr nie Beachtung geschenkt und sie letztendlich herzlos weggeworfen hast. Bis zum Schluss, schlug ihr dummes Herz nur für dich.“ Die Einsicht fiel Kagegaku schwer, doch Kagemura hatte vollkommen Recht. Er hatte sie weggeworfen, ohne auch nur einen Moment an ihre Zukunft zu denken. Sie mit sich zu nehmen war keine Sekunde lang eine Option gewesen. Er war einfach gegangen und hatte sie ihrem eigenen Schicksal überlassen. Dabei war es seine Aufgabe gewesen, für ihr Wohl zu sorgen. Egal wie, egal in welchen Schwierigkeiten er selbst steckte. Es war seine Pflicht gewesen. Aber was wäre aus ihr geworden, wäre sie mit ihm geflohen? Wie hätte er sie beschützen können, wenn er nicht einmal in der Lage war, sich selbst zu beschützen, wenn er keine Ziele hatte und ihm alles nur noch sinnlos erschien? Wie hätte sie an seiner Seite überhaupt nur einen Tag überleben können? Er glaubte nicht, dass er dazu fähig gewesen wäre. Kagemura sah seinen Bruder, der immer noch auf dem Boden kniete herablassend an, bevor er mit einem Lächeln auf den Lippen weitersprach. „Doch statt mein Kind auf die Welt zu bringen, wählte sie lieber den Tod. Und das obwohl ich mich aufopfernd um sie gekümmert hatte.“ „Kind?“, murmelte Kagegaku überrascht und sah auf. Im Gesicht seines Bruders konnte der Stratege keine Gefühlsregung erkennen. Keine Trauer, kein Hass, gar nichts. Es schien ihm gleichgültig zu sein. Was Kagegaku aber wenig wunderte. Nicht einmal für seinen Sohn, der mittlerweile neun Jahre alt sein müsste, hatte sein Bruder je Liebe empfinden können. Er war in jeder Hinsicht ein kaltherziges Monster. In Kagemuras Augen zu sehen, war Kagegaku plötzlich zur reinste Qual geworden. Diese Unmenschlichkeit empfand er als unerträglich, also blickte er weg. Doch das kümmerte den vertrauten General Kenshins wenig. Er erfreute sich an dem Ekel, den sein älterer Bruder für ihn empfand. Es bestätigte seinen langersehnten Sieg. „Wie stand es in ihrem Abschiedsbrief? Ah ja ... es würde sie anwidern, in das Gesicht des Kindes sehen zu müssen, dessen Vater ihren liebsten Kagegaku vernichtet hat.“ Kagemura seufzte theatralisch. „Du tust mir wirklich Leid, Bruder. Nun sind sie alle tot, die dir etwas bedeutet haben. Besonders schade aber ist es um deinen Hidetori. Ich hörte, er ist dir weggelaufen und hat sich von den Klippen gestürzt. Du musst ihn ja wirklich schlecht behandelt haben.“ Kagegakus Lippen zuckten, als er den Namen des Blonden hörte. Was dem Bruder nicht entgangen war. Kagemura grinste, als er feststellte, dass seine gewagte List tatsächlich Früchte getragen hatte. Ob Hidetori noch am Leben war oder tot wie in seiner eingefädelten Intrige, das wusste er natürlich nicht. Der Blonde hatte sich nicht an ihre Abmachung gehalten und war trotz angedrohter Konsequenzen aus dem Anwesen geflohen und bis heute nicht aufzufinden. Er hatte tagelang nach ihm suchen lassen. Nicht einmal seine Spione hatten mitbekommen, wie der Blonde unbemerkt fliehen konnte. Es war bis zum heutigen Tag ein ungelöstes Rätsel geblieben. Kagemura war keine andere Wahl geblieben, als alles auf eine Karte zu setzen und diesen Mönch zu erpressen. Er sollte Kagegaku anlügen und von Hidetoris Selbstmord berichten, damit dieser verzweifelte und zu unüberlegten Handlungen griff. Und genauso war es gekommen. Alles lief trotz Hidetoris Verschwinden genau nach seinem Plan. Selbst die heutige Begegnung. „Er hatte wohl nicht sehr viel für dich übrig“, stichelte Kagemura in der Hoffnung, seinem Bruder ein Wort zu entlocken. Doch dieser schwieg. Er starrte nach wie vor auf seine zur Faust geballten Hand, in der er den Umschlag mit Prinzessin Umes Haar hielt. Kagemura seufzte gelangweilt, als er dies registrierte. „Du scheinst nicht mit mir reden zu wollen. Dabei bin ich extra den weiten Weg aus Echigo gekommen...“ „Ich finde, du solltest endlich zur Sache kommen, anstatt mir sinnlos dein Mitgefühl vorzuheucheln“, kam es plötzlich ausdruckslos über Kagegakus Lippen, während er aufstand und ernst in die Augen seines Bruders sah. „Du bist sicher nicht nur hier, um mir von deinen kranken Triumphen zu erzählen.“ Er steckte den Umschlag mit Prinzessin Umes Haar in seinen Kimono und schüttelte langsam den Kopf. Dabei unterbrach er aber nicht den provokanten Blickkontakt. Was sein Bruder wirklich wollte, konnte er diesem von den kalten Augen ablesen. Er hatte es schon gewusst, als er hier aufgetaucht war; in seiner schwarzen protzigen Kriegsrüstung, welches das Wappen der Nishiyama trug. Als wolle er präsentieren, dass er alles besaß, was vorher ihm gehört hatte. Die Familie, das Erbe, den Ruhm. Kagemura nickte und schwieg eine Weile, während er lange in die dunklen Augen seines Bruders sah. Er lächelte, als würde er diesen Moment genießen. Seine Augenlider flatterten, was immer dann der Fall war, wenn er starke Aufregung zurückhalten musste. „Heute ist der beste Tag. Der beste meines Lebens“, sagte Kagemura, bevor er seine Finger um den Griff seines Katana legte und es langsam aus der Schwertscheide zog. * Es war eisig kalt als Hyde seine schweren Lider öffnete und verwirrt blinzelte. Er erblickte nackte verworrene Äste und den mit grauen Wolken verhangenen Himmel über ihm. Dicke Schneeflocken rieselten ihm ins Gesicht. Sie kitzelten kurz an seinen Wimpern, bevor sie wieder schmolzen. Ein kalter Wind fegte über seine nackten Füße. Als er sie bewegen wollte, zog sich ein heftiger Schmerz bis in seine Beine. Seine Hände ruhten steif auf dem kalten Boden und waren schon mit feinem Schnee bedeckt. Auch sie schmerzten bereits unter den eisigen Temperaturen, denen er anscheinend schon etwas länger ausgesetzt war. Er war zurück. Zurück in der Vergangenheit. Das hatte er sofort gespürt, als er die Augen geöffnet und in den Himmel gesehen hatte. Wahrscheinlich hatten ihn seine tiefen Schuldgefühle hierher zurückgebracht. Sein tiefsitzender Wunsch, die Dinge zu verändern, weil sie so nicht richtig waren. War dies seine zweite Chance? Die Gelegenheit, Kagegaku zu retten und endlich sein wahres Schicksal zu erfüllen? Stöhnend stützte sich der Blonde auf seine Arme und stand auf. Seine Beine waren wackelig. Sie sackten unter dem schmerzenden Stechen in seinen Füßen immer wieder zusammen. Als würde er auf einen Teppich aus Nadeln laufen, so stach jeder Schritt auf dem schneebedeckten eisigen Waldboden. Und in seinen Armen hatte er kaum die Kraft sich immer wieder nach oben zu ziehen. Und doch schaffte er es jedes Mal. Die innere Angst, Kagegaku nicht retten zu können, drängte jeden Schmerz beiseite. Jene Angst hätte ihn bis ans Ende der Welt gebracht, bis in die tiefste Hölle. Um den Samurai vor dem sicheren Tod zu bewahren, würde er überall hingehen. Alles, einfach alles würde er für ihn tun. Er tastete sich stöhnend von Baum zu Baum, an denen er sich lehnend alle paar Minuten ausruhte. Dann zwang er sich trotz Müdigkeit und Kraftlosigkeit zum weitergehen. Wohin er laufen sollte, wusste er nicht. Er folgte nur seinem Gespür. Ein Gespür, welches ihm durch den dichten Schnee den Weg zeigte. Ein Weg, den nur er gehen konnte, der nur für ihn existierte. Die Kälte nahm er nicht mehr wahr. Seine Füße waren mittlerweile taub. Sie funktionierten, solange er nicht stehen blieb. Der schwere Kimono klebte feucht an seiner Haut. An einigen Stellen war er sogar schon steifgefroren. Es war die Hölle. Und doch konnte er einfach nicht stehen bleiben. Er lief und lief, als würde man ihn verfolgen. Er musste schnell sein, denn ein seltsames Gefühl plagte ihn. Das Gefühl, zu spät zu sein. Das Gefühl, dass alles umsonst und sinnlos war. Also fing er an, zu rennen. So schnell er konnte. Der Schnee peitschte ihm scharf ins Gesicht und das fehlende Gespür in den Füßen brachte ihn immer wieder zu Fall. Aber liegen bleiben konnte er nicht. Er musste weiter, solange, bis er seine Fehler berichtigt hatte. Die Stunden verflogen und es begann, zu dämmern. Es hatte aufgehört, zu schneien. Und sogar die Sonne hatte kurz einen Weg durch das dicke Wolkengeflecht gefunden. Das tiefe Rot während der Abenddämmerung schien in Hydes Augen, als er plötzlich stehenblieb. Er sah eine kleine Holzhütte, versteckt hinter den Bäumen. Es gab keine Einzäunung, kein Tor, keinen Hof oder ähnliches. Nur eine kleine einsame Hütte mitten im verlassenen Wald. Das tiefhängende Dach war mit so dickem Schnee bedeckt, dass es das Häuschen fast verschlang und Hyde beinahe daran vorbeigelaufen wäre. Das gesammelte Holz lagerte unter dem winzigen Fenster, die schmale Tür war einen kleinen Spalt aufgeschoben. Im Inneren war es dunkel und still. Frische Fußspuren führten vom Eingang hinter das Häuschen. Hier lebte jemand. Vielleicht jemand, der ihm helfen konnte. Vielleicht sogar jemand, der wusste, wo er Kagegaku finden konnte. Erleichterung machte sich in ihm breit, als er schließlich zur Hütte lief und die geöffnete Holztür weiter aufschieben wollte. Doch im letzten Moment hielt er geschockt inne. Er erbleichte, als er plötzlich eine bekannte Stimme hörte. Sie ertönte hinter dem Haus. Eine Stimme, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Lebewohl, Bruder!“ Ein hämisches Lachen hallte im Wald wider, während Hyde hastig zurückrannte und sich hinter einem dickstammigen Baum versteckte. Ein Zittern durchzog seinen Körper, als er nur einen kurzen Augenblick später Kagemuras heroische Gestalt erblickte. Er war wie für das Schlachtfeld gekleidet. Lederne Bein- und Armschienen, eine lackierte Stahlstreifenrüstung und ein breiter Rumpfharnisch. Alles in schlichtem Schwarz. Nur die blaue Lotosblüte, das Wappen der Nishiyama, hob sich von seiner Brust besonders hervor. Der zweilinige Kreis um die Blüte war vergoldet und etwas eckiger, als es Hyde in Erinnerung hatte. Stolz schien der Samurai seine reichverzierte Rüstung zu präsentieren. Als wäre sie speziell für diesen Tag gemacht. Nur für diesen einen Moment, den er ganz allein und doch zufrieden grinsend genoss. Warum war er hier? Warum ausgerechnet hier? Ängstlich starrte der Blonde den Mann in der dunklen Samurairüstung an. Dieser hielt sein langes Katana in der rechten Hand, betrachtete es noch eine Weile voller Begeisterung und ließ die scharfe Klinge dann vorsichtig über ein langes weißes Tuch gleiten. Es färbte sich sofort blutrot. Hyde schluckte und schüttelte schockiert den Kopf, während sich seine Pupillen beim Anblick des Blutes verengten. Kagemura, der nicht ahnte, dass er beobachtet wurde, ließ sein Katana geräuschvoll in die Schwertscheide gleiten. Das zufriedene Grinsen auf seinen Lippen schien wie eingemeißelt. Selbst, als er auf sein Pferd gestiegen war und ihm die Sporen gegeben hatte, war es nicht verschwunden. Wie erstarrt blickte Hyde ihm hinterher, bis er schließlich verschwunden war. In seinem Kopf liefen die Gedanken Amok. Sie kreisten um das Blut, das er an Kagemuras Schwert gesehen hatte, und um das hässliche Grinsen, welches ihm schrecklich bekannt war. Es war dasselbe, wie an jenem Abend, als der rachsüchtige Samurai ihn angegriffen und mit widerlichen Dingen erpresst hatte. Genau dasselbe, wie in dem Moment, als er sich an seiner Idee, den Blonden gegen Kagegaku arbeiten zu lassen, ergötze hatte. Alles um den eigenen Bruder zu schaden. Was hatte er diesmal getan? Wem gehörte das Blut an seinem Katana? Als Hyde sich diese Frage stellte, durchfuhr ein eisiger Schauer seinen ganzen Körper. „Kagegaku ...“, flüsterte der Blonde schockiert. Hals über Kopf stolperte er aus seinem Versteck und rannte zurück zur Hütte. Seine Augen erfassten die dicken Bluttropfen auf dem schneeweißen Boden. Sie führten hinter das Häuschen. Er folgte dieser Spur bis hinunter zu einem kleinen Bach. Und dort erblickte er einen Mann. Er saß an einen Baum gelehnt und schien auf das Wasser zu blicken. Er hatte langes schwarzes Haar, welches im Nacken mit einem goldenen Band zu einem Zopf gebunden war. Der Kimono, den er trug, war aus kostbaren Material und genauso schwarz wie sein Haar. Die weißen Hände lagen zusammengefaltet auf seinem Schoß. „Kagegaku“, flüsterte Hyde noch etwas ungläubig. Obwohl er sich sicher war. Dieser Mann dort war Kagegaku. Er spürte es. Wieder nannte der Blonde seinen Namen. Diesmal lauter, damit der Schwarzhaarige ihn hören konnte. Doch es kam keine Antwort. Keine Regung, nicht einmal ein überraschtes Zusammenzucken. Gar nichts. Zögernd trat Hyde näher an den Samurai heran. Seine Beine zitterten, sie bebten regelrecht. Ein Brennen kroch ihm die Kehle hinauf, als er schließlich stehen blieb und auf den regungslosen Mann hinabblickte. Ihm wurde unwohl. „Kagegaku ... “, mehr wollte nicht über seine Lippen kommen. Er kniete sich hinunter, legte seine zitternden Finger unter das Kinn des Mannes und hob das Gesicht empor. „Du bist es wirklich“, flüsterte Hyde, während er nicht sicher war, ob er darüber glücklich sein, oder in Verzweiflung zusammenbrechen sollte. Stattdessen blickte er nur abwesend auf die geschlossenen Augen. Lange schwarze Strähnen verbargen zum Teil das feingeschnittene Gesicht, welches er in- und auswendig kannte. Es war der Samurai, den er liebte. Der Grund seiner Rückkehr. Aber er bewegte sich nicht. Er war tot. „Wach ... auf!“, stotterte Hyde, während er Kagegakus Schultern packte und ihn zaghaft schüttelte. „Verdammt! Du kannst doch hier nicht liegenbleiben“, murmelte er. Seine Lippen bebten. Er hatte die Situation erkannt und doch konnte er nur solche feigen Dinge sagen. Er wollte sich einen kurzen Augenblick hinter seinen Worten verstecken und es unwahr machen. Vielleicht war es das dann. Vielleicht konnte er ja mit seinen Gedanken der Realität eine Lüge entlocken. Doch als Hyde in Kagegakus Gesicht sah und das Lächeln auf dessen Lippen erblickte, kamen ihm plötzlich die Tränen. Tränen, die bezeugten, dass er es tief in seinem Inneren ganz klar wusste. Sie flossen heiß über seine kühlen Wangen und hinterließen eine brennende Spur der Erkenntnis. Kopfschüttelnd wischte er sie weg und legte seine Hände um Kagegakus Gesicht. Dabei erhaschten seine Augen plötzlich das viele Blut. Es war überall. Auf dem Schnee, an der Baumrinde, auf Kagegakus Kimono und sogar in seinem Haar. Seine linke Gesichtshälfte war ebenso blutüberströmt. Die romantisch weiße Landschaft war in rot getränkt und er hatte es nicht einmal gesehen. Er war völlig blind vor Angst gewesen. Geschockt fuhr Hyde über die Wangen des Samurais. Er wollte das Blut von seiner weißen Haut wischen. Es sollte weg, damit sie wieder so rein wie die eines Engels war. „Nein, nein ...“, flüsterte der Blonde immer wieder, während er seinen Kimonoärmel, der vom Schnee feucht war, nahm und damit verzweifelt über Kagegakus Gesicht fuhr. Es konnte nicht sein. Das musste ein Traum sein, dachte der Sänger. Doch seine Tränen sprachen die irrsinnige Wahrheit. Sie waren heiß wie Feuer und brannten immer noch auf seinem kühlen Gesicht. Dies war die Realität. Die schrecklich schonungslose Realität. Kein Traum, keine Illusion. Kagegaku lebte nicht mehr. Sein starkes Herz hatte schon aufgehört zu schlagen, bevor Kagemura ihn verlassen hatte. Nie wieder würde er seine Augen aufschlagen und ihn ansehen. Nie wieder würde er diese klare Stimme hören können. Es war seine Schuld. Er war zu spät gekommen. Er war einfach zu spät gekommen. Es war seine Aufgabe gewesen, dieses Unglück zu verhindern. Deswegen war er hierher zurückgekommen. Um ihn zu beschützen und bis in alle Ewigkeit bei ihm zu bleiben. Schließlich hatte der Samurai nur noch ihn gehabt. Fukushima war ermordet worden. Jedenfalls hatte Tayama das erzählt. Und wenn das stimmte, dann war Kagegaku allein gewesen. Vollkommen allein. Ohne Besitz, ohne Familie, ohne jemanden, dem er vertrauen konnte. Und deswegen hatte er diese Chance bekommen. Und natürlich hätte er zum zweiten Mal alles für ihn aufgegeben. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Das war es, was er die ganze Zeit gewollt hatte. Nur bei ihm sein, sonst nichts. So wie es jeder Mensch wollte, der verliebt war. Dass er ihn liebte, nicht einmal das hatte Kagegaku gewusst. Nie hatte der Blonde es ihm sagen können. Doch abgesehen von dieser Wichtigkeit, gab es noch so viele Dinge, die er ihm gern gesagt hätte. Doch wozu? Wozu, wenn er nicht mehr angehört wurde? Verzweifelt packte Hyde die Schultern des Samurai und zog ihn in seine Arme. Sein leises Schluchzen hallte durch den Wald. Ansonsten war es beängstigend still. Als hätte alles irgendwie aufgehört, zu leben. Mit geschlossenen Augen schmiegte der Blonde sein Gesicht an die kalte Wange des Schwarzhaarigen. Er wollte seine Haut spüren, ihm ganz nah sein. Er wollte ihn nie mehr loslassen und hier bei ihm sterben. Das hatte er soeben entschieden. Es gab keinen anderen Weg als diesen. Mit seinen Fingern strich er langsam durch das feuchte schwarze Haar und flüsterte immer wieder weinende Worte in Kagegakus Ohr, während es erneut anfing zu schneien. „Warum hast du das zugelassen?“ Seine Finger stoppten im Nacken des Samurai. Kagegakus Körper war so kalt wie der herabrieselnde Schnee und doch fühlte sich Hyde irgendwie warm umarmt. „Warum ... warum hast du dich nicht gewehrt?“ Ein tiefes Schluchzen erstickte seine letzten Worte. Dass Kagegaku kein Schwert bei sich trug, hatte er sofort bemerkt. Aber warum nicht? Warum hatte er sich so einfach von Kagemura umbringen lassen? Seine Tränen flossen haltlos über sein Gesicht. Es wollte einfach kein Ende nehmen. Und seine Augen brannten, als hätte er bereits zwei Tage durchgeweint. Doch so lange würde es hoffentlich nicht dauern, bis er hier in Kagegakus Armen erfroren war. Bis diese Qual endlich ein Ende genommen hatte. „Warum hast du nicht auf mich gewartet?“, murmelte Hyde und drückte Kagegaku fester an seinen Körper. Nie würde er Antworten auf diese Fragen erhalten. Sie gingen in der Stille des Waldes unter, als wären sie nie über seine Lippen gekommen. Aber er brauchte sie nicht mehr. Denn hier würde bald sowieso alles zu Ende gehen. Seine Liebe, seine Zukunft, sein Leben. Er hatte nichts mehr. Mit Tränen in den Augen starrte Hyde ins Leere. Der dicke Stoff seines Kimonos hatte sich mit Kagegakus Blut vollgesogen und lag noch schwerer auf seinem Schoß. Der Boden um ihn herum war nun ein eisiger Teppich aus Blut. Aber der Blonde rührte sich nicht von der Stelle. Egal wie stark er fror und zitterte, egal wie groß seine Schmerzen waren, oder wie schrecklich der Anblick war. Er würde hier bleiben, bis in alle Ewigkeit. Selbst wenn er Jahre auf seinen Tod warten müsste. Und so vergingen weitere qualvolle Stunden. Die Minuten schlichen dahin, während Hyde immer mehr an Kraft verlor. Es war dunkel geworden und die Stille hing immer noch furchteinflößend in der eisigen Luft. Mittlerweile fiel es dem Blonden schwer, den Samurai in seinen geschwächten Armen zu halten. Widerwillig legte er ihn deshalb vorsichtig in den feinen Neuschnee. Er selbst spürte kaum noch etwas. Weder die Kälte, noch irgendwelche Schmerzen. Selbst das Zittern hatte aufgehört, als wäre sein Körper schon erfroren. Als wäre alles schon lange vorbei. Er legte sich neben Kagegaku und blickte noch ein paar Minuten in sein friedliches Gesicht. Die Lippen des Samurai waren blau und die Haut so weiß wie der Schnee. Er wirkte zerbrechlich, wie aus Glas, und trotzdem war er immer noch so wunderschön. Genauso wie an jenem Tag vor so vielen Jahren, als sie sich das erste Mal begegnet waren. Damals noch unwissend, was ihre verwirrenden Gefühle zu bedeuten hatten. Doch in jenem Moment hatten sich ihre Schicksale so fest miteinander verbunden, dass dieses unsichtbare starke Band selbst jetzt nicht auseinandergerissen war. Es würde noch lange nach ihrem Tod existieren. Denn ihre Geschichte würde weitererzählt werden. Von Generation zu Generation. Bis sie ihm durch Tayama selbst zu Ohren kommen würde. Aber würde dies überhaupt geschehen? Nun, da er Kagegakus Tod nicht hatte verhindern können? Nun da er selbst hier sterben würde? War dies vielleicht das Ende des Kreislaufes? Das Ende ihrer Zukunft? „Du bist ... so ein ... Dummkopf, weißt du?“, flüsterte Hyde erschöpft. Seine müden Augen konnte er kaum noch offen halten. Er sah nur noch unklare Umrisse, die im weiß des glitzernden Schnees verschwammen. „Du hättest ... nie ... nie sterben dürfen.“ Blind tastete der Blonde mit seiner Hand nach Kagegakus Brust. Seine Finger berührten den steifgefrorenen Kimono, an den er sich klammerte, um sich näher an den Samurai zu ziehen. Seufzend bettete er sein Gesicht auf Kagegakus Schulter und flüsterte mit brüchiger Stimme, „Nie...mals.“ Dann schloss er die Augen und dachte an nichts. Ihn umfing sofort endlose Leere. Eine Leere in seinem Kopf und in seinem Herzen. Die Müdigkeit kroch in seine Glieder. Dagegen wehren konnte er sich nicht mehr. Er wollte es auch nicht. Er wollte sterben. Hier und jetzt und endlich wieder bei Kagegaku sein. In der Stille, die ihn umfing, hörte er sein eigenes Herz schlagen. Es war ein dumpfes unregelmäßiges Geräusch, welches immer schwächer wurde. Die tiefe Dunkelheit der hereingebrochenen Nacht umarmte ihn und die eiskalten Temperaturen ließen seine Gliedmaßen steif werden. Durch seine rissigen Lippen versuchte er noch, Luft zu holen und sich das letzte Mal gegen den Tod zu wehren. Es war schon so schwierig, dass er es gleich nach dem ersten Versuch aufgab. Er war zu müde, zu schwach. Und er spürte ganz deutlich, wie sein Körper sich dem Tod fügte. Er kapitulierte einfach. Und es tat nicht einmal weh. Es war, als würde er ganz normal einschlafen. Mit dem Gedanken an den nächsten Tag. Hyde jedoch dachte nicht an morgen, denn er wusste, dass es ihn nicht geben würde. Und dann kam nichts. Nur eine tiefe Dunkelheit, die sich mit keinem bekannten Gefühl vergleichen ließ. Aber es war wundervoll. Eine positive Schwärze, die ihn in sich hineinsog. Und er fühlte sich körperlos. Wie eine dünne Wolke, die vom warmen Wind leicht getrieben wurde. Obwohl er nichts anderes fühlen konnte, glaubte er, dass nur dies der Himmel sein konnte. Die Unendlichkeit weit und breit. Doch etwas schien ihm sofort seltsam zu sein. Plötzlich zweifelte er. War dies denn wirklich der Ort, an dem seine Reise enden würde? Hier, wo es nur dunkel war? Wo es keinen Anfang und kein Ende gab, sondern nur diese unendliche Leere? Ihm stellte sich die Frage, warum er überhaupt diese Freiheit wollte. Warum, wenn er dafür doch nur allein war? Warum, wenn es hier keine Gefühle gab? Hatte er sich den Tod so vorgestellt? Nein, natürlich nicht. Er hatte doch gehofft, er könne mit Kagegaku zusammen sein. Das war doch der Grund gewesen, weshalb er sich nicht gegen den Tod gewehrt hatte. Er schrie, doch es blieb still. Er schlug um sich, doch er konnte nichts greifen. Obwohl es nichts um ihn herum gab, fühlte er sich plötzlich eingeengt. Wie in einem Kokon aus Zement. War der Himmel wirklich so qualvoll? So einsam, so dunkel? Er wollte zurück. Er wollte kämpfen. Um Kagegaku und sein eigenes Leben. Er wollte doch mit ihm glücklich sein. Es war doch so einfach. So schrecklich einfach. „Du darfst nicht sterben!“, schrie Hyde, als läge die Lösung all seiner Probleme in seiner Stimme. Er spürte den Schmerz in seiner Kehle, aber trotzdem blieb es still. Verzweifelt schrie er immer wieder seinen Namen, aber es kam kein Laut über seine Lippen. Aus seinen Augen flossen die Tränen. Er spürte, wie sie über seine Wangen liefen. Aber er konnte sie nicht berühren. Als wären seine Arme weit weg vom Körper gestreckt und an ein Gitter gefesselt. Er ertrug es nicht mehr. Diese Dunkelheit, diese Leere. Das war nicht das Paradies, nach dem sich alle Menschen sehnten. Es war die Hölle. Die einsame Hölle. Wurde er für sein Versagen bestraft? Dafür, dass er aus Dummheit die Geschichte verändert hatte? Dafür, dass er ihn umgebracht hatte? „Kagegaku ...“ Obwohl sein hilfloses Flüstern genauso lautlos wie seine verzweifelten Schreie war, blieb es dieses Mal nicht ungehört. Auf einmal stach ein grelles Licht in seine Augen. Er kniff die Lider zusammen und als er sie zaghaft wieder öffnete, blickte er in das Gesicht des Schwarzhaarigen. „Kagegaku...?“, murmelte Hyde ungläubig. Leise hallte seine Stimme durch die Unendlichkeit. Der Samurai lächelte und seine dunklen Augen glänzten. Der Blonde konnte es nicht glauben. Er wollte ihn berühren, doch als er seine Arme ausstreckte, fasste er ins Leere. Kagegaku war für ihn unerreichbar, egal wie oft er es versuchte. „Bitte ...“ Seine eigene Stimme, die nun laut und klar in seinen Ohren widerhallte, erschreckte Hyde. Alles wurde nun deutlich. Farben und Geräusche kehrten zurück. Er hörte das Zwitschern der Vögel, das Flüstern des Windes und wie Wasser plätscherte. Und Kagegakus Gegenwart, obwohl er ihn nicht berühren konnte, beruhigte ihn. Sie gab ihm unheimlich viel Kraft. Er spürte seine Nähe. Nicht körperlich, sondern viel eher in seinem Herzen. Es war warm und wundervoll und all seine Ängste waren plötzlich verschwunden. Stattdessen hatte Hyde ganz klar erkannt, was er zu tun hatte, um all dies abzuwenden. Er hatte die Macht, alles zu ändern. Nur er. Er konnte Kagegaku retten. „Du darfst nicht sterben. Du musst leben ...“, flüsterte Hyde. Er wusste, dass Kagegaku ihn hören konnte. Selbst wenn er nur ein Geist war. Ihre Gefühle waren miteinander verbunden. Bis in alle Ewigkeit. Kagegaku nickte zögerlich, doch seine Augen blickten ihn besorgt an und Hyde spürte sofort den Grund. Sein Kimono wurde warm. Die roten Ahornblätter glühten, als würden sie in Flammen stehen. So wie sie es bisher immer getan hatten, wenn sie ihm einen Wunsch erfüllten. Doch diesmal war es vollkommen anders. Diesmal war der Wunsch so groß, dass er nicht ohne Gegenleistung erbracht werden konnte. Er musste für Kagegakus Leben ein Opfer bringen. Aber er zögerte nicht. Keine einzige Sekunde lang. Das Leben dieses Mannes war ihm das Wichtigste auf der ganzen Welt. „Du musst leben, ... bis ... bis wir ...“ Der Blonde presste seine Lippen fest aufeinander. Obwohl er stark sein wollte, verschwamm sein Blick hinter Tränen. Verabschiedungen waren ihm noch nie leicht gefallen. Vor allem nicht, wenn sie das Ende bedeuteten. „... bis wir ... wieder zusammen sein können.“ Trotz seiner Worte wusste Hyde, dass dieser Abschied endgültig war. Er log, aber er wusste einfach nicht, was er sonst sagen sollte. Sie würden nie zusammen sein können, weil er nie wieder hierher zurückkehren würde. Er spürte es. Der Kimono glühte stärker, so stark wie nie zuvor. Als würde er seine ganze Kraft zusammenbündeln. War dieser Wunsch erfüllt, würde dieser Zauberkimono nicht mehr existieren. Kein Weg würde ihn dann mehr zu Kagegaku führen können. Zwischen ihnen lag dann nur noch die Ewigkeit der Zeit. Viele, viele Jahre, die nicht zu überbrücken waren. Aber so hatte es das Schicksal wohl von Anfang an für sie vorgesehen. Genauso, wie es gerade passierte. „Ich werde auf dich warten.“ Kagegakus Worte drangen unerwartet in Hydes Ohren, bevor dieser sehnsüchtig seufzte. Wie sehr hatte er seine warme Stimme vermisst? Diese Stimme, die er so sehr liebte. Dabei lag seine letzte Begegnung mit dem Samurai praktisch nur zwei Tage zurück. Stattdessen aber fühlte es sich so an, als wären es in Wirklichkeit viele Jahrhunderte gewesen. Jahrhunderte, die er mit seinen Zeitreisen schon so oft übersprungen hatte. War es deswegen so? Verwirrt blickte der Blonde in Kagegakus Augen. Sie überschütteten ihn sofort mit unausgesprochenen Geständnissen, die es Hyde nur noch schwerer machten. Und trotzdem fand jedes einzelne Wort sofort den Weg in sein Herz. „Ich liebe dich und ich werde auf dich warten. Bis du zurückkommst“, hörte der Blonde es immer wieder flüstern, obwohl sich die Lippen des Schwarzhaarigen nicht bewegten. Vielleicht war es Kagegakus Herz, was er sprechen hörte. Seine innersten Gefühle, seine Wünsche. Wie ein Süchtiger sog Hyde seine Worte auf. Er wusste, es war das letzte Mal, dass er diese Stimme hören würde. Das letzte Mal, dass er ihn sehen konnte. Dann waren sie für immer getrennt. Aber würde er sich denn an Kagegaku erinnern können? Oder würde er ihn wieder vergessen? Würde er ihn diesmal vielleicht für immer vergessen? „Ich werde mich immer an dich erinnern“, schwor der Schwarzhaarige, als hätte er Hydes düsteren Gedanken gelesen. Dann wurde Kagegakus Stimme leiser und verstummte schließlich ganz. Verzweifelt schüttelte der Blonde den Kopf. Er wollte nicht wieder vergessen. Aber das würde er. Sobald er zurück in seiner Zeit war, würde er all das wieder vergessen haben. Genauso wie beim letzten Mal. Er hatte sich nur erinnern können, weil er den Kimono gehabt hatte. „Ich will dich nicht vergessen“, wollte Hyde sagen, doch er schwieg. In Kagegakus Augen konnte er sehen, dass dieser ihn verstanden hatte. Auch ohne Worte. Er spürte Vertrauen in seinem Blick. Er vertraute darauf, dass der Blonde ihn nicht vergessen würde. Doch Hyde selbst zweifelte. So sehr, dass es ihn wahnsinnig machte. Und mit diesem Zweifel vergeudete er seine letzten Sekunden mit dem Samurai. Er verschwand. So plötzlich, wie er aufgetaucht war. Verwirrt sah sich der Sänger um. Er war allein. Seine Halluzination hatte ihn verlassen. Und wieder hatte er sich nicht verabschieden können. Genau wie all die anderen Male, als er geglaubt hatte, ihn nie wieder sehen zu können. Auch dies schien wohl ihr Schicksal zu sein. Aber was geschah nun? Lebte Kagegaku, oder war dass alles nur ein Traum gewesen? Eine Wahnvorstellung, ein Trick seines Gehirns? Würde er wirklich nach Hause zurückkehren können? Würde sein Wunsch erfüllt werden? War das alles dann tatsächlich nur eine dumme, romantische Geschichte, der irgendwann niemand mehr glauben schenken würde? Vom Zeitfluss verblasst, von Mensch zu Mensch anders erzählt, bis sie nichts mehr mit dem wirklich Geschehenen zu tun hatte? Er dachte an den Morgen, als er in Kagegakus Armen gelegen hatte, an die Holzdecke im Nishiyamaanwesen, und wie es gerochen und geknackst hatte, genauso wie die flackernde Kerze, die fast heruntergebrannt war. Er erinnerte sich daran, wie warm es gewesen war und wie wundervoll es sich angefühlt hatte. Obwohl der Samurai tief und fest geschlafen hatte, waren seine Arme beschützend um den Blonden gelegt und er spürte jetzt noch, wie sein warmer Atem seine Haut gestreichelt hatte. Es war nicht nur eine erfundene Geschichte. Es war wirklich geschehen. Auch wenn er es bald vergessen würde, hatte er es trotzdem erlebt. Selbst wenn er bald keine Erinnerungen mehr an diesen Moment haben würde, hatte sein Herz einmal diese Wärme empfunden. Und wenn er nur einmal versuchen würde, auf sein Herz zu hören, dann würde er sich auch wieder erinnern können. Auch ohne Kimono, auch ohne diese Zauberei. Daran musste er glauben, darauf musste er vertrauen. Dann würde alles gut werden. Auch wenn sie nie zusammen sein könnten. Hyde lächelte bei diesem Gedanken und schloss seine Augen. Als er sie nur wenige Sekunden später wieder öffnete, sah er sich von weißen Wänden umgeben. Er lag in einem Bett, neben einem großen Fenster. Warme Luft streichelte sein Gesicht. Seine Finger zucken und da spürte er, wie eine zarte Hand seine festhielt. Er drehte sich zur Seite und blickte in das schlafende Gesicht seiner Mutter. Im selben Moment wachte sie auf. Sie starrte ihn überrascht an, auch etwas ungläubig, als würde sie in das Gesicht eines Geistes blicken. Doch dann lächelte sie ganz kurz und überschüttete den Blonden sogleich überglücklich mit leichten Küssen. In ihren Augen glitzerten Tränen der Freude. „Was ... ist ... passiert?“, fragte der Sänger perplex. Zuerst brachte sie kein Wort über ihre Lippen. Sie war aufgeregt, als wäre etwas wirklich schreckliches mit ihm geschehen. Das musste es auch, denn sie kam selten nach Tokio. „Du bist zusammengebrochen und einfach nicht mehr aufgewacht. Die Ärzte sagten, es wäre eine Art Koma.“ Sie unterbrach sich und blickte in die dunklen Augen ihres Sohnes. „Drei Wochen. Ich dachte, du würdest nie wieder aufwachen“, weinte sie. Hyde sah sie skeptisch an. „Koma?“ Sie nickte, fiel ihm in die Arme und schluchzte. Er konnte nichts sagen. Er wusste nicht was. Alles, woran er sich erinnern konnte, war wie er sich über Tayamas Geschichte aufgeregt hatte. Und dann war alles dunkel. Nichts ... Dabei hatte er das Gefühl, dass es noch etwas gab, woran er sich erinnern müsste. Etwas, was er vergessen hatte. ---------------------------------------- So kurz vor Weihnachten gerade das schlimmste Kapitel. Tolles Timing. >_> Aber wenigstens gibt es Schnee im Kapitel.^^; Hyde lag also 3 Wochen im Koma, obwohl in der Vergangenheit nur ein paar Stunden vergangen waren. Jetzt kann man sich natürlich Gedanken machen, was war, als Hyde mehrere Jahre fort war. -_- Aber eigentlich braucht man sich darüber keine Gedanken machen, weil es so oder so nicht passiert ist.;) Ich wünsche euch auf jeden Fall ein schönes Weihnachtsfest und viele schöne Geschenke. 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